Brites

Lustiges und Überlustiges von Freiherr von Schlicht
in: „Wenn sie schwören”


Ganz aufgeregt kam Brites von ihrem Spaziergang nach Hause. Ihre erste Frage galt der Mutter und als sie hörte, daß die während ihrer Abwesenheit ebenfalls fortgegangen sei, um in der Stadt ein paar Besorgungen und ein paar Besuche zu machen, mußte sie sich beherrschen, um nicht in Gegenwart des Mädchens ihrer Enttäuschung darüber lauten Ausdruck zu geben, denn nur, um der Mutter gleich alles brühwarm erzählen zu können, war sie doch so schnell nach Hause geeilt, und nun mußte sie mit dem Bericht, den sie gleich hatte ablegen wollen, Gott allein konnte wissen, wielange warten, denn wenn ihre gute Mutter erst einmal bei ihren Bekannten saß und sich mit denen unterhielt, dann unterhielt sie sich auch gründlich und kümmerte sich nicht allzuviel um das, was zwischendurch die Uhr schlug. Brites sah es voraus, ihre Ungeduld würde auf eine lange und harte Probe gestellt werden und unwillkürlich entrangen sich ihr nun dem Mädchen gegenüber die Worte: „Wenn ich das gewußt hätte, daß meine Mutter ausgegangen ist, dann —”. Aber sie sprach und dachte den Satz nicht zu Ende, weil sie plötzlich zu der Erkenntnis kam, daß es sehr gut sei, daß sie die Mutter nicht gleich antraf, da hatte sie Zeit genug, sich die Begegnung, die sie vorhin auf der Straße mit dem hübschen Rudi hatte, noch einmal in allen Einzelheiten zu überlegen und in aller Ruhe darüber nachzudenken, wie alles so hatte kommen können, obgleich —. Aber das Wort „obgleich” stimmte nicht, richtiger hätte sie sagen müssen „trotzdem” oder sonst irgend etwas, denn es hatte ja auch so kommen sollen, aber daß es so schnell so kommen würde, das hatte selbst sie nicht zu hoffen gewagt. Nun aber hieß es, die vernünftige Überlegung bewahren und sich noch einmal alles von Anfang an ganz logisch zu vergegenwärtigen.

So suchte sie denn gleich, nachdem sie Hut und Jackett abgelegt hatte, ihr Zimmer auf und stellte sich als Beginn ihrer logischen Betrachtungen zunächst einmal vor den großen Spiegel, um sich zu fragen, ob sie denn wirklich so hübsch sei, daß der hübsche Rudi nur noch sie hübsch oder daß er sie wenigtens am hübschesten von allen ihren Freundinnen fände. Und zu ihrer großen aufrichtigen Freude konnte sie die Frage, die sie an den Spiegel stellte, schon nach kürzester Zeit mit einem lauten vernehmlichen Ja beantworten. Ja, sie war hübsch mit ihrer schönen, schlanken Gestalt, mit dem zarten feingeschnittenen Gesicht, mit dem dichten braunen Haar und namentlich mit den lachenden hellbraunen Augen, von denen, wie ihr plötzlich wieder einfiel, schon vor Jahren ihr erster Verehrer, der Obersekundaner Carl Lange behauptet hatte, mit denen würde sie sicher noch viel Unheil in der Welt anrichten, denn in die Augen könne ganz einfach kein Mann hineinsehen, ohne sich in die und ohne sich dadurch auch in sie selbst sofort wahnsinnig zu verlieben. Daß ihr Carlemann, wie sie ihren Verehrer zu nennen pflegte, ihr das erklärte, hatte sie ihm sehr hoch angerechnet und sie hatte sich über seine Worte ganz furchtbar gefreut, so furchtbar, daß sie ihm zum erstenmal erlaubte, sie zu küssen und daß sie ihn sogar auch wiederküßte. Aber leider zu spät sah sie ein, daß sie das beides lieber doch nicht hätte tun sollen, denn als ihr Carlemann erst einmal mit dem Küssen und namentlich mit dem Sich-küssen-lassen angefangen hatte, da hörte der nicht nur am ersten Abend, sondern auch in den nächsten Wochen gar nicht wieder damit auf, bis sein Vater, der Provinzialschulrat, dann glücklicherweise in eine andere Stadt versetzt wurde. Aber vergessen hatte sie ihren Carlemann und namentlich das, was er ihr über ihre Augen sagte, trotzdem nicht, und auch jetzt dachte sie ja wieder an ihn, aber das durfte sie nicht mehr, jetzt hatte sie an andere, viel viel wichtigere und ernstere Dinge zu denken.

Und um logisch denken zu können, setzte sie sich nun in ihren kleinen Schaukelstuhl, wippte in dem auf und ab und versuchte sich klar zu machen, wie die Sache angefangen habe.

Ja, richtig, so war es. Vor ungefähr anderthalb Jahren, als sie mit vielen anderen bei ihrer Freundin Käte Ermholt zur Geburtagsfeier eingeladen war, hatte sie zum erstenmal etwas von Rudolf Bernburg gehört, der erst vor kurzem in der Stadt aufgetaucht und der in das Haus seines Onkels, des sehr reichen christlichen Bankiers gleichen Namens gekommen war, um später dessen Erbe anzutreten, da der Onkel seinen einzigen Sohn im Kriege, den allerdings auch der Neffe mitmachte, verloren hatte. Ursprünglich hatte Rudolf Bernburg Jurist werden wollen ud auch schon vor Kriegsausbruch ein paar Semester Jura studiert, ja, es sollte ihm sogar nicht ganz leicht geworden sein, sich dem Wunsch des Onkels zu fügen und in dessen Bankhaus einzutreten, zumal er selbst von Hause aus sehr wohlhabend war, so daß der materielle Vorteil, der ihm winkte, ihn nicht zu reizen brauchte. Aber schließlich hatte er doch nachgegeben und war gekommen, um sich hier sofort sehr schön einzurichten und um auch sonst das Leben eines sehr reichen und sehr eleganten Junggesellen zu führen, der allerdings, wie die anderen zu erzählen wußten, sich dem Wunsche des Onkels gemäß baldmöglichst nach einer Frau umsehen solle. Und als Antwort darauf hatte Rudolf Bernburg erklärt, er wolle und würde auch sehr gern bald heiraten, aber nur ein solches junges Mädchen, das ihm, bevor er sich mit ihr verlobe, schwören könne und schwören würde, daß sie vor ihm noch nie einen andern geliebt oder gar geküßt hätte.

Ob diese seine Worte für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen waren, wußte man nicht, man nahm sogar das Gegenteil an, aber sie waren trotzdem irgendwie bekannt geworden und bildeten nun bei dem Geburtstags­nachmittags­kaffee das ausschließliche Gesprächsthema. Alle jungen Mädchen zerbrachen sich den Kopf darüber, wie ein Mann an seine zukünftige Frau eine derartige Anforderung stellen könne, wie Rudolf Bernburg das tat, und man fragte sich auch immer wieder, warum er das wohl täte? Auf die letzte Frage war die Antwort ja nicht allzu schwer. Sicher sollte seine Braut nur deshalb vor ihm noch nie einen anderen geliebt haben, damit er die Gewißheit besäße, nicht um seines gräßlich vielen Geldes geheiratet zu werden. Wo aber fand er wohl ein junges Mädchen, das noch nie geliebt und noch nie geküßt hatte? Da mußte er schon, wie Friedel Körner erklärte, einen weiblichen Säugling direkt aus der Wiege heraus heiraten, und alle hatten ihr lachend beigestimmt, denn darüber waren sich alle einig gewesen, wenigstens eine Liebe und eine Kußaffäre hatte doch jedes junge Mädchen schon hinter sich, bevor es an den Altar trat. Und glaubte dieser Rudolf Bernburg denn allen Ernstes, er könne und würde jemals ein solches junges Mädchen finden, wie er es suchte, vorausgesetzt, daß er das wirklich tat und daß seine Worte nicht nur eine Ausflucht gewesen waren, um seinem Onkel nicht erklären zu müssen: in Wirklichkeit denke ich natürlich gar nicht daran, mich zu verheiraten, ich fühle mich als reicher Junggeselle in jeder Hinsicht so außerordentlich wohl, daß ich nicht die geringste Lust verspüre, mir eine Frau in das Haus zu nehmen und mich der Gefahr auszusetzen, mit der vielleicht nicht glücklich zu werden, denn ob man das wird, ist eine Frage, die sich nicht am Traualtar und nicht während der Flitterwochen, sondern erst im Laufe der Zeit entscheidet. — Vielleicht hatte er so sprechen wollen, aber es nur nicht gewagt, um den Onkel nicht zu betrüben, der durch den Verlust seines einzigen Sohnes ohnehin schon genug Leid zu tragen hatte und der manchmal etwa sonderbar sein sollte. Damit hing es wohl auch zusammen, daß der ihm beigestimmt und ihm erklärt hatte: „Mache das ganz wie du willst, mein Junge, übereile dich mit dem Verloben nicht, die Sache hat Zeit, ich möchte nur noch deine Verheiratung erleben.”

Immer und immer wieder hatte man Rudolf Bernburgs Worte erörtert und man hatte sich über die halb kranklachen wollen, denn wenn die jungen Mädchen, die bei dem Kaffee und bei der Schokolade zusammensaßen, auch alles andere als leichtfertige oder gar als leichtsinnige Geschöpfe waren, einmal geliebt und einmal geküßt hatten sie doch schon alle, das wußten sie auch sehr genau voneinander, denn mit ihren kleinen Liebesaffären hatten sie stets voreinander geprahlt, schon damit die, die da geküßt worden war, von denen beneidet würde, die da nicht geküßt wurden. So hatten sie sich denn auch an dem Nachmittag gegenseitig mit ihren Erlebnissen geneckt und Milly Schröder hatte sogar ihrem im Kriege gefallenen Kußflirt, einem bildhübschen kleinen Leutnant, heiße Tränen nachgeweint, bis es den anderen schließlich gelang, sie zu trösten und bis gerade Milly die Lustigste von allen geworden war. Es ging überhaupt bei dem Kaffee sehr lustig zu, schon weil die fortwährenden Neckereien kein Ende nahmen. sie selbst aber, Brites, fand, daß es in der Hauptsache eigentlich sehr indiskret zuging, denn es wurde manches verraten, was bisher sicher nur die allerintimsten Freundinnen der Betreffenden gewußt hatten, so daß Toni Möller schon einmal so gut wie verlobt gewesen war und daß Nelly Steinkirch sich ihre Augenentzündung, die sich damals kein Mensch zu erklären vermocht hatte, einzig und allein dadurch zuzog, daß sie sich von ihrem Flirt mit besonderer Vorliebe auf die Augen küssen ließ. Da dieser, ihr Flirt, aber ein leidenschaftlicher Zigarettenraucher war, mußte er dadurch die Augen seiner Nelly irgendwie infiziert haben. Es hatte damals lange gedauert, bis sie aus der ärztlichen Behandlung entlassen werden konnte, aber nun waren die Augen, wie Nelly lachend und übermütig erklärte, schon seit einer Ewigkeit wieder gut und die waren auch schon lange bereit, sich von neuem küssen zu lassen, denn der Kuß auf die Augen sei der schönste von allen. Aber auch darüber geriet man in einen ziemlich indiskreten Streit, Hanni Vollmüller schwur auf den Kuß hinter das Ohr, besonders, wenn man dort etwas kitzlig sei und wenn „er” einen Schnurrbart besäße; Dora Weber aber erklärte, der süßeste Kuß von allen sei der auf die Nasenspitze, und das könnten nur die dumm und albern und geschmacklos finden, die sich dorthin noch nie hätten küssen lassen, allerdings müssen man gerade den Kuß richtig zu geben verstehen, wie es überhaupt bei dem Küssen in erster Linie auf die Kunst des Küssenden ankäme.

Ja, die Freundinnen waren mit dem, was sie da untereinander ausplauderten, wirklich sehr indiskret gewesen, nur sie hatte sich für ihre Person an dem Gespräch mit ganz allgemeinen nichtssagenden Redensarten beteiligt und sie war von den Freundinnen auch mit den Neckereien verschont worden, das aber nur deshalb, weil sie erst nach Beendigung des Krieges mit ihrer Mutter hierher übersiedelt war. So wußte auch keine etwas von dem, was sie erlebt hatte, bevor sie hierher in die Stadt kam, von selbst hatte sie nichts darüber berichtet, weil es ihr nicht lag, ihre Erlebnisse an die große Glocke zu hängen und indiskreten Fragen war sie stets sehr geschickt ausgewichen. Das letztere tat sie auch bei dem Kaffee, als es den Freundinnen plötzlich auffiel, daß sie bisher viel mehr eine Zuhörerin als eine Mitsprecherin gewesen sei, aber sie ließ sich nicht einfangen, sie erzählte nichts, sondern sie lachte nur, aber sie lachte so girrend und verführerisch und dabei doch so lustig und übermütig, daß die Freundinnen auf sie eifersüchtig wurden und ihr zuriefen: „Brites, wenn du beichten wolltest, wir glauben, da käme allein von dir mehr an das Tageslicht, als bisher von uns allen zusammen.”

Aber sie dachte nicht daran, zu beichten, sie lachte nur weiter vor sich hin, bis die anderen, wenn auch nur im Scherz, eine Wut auf sie bekamen, auf sie zustürzten und sie mit Gewalt zum Reden bringen wollten, und schon hatte sie sich überlegt, ob sie nicht wenigstens eine ganz, ganz harmlose Episode aus ihrem Leben zum betsen geben solle, um vor den Quälgeistern Ruhe zu finden, als ein Zufall ihr zu Hilfe kam, sie bekam ganz plötzlich Nasenbluten und zwar ein so starkes, daß sie das Zimmer verlassen mußte. Aber als sie dann nach einer geraumen Weile zurückkehrte, hatte man inzwischen das Gesprächsthema gewechselt und unterhielt sich nicht mehr von Rudolf Bernburg und nicht mehr vom Küssen und Flirten, sondern man plauderte über hamrlose gleichgültige Dinge. Von Rudolf Bernburg war auch im weiteren Verlauf des Nachmittags gar nicht mehr die Rede, der schien für alle definitiv erledigt zu sein, um so größer aber war ihre eigene Neugierde, den baldmöglichst einmal kennen zu lernen, schon weil sie fest davon überzeugt war, daß der, selbst wenn er auch nur im Scherz oder als Ausrede, um nicht heiraten zu müssen, solche Anforderungen an seine zukünftige Braut zu stellen entschlossen sei, unmöglich geistig normal sein könne. Sicher hatte der sich im Kriege irgendwie einen Gehirnklaps geholt, entweder hatte ein fürchterliches Artillerieduell seine Sinne für immer verwirrt oder er war einmal längere Zeit verschüttet gewesen und hatte, als er wieder ausgegraben wurde, einen Teil seines Verstandes unter dem Schutthaufen liegen lassen, oder es war ihm sonst etwas zugestoßen, denn ein Mensch, der alle seine fünf Sinne beisammen hat, konnte doch unmöglich glauben, daß es ein junges Mädchen, wie er es als Braut haben wolle, gäbe.

Aber als sie ihn dann bald persönlich kennen lernte, mußte sie zu ihrem grenzenlosen Erstaunen einsehen, daß er nicht nur ganz bei Verstand zu sein schien, sondern daß er es tatsächlich war. Jedes Wort, das er sagte, hatte Hand und Fuß, er sprach nicht nur sehr vernünftig, sondern auch sehr klug und amüsant, er war ein glänzender Gesellschafter, ein geistreicher Plauderer, er hatte sogar Humor und war auch sonst mit allen nur denkbaren Vorzügen ausgestattet. Nicht nur, daß er über ein sehr hohes Einkommen verfügte, er sah mit seiner großen schlanken Figur, mit seinem bartlosen Gesicht und den blauschwarzen Augen sehr gut aus. Er ging stets tadellos angezogen, er besaß eine seltene Gabe, sich seine Krawatten, von denen er zahllose besitzen mußte, zu binden, er ritt einen geradezu märchenhaft schönen kurzgeschorenen Rotschimmel, er fuhr einen einfach süßen Dogcart und er war ein Tänzer, wie man ihn nur selten findet. Dazu hatte er Sinn und Verständnis für Literatur und Musik, nur in das Kino ging er nie und erklärte stets, er begriffe es nicht, wie erwachsene Menschen dieser sogenannten Kunst auch nur das geringste Interesse entgegenzubringen vermöchten. Als sie das zum erstenmal aus seinem Munde vernahm, frohlockte sie im stillen, denn was er da sagte, schien ihr ein Beweis dafür zu sein, daß er geistig doch nicht ganz normal sei, denn wie konnte man für den Kientopp und ganz besonders für die männlichen und weiblichen Kinohelden nicht schwärmen? Doch als sie dann, um sich davon zu überzeugen, ob man tatsächlich leben könne, ohne das Kino zu besuchen, einen Monat lang kein Lichtspieltheater betreten hatte und trotzdem nach Ablauf dieser Zeit zu ihrem grenzenlosen Erstaunen noch am Leben war und als sie dann zum erstenmal wieder vor der weißen Wand saß, da kam ihr ein ganz ernsthafter Film so unbeabsichtigt komisch vor, daß sie ein paarmal hell auflachen mußte, und daraus schloß sie, daß er mit seiner Behauptung vielleicht doch recht haben könne, zumal sie es bei ihrem nicht sehr reichlich bemessenen Taschengeld sehr angenehm empfand, daß sie einen Monat hindurch nicht zu jedem neuen Programm gelaufen war und nicht jedesmal drei Mark für den Platz hatte bezahlen müssen.

Nein, das mußte sie sehr bald einsehen, mit ihren Versuchen, bei ihm auch nur den leisesten Gehirnklaps zu finden, war es wirklich nichts, aber sonderbarerweise nahm damit ihr Interesse an ihm nicht ab, sondern das wuchs immer mehr und mehr, weil sie sich immer wieder fragte: wie kann ein geistig vollständig gesunder Mensch glauben, denken und hoffen, er würde jemals ein junges Mädchen kennen lernen, das vor ihm noch nie einen anderen liebte und küßte? Und ihr Interesse an ihm wuchs, als sie bemerkte, daß er sich unter den vielen hübschen jungen Mädchen der Gesellschaft nach einer Braut umzusehen begann. Bis sie sich eingestand, daß dieses Interesse in erster Linie Mitleid war, denn soviel Körbe, wie er sich holen würde und holen mußte, gab es ja nicht einmal in einer Korbfabrik, denn wo war unter ihnen allen auch nur eine einzige, die ihm den verlangten Schwur leisten konnte? Die Tilly Schaller konnte das am allerwenigsten, denn die hatte sich sogar dummerweise einmal dabei überraschen lassen, als sie sich mit einem Assessor küßte und die war dann auch ein paar Monate zu auswärtigen Verwandten gefahren, damit in der Zwischenzeit etwas Gras über die Geschichte wachse, und das war auch gewachsen, denn als sie zurückkam, war der Assessor inzwischen als Regierungsrat in eine andere Stadt versetzt und damit war die Affäre vergessen und erledigt, aber trotzdem nicht so erledigt, daß man die ihr nicht sofort erzählt hatte, als sie mit der Mutter hierher gezogen war und Tilly Schaller bald darauf kennen lernte. Und man hatte ihr schon deshalb alles erzählt, um sie zu fragen, ob sie es begriffe, daß man so dumm sein könne, sich bei dem Küssen überraschen zu lassen, das täte man doch nur, wenn man „ihn” heiraten wolle, wenn „er” aber jeder zarten Aufforderung, endlich den längst erwarteten Antrag zu machen, immer wieder auswiche. Dann, aber auch nur in diesem Falle, blieb einem anständigen jungen Mädchen ja nichts weiter übrig, als sich so offensichtlich küssen zu lassen, daß die Welt etwas davon erführe und daß die Mutter mit dem längst bereitgehaltenen Segen dazu kommen könne. Aber sonst? Nein, wie man sonst so dumm sein könne, hatte auch sie nicht verstanden, aber sie hatte das Gott sei Dank der neuen Freundin, die ihr diese Geschichte erzählte, nicht zu sagen brauchen, denn die wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern begann gleich darauf, ihr von dem allerneuesten Klatsch zu berichten.

Nein, Tilly Schaller konnte schon, weil alle ihren Flirt mit dem Assessor kannten, den verlangten Schwur noch weniger als irgendeine andere ablegen, aber trotzdem schien der hübsche Rudi, wie der allgemein in der Stadt genannt wurde, seine Augen gerade auf sie geworfen zu haben, und das nicht ohne Grund, denn ein sehr hübsches junges Mädchen war die Tilly, das mußten selbst ihre besten Frundinnen ihr lassen, und da sie auch noch ein armes Mädchen war, wäre es ihr wohl zu gönnen gewesen, daß sie eine so glänzende Partie hätte machen können. So aber, wie die Dinge lagen, konnten die beiden leider nie ein Paar werden, und tat sie selbst da nicht ein mehr als gutes Werk, wenn sie es der Tilly ersparte, dem hübschen Rudi erklären zu müssen: ich habe vor dir schon einen anderen geliebt und geküßt? Und tat sie nicht erst recht ein gutes Werk, wenn sie es dem hübschen Rudi ersparte, anstatt des erhofften und erwarteten Schwures aus Tillys Mund ein solches Geständnis anhören zu müssen? Ja, wer es mit den beiden gut meinte, mußte ihnen den mehr als peinlichen Augenblick dieser Aussprache für immer fernhalten, und gerade sie selbst meinte es mit denen so gut wie keine andere, denn während die anderen die arme Tilly nur auslachten, daß die sich bei dem Rendezvous hatte erwischen lassen, ihr allein tat sie deswegen aufrichtig leid, und mit dem hübschen Rudi meinte sie es schon deshalb gut, weil gerade sie ihn anfangs für geistig anormal gehalten hatte. Das Unrecht, das sie dadurch an ihm beging, mußte sie irgendwie wieder gutmachen, das hatte sie sich schon längst im stillen vorgenommen, und nun bot sich ihr dazu eine Gelegenheit, wie die so leicht ganz gewiß nicht wiederkam. Und sie wußte auch gleich, wie sie es anfangen könne, um Rudis Augen und Gedanken von der Tilly abzulenken, denn wie man so etwas mache, hatte sie schon vor Jahr und Tag in der Tanzstunde gelernt, obgleich das nicht mit auf dem Lehrplan stand, den die Tanzlehrerin in alle gute [sic! D.Hrsgb.] Häuser schickte, um Schülerinnen zu bekommen. Aber gelernt hatte sie es trotzdem, denn da sie von Kindheit an alles sehr scharf beobachtete, was um sie herum vorging, bemerkte sie sehr bald, daß die trotz ihrer vierzig Jahre noch sehr jugendlich und sehr elegant aussehende Lehrerin in den hübschen Geiger verliebt war, der den alten Klavierspieler begleitete, während der Geiger selbst nur Augen für die junge und geschmeidige Hilfslehrerin hatte, die der Tanzmeisterin zur Seite stand. Ja, da hatte sie es gelernt, wie man es in durchaus diskreter, zarter und in einer absolut nicht auffallenden Weise anfing, die Blicke eines Mannes, die eigentlich einer anderen galten, auf die eigene Person zu lenken, und dabei hatten die Unterrichtsstunden, die sie in dieser Kunst empfing, gar nicht einmal sehr lange gedauert, denn schon nach drei Wochen sah der hübsche Geiger die junge Hilfslehrerin nicht mehr an, und abermals kaum drei Wochen später war die Tanzmeisterin in der glücklichen Lage, ihre Verlobung in der Stadt mit dem Geiger anzuzeigen, während es bald darauf bekannt wurde, daß die junge Hilfslehrerin sich wegen einer unglücklichen Liebe, von der man aber nicht erfuhr, wem sie gegolten habe, vergiftet hatte. Na, die Tilly würde sich schon nicht vergiften, das würde die höchstens tun, wenn sie dem hübschen Rudi erklären mußte, daß sie ihm den Eid nicht schwören könne. Nein, die Tilly würde ganz bestimmt nicht daran denken, sich selbst zu morden, ebenso wie sie für ihre eigene Person natürlich nicht eine Sekunde daran dachte, sich etwa deshalb zwischen Rudolf Bernburg und Tilly Schaller zu drängen, damit dessen Augen fortan auch nur eine Sekunde länger, als es die Durchführung ihres guten Werkes erforderte, auf ihr ruhten.

Das Gute, das man tun will, soll und muß man aber stets gleich tun, damit man die guten Vorsätze, die man faßte, nicht wieder vergißt, und damit sie das nicht etwa durch einen unglücklichen Zufall doch täte, machte sie sich sehr schnell daran, das Gute, das sie zu stiften entschlossen war, auch umgehend zu stiften, und im Interesse des hübschen Rudi und der hübschen Tilly sah sie mit Freuden, daß ihre Bemühungen überraschend schnell Erfolg hatten, so daß sie sich schon nach wenigen Wochen sagen konnte: Gott sei Dank, die schwere Stunde, die ich den beiden ersparen wollte, wird ihnen auch erspart bleiben. Aber nicht nur das. Wie man nie über das Gute, das man stiftet, sprechen soll, so sprach auch sie mit keiner Silbe über das, was sie tat, das hätte sich ja auch sonst so anhören können, als verlange sie von Rudolf Bernburg oder gar von der Tilly Dank dafür. Nein, sie wirkte ganz im stillen und in so bescheidener, unauffälliger Weise, daß die Freundinnen, wenn sie sich darüber unterhielten, sich fortwährend vergebens den Kopf darüber zerbrachen, warum der hübsche Rudi die Tilly plötzlich so vernachlässige und warum er sie gar nicht mehr auszeichne.

Die wahre Veranlassung dazu kannte keine und auf die kam auch dann keine, als Rudolf Bernburg zur allgemeinen Verwunderung plötzlich damit anfing, sie, Brites, genau so, ja eigentlich sogar noch mehr auszuzeichnen, als er es früher mit Tilly Schaller tat. Keine begriff, wie er dazu kam und sie selbst begriff es am allerwenigsten, denn das hatte sie nicht gewollt, das war jedenfalls nicht der Zweck der Übung gewesen, das konnte sie sich jederzeit mit gutem Gewissen eingestehen und deshalb war ihr erster Gedanke auch sofort, sie müsse dem hübschen Rudi irgendwie zu verstehen geben, daß sie sich seine Huldigungen nicht gefallen lassen dürfe, schon damit er nicht etwa auf die Vermutung käme, sie habe das, was sie getan, um ihrer selbst willen getan. Ja, sie mußte ihm das zu verstehen geben, das war sie auch sich selber schuldig, aber sie verschob ihr Vorhaben von Tag zu Tag, weil sich ihr keine Gelegenheit bot, es auszuführen, und das nahm sie schließlich als ein Zeichen dafür, daß sie es ganz aufgeben solle.

Das tat sie denn auch, schon weil sie plötzlich den einzigen Grund zu erkennen glaubte, warum Rudolf Bernburg so gern mit ihr zusammen war, nicht, weil er sie irgendwie bevorzugte, sondern einzig und allein, weil er nicht recht wußte, mit wem er sich sonst auf den Gesellschaften, bei denen er sonst fast ausschließlich mit Tilly Schaller plauderte, unterhalten solle. Er suchte ihre Nähe lediglich deshalb, weil er einfach einen Menschen brauchte, bei dem er einen anderen, in diesem Falle Tilly Schaller, vergessen konnte oder vergessen wollte, und da war seine Wahl durch einen Zufall auf sie gefallen, wie die ebensogut auf irgendeine andere hätte fallen können. Und da sah sie auch ein, daß sie es sich gefallen lassen mußte, daß er sich nun soviel ihr widmete, denn sie war, wenn dabei auch von den besten Absichten geleitet, die Veranlassung, daß er für Tilly kein Interesse mehr hatte. Bedurfte er da aus irgendeinem Grunde des Trostes, dann mußte sie, aber auch nur sie, ihm den spenden und deshalb, aber auch nur deshalb, war sie so nett zu ihm, wie sie es nur immer sein konnte, und nur deshalb ließ sie ihre hübschen lachenden hellbraunen Augen so oft und mit solcher Innigkeit auf ihm ruhen. Einzg und allein deshalb, nicht etwa, wie ihr erster Verehrer Carlemann es damals sagte, um mit denen Unheil in der Welt anzurichten. Überhaupt war der Carlemann doch ein sehr dummer Junge gewesen und was hatte der wohl von Augen verstanden.

Mit Worten und mit Blicken suchte sie den hübschen Rudi darüber zu trösten, daß er die Tilly verloren, und dieser Trost gelang ihr zu ihrer Freude auch. Er wurde ein noch lustigerer und amüsanterer Gesellschafter, als er es bisher gewesen war, er tanzte noch leidenschaftlicher als früher und merkwürdigerweise fast nur mit ihr, aber das lag wohl einzig und allein daran, daß sie eine ganz ausgezeichnete Partnerin war. Aber auch sonst ging in seinem Wesen entschieden eine Veränderung vor und dafür gab es für alle nur eine Erklärung und die hieß: der hübsche Rudi war in sie, Brites, verliebt!

Das glaubten alle und das sagten ihr auch alle, aber sie selbst schüttelte erstaunt und verwundert den Kopf. Der hübsche Rudi in sie verliebt? Das war mehr als Unsinn, wie sollte der wohl dazu kommen, sie zu lieben? Hatte sie selbst denn auch nur das Geringste getan, um seine Zuneigung zu gewinnen? Hatte sie ihrerseits auch nur im geringsten mit ihm geflirtet oder auch nur kokettiert? Hatte sie ihm auch nur ein Wort oder einen Blick gegönnt, der ihn veranlaßt haben könne, sie auszuzeichen und dabei sein Herz an sie zu verlieren? Hatte sie ihn auch nur im geringsten ermuntert, ihr seine Liebe entgegenzubringen? Es waren noch zahllose andere ähnliche Fragen, die alle mit den Worten „hatte sie” anfingen und die sie an ihre Freundinnen richtete, als diese einmal mit ihr über Rudolf Bernburg sprachen, und alle hatten ihr glücklicherweise darin beigestimmt, nein, sie selbst hatte nichts, aber auch gar nichts getan, damit er gerade an ihr besonderes Wohlgefallen fände. Bis sich die Freundinnen dann über den Punkt auch schon deshalb beruhigten, weil da ja noch etwas anderes mitspräche, nämlich die große Frage, ob sie, Brites —

Aber da hatte sie die anderen nicht zu Ende sprechen lassen, denn sie wußte ja ohnehin, was die meinten, die große Frage, ob sie später dem hübschen Rudi werde schwören können, daß sie, bevor sie ihm den Brautkuß gab, noch nie einen anderen liebte und küßte. Dieser Frage wollte und mußte sie entgehen und so rief sie den anderen schnell zu: „Ihr habt ganz recht, die große Frage ist die, ob ich ihn wieder liebe, oder ob ich ihn je lieben werde und darauf kann ich im Augenblick nur zur Antwort geben, das weiß ich nicht, denn darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.”

Dann war sie so schnell, wie es ihr in unauffälliger Weise nur möglich war, aufgebrochen. Mochten die Freundinnen sich nun ohne sie weiter den Kopf über sie und über Rudolf Bernbug zerbrechen, auch darüber, ob sie den verlangten Schwur wohl je werde ablegen können. Für sie selbst hatte diese Frage noch viel Zeit, erst mußte sie wissen, ob der hübsche Rudi sie, ohne daß sie das Geringste dazu beigetragen hatte, sie [sic! D.Hrsgb.] wirklich liebe, wie die Freundinnen es als Tatsache annahmen und wie es auch ihr schon zuweilen so vorgekommen war.

Und seit heute vormittag wußte sie nun noch Bestimmteres, als sie es, wenn sie offen und ehrlich sein wollte, schon längst zu wissen geglaubt hatte. Ja, seit heute vormittag wußte sie, daß er sie liebe, denn als sie sich auf der Promenade trafen, da hatte er sie, was er sonst nie tat, angesprochen und um Erlaubnis gebeten, sie ein paar Schritte begleiten zu dürfen. Aus den paar Schritten waren aber viele hundert geworden und unterwegs hatte er ihr erzählt, er sei ein paar Tage geschäftlich auf Reisen gewesen, und zwar in München, das er früher über alles geliebt habe. Jetzt aber gefiele ihm die Stadt gar nicht mehr, und so kurz sein Aufenthalt dort auch nur gewesen sei, er habe sich trotzdem beständig hierher zurückgesehnt und er könne gar nicht sagen, wie froh er gewesen sei, als er von der Bahn aus diese seine neue Heimatstadt endlich wiedergesehen habe. Und während er nun die Stadt pries und während er noch einmal von der Sehnsucht sprach, die er während seiner Abwesenheit nach hier empfunden, sah er nur sie an, sie allein, so daß selbst ein Zögling des Idiotenhauses hätte verstehen müssen, wem seine Sehnsucht in Wahrheit gegolten. Sie aber war in keiner Idiotenanstalt groß geworden, o nein, ihr hatten die Götter einen scharfen Verstand und einen sehr feinen Instinkt mit auf die Welt gegeben, aber beides hatte sie heute vormittag gar nicht gebraucht, denn er sprach zu deutlich, als daß sie ihn nicht auch ohnehin hätte verstehen müssen. Und dann erzählte er ihr, wie sehr er sich auf die bevorstehende kleine Gesellschaft im Hause des Konsuls Redlich freue und wie er hoffe, sie dort zu Tisch führen zu dürfen, und dann hatte er sie gebeten, ihm möglichst viele Tänze zu reservieren, und während sein Mund so zu ihr sprach, hatten seine Augen ihr noch viel mehr gesagt. Ja, deutlicher als er es getan, konnte er ihr wirklich nicht zu verstehen geben, daß er sie liebe, und sie wußte, daß es nur noch ganz kurze Zeit dauern würde, bis er sie um ihr Hand bat

Was aber dann? Konnte sie, gerade sie ihm, wenn er es von ihr verlangte, schwören, daß sie vor ihm noch nie einen anderen liebte und küßte?

Natürlich, der Carlemann zählte nicht mit, der war damals ein dummer Junge gewesen und sie ein fast noch dümmeres Mädel und was sie für den empfand, war nie und nimmer Liebe gewesen, denn die hatte sie vor so vielen, vielen Jahren noch gar nicht gekannt und wenn sie beide sich auch küßten, die Küsse zählten nicht mit, das waren Kinderküsse gewesen, denn sie zählte damals erst sechzehn Jahre und in dem Alter ist man doch noch ein Kind, wenn man sich auch noch so sehr einbildet, schon erwachsen zu sein.

Nein, der Carlemann kam für den Schwur gar nicht in Betracht, eher schon ihr verflossener Waldemar, der in der Stadt, in der sie früher mit ihren Eltern lebte, seinen Wohnsitz hatte und der den Ruf genoß, unter den jungen Literaten Deutschlands eins der bedeutendsten und stärksten Talente zu sein. Von Ansehen kannte sie ihn natürlich schon lange, bis sie ihn eines Tages auch aus allernächster Nähe, wenn auch noch nicht persönlich, kennen lernte. Es fand für einen patriotischen Zweck ein Wohltätigkeitsabend statt, an dem unter anderen Mitwirkenden auch der einheimische Dichter Waldemar Pfannenberg mitmachte, und da, als sie die Veranstaltung mit ihre Eltern besuchte und als sie in der ersten Saalreihe, gerade vor seinem Vortragspult saß, verliebte sie sich auf Anhieb in ihn. Nicht etwa, als ob seine ganz modernen, beinahe dadaistischen Gedichte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hätten, nein, das nicht, das schon deshalb nicht, weil sie auf die gar nicht hinhörte und das konnte sie auch nicht, denn ob sie wollte oder nicht, sie mußte ihm fortwährend auf seine Hände sehen, die so schön waren, daß sie es gar nicht für möglich gehalten hätte, ein Mann könne so wunderbar schöne Hände haben. Diese seine Hände taten es ihr an, die verwirrten ihr den Sinn und ihre heißen Sinne und sofort stand eins bei ihr fest: diese Hände willst du einmal küssen, aber die sollen erst recht die deinen ergreifen und festhalten, die sollen sich aber auch um deinen Körper legen, mit denen soll er dich ganz fest an sich pressen, so fest, daß dir der Atem vergeht, und dann soll er dein Gesicht zwischen seine Hände nehmen und deinen Mund küssen, so lange er nur irgend küssen kann. Und als sie das beschlossen hatte, klatschte sie jedem seiner Gedichte rasenden Beifall, wenn auch nur deshalb, um dadurch seine Aufmerksmkeit zu erregen, und das gelang ihr auch, denn er warf ihr einen langen, langen Blick zu, aber wenn der sie auch sehr erfreute, so ließ der sie trotzdem eigentlich ganz kalt, denn seine Augen waren recht nichtssagend, die waren grau, und graue Augen liebte sie, wenigstens bei einem Manne, nicht. Aber seine Hände, seine Hände! Von denen träumte sie die ganze Nacht und einmal wurde sie davon wach, daß sie denen einen sehr energischen Klaps gab, weil sie zu indiskret gewesen waren, aber dann tat es ihr leid, daß sie geklapst hatte, und schlief auch sofort wieder ein, um weiter zu träumen. Ach und der Traum war so süß, so daß, als sie am nächsten Morgen erwachte, der brennende Wunsch in ihr wach geworden war, es baldmöglichst zu erfahren, ob die Wirklichkeit nicht vielleicht noch süßer sei als der Traum. So schreib sie ihm denn einen Brief, in dem sie ihn um Erlaubnis bat, ihm für den unvergleichlichen Genuß, den er ihr durch den Vortrag seiner Gedichte bereitet, auch persönlich ihren Dank aussprechen zu dürfen und sie überließ es ganz ihm, Zeit und Stunde und Ort des Rendezvous zu bestimmen. Unterschreiben tat sie den Brief mit den Worten: Die junge Dame aus der ersten Saalreihe, die Ihnen gestern abend gerade gegenüber saß und der Sie mit einem Blick für den Beifall dankten, den sie Ihnen aus ehrlichster Bewunderung, wenn leider auch nur mit schwachen Mädchenhänden zollte.

Schon am nächsten Tag war seine postlagernd erbetene Antwort da und nicht einen Augenblick zögerte sie, ihn, wie er es vorschlug, in seiner Wohnung zu besuchen, da sie dort am sichersten sei, nicht gesehen zu werden und da er ihr nur dort aus seinen Werken, an denen sie so warmen und kunstverständigen Anteil nähme, vorlesen könne. Ach und sie brauchte es wirklich nicht zu bereuen, daß sie zu ihm ging, es war so wahnsinnig gemütlich in seinem Dichterzimmer und er hatte sogar mit vielem Geschmack und mit schönen Kuchen und Süßigkeiten den Teetisch für sie beide gedeckt, und so schöne Zigaretten, wie bei ihm, hatte sie noch nie geraucht. Nur daß er ihr zuerst wirklich etwas aus seinen Gedichten vorlas, störte sie, denn deshalb war sie doch nicht gekommen und das hätte er sich eigentlich allein sagen können, aber trotzdem, diese seine Gedichte gaben ihr Veranlassung, ihm, dem Meister, bewundernd und anerkennend die Hände zu küssen, bis er dann endlich auch ihre Hände küßte, und dann küßte er auch ihren Mund, während er dabei, wie sie es sich gewünscht hatte, ihren Kopf zwischen seinen Händen hielt. Und dann zog er sie zu sich auf seinen Schoß und dann — dann kam sie mit so zerzausten Haaren so spät wieder nach Hause, daß sie gerade noch Zeit hatte, sich vor dem Abendessen neu zu frisieren und dadurch neugierigen und verwunderten Fragen der Eltern zu entgehen. In der Nacht aber, die diesem Tag folgte, schlief sie überhaupt nicht, sie wollte auch nicht schlafen, damit sie nicht etwa wieder träume, denn was konnte ihr selbst der schönste Traum im Vergleich zu der Wirklichkeit sein, die sie am Nachmittag und jetzt noch in der Erinnerung genoß? Und gerade weil sie nicht schlief, hatte sie Zeit genug, über ihn nachzudenken und da wurde ihr klar, daß sie doch nicht nur seine schönen Hände liebe, sondern auch ihn selbst, ja sogar auch seine Gedichte, denn er hatte ihr da ein Liebesgedicht auf die Brüste einer ehemaligen Geliebten vorgelesen — gewiß, anständig war das gerade nicht gewesen, aber trotzdem sehr schön. Nur ein wirklicher Dichter, nur ein moderner, der den Mut hatte, alles, was er empfand, auch in Worte zu kleiden, hatte das schaffen können, und sie war mehr als stolz und glücklich, daß er ihr versprach, ein ebenso heißes und sinnliches Gedicht auf ihre Beine zu machen.

Ja, sie liebte ihren Waldemar von ganzem Herzen, mit all ihren Sinnen, und ihre Liebe zu ihm wuchs, je öfter sie sich fortan sahen, je öfter sie den Tee bei ihm trank und sie glaubte, sie solle sterben, als er ihr eines Tages erzählte, er habe einen Ruf nach Berlin erhalten, um dort in die Redaktion einer neugegründeten Zeitschrift Jungdeutschlands einzutreten. Noch sei es zwar nicht gewiß, ob er dem Ruf, so ehrenvoll und so einträglich der finanziell auch sei, Folge leisten werde, aber —

Daß er den Satz nicht zu Ende sprach und das Wort „aber” sagten ihr genug, sie brach in leidenschaftliche Tränen aus und beschwor ihn, nicht fortzugehen, sondern an sie zu denken, denn sie könne nicht mehr ohne ihn leben. Soviel Tränen wie an dem Nachmittag hatte sie bisher in ihrem ganzen Leben noch nicht vergossen und es war rührend von ihm, wie er sie zu trösten versuchte, wie er mit heißen, leidenschaftlichen Worten, die ihr deutlich seine Liebe verrieten, auf sie einsprach, wie er sie küßte, wie seine Hände sie immer wieder streichelten und liebkosten, bis es ihm allmählich, ganz allmählich auch gelang, wenigstens ihren wildesten Schmerz zu besänftigen, denn noch war es ja auch gar nicht gewiß, ob er nach Berlin gehen würde.

Aber bald darauf war er dorthin gegangen, denn als sie eines Nachmittags zu der gewohnten Stunde zu ihm kam, übergab ihr seine Wirtin einen Brief, in dem er von ihr Abschied nahm und in dem er ihr noch einmal für alles dankte, was sie ihm gewesen sei: „Ich habe nicht den Mut und nicht die Kraft, persönlich von Dir Abschied zu nehmen. Deine Tränen und Deine Liebe könnten mich schwach machen und mich zum Bleiben bewegen, aber das darf nicht sein. Die Pflicht ruft, Jungdeutschland erwartet von mir, daß ich ihm meine ganzen geistigen Kräfte widme, das kann ich aber nicht hier, sondern nur in Berlin, wo ich das richtige Arbeitsfeld und auch die Mittel finde, um meine Arbeiten in großen Auflagen erscheinen zu lassen. So mußte ich gehen, das wirst Du begreifen und mir deshalb auch verzeihen. Leicht wird auch mir der heimliche Abschied nicht, denn Du warst mir viel. Wieviel, das möge Dir, wenn auch nur zum Teil, das einliegende Gedicht beweisen.”

Das Gedicht aber, das seinem Abschiedsgruß beilag, trug die Widmung: „Den Beinen meiner Freundin.” Ja, er hatte glücklicherweise den Ausdruck Freundin gewählt und nicht das ihr so schreckliche Wort Geliebte, denn eine solche in dem Sinne, wie die große Menge den deutete, war sie ihm nie gewesen und seine Geliebte wäre sie auch nie geworden, dazu war ihre gegenseitige Liebe zu keusch und zu rein, so leidenschaftlich die auch sonst immer war, und außerdem äußerte er seltsamerweise, so oft sie auch darauf wartete, nie den Wunsch, daß sie ihm als Geliebte angehören möge. Selbstverständlich hätte sie seine Bitte nie erfüllt, aber es wäre ihr nicht leicht geworden, ihm die abzuschlagen, und deshalb war sie im Grunde ihres Herzens sehr froh und dankbar, daß er mit dem zufrieden war, was sie ihm gab und gewährte.

An jenem Nachmittag hatte die Trennungsstunde geschlagen, er war fort für immer und hatte ihr als Abschiedsgruß sein Gedicht an ihre Beine zurückgelassen. Und dieses Gedicht las sie denn auch, als sie vor lauter Tränen endlich lesen konnte, immer und immer wieder, denn seine Verse waren schön, dichterisch schön und sinnlich wollüstig zugleich, und die gefielenihr schon deshalb so über alles, weil sie aus denen erst recht ersah, wie schön er ihre Beine gefunden hatte und daß die noch viel schöner sein mußten, als sie die selbst fand, so oft sie die im Spiegel betrachtete. Ja, schön war das Gedicht, aber wenn sie ganz offen sein wollte, es war beinahe noch anstößiger als seine Verse auf die Brüste einer verlassenen Geliebten. Aber für die Öffentlichkeit war das Gedicht ja auch nicht betsimmt, denn damals ahnte sie noch nichts davon, daß sie die Versei ein Jahr später in der neuen von ihm redigierten Zeitschrift lesen würde.

Ihr Waldemar hatte sie verlassen und das warf sie, wie die Dichter das so schön nennen, auf das Krankenlager. Tagelang lag sie völlig apathisch zu Bett, unfähig, sich zu rühren, außerstande, klar zu denken und zu sprechen. Neben ihrem Bett aber saß täglich der alte ergraute Hausarzt und klopfte und horchte und fühlte an ihr herum, bis er schließlich eine schwere Magenverstimmung konstatierte und ihr drei Tage lang dreimal täglich einen gehäuften Eßlöffel voll Rizinusöl verordnete, eine Medizin, die aber schon deshalb nicht half, weil sie die nicht einnahm. Bis dann ihre Jugend und ihre kräftige Konstitution sie allein wieder gesund machten; aber das gestand sie sich ein, als sie das Bett wieder verließ, völlig würde sie die Trennung von ihrem Waldemar nie überwinden, sie würde in ihrem ganzen Leben nie wieder lachen können und sie würde sich erst recht nie, nie wieder in einen anderen Mann verlieben.

Aber was sie nie und nimmermehr für möglich gehalten hätte, geschah dennoch. Eines Abends, als sie mit den Eltern im Theater war und sich Romeo und Julia ansah, verliebte sie sich doch wieder, nein, sie war auf einmal wieder verliebt, und zwar noch viel glühender und leidenschaftlicher, als sie es in ihren Waldemar gewesen war. Wo aber gab es auf der ganzen Welt auch wohl einen Mann, der so auffallend hübsch war wie der Schauspieler Max Krause, der den Romeo spielte und der schon allein durch seine Erscheinung das ausverkaufte Haus zu stürmischem Beifall hinriß? Wo gab es einen zweiten so gottbegnadeten Künstler, der in so vollendeter Weise wie er seine Rolle verkörperte? Allerdings, als sie am nächsten Tag die Besprechung in der Zeitung las, hatte der Kritiker an der Leistung des Romeo entsetzlich viel auszusetzen, der ließ an der Darstellung des Künstlers kein gutes Haar, sondern erkannte nur an, daß er sehr gut ausgesehen habe. Selbstverständlich war sie empört, als sie das las, denn die Kritik war maßlos ungerecht, aus der sprach lediglich der Neid und die Mißgunst einer armen Schreiberseele, die vielleicht selbst einmal davon geträumt hatte, ein darstellender Künstler zu werden. Die Kritik war nach ihrer Ansicht einfach empörend. Hoffentlich nahm ihr Romeo sich die nicht einen Augenblick zu Herzen, hoffentlich glaubte der nicht eine Sekunde, daß er gestern abend einfach zum Niederschießen gewesen sei, wie es in der Besprechung hieß. Und um ihm zu sagen, wie gut, nein, wie glänzend er gespielt habe, setzte sie sich sofort hin und schrieb ihm einen langen, langen Brief, und damit er auch sähe, daß sie nicht die erste beste sei, sondern ein junges Mädchen, das viel von Kunst verstände, legte sie ihren Zeilen ihr Bild bei. Ihr Bild aber und das, was sie ihm über sein Spiel schrieb, mußten ihm gefallen haben, denn er antwortete ihr gleich und bat sie um ein Rendezvous, da es ihm ein erhebendes Bewußtsein sei, daß es in dieser Krämerstadt unter diesen Krämerseelen wenigstens einen Menschen gäbe, der ihn und seine Auffassung des Romeo verstände. Daß die letztere von der bisherigen Schablone abwiche, sei ihm natürlich bekannt, aber müsse man als gottbegnadeter Künstler, und als solcher fühle er sich, denn stets in den Fußpfaden wandeln, die schon andere vor ihm gegangen und die schon so ausgetreten wären, daß man in denen rettungslos versänke, wenn man sich nicht seinen eigenen Pfad bahne? Nie und nimmer würde er das Engagement hierher angenommen haben, wenn er hätte ahnen können, daß hier in der Stadt, die er versehentlich für kunstverständig gehalten, die öffentliche Kritik in den Händen eines solchen Banausen läge, den er am liebsten windelweich prügeln würde, wenn er seine Hände nicht für zu gut hielte, einen solchen Menschen auch nur anzufassen. Im übrigen möge sie sich beruhigen, selbstverständlich habe er sich über die Kritik schon deshalb nicht geärgert, weil er eigentlich nie eine Kritik läse. Auch in diese habe er nur durch einen Zufall einen Blick geworfen und habe über die furchtbar lachen müssen, aber trotzdem würde es ihm eine große künstlerische Freude sein, sich mit ihr über seine Auffassung des Romeo aussprechen zu können, zumal ihr Bild ihm auf den ersten Blick gezeigt habe, daß sie nicht nur ein auffallend hübsches, sondern auch ein auffallend kluges junges Mädchen sei, wie das ja schon aus ihrem Brief an ihn hervorginge. Tag, Ort und Stunde des Rendezvous möge sie selbst bestimmen.

Das tat sie denn auch, und als sie von dem ersten Zusammensein mit ihm zurückkam, war sie noch viel, viel verliebter in ihn, als an dem Abend im Theater, und erst recht noch viel verliebter als in ihren Waldemar, denn an dem hatte sie doch eigentlich nur seine schönen Hände geliebt, aber an ihrem Romeo, wie sie den nannte, liebte sie alles, seine schöne Figur, seine schmalen Füße, seine dunklen Augen, sein wundervolles dunkles Haar, seine blendend weißen Zähne und wahrlich nicht in letzter Linie die berauschende Musik seines Organs. Und dann liebte sie an ihm seine Bescheidenheit. Gewiß, er sprach in der Hauptsache nur von sich, aber immer wieder erklärte er ihr, er täte das nur widerstrebend, aber er müsse es tun, damit sie ihn kennen lerne, damit sie einsähe, daß er in seinem Privatleben kein Komödiant sei, daß er anders wäre als die andern, die immer, aber auch immer nur von sich sprächen, die kein anderes Talent neben dem eigenen anerkannten, während er neidlos zugäbe, daß Moissi, Bassermann, Paul Wegener und noch viele andere Künsteler allerersten Ranges seien, wenngleich auch die natürlich von der Presse und von dem im allgemeinen völlig urteilslosen Publikum weit überschätzt würden, besonders seitdem die großen Berliner Schauspieler es sich, lediglich des schnöden Mammons wegen, angewöhnt hätten, auch vor dem Kurbelkasten zu spielen und infolgedessen die Filmkunst nur zu oft auch auf die Bühne verpflanzten. Er selbst denke da anders, die Kunst stände ihm viel höher als jeder materielle Gewinn, deshalb würde er sich auch nie zu dem Kurbelkasten erniedrigen, obgleich gerade ihm schon von den verschiedensten Gesellschaften die glänzendsten Angebote gemacht seien. Aber wenn die Leute ihn überhaupt je für sich gewinnen wollten, dann müßten die ihm noch weit höhere Honorare bieten, als sie es bisher taten, denn für lumpige tausend Mark pro Tag, mit denen selbst ein Moissi zufrieden sei, spiele er ganz gewiß nicht. Fünfzehnhundert Mark pro Tag sei das Wenigste, was er verlange, dann aber würde durch seine Mitwirkung endlich auch wirklich ein Meisterfilm zustandekommen. Dann aber hatte er mit einer Gebärde, die deutlich seinen grenzenlosen Ekel vor allem, was Geld hieß, verriet, das Gespräch beendet und hatte angefangen, ihr von seiner Liebe zu sprechen, die er sofort für sie empfunden, als er ihre Zeilen gelesen, „denn ein Brief, gnädiges Fräulein, ist noch viel mehr, als es die Augen eines Menschen sind, dessen Seele. Wie man schreibt, so empfindet man auch,” und ehe sie recht wußte, wie ihr geschah, hatte er seine rechte Hand um sie gelegt, dann hatte es nur noch einen Augenblick gedauert und er küßte sie. Und wie küßte er! Heiß und kalt war ihr dabei geworden, nein eigentlich nur heiß, siedend heiß, aber er gab ihren Mund auch gar nicht wieder frei, er saugte sich an dem förmlich fest, so daß es lange dauerte, bis sie ihn wieder küssen konnte, aber dann küßte auch sie, wie sie nie geglaubt hätte, daß sie küssen könne, denn so sinnlich, so leidenschaftlich, so unkeusch, wie sie das selbst im stillen nannte, hatte sie nicht einmal ihren Waldemar geküßt, aber den hatte sie ja auch nicht annähernd so geliebt wie ihren Romeo. Und ihre Liebe zu ihm wuchs von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, sie dachte an ihn vom frühen Morgen bis zum späten Abend und des Nachts träumte sie von ihm. Ihr Herz schlug ihm, nur ihm entgegen, aber ihre Sinne, ihre heißen wilden Sinne taten das erst recht und wenn sie sich auch tausendmal zurief: „Nein, nein, das wirst du nie, niemals tun,” sie wußte doch, daß sie nicht die Kraft haben würde, sich ihm zu verweigern, wenn er sie eines Tages bitten sollte, ihm zum Beweise ihrer schrankenlosen Liebe ganz anzugehören. Sie zitterte vor dem Augenblick, da er dieses Ansinnen an sie stellen würde, und doch sehnte sie den namentlich des Nachts mit fliegenden Pulsen und mit klopfendem Herzen herbei und sie begriff es gar nicht, warum er nicht schon längst wenigstens den Versuch gemacht hätte, sie ganz zu erobern.

Bis sie es dann eines Tages erfuhr. Er hatte unter den mit ihm zusammen engagierten Schauapielerinnen eine Geliebte, die ihm rund heraus erklärt hatte: „Flirten und küssen kannst du mit den jungen Mädels in der Stadt soviel du willst, dagegen habe ich nichts, im Gegenteil, das ist mir sehr lieb, denn je mehr junge Mädchen deinetwegen in das Theater laufen, je mehr sie dir applaudieren, je mehr Blumen und andere Geschenke sie dir schicken, desto besser ist deine Stimmung, desto rosiger deine Laune, weil du dir dann immer aufs neue einbildest, die Huldigungen, die man dir darbringt, gälten wirklich deinem Talent, während die Weibchen in Wirklichkeit doch nur deshalb auf dich fliegen, weil du leider Gottes ein sehr hübscher Kerl und wie die meisten hübschen Kerle auch ein eitler, gewissenloser Narr bist, der nichts unversucht läßt, um sich die Mädchen gefügig zu machen. Wie wenig du taugst, das weiß nur ich, aber trotzdem liebe ich dich leider, wenn auch nicht gerade mit dem Herzen; aber das sage ich dir, mein Junge, an dem Tage, an dem du mich mit einer anderen betrügst, in der Stunde, in der ich erfahre, daß du mir untreu geworden bist, gibt es drei Leichen. Die erste bist du, mein Herzblatt, die zweite ist das Mädel, das du verführtest, und die dritte bin ich, denn lieber schieße ich mich selbst tot, als daß ich mir deinetwegen den Kopf abhacken lasse.”

So hatte seine Geliebte zu ihm gesprochen, und da ihr Geliebter in der Furcht des Herrn lebte, seine Freundin könne und würde ihre Drohung mit den drei Leichen eines Tages zur Wahrheit machen, hatte er es nicht gewagt, sie, seine Brites, zu bitten, ihm den letzten und den größten Beweis ihrer Liebe zu geben. Daß er so feige war und daß er es gar nicht erst darauf ankommen ließ, ob seine Freundin ihn wirklich totschießen würde, das fand sie mehr als erbärmlich von ihm, wenngleich sie im Grunde ihres Herzens natürlich sehr froh darüber war, daß sie der Gefahr, ihm ihre Ehre zum Opfer bringen zu müssen, entging. Aber noch viel erbärmlicher als seine Feigheit war seine Gemeinheit, die darin bestand, daß er sie nur deshalb küßte, ihr nur deshalb heiße Liebesworte zuflüsterte, ihr nur deshalb mit seinen Küssen die Sinne verwirrte, damit sie jedesmal, wenn er spielte, in das Theater lief, damit sie sich die Hände wund klatschte und damit sie ihm beständig Blumen auf die Bühne schicken ließ. Sie hatte einen Gott oder wenigstens dreiviertel Gott in ihm gesehen und statt dessen erwies er sich als ein ganzer Schuft und es war nur gut, daß sie das alles über ihn erst erfuhr, nachdem er bereits vierundzwanzig Stunden vorher von dem Direktor Knall und Fall entlassen worden war, da er in total betrunkenem Zustande zu einer Generalprobe kam. Ja es war sein Glück, daß er die Stadt bereits verlassen hatte, als sie hinter seine Gemeinheit kam und als sie seinen wahren Charakter erkannte, denn sonst hätte es von ihrer Seite aus, wenn auch nicht gerade drei Leichen, so doch einen Skandal gegeben, denn ihr Zorn und ihre Empörung gegen ihn kannten keine Grenzen.

Aber so oft sie es sich, als sie ihn Gott sei Dank nicht mehr zu sehen brauchte, eingestand, daß er ihre Liebe nie, niemals verdient habe, sie liebte ihn trotzdem weiter, sie verzehrte sich förmlich vor Sehnsucht nach ihm, sie weinte und jammerte immer aufs neue vor sich hin, wenn des Nachmittags die Stunde kam, in der sie sich sonst mit ihm zu treffen pflegte, sie sehnte sich Tag und Nach nach seinen heißen Küssen und es dauerte lange, lange, bis sie sich ganz beruhigte, und bis sie an ihn denken konnte, ohne daß ihr immer gleich die Tränen kamen.

Solange das aber auch ohnehin dauerte, es hätte vielleicht, nein sicher, noch viel länger gedauert, wenn sie sich nicht zwar etwas reichlich spät, aber dennoch nicht zu spät, im letzten Kriegsjahr als Hilfsschwester bei einem der vielen städtischen Lazarette gemeldet hätte. Bisher hatte sie das unterlassen, weil sie kein Blut sehen konnte und weil sie auch nach ihrer Meinung für diesen Lazarettdienst bei dem besten Willen keine Zeit hatte. Nun aber meldete sie sich doch, schon um durch ihre neue Tätigkeit von ihren Gedanken, die immer noch ihrem Romeo galten, abgelenkt zu werden, und da gerade ein starker Bedarf an neuen Hilfsschwestern herrschte, wurde sie, nachdem sie einen kurzen Kursus durchgemacht hatte, auch sofort eingestellt. Und da lernte sie ihren Kurt kennen. Er war ein blutjunger, kaum zwanzig Jahr alter Leutnant, mit einem völlig bartlosen Knabengesicht, mit wunderschönen dunkelblauen Augen und mit ganz dichtem, dunkelblondem Haar. Mit einer sehr schweren Brustwunde war er eingeliefert worden. Ein Granatsplitter hatte ihn getroffen und dabei auch seine Lungen arg verletzt, so daß, wenn überhaupt, nur eine ganz, ganz geringe Hoffnung bestand, ihn am Leben zu erhalten. Schwer röchelnd und meistens im hohen Fieber lag er in seinem Bett und sie saß neben ihm, um jederzeit zur Stelle zu sein, wenn er auch nur der geringsten Hilfe bedürfe. Und während sie neben ihm saß und sein junges Gesicht voll innigster Anteilnahme betrachtete, hatte sie fortwährend nur den einen Gedanken: Du darfst mit deinen zwanzig Jahren noch nicht sterben, du nicht, gerade du nicht. Und mit leiser zarter Hand trocknete sie ihm immer wieder die heiße Stirn und hielt seine Rechte, da ihn das zu beruhigen schien, unermüdlich in der ihrigen. Und ihre Nähe schien auf seinen Zustand einen heilenden Einfluß auszuüben, eines Morgens war er bei völlig klarem Bewußtsein und er sah sie mit seinen reinen unverdorbenen Knabenaugen an, als sei sie für ihn eine überirdische Erscheinung, um sie dann mit leiser Stimme nach ihrem Namen zu fragen. Und der mußte ihm gefallen haben, denn immer wieder wiederholte er: „Schwester Brites — Schwester Brites,” um sie schließlich zu bitten: „Nicht wahr, Schwester Brites, Sie bleiben bei mir, bis ich gestorben bin, Sie dulden es nicht, daß eine andere Schwester zu mir kommt?”

Das versprach sie ihm, aber nur unter der Bedingung, daß er nie wieder daran denken wolle, er könne sterben: „Nie, niemals dürfen Sie so etwas auch nur einen Augenblick glauben, Herr von Karchim, und erst recht dürfen Sie so etwas nie wieder sagen, wenn Sie wirklich wollen, daß ich bei Ihnen bleibe. Sie werden wieder gesunden, und zwar sehr bald. Erst gestern hat der Arzt Sie in meiner Gegenwart auf das genaueste untersucht und war mit Ihnen sehr zufrieden. Ihre völlige Wiederherstellung ist nur eine Frage der Zeit. Vielleicht können Sie sogar, wenn dieser furchtbare Krieg noch lange dauert, wieder hinaus ins Feld, zurück zu Ihrem Regiment.”

Jedes Wort, das sie da sagte, war eine bewußte Lüge, aber wie hätte sie dem armen Kranken wohl die Wahrheit eingestehen können? Aber so fest, so zuversichtlich ihre Stimme auch klang, er glaubte ihr trotzdem nicht, er schüttelte nur ganz unmerkbar den Kopf, dann aber meinte er: „Sie dürfen nicht sagen, daß der Krieg furchtbar ist, Schwester Brites, der Krieg ist schön, wenigstens für uns da draußen und kein Wort ist so wahr wie das: es ist süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben. Aber nicht im Lazarett, Schwester Brites, nicht hier im Krankenhaus, sondern draußen vor dem Feind.”

„Nicht so viel sprechen, Herr von Karchim, nicht so viel sprechen,” bat sie, „Sie müssen ganz still und ruhig liegen, sonst schilt nachher der Herr Oberstabsarzt und dann dauert es nur um so länger, bis Sie zum erstenmal wieder aufstehen dürfen.”

Mit einem Blick, aus dem schon wieder das einsetzende Fieber sprach, sah er sie an: „Glauben Sie wirklich, Schwester Brites, daß ich noch einmal aufstehen werde?”

Abermals belog sie ihn mit schwerem Herzen: „Ich glaube es nicht nur, ich weiß es sogar, Herr von Karchim.”

Der Schatten eines leisen glücklichen Lächelns umspielte seinen blaßen Mund, und so stark er es nur konnte, drückte er ihre Hand, dann überfiel ihn die Müdigkeit, aber schon im Einschlafen bat er: „Nicht Herr von Karchim, Schwester Brites, sondern Kurt, nur Kurt.”

Und um ihm damit eine Freude zu machen, nannte sie ihn fortan nur Kurt und er war ihr so dankbar dafür, so grenzenlos dankbar. Und wohl damit, daß sie ihn nur noch mit Vornamen anredete, hing es zusammen, daß er sie eines Nachmittags in seinem Fieberdelirium bat: „Schwester Brites, küsse mich.” Und da er nicht aufhörte, darum zu bitten, beugte sie sich über ihn und küßte ihn auf den heißen fiebernden Mund, sie küßte ihn so rein und so keusch, wie man nur immer einen Kranken küssen kann, aber trotzdem, in der Minute, in der sie ihn küßte, fühlte sie, daß sie ihn liebe, daß nur ihre Liebe zu ihm sie fortwährend zu Gott hatte beten lassen: „Vater im Himmel, laß gerade ihn nicht sterben, ihn nicht, der noch so jung ist, der das Leben noch gar nicht kennt, der daheim Mutter und Schwestern hat, die für ihn zittern. Vater im Himmel, laß gerade ihn nicht sterben.” Mit einemmal wurde ihr klar, daß und wie sehr sie ihn liebe, ganz anders als bisher ihren Waldemar und ihren Romeo, an die neben seinem Bett zurückzudenken sie sich schämte, sie liebte ihn so rein, wie sie gar nicht geglaubt hatte, daß gerade sie lieben könne, und wenn diese Liebe ja auch, wenn sie sich nüchtern und prosaisch so ausdrücken durfte, zwecklos war, da er ja doch sterben mußte — aber nein, das durfte er nicht, er sollte und mußte am Leben bleiben und dann, wenn er wieder gesund war, würden sie beide sich verloben und später würden sie sich heiraten und dann kam das Glück, das wirkliche Glück einer großen starken Liebe für sie, aber auch für ihn, denn alles, alles, was eine Frau für ihren Mann nur tun konnte, wollte sie für ihn tun, damit er wunschlos glücklich würde und es auch bliebe.

Ja er mußte, er mußte am Leben bleiben, aber wenn er auch jetzt oft in wachendem Zustand zu ihr sagte: „Nur wenn Sie mich küssen, werde ich ganz wieder gesund werden,” und wenn sie ihn auch küßte, so oft er sie darum bat, wenn sie auch Tag und Nacht neben seinem Bett saß und sich kaum die allernotwendigste Ruhe gönnte, sein Leben floh mehr und mehr dahin, bis es ihm eines Morgens unerwartet so gut ging, daß sie dem Arzt, als der das Zimmer betrat, zuflüsterte: „Herr Oberstabsarzt, ich glaube, er ist gerettet.”

Aber das, was sie in ihrer Unerfahrenheit und Unkenntnis für eine Besserung hielt, war das letzte Aufflackern des längst ohnehin schon so schwachen Lebenslichtes, denn als der Oberstabsarzt das Zimmer verließ, winkte er sie zu sich heraus und sagte ihr dort: „Seien Sie stark, Schwester Brites, beherrschen Sie sich und zeigen Sie Ihrem Kranken, den Sie so treu gepflegt haben, auf keinen Fall, wie es um ihn steht, denn ehe die sechste Nachmittagsstunde herankommt, ist er erlöst.”

Sie hatte laut aufschreien wollen, aber mit einem schnellen Griff hielt ihr der Oberstabsarzt den Mund zu, während er ihr gleichzeitig zurief: „Schwester Brites, tun Sie Ihre Pflicht und die besteht heute darin, Ihrem Kranken, ohne daß er die Wahrheit ahnen darf, das Sterben zu erleichtern.” Und noch einmal klang es scharf und bestimmt an ihr Ohr: „Tun Sie Ihre Pflicht.”

Die tat sie, ohne zu wissen, woher sie die seelischen und die körperlichen Kräfte nahm, es ruhig mit anzuhören, wie ihr Kurt ihr erzählte, heute ginge es ihm so gut, daß er es nicht nur selbst glaube, sondern daß er es jetzt auch seinerseits wisse, wie er sehr bald wieder ganz gesund würde. Glücklich hatte er vor sich hin gelächelt und auf seinen Wunsch hin hatte sie ihm vorgelesen, ihm allerlei erzählt und ihn auch selbst sprechen lassen, so viel er nur wollte, denn heute schadete es ihm ja nichts mehr, heute mußte er ja doch sterben.

Uns ehe die sechste Nachmittagsstunde herangekommen war, starb er, nein, da schlief er für immer ein, mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, mit seiner Rechten ihre Rechte haltend. Aber kaum hatte er für immer seine Augen geschlossen, da brach sie ohnmächtig neben seinem Bett zusammen.

Der Schaukelstuhl, in dem Brites zu Anfang auf und ab gewippt hatte, stand schon eine ganze Weile still, sie hatte sich längst in dem aufgerichtet und blickte mit großen Augen vor sich hin, während sie nun noch einmal alles ganz deutlich vor sich sah, was sie in dem einfachen prunklosen Zimmer des Lazaretts erlebte. Dann aber strich sie sich ein paarmal mit der hübschen Hand über ihre Stirn und über ihre Augen, um alle Bilder und alle Gedanken der Vergangenheit zu verjagen.

Nicht um das, was gewesen war, handelte es sich jetzt für sie, sondern um das, was kam, und im Zusammenhang damit legte sie sich die Frage vor: Kannst du, kannst gerade du, dem hübschen Rudi schwören, daß du vor ihm noch nie einen anderen liebtest und küßtest?

Darauf gab es nur eine Antwort: Nein, das konnte sie nicht, niemals, unter gar keinen Umständen. Aber kaum war sie zu dieser Erkenntnis gelangt, da kam sofort eine neue Erkenntnis über sie und die lautete: „Gerade weil du es nicht kannst, gerade deshalb mußt du unter allen Umständen den verlangten Eid ablegen, denn was sollte wohl deine Mutter, was sollten wohl deine Freundinnen von dir denken, wenn deine von allen längst erwartete Verlobung im letzten Augenblick nicht zustande käme?” Und was sollte der hübsche Rudi erst von ihr halten, wenn sie, gerade sie, auf die er so große Stücke zu halten schien, der offenbar an sie glaubte wie an keine andere, der sich sicher schon heute darauf freute, sie bald in das Brautgemach führen zu können, wie würde dessen Urteil über sie in Zukunft wohl lauten, wenn sie ihm auf seinen Antrag hin zur Antwort gab: „Ich kann das, was Sie von mir verlangen, nicht beschwören.” Mußte er, wenn er gerade aus ihrem Munde diese Worte hörte, nicht wirklich glauben, daß es tatsächlich auf der ganzen Welt kein junges Mädchen gäbe, das nicht schon geliebt und geküßt hätte, und war sie es nicht schon ihrem Geschlecht schuldig, daß sie ihm durch ihren Eid den Beweis dafür erbrachte, daß die jungen Mädchen in Wahrheit ganz anders waren, als die schlechten Männer es von ihnen dachten?

Ja, sie mußte schwören und gerade sie konnte es auch mit gutem Gewissen, denn niemand hier in der Stadt wußte etwas von dem, was sie früher erlebt, und kein Mensch würde auch jemals etwas davon erfahren. Ihr Kurt, ihr lieber süßer Kurt, war tot, ihr Romeo war verschollen, wenigstens hatte sie nie wieder etwas von dem gehört und auch, als sie einmal im Wartezimmer ihres Zahnarztes in dem dort zufällig ausliegenden Theateralmanach blätterte, hatte sie in dem seinen Namen nicht gefunden. Nur ihr Waldemar lebte noch, der war jetzt eine bekannte und berühmte Persönlichkeit geworden, aber der hatte sie sicher längst ebenso vergessen wie sie ihn. Aber so stolz sie auch damals auf das Gedicht gewesen war, das er auf ihre Beine machte, es war doch eigentlich mehr als ungezogen und indiskret von ihm, daß er das Gedicht nachträglich in einen seiner Bände aufnahm. Was dann, wenn das Buch später einmal ihrem Rudi in die Hände fiel, wenn der sich das vielleicht sogar kaufte, ihr das Gedicht daraus vorlas und sie im Zusammenhang damit fragte: Ob es, wie aus den schönen Versen hervorzugehen scheint, wohl wirklich ein sogenanntes anständiges junges Mädchen gewesen ist, das ihn zu seinem Gedicht begeisterte? Oder noch schlimmer, wenn er gar lachend und übermütig zu ihr sagte: „Weißt du, Brites, das Mädel mit den Beinen hätte ich in meiner Junggesellenzeit auch einmal kennen lernen mögen.” Mußte sie da den Vorwurf, daß ihre Beine nicht so schön seien, wie die von ihrem Waldemar besungenen, nicht ruhig auf sich sitzen lassen, obgleich sie noch genau denselben schönen Wuchs hatte wie damals? Aber nein, solchen Befürchtungen brauchte sie sich nicht hinzugeben, ihr Rudi war sicher viel zu sehr Geschäftsmann, um für solche Verse Interesse zu haben, ganz gewiß würde er ihr niemals ein Gedicht vorlesen, und wenn er das wider alles Erwarten doch einmal tun sollte, würde sie ihn einfach bitten, sie damit zu verschonen, da sie sich aus solchen Reimereien, die sich der neuesten Mode entsprechend nicht einmal reimten, gar nichts mache. Und im allerschlimmsten Falle konnte sie das Buch, wenn er es eines Tages mit nach Hause bringen sollte, sofort in den Ofen werfen und ihm erklären, sie habe so viel Schlechtes über den Band, der mehr als unanständig sein solle, gehört, daß sie so etwas nicht in ihren vier Wänden dulde.

Wirklich, ihre Bedenken waren ganz grundlos, das sah sie immer mehr ein, je länger sie darüber nachdachte, und immer klarer und immer deutlicher wurde ihr, daß gerade sie jederzeit mit gutem Gewissen den verlangten Schwur leisten könne.

Allerdings, das gestand sie sich ein, mit einem Schwur war es trotz allem solche Sache. Auch heute noch, obgleich der Schwur ja nicht mehr so feierlich war wie früher. Als sie vor Jahren einmal vor Gericht hatte erscheinen müssen, um in einer Verhandlung, die sich gegen ein ehemaliges Dienstmädchen ihrer Mutter richtete, das sie fürchterlich bestohlen hatte, vernommen zu werden, hatte ein Christus auf dem Richtertisch gestanden und angesichts Gottes hatte sie bei Gott dem Allmächtigen schwören müssen, daß sie über alles, worüber sie vernommen, die reine Wahrheit gesagt und wissentlich nichts verschwiegen oder hinzugesetzt habe. Heutzutage war das Gott sei Dank viel einfacher. Jetzt sagte man einfach: „Ich schwöre,” und schließlich war der hübsche Rudi doch ihr späterer Mann und kein Untersuchungsrichter. Schon in seinem eigenen Interesse würde er ihr den Eid erleichtern, denn ihm lag doch sicher auch nichts daran, daß sie meineidig würde.

Aber trotzdem, Schwur blieb Schwur. Und plötzlich dachte sie an den jungen sehr hübschen und sehr flotten Rechtsanwalt Dr. Kallmorgen, der viel zu viel herumflirtete, um jemals als Heiratskandidat ernsthaft für irgendein hiesiges junges Mädchen in Frage zu kommen, der aber gerade deshalb schon oft versucht hatte, auch mit ihr anzubandeln. Ob sie sich jetzt noch, wenn auch natürlich nur zum Schein, etwas mit ihm einlassen solle? Ob sie ihm vielleicht einmal schrieb, sie müßte ihn unbedingt in einer juristischen Angelegenheit sprechen, sie könne ihm aber das, was sie ihm zu sagen habe, unmöglich in der Sprechstunde anvertrauen? Da würde er sie zu sich in seine Wohnung bitten, und wenn er sie da, was sicher keine fünf Minuten dauern würde, erst geküßt hatte, würde er ihr, wenn sie ihm alles erzählt, todsicher zur Antwort geben: „Schöne Brites, wenn es weiter nichts ist, brauchen Sie sich wirklich keine Gedanken zu machen, da werden in anderen Sachen noch ganz andere Eide geschworen, und wenn jeder Mensch, der einen falschen Eid schwört, deswegen bestraft werden sollte, säßen unter hundert Menschen bestimmt fünfzig im Gefängnis. Und manchmal muß man doch sogar mit seinem Schwur absichtlich von der Wahrheit abweichen, nicht nur als Mann, wenn es sich um die Ehre und um den Ruf einer Dame handelt, sondern in Ihrem Falle auch, wenn das Glück zweier Menschen auf dem Spiel steht. Sie und der schöne Rudi wollen glücklich werden. Wäre es da nicht ein Doppelselbstmord, wenn Sie ihm das, was früher einmal war, eingestehen wollten? Glauben Sie, daß der schöne Rudi Ihnen das auch nur eine Minute danken würde? Und außerdem, schöne Brites, warten Sie es doch erst mal ab, ob er den Schwur wirklich von Ihnen verlangt. Wenn er das aber tun sollte, schwören Sie frisch und munter darauf los. Damit wäre die juristische Konsultation wohl zu Ende, nun wollen wir uns über nettere Dinge unterhalten, vorher aber erbitte ich mein Honorar, das in Anbetracht der jetzigen Teuerung nicht zu gering bemessen sein kann, wenngleich ich natürlich auch gerade Ihnen nach Möglichkeit entgegenkomme. Aber unter zwölf Küssen geht es bei dem besten Willen nicht, die müssen Sie mir schon geben, oder mir wenigstens erlauben, daß ich sie Ihnen gebe.”

So ungefähr würde der hübsche Rechtsanwalt zu ihr sprechen, ganz deutlich hörte sie seine Stimme und ganz deutlich sah sie ihn vor sich, wie er sich übermütig und lachend in Positur stellte, um sich von ihr küssen zu lassen. Na, das Honorar wäre sie ihm natürlich schuldig geblieben, denn sie stand doch jetzt im Begriff, sich zu verloben, aber wenn er ihr auch schließlich nichts sagen würde, was sie sich eben nicht schon selbst gesagt hatte, ob sie nicht trotzdem lieber einmal zu ihm ging, um aus seinem Juristenmund eine deutliche und klare Bestätigung zu vernehmen, daß es geradezu ihre Pflicht sei, zu schwören, falls der hübsche Rudi es verlangen sollte? Aber wenn auch vieles für diese juristische Konsultation sprach, manches sprach auch dagegen, denn was dann, wenn sie ihm sein Honorar nicht in Kußmünze zahlte und wenn er ihr später, vielleicht absichtlich erst dann, wenn sie verheiratet war, eine richtige Rechnung sandte und wenn sie ihren Rudi um Geld bitten mußte, um den Doktor bezahlen zu können? Würde ihr Rudi da nicht auf beiden Ohren verdammt hellhörig werden und sie fragen: „Nanu, Brites, was hast du denn so kurz vor unserer Verlobung bei einem Rechtsanwalt zu tun gehabt? Hast du dich etwa beizeiten bei dem danach erkundigt, ob du mich, wie es in England Sitte ist, auf Schadenersatz verklagen könntest, wenn ich dir zwar Heiratshoffnungen machte, die aber doch eines Tages nicht erfülte?” Nein, daß ihr Rudi, wenn auch nur im Scherz, so etwas von ihr denken könne, dem durfte sie ihn, aber auch sich selbst nicht aussetzen und auch schon deshalb war es besser, wenn sie gar nicht erst zu dem Doktor hinging, ganz abgesehen davon, daß es mehr als leichtsinnig wäre, das, was sie bisher als ihr tiefstes Geheimnis behütete und bewahrte und von dem nicht einmal ihre Mutter etwas ahnte, einem Dritten, wenn der auch nur der Zweite war, anzuvertrauen. Allerdings würde der Doktor über das, was sie ihm unter dem Siegel seines Amtsgeheimnisses mitteilte, nicht sprechen dürfen, aber mußte sie nicht damit rechnen, daß er das Siegel eines Tages in der Sektlaune oder sonst bei einer unpassenden Gelegenheit irgendwie brach, oder wenn auch nur ganz im allgemeinen einmal im Kreise seiner Freunde Äußerungen über sie fallen ließ, die bei den Zuhörern den Verdacht erweckten, auch sie sei bis zum Tage ihrer Verlobung doch nicht so ganz ungeküßt durch das Leben gegangen?

Nein, sie würde nicht zu dem Rechtsanwalt gehen, und zunächst blieb es ja auch noch abzuwarten, ob und wann der hübsche Rudi sich ihr erklären würde. Vielleicht hatte es damit noch lange Zeit und da war es vollständig überflüssig, daß sie schon heute über alle diese Dinge nachdachte.

Aber damit es auch nicht mehr gar zu lange dauerte, bis sie genau wußte, woran sie mit ihm war, beschloß sie, sich für die bevorstehende Gesellschaft im Hause des Konsuls, auf die Rudi sich ihretwegen so freute, ein neues, ganz besonders hübsches Kleid zu kaufen. Gewiß, die Mutter würde zuerst über die große Ausgabe schelten, denn das Kleid, an das sie dachte und das sie schon seit einiger Zeit täglich voller Sehnsucht im Schaufenster betrachtete, kostete, wie sie wußte, achtzehnhundert Mark. Der Preis war eine Unverschämtheit, aber das war in der jetzigen Zeit nun einmal nicht anders, und welche Mutter brachte nicht gern ein Opfer, wenn es sich um das Glück ihres einzigen Kindes handelte, wenngleich sie ihrer Mutter natürlich nur ganz im allgemeinen davon sprechen würde, daß sie an dem Gesellschaftsabend vielleicht ihr Glück machen könne, denn so viel wußte sie aus der Schule des Lebens, selbst gegen die eigene Mutter konnte man mit dem, was man ihr anvertraute, nie vorsichtig genug sein, und gerade ihre Mutter, die ihr Herz leicht auf der Zunge trug, war imstande, allen ihren Bekannten zu erzählen: „Denken Sie sich nur, liebste Freundin, denken Sie sich nur, der millionenreiche Rudi Bernburg wird sich, wenn nicht alle Anzeichen trügen, schon in der allernächsten Zeit mit meiner Brites verloben.” Solches Gerede aber durfte sie nicht aufkommen lassen, denn was dann, wenn auch Rudolf Bernburg etwas davon erfuhr und sich da sagte: Aha, die Brites erwartet deinen Antrag, die hat es vielleicht sogar darauf abgelegt, daß du sie um ihre Hand bittest. Was du in ihrem Wesen für die größte Natürlichkeit hieltst, war bei der also schlaue Berechnung. Na, da ist es nur gut, daß du das noch beizeiten erfährst, da kann sie lange warten, bis du um sie anhältst. — Und wie stand sie da, wenn er durch die Indiskretion ihrer Mutter ein solches Urteil über sie fällte? Da war sie blamiert und hatte nicht einmal die Möglichkeit, sich gegen seine ungerechten Vorwürfe zu verteidigen. Nein, den Eltern und namentlich einer Mutter gegenüber schweigen zu können, war die erste Pflicht des Kindes.

So schwieg sie denn auch, und gerade weil sie sehr geschickt zu schweigen verstand, setzte sie ein paar Tage später leichter, als sie es zu hoffen gewagt hatte, das neue teuere Kleid bei ihrer Mutter durch, und als sie in dem auf der Gesellschaft bei dem Konsul erschien, erregte sie allgemeine Bewunderung und namentlich allgemeinen Neid, denn alle ihre Freundinnen kannten das Kleid aus dem Schaufenster des ersten Modewarengeschäfts, fast eine jede hatte es sich gewünscht und es sich kaufen wollen, aber allen war es zu teuer gewesen. Nun trug sie es und sie verstand es auch zu tragen, sie sah einfach bildhübsch aus und die Herren überboten sich ihr gegenüber in Schmeicheleien und Komplimenten. Nur einer sagte gar nichts, das war der hübsche Rudi, der starrte sie lediglich unverwandt ganz entzückt und begeistert an, aber seine stummen Blicke sagten ihr viel mehr, als seine Worte es vermocht hätten.

Aber dann, als sein größter Wunsch in Erfüllung ging und als er ihr den Arm bieten durfte, um sie zu Tisch zu führen, kamen die Worte: „Wie schön Sie sind!” doch über seine Lippen und beinahe wie in einem Traum befangen, wiederholte er noch einmal ganz leise: „Wie schön Sie sind!” Da wußte sie, ihre Mutter hatte das Opfer des neuen Kleides nicht umsonst gebracht, aber es wäre ja auch noch besser gewesen, wenn das Kleid seine Wirkung auf ihn verfehlt hätte.

Gleich darauf nahm man an der festlich geschmückten Tafel Platz. Die schönen Speisen, die guten Weine, die behagliche Eleganz des Speisezimmers ließen in Verbindung mit dem runden Tisch, an dem gedeckt war, sehr bald eine lustige Unterhaltung aufgekommen, bis plötzlich einer der Herren erzählte, er habe im letzten Augenblick, bevor er von Hause fortgegangen sei, als größte Neuigkeit in seiner Berliner Zeitung gelesen, daß eine in der ganzen Welt bekannte Kinoschauspielerin sich mit einem sehr reichen Berliner Großkaufmann verlobt habe, daß sie aber auch später nach ihrer Verheiratung der Filmkunst treubleiben würde. Das war eine Nachricht, die alle interessierte, die eifrigst besprochen wurde und die einen der Herren zu der Äußerung veranlaßte: „Ich verstehe den Großkaufmann nicht ganz. Nicht etwa, weil er sich mit der Diva verlobte, sondern weil er ihr erlaubt, auch in Zukunft noch aufzutreten, denn wenn man, mit Erlaubnis zu sagen, bedenkt, wie leicht bekleidet die Kinodarstellerinnen sich oft dem Publikum zeigen und daß jeder dumme Junge das Recht hat, sich für sein Eintrittsgeld an den Reizen der Dame zu erfreuen und wenn man sieht, wie eine Kinodame sich in jedem Film von einem anderen Darsteller küssen lassen muß, und daß im Film, im Gegensatz zu der Bühne, nicht nur zum Schein, sondern wirklich geküßt wird, na ich weiß nicht, so etwas seiner Frau zu erlauben, ist Geschmackssache. Ich bin gewiß nicht prüde, aber ich würde trotzdem meiner Frau erklären: entweder bleibst du beim Film oder du heiratest mich, aber beides zusammen gibt es nicht.”

Auch diese Worte riefen eine lebhafte Debatte hervor. Zustimmung mischte sich mit Widerspruch. Man erinnerte den Sprecher daran, daß doch fast alle weiblichen Kinosterne verheiratet seien und man wollte von ihm wissen, was wohl aus dem Kino würde, wenn die Ehemänner der bekanntesten Darstellerinnen ihren Frauen jedes weitere Auftreten verbieten würden, zumal dafür doch gar kein ernstlicher Grund vorläge, wenigstens nicht, soweit das Küssen dabei in Betracht käme.

Alle sprachen lebhaft in- und durcheinander, nur Rudolf Bernburg war ziemlich schweigsam geworden, und wenn Brites die Ursache hierfür auch zu kennen glaubte, wenn sie auch genau wußte, daß er, gerade er als Mann einer Kinogröße deren späteres Auftreten nie erlauben würde, falls er überhaupt jemals eine solche Dame geheiratet hätte, so fragte sie ihn nun trotzdem so unbefangen wie nur möglich: „Und wie denken Sie über die Streitfrage, Herr Bernburg?”

„Gar nicht, gnädiges Fräulein,” gab er zur Antwort, „da ich es mir bei dem besten Willen nicht vorzustellen vermag, daß ein Ehemann es seiner Frau erlaubt, sich auf der Bühne oder für den Film weiter von anderen Männern, und wenn auch nur, weil die Rolle es erfordert, küssen zu lassen. Ja, es ist mir sogar völlig unverständlich, wie man eine derartige Dame, mag ihr Ruf auch sonst der denkbar beste sein, heiraten kann, denn wenn sie auch sonst nichts tat, sie hat doch immerhin vor ihrem Mann schon viele andere geküßt. Das würde mich davon abhalten, sie jemals selbst küssen zu können, ohne dabei an die anderen denken zu müssen. Auch ich bin gewiß nicht prüde, gnädiges Fräulein, im Gegenteil, ich bin ein sehr freidenkender Mensch, aber ich habe einmal etwas erlebt, ich habe es einmal erfahren, welch ein Unglück selbst die Küsse, die ein junges Mädchen der Gesellschaft ihrem Flirt gibt oder erlaubt, anrichten können, wie die imstande sind, ein blühendes Menschenleben zu vernichten, und seitdem — aber was erzähle ich Ihnen da alles, gnädiges Fräulein,” unterbrach er sich, „das interessiert Sie sicher nicht.”

„Doch, das interessiert mich sogar sehr,” widersprach sie der Wahrheit gemäß, denn in dem, was er ihr nun hoffentlich erzählen würde, fand sie vielleicht den Schlüssel dafür, daß er von seiner späteren Braut verlangte, sie dürfe vor ihm noch nie einen anderen geliebt und geküßt haben.

Er sollte sprechen und er wollte auch sprechen, das merkte sie ihm deutlich an, ja es kam ihr sogar vor, als habe er sich bisher an der allgemeinen Unterhaltung absichtlich nur deshalb so wenig beteiligt, um sie zu der Frage zu veranlassen, wie er sich zu dem strittigen Punkt stelle, denn gleichsam, als habe er nur auf das Stichwort gewartet, das sie ihm gebracht, begann er nun zu erzählen und zwar so fließend und zusammenhängend, wie es ihm während des Diners, bei dem sie doch beide essen und trinken und ihre Aufmerksamkeit auch auf die servierenden Diener und zwischendurch auch vorübergehend auf ihre Nachbarn zur Rechten und zur Linken wenden mußten, nur irgend möglich war, schon um dadurch ihr Interesse und ihre Spannung wach zu halten. Das letztere tat er aber schon allein dadurch, daß er ihr durch jedes Wort, das er sprach, und durch die Blicke, die er während seines Sprechens von Zeit zu Zeit auf ihr ruhen ließ, deutlich zu verstehen gab: alles was ich dir hier anvertraue, ist nur für dich bestimmt. Du bist die erste, die das alles von mir erfährt, und ich habe meine schwerwiegenden Gründe dafür, daß ich das alles gerade dir sage.

Und er erzählte ihr von seinem Freund, von dem einzigen wirklichen Freund, den er auf der Welt besessen, den er schon auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt kennen gelernt und mit dem er bis zum gemeinsamen Abiturientenexamen täglichen und fast ausschließlichen Verkehr gepflegt hatte: „Die Trennungsstunde schlug für uns beide, als wir die Schule hinter uns hatten. Ich ging auf die Universität und er selbst ging nach Hause, in die väterliche Fabrik, um unter der Anleitung seines Vaters, der auch heute noch ein sehr angesehener Großindustrieller ist, sich die ersten kaufmännischen Kenntnisse anzueignen. Später wollte er in das Ausland gehen, aber wir sahen und doch eher wieder, als ich es geglaubt hätte, denn auf meine Bitten hin entschloß auch er sich, sein Einjährigenjahr in Bonn bei den Husaren abzudienen, und wenn ich für meine Person auch während der Militärzeit weiter studierte, so waren wir doch auch dort täglich zusammen und unsere Freundschaft nahm womöglich eine noch festere Form an, bis dann abermals für uns die Trennungsstunde schlug. Der Freund wollte sehr bald nach England gehen, aber zu meiner Verwunderung verschob er, als er erst wieder zu Hause war, die Abreise immer aufs neue, bis ich auch den Grund hierfür erfuhr. Der gute Kerl hatte sich Hals über Kopf, wie er mir schrieb, in ein auffallend hübsches junges Mädchen verliebt und wollte nicht eher außer Landes gehen, bevor er nicht ihr Jawort erhalten hätte, oder bevor er nicht wußte, ob seine Bewerbungen aussichtslos wären. Aber er reüssierte bei der jungen Dame. In einem langen Brief, der in jedem Wort sein grenzenloses Glück verriet, teilte er mir ein paar Wochen später seine Verlobung mit und bat mich, zu der offiziellen Verlobungsfeier ihn im Hause seiner Eltern zu besuchen. Das tat ich selbstverständlich auch und als ich seine junge Braut kennen gelernt hatte, fühlte ich es ihm nach, daß er, der trotz seines Reichtums immer sehr bescheiden gewesen war, sein großes Glück gar nicht zu fassen vermochte, denn seine Braut war nicht nur eins der hübschesten, sondern auch eins der liebenswürdigsten und lustigsten jungen Mädchen, die ich je sah. Man konnte nicht mit ihr zusammen sein, ohne dem Zauber ihrer Persönlichkeit zu erliegen, und so neidlos gerade ich auch dem Freunde sein Glück gönnte, es wollte trotzdem zuweilen so etwas Ähnliches wie Neid auf seine Braut in mir wach werden, und wenn ich mich dieser häßlichen Neigung auch schämte und sie dem Brautpaat auch halb lachend, halb ernsthaft offen eingestand, besser wurde es dadurch doch nicht. So wollte ich denn eher wieder abreisen, als es ursprünglich meine Absicht gewesen war, aber ich wurde zum Bleiben überredet und dadurch wurde ich Zeuge jener häßlichen Szene, die dem Glück meines Freundes ein jähes Ende bereitete. Wir waren eines Tages nach Berlin gefahren, da die Fabrik kaum eine Bahnstunde von dort entfernt lag. Ich sollte dem Brautpaar, das in Kunstsachen großes Vertrauen in meinen Geschmack setzte, bei dem Einkauf einiger Bilder und Altertümer für die spätere Einrichtung behilflich sein, am Abend wollten wir ein Theater besuchen, hinterher in einem der ersten Restaurants zur Nacht essen und mit dem letzten Zuge wieder nach Hause fahren. Es verlief auch alles programmäßig. Wir verlebten zu dritt einen reizenden Tag, sahen am Abend eine wundervolle Vorstellung in den Kammerspielen und fuhren mit einem Auto zum Abendessen. Wir nahmen an einem kleinen Tisch für uns allein Platz, bestellten uns die schönsten Speisen und Getränke, denn es war damals noch Frieden und es gab für sündhaft billiges Geld noch alles, was man nur begehrte. In fröhlichster Stimmung ließen wir oft die Sektgläser aneinander klingen, als unsere Aufmerksamkeit plötzlich in unangenehmster Weise auf einige Herren gelenkt wurde, die, gelinde ausgedrückt, in sehr animierter Stimmung das Restaurant betraten und sich uns gegenüber an einem Tisch niederließen. Es waren Herren der ersten Gesellschaft, einer von ihnen, wie sich später herausstellte, ein früherer Korpsstudent, aber trotzdem benahmen sie sich so laut und ungehörig, daß ich schon den Vorschlag machen wollte, entweder das Restaurant oder wenigstens den Platz zu wechseln, als ich plötzlich bemerkte, wie an dem anderen Tisch der eine Herr, derselbe, der sich später als Korpsstudent entpuppte, die Braut meines Freundes in unverschämtester Weise fixierte, bis mit einemmal ein mehr als zynisches Lächeln seinen sinnlichen Mund umspielte und bis er gleich darauf sein Glas erhob, um der jungen Dame zuzutrinken. Mein erster Blick galt dem Freund, aber der hatte glücklicherweise nichts bemerkt, da er gerade sehr angelegentlich die Weinkarte studierte, aber als ich die Braut meines Freundes ansah, erschrak ich wie kaum je zuvor, denn die glich eher einer Toten als einer Lebenden, jeder Blutstropfen war aus ihrem Gesicht gewichen und ich sah ihr an, daß sie sich einer Ohnmacht nahe fühlte. Das verstand ich nicht ganz, denn wenn sie über das Benehmen des Herr natürlich auch empört sein mußte, so war sie dessen Zudringlichkeit doch nicht schutzlos preigegeben, da sie uns an ihrer Seite hatte. So blickte ich sie denn auch ziemlich erstaunt an, bis ich auf die Vermutung kam, sie müsse sich nicht wohlfühlen. Wir waren den ganzen Tag über unterwegs gewesen, waren von einem Geschäft in das andere gegangen und hatten überall lange herumgestanden. Sicher war sie übermüdet und abgespannt, sicher hing ihre hoffentlich schnell wieder vorübergehende Schwäche nur damit zusammen, aber noch bevor ich diese meine Ansicht hätte äußern können, bat sie mich so leise, daß mein Freund, der in der Weinkarte seine Auswahl getroffen und nun mit dem Kellner sprach, es nicht hören konnte: „Erfinden Sie irgendeine Ausrede, aber wir müssen gehen, und zwar gleich.” Und dabei warf sie mir einen so flehenden angsterfüllten Blick zu, daß der mir, wie man so sagt, durch und durch ging, daß ich mich aber gleichzeitig von neuem erstaunt fragte: was liegt hier nur vor?

Und mit einemmal wußte ich es, denn es fiel an dem Nebentisch aus dem Munde des früheren Korpsstudenten, der in der Sektstimmung seiner selbst nicht mehr Herr sein mußte, über die Braut meines Feundes eine so laut gesprochene Bemerkung, daß wir sie nicht nur hören mußten, sondern wohl auch hören sollten, und unglückseligerweise vernahm ich sie nicht nur, sondern auch mein Freund hörte sie. Einen Augenblick saß der völlig regungslos da, gleichsam als habe ihn der Schlag gerührt, dann aber sprang er von seinem Platz auf, um sich wie ein Rasender auf den anderen zu stürzen und es wäre wohl zu einem Handgemenge gekommen, wenn ich und die anderen Herren nicht dazwischen­gekommen wäre. Dann aber, als die erste Aufregung sich gelegt, verlangten mein Freund und ich von dem Betrunkenen, er solle auf der Stelle seine Worte zurücknehmen und erklären, daß eine Verwechslung mit einer andren jungen Dame vorliegen müsse. Auch seine Freunde redeten ihm zu, vernünftig zu sein, aber der andere hörte auf keinen Zuspruch, sondern verteidigte sich immer wieder damit, er habe es doch nicht wissen können, daß unsere Begleiterin jetzt verlobt sei, er hätte nach seiner Ansicht ein gutes Recht zu der Annahme gehabt, daß die lediglich mit einem von uns poussiere, wie früher mit ihm. Und da er aus eigener Erfahrung wisse, welch weites Herz die junge Dame habe, wie leicht sie sich verliebe, wie schnell sie einen Mann küsse, um den dann ebenso schnell plötzlich wieder aufzugeben, wenn ihr ein anderer besser gefiele, habe er geglaubt, mit dem Urteil, das er vorhin gefällt, der jungen Dame nichts allzu Schlechtes nachzusagen.

Wieder mußte ich den Freund mit aller Gewalt zurückhalten, damit er sich nicht auf den Verleumder, wie ich den immer noch im stillen nannte, stürze, und es war nur ein wahres Glück, daß der Speisesaal des Restaurants durch einen Zufall sehr schwach besucht war und daß die wenigen anwesenden Gäste so gut erzogen und so diskret waren, sich nicht als neugierige Zuhörer heranzudrängen.

Wie vorhin der andere, so nahm jetzt mein Freund keinen Rat an, vernünftig zu sein, sondern er schleuderte dem Gegner ein Schimpfwort ins Gesicht, das den mit einem Schlage völlig nüchtern werden ließ. Was daraus entstehen würde und entstehen mußte, war uns allen sofort klar. Die Herren tauschten ihre Karten und noch an demselben Abend wurde für den nächsten Morgen der Austrag des Duells festgesetzt, nachdem ich es übernommen hatte, noch einen zweiten Sekundanten zu besorgen.

Dann erst gingen wir an unseren Tisch zurück und als wir gleich darauf aufbrachen, um die Braut meines Freundes erst nach Hause zu bringen, bevor wir im Anschluß daran wieder in die Stadt zurückkehrten, da, als ich die beiden vorübergehend allein ließ, hat mein Freund erfahren, daß alles, was der ehemalige Korpsstudent erzählte, auf Wahrheit beruhe.

Am frühen Morgen fuhren wir mit dem Auto zu dem verabredeten Rendezvous nach dem Grunewald hinaus. Mein Freund wußte, daß er fallen würde, und er wünschte es sich auch. Von Hause aus sehr idealistisch veranlagt, hatte er noch viel mehr, als es ohnehin jeder Verlobte tut, in seiner Braut den Inbegriff aller Keuschheit, Reinheit, überhaupt jeder Vollkommenheit gesehen, und daß die Braut nun so ganz anders war als das Bild, das er sich von ihr gemacht, wollte er nicht überleben. Sein Ideal und seine Ideale waren zerstört, aber trotzdem kam nicht das leiseste Wort des Vorwurfs gegen seine Braut über seine Lippen. Mit keiner Silbe klagte er sie an, ihn getäuscht oder, wenn auch nur indirekt, belogen zu haben, sondern alle seine Anklagen richteten sich gegen seine eigene Person und immer wieder fragte er sich, aber auch mich: ,Warum habe ich sie nicht, bevor ich mich mit ihr verlobte, nach ihren früheren Mädchenerlebnissen gefragt, warum habe ich nicht darauf bestanden, daß sie mir alles, aber auch alles erzählte? Warum habe ich danach zu fragen unterlassen? Nun ist es einzig und allein meine Schuld, daß alles so gekommen ist.' Bis er plötzlich meine Hände mit eisernem Griff umspannte und mir zurief: ,Was mir widerfahren ist, das kann jedem anderen, das kann auch dir widerfahren und deshalb sollst und mußt du mir mit deinem Ehrenwort geloben, daß wenigstens du, bevor du dich über kurz oder lang verlobst, das junge Mädchen, das du zu heiraten gedenkst, schwören läßt, daß es vor dir noch nie einen anderen liebte und küßte, damit nicht auch du, ebenso wie ich, in jungen Jahren um der Küsse willen, die deine Braut, bevor sie dich kennen lernte, einem Dritten gab, totgeschossen wirst,' und so lange redete der Freund auf mich ein, bis ich, schon um ihn zu beruhigen, ihm mit Wort und Handschlag das verlangte Versprechen gab.”

Das war das, was der hübsche Rudi erzählte, und als er schließlich geendigt hatte, wußte sie, wie alles zusammenhing, wie er dazu kam, ein so unsinniges Ansinnen an seine spätere Braut zu stellen und sie wußte noch eins. Nicht er war verrückt, wie sie das am Anfang, als damals bei der Geburtstagsfeier von ihm gesprochen wurde, glaubte, nicht er hatte einen Gehirnklaps, sondern den hatte der Freund gehabt. Wie konnte der dem hübschen Rudi ein solches Versprechen abnehmen, aber wie kam der wiederum seinerseits dazu, das halten zu wollen? Namentlich einem, der da zu sterben glaubt, verspricht man doch so vieles, was gar nicht ernsthaft gemeint ist, schon weil der Sterbende selbst oft nicht weiß, was er verlangt, denn es ist doch eine bekannte Tatsache, daß die hereinbrechenden Schatten des Todes das klare Bewußtsein des Sterbenden umnachten. Nein, selbst wenn sie es wollte, und sie wollte es um ihrer selbst willen nur zu gerne, konnte sie den hübschen Rudi, auch wenn sie dem anderen die Hauptschuld gab, nicht davon freisprechen, sein Ehrenwort in unverantwortlich leichtsinniger Weise gegeben zu haben. Das hätte sie am liebsten offen erklärt, aber das durfte sie nicht, aber irgend etwas sagen mußte sie nach ihrer ehrlichsten Überzeugung trotzdem, denn sie durfte durch ihr Schweigen nicht etwa den Eindruck hervorrufen, als sei die ganze Geschichte, die er ihr erzählte, spurlos an ihren Ohren und an ihrem Herzen vorübergegangen. So fragte sie denn nun, als sie sah, wie er der Erinnerung an den Freund nachhängend, traurig vor sich hin blickte, mit leiser teilnehmender Stimme: „Und ist Ihr Freund wirklich in dem Duell gefallen, wie er es glaubte und wie er es sich wünschte?”

„Ja, das ist er,” gab er zur Antwort, „die erste Kugel seines Gegners streckte ihn zu Boden, aber er war nicht gleich tot, sondern er ist erst vierundzwanzig Stunden später unter wahrhaft entsetzlichen Qualen gestorben. Eine sofort vorgenommene Operation war von vornherein aussichtslos und die Schmerzen, die er hinterher ausstehen mußte, waren so rasend, daß selbst die Morphiumeinspritzungen sie nicht völlig zu lindern vermochten.”

„Aber das ist ja entsetzlich,” warf sie ein, abermals mehr, um überhaupt etwas zu sagen, als weil das Geschick des Toten sie sonderlich berührt hätte.

„Ja, es war mehr als entsetzlich,” pflichtete er ihr bei und nach einem langen Schweigen, das ihr um so bedrückender vorkam, weil rings um sie beide herum das laute Sprechen und das fröhliche Lachen der anderen Gäste erklang, fragte er plötzlich und unvermittelt: „Glauben Sie, gnädiges Fräulein, glauben gerade Sie, daß eine junge Dame, der ich das alles erzählt habe, mir jemals etwas verschweigen und verheimlichen könnte, wenn ich sie bäte und aufforderte, mir, bevor ich um ihre Hand anhielte, zu schwören, daß sie bis dahin noch keinen anderen liebte und küßte?”

Die Frage ließ sie unwillkürlich erblassen, das aber selbstverständlich nur deshalb, weil sie es nun aus seinen eigenen Worten zum erstenmal deutlich heraushörte, daß er die Absicht hatte, sie, gerade sie, um ihr Jawort zu bitten. Und wenn sie es ja auch gehofft und gewünscht hatte, daß er ihr das schon heute abend deutlich zu verstehen geben würde, sie mußte dennoch so tun, als überrasche sie das, und deshalb durfte sie auch nicht blaß werden, sondern sie mußte vor Verlegenheit und in holder jungfräulicher Scham leicht erröten. Und glücklicherweise fühlte sie auch, wie ihr das Blut rasch in die Wangen zurückkehrte, während sie verlegen und sittsam den Blick in den Schoß senkte.

Dann aber, als er seine Frage wiederholt hatte, sah sie ihn mit ihren schönen hellbraunen Augen offen und ehrlich an, während sie sich die größte Mühe gab, den Schalk und den Übermut, die so leicht aus ihrem Blick sprachen, völlig zurückzuhalten, und sagte mit einer Stimme, die von Herzen kam und schon deshalb auch zu seinem Herzen gehen sollte: „Nein, Herr Bernburg, das würde keinem jungen Mädchen möglich sein. Einer leichtsinnigen Französin vielleicht, aber einer Deutschen? Eine solche würde Ihnen, auch wenn sie die Geschichte Ihres armen Freundes nicht aus Ihrem Munde vernommen hätte, auch dann, wenn Sie die lediglich bäten, ihr [sic! recte wohl: Ihnen! D.Hrsgb.] alles zu gestehen, nichts, aber auch nicht das Geringste verschweigen. Aber wenn die alles von Ihnen weiß, wenn sie erfahren hat, daß Sie ihr einen Schwur abverlangen müssen, ist es wenigstens für mich völlig undenkbar, daß irgendeine Ihnen etwas anderes, als die reinste und die lauterste Wahrheit schwören sollte.” Und ihn so unschuldig und so kindlich wie nur möglich ansehend und bei ihren eigenen Worten vor Entsetzen zusammenschauernd, setzte sie hinzu: „Nicht wahr, auf jeden falschen Schwur steht doch Zuchthaus?”

„Leider nicht auf jeden,” widersprach er, um schnell fortzufahren: „Auf jeden Fall danke ich Ihnen für Ihre Worte, gnädiges Fräulein, ich danke Ihnen für die von ganzem Herzen und bedaure nur, daß ich Ihnen nicht gleich sagen kann, wie grenzenlos froh und glücklich ich darüber bin, daß gerade Sie mir das bestätigen, was ich mir selbst schon oft gesagt habe, denn wenn ich auch leider kein solcher Idealist bin wie mein verstorbener Freund, ich habe mir trotzdem den Glauben an die jungen Mädchen erhalten. Es wäre ja auch traurig, wenn es anders um mich bestellt wäre. Aber wenn ich Ihnen das, was ich Ihnen so gern sagen möchte, auch jetzt im Augenblick nicht sagen kann, nicht wahr, ich darf es Ihnen sagen, sobald sich mir dazu unter vier Augen die Gelegenheit bietet?”

,Aber mit dem größten Vergnügen!' hätte sie ihm am liebsten zugerufen, statt dessen wurde sie wieder vor Aufregung und vor nervöser Ungeduld, nein, aus ihrem keuschen reinen mädchenhaften Empfinden heraus abwechselnd blaß und rot, bis sie ihm die Antwort gab, auf die er mit solcher Ungeduld zu warten schien, daß er nun leise und verstohlen mit seiner Rechten nach ihrer Linken haschte, die sie natürlich rein zufällig für einen Augenblick herunterhängen ließ und mit dem leisen Druck, mit dem sie seinen Händedruck erwiderte, gab sie ihm das Ja, um das er sie gebeten hatte.

Eine kleine Stunde später stand man endlich von Tisch auf, aber soviel sie beide auch miteinander tanzten, so sehr sie selbst auch alles tat, was sie nur konnte, um ein Alleinsein mit ihm unter vier Augen herbeizuführen, es ließ sich leider nicht so einrichten, daß er ihr schon heute abend seinen Antrag machte und wenn sie darüber, als sie gegen Mitternacht zu Hause ankam, natürlich auch sehr verstimmt war, vielleicht, nein sicher, war es sehr gut, daß sie durch diese Verzögerung Zeit bekam, sich noch einmal in aller Ruhe die Frage zu überlegen, ob gerade sie ihm auch den Schwur, den er von ihr verlangte, werde leisten können.

Daß sie es könne, stand natürlich auch jetzt sofort bei ihr fest, denn so dumm, wie die Braut seines Freundes es tat, würde sie sich in einem ähnlichen Falle natürlich nie benehmen. Was hatte die nötig gehabt, sich sofort zu verraten? Wenn die kategorisch erklärt hätte, der Herr irrt sich, eine flüchtige Ähnlichkeit muß ihn täuschen, ich kenne ihn gar nicht, und wenn er das Gegenteil behauptet, lügt er, wäre alles gut gewesen. Oder die hätte erklären können: Ja, ich kenne ihn, ich kenne ihn leider, er hat mich früher mit seinen Anträgen verfolgt, aber ich habe ihn abblitzen lassen und ihn ausgelacht und dafür rächt er sich jetzt dadurch, daß er solche Verleumdungen über mich erzählt. Ja, so oder so ähnlich hätte die Braut sprechen müssen, denn es gab doch keine Situation, der ein gewandtes, wohlerzogenes, gebildetes junges Mädchen nicht gewachsen wäre, und wenn die Braut das nicht war, dann war das ihre eigene Schuld.

Sie selbst fühlte sich jedenfalls für ihre eigene Person jeder späteren ähnlichen Situation wie der, in der sich die Braut befunden hatte, gewachsen, und auch schon deshalb konnte sie den Eid jederzeit mit gutem Gewissen schwören, ganz abgesehen davon, daß es doch auch noch abzuwarten blieb, ob der hübsche Rudi wirklich den Schwur von ihr verlangen würde, denn nachdem sie ihm heute auf seine Frage offen erklärt hatte, sie hielte es für undenkbar und für völlig ausgeschlossen, daß ein junges Mädchen, das aus seinem Munde die Geschichte seines Freundes hörte, ihn irgendwie belügen könne, war es doch vollständig überflüssig, daß er von ihr trotzdem noch den Eid forderte, und sicher würde er das auch gar nicht tun, denn jetzt noch ein solches Ansinnen an sie zu stellen, käme doch beinahe einer Beleidigung gleich.

So sah sie den kommenden Ereignissen voller Ruhe entgegen. Sicher würde sie den Schwur nicht zu leisten brauchen, und in dieser sicheren Annahme wurde sie dadurch bestärkt, daß der hübsche Rudi sich ganz gegen ihr Erwarten schon am nächsten Mittag bei ihr anmelden und durch das Mädchen um die Erlaubnis bitten ließ, sie unter vier Augen sprechen zu dürfen. Das gab ihr die absolute Gewißheit, daß er keinen Eid mehr fordern würde, denn sonst hätte er ihr doch sicher Zeit gelassen, sich alles, was er ihr erzählte, noch einmal in aller Ruhe zu überlegen. Das aber tat er nicht, und das nahm sie als das beste Zeichen dafür, daß ihm die Antwort, die sie ihm gestern gegeben, vollständig genüge. So gab sie freudig bewegten Herzens dem Mädchen den Auftrag, den Besucher in das Empfangszimmer zu führen und ihn zu bitten, einen Augenblick auf sie zu warten, der Mutter aber, wenn die inzwischen von ihrem Spaziergang zurückkommen sollte, zu melden, daß sie, Brites, wichtigen Besuch habe und daß sie nicht gestört zu werden wünsche.

Mit fliegender Hast kleidete sie sich fertig an und kaum zehn Minuten später stand sie dem hübschen Rudi gegenüber und wartete, nachdem sie ihn begrüßt und aufgefordert hatte, Platz zu nehmen, auf das, was er ihr sagen würde. Aber bis er damit anfing, dauerte es so lange, daß sie ihm am liebsten einen ermunternden Blick zugeworfen hätte, wenn sie es nicht doch für richtiger gehalten hätte, ihre eigenen Blicke sittsam, wenn auch nicht in albern sittsamer Weise in ihrem Schoß ruhen zu lassen, während sie bemerkte, daß er seine Augen nicht von ihr abwandte und die so lange auf ihr ruhen ließ, bis sie nun fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

Und dann begann er endlich zu sprechen und kam noch einmal auf die Geschichte seines verstorbenen Freundes zurück, aber nicht, wie sie es im stillen befürchtete, um ihr die noch einmal in allen Einzelheiten zu erzählen, sondern um ihr nach kurzen einleitenden Worten zu sagen: „Ich habe heute Nacht viel wach gelegen, gnädiges Fräulein, und da bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß ich dem Freund das Versprechen, das er mir kurz vor seinem Tode abverlangte, nicht hätte geben dürfen.” Und als er bemerkt zu haben schien, daß ihr plötzlich ein freudiges Rot, das er sich sicher falsch deutete, die Wangen färbte, fuhr er schnell fort: „Sie müssen mich richtig verstehen, gnädiges Fräulein. Ich bin natürlich nicht zu der Überzeugung gekommen, daß man eine solche Frage, wie ich sie stellen muß, nicht stellen kann, sondern daß man sie nicht stellen darf, wenn man durch die das junge Mädchen, das man zu heiraten beabsichtigt, nicht, wie soll ich nur sagen, nicht herabsetzen, erniedrigen oder gar beleidigen will, denn daß eine junge Dame der Gesellschaft, falls sie nicht schon einmal verlobt war, vorher noch keinen liebte oder gar küßte, ist in den Kreisen, denen wir angehören, doch selbstverständlich.”

„Selbstverständlich,” kam es über ihre Lippen, während sie im stillen unwillkürlich dachte: „Und dabei hat er mir gestern abend erklärt, er wäre mit seinem Urteil über die jungen Mädchen leider kein so großer Idealist wie der verstorbene Freund. Was muß da erst der Verstorbene für ein Idealist, um nicht zu sagen für ein Idiot gewesen sein.”

„Selbstverständlich,” wiederholte er ihre Antwort nach einer kleinen Pause, um dann fortzufahren: „Nachdem ich dieses Wort eben aus Ihrem Munde vernommen, gnädiges Fräulein, werden Sie mir ohne weiteres nachfühlen, wie schwer ich unter dem Versprechen leide, das ich dem Freunde gab. Ich habe es mir stundenlang überlegt, ob es für mich keine Möglichkeit gibt, Ihnen, gnädiges Fräulein, — denn daß ich Sie liebe und daß ich gekommen bin, Sie um Ihre Hand zu bitten, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen, — da habe ich es mir, wie gesagt, stundenlang überlegt, ob ich Ihnen und mir nicht das Peinliche des Schwures ersparen kann und da bin ich zu der Erkenntnis gekommen —”

Aber weiter kam er vorläufig nicht, sondern machte, wie Brites mit Recht zu vermuten glaubte, absichtlich eine Kunstpause, um ihre Spannung auf das, was er ihr jetzt sagen würde, zu erhöhen, hauptsächlich aber wohl, um sie darauf vorzubereiten, daß ihm in der Stille der Nacht ein Ausweg eingefallen sei, und wenn sie auch schon von klein auf die große Gabe besaß, sich nach außen hin stets zu beherrschen, mußte sie jetzt trotzdem mit aller Gewalt an sich halten, um nicht mehr als erleichtert aufzuatmen. Nicht etwa, als ob sie im letzten Augenblick vor dem Schwur Angst empfunden hätte, o nein, das nicht, aber er hatte recht mit dem, was er ihr vorhin erklärte, es würde einer ihr zugefügten Beleidigung gleichkommen, wenn ihm das, was sie ihm gestern und vor wenigen Minuten mit dem „Selbstverständlich” zur Antwort gab, nicht genügen würde, wenn er trotzdem noch eine feierliche Bestätigung und Bekräftigung ihrer Aussage von ihr verlangen sollte. Diese Beleidigung ihrer Person blieb ihr nun erspart und das freute sie für sich, aber das freute sie erst recht für ihn, denn wie schwer mußte es einem Mann fallen, einem jungen Mädchen, das er zum Weibe begehrt, eine derartig schwere Kränkung zuzufügen, wie sie darin liegt, daß er ihr zuruft: Ich glaube dir natürlich auch so, aber trotzdem mußt du mir auch noch schwören, daß dem so ist, wie du es behauptest.

Es herrschte eine lange Pause, dann meinte der hübsche Rudi endlich, während sie ihm deutlich anhörte, wie schwer ihm die Worte wurden: „Was ich mir heute Nacht überlegte, Fräulein Brites, habe ich mir eben noch einmal überlegt, weil ich glaubte und hoffte, daß Ihre Nähe und Ihre Gegenwart mich doch noch das finden lassen würden, was ich bisher vergebens suchte, aber statt dessen bin ich auch jetzt leider wieder zu der Erkenntnis gekommen, es gibt keine Möglichkeit, um das eidliche Versprechen herumzukommen, das ich dem Freund gab, ich muß es halten, wenn ich nicht ehrlos werden will, und daß ich das werde, werden gerade Sie nicht von mir verlangen. Ja, ich gehe sicher in der Annahme nicht fehl, daß Sie mir die Tür weisen würden, wenn ich mein Wort nicht hielte, denn die Grundbedingung dafür, daß eine Frau einen Mann liebt, ist doch die, daß sie ihn achtet, und wie könnte sie das wohl, wenn sie von ihm weiß, daß er, ganz einerlei aus welchen Gründen, einmal ein Versprechen nicht hielt. Wie sollte eine Frau da jemals Vertrauen in seine Zusage setzen, die er ihr später macht, und das gegenseitige und das schrankenlose Vertrauen, das die Eheleute zueinander haben und haben müssen, das ist —”

Aber was das sonst nach seiner Ansicht war, interessierte sie so blitzwenig, daß sie gar nicht mehr auf all das hinhörte, was er ihr noch auseinandersetzte und was sie in der Hauptsache als einen leider Gottes für sie sehr traurigen Beweis dafür nahm, daß er doch nicht sehr klug sein könne, denn sonst hätte er einen Ausweg finden müssen, das auch dann, wenn er sie nur halb so liebte, wie sie ihn, denn was die Liebe finden will, das findet sie auch. Aber das durfte sie ihm natürlich nicht sagen, sondern meinte nur: „Sie haben mit Ihren Worten vollständig recht, auch da bin ich ganz Ihrer Ansicht, und so ritterlich ich es auch von Ihnen finde, daß Sie aus Liebe zu mir darüber nachgedacht haben, ob Sie es sich nicht ersparen könnten, mir den Schwur abzuverlangen, bin ich dennoch sehr froh darüber, daß Ihnen kein Ausweg einfiel, denn an dem Wort, das man gab, soll man nicht rütteln und nicht deuteln.”

„Ich danke Ihnen, Fräulein Brites, ich danke Ihnen für das, was Sie mir da sagten, so warm und so herzlich, wie ich es mit schwachen Worten nur immer vermag,” rief er ihr stürmisch und leidenschaftlich zu, während sie ihm am liebsten zur Antwort gegeben hätte: Bitte, bitte, gar keine Ursache, die Stunde, nein, die Stunden werden schon noch kommen, hübscher Rudi, in denen ich dich daran erinnern werde, daß du auch mir das eine oder das andere versprachst. Ich werde dir auch dein Wort abzunehmen wissen, daß du mir dein Versprechen hältst, und werde dich dann auch daran erinnern, daß man an seinem Wort nicht rüttelt und nicht deutelt.

Aber selbst, wenn sie ihm das und manches andere, das sich ihr aufdrängte, in Wirklichkeit hätte sagen wollen, sie würde dazu keine Zeit gefunden haben, denn plötzlich erhob er sich feierlich von seinem Platz, so daß auch sie sich unwillkürlich mit erhob, weil sie instinktiv erriet, daß nun der große Augenblick gekommen sei, und dann bat er sie, ihm nicht seinetwegen, nicht etwa, weil er ihr ohnedem nicht glaube, sondern lediglich, weil er sie darum bitten müsse, bei allem, was ihr heilig sei, zu schwören, daß sie vor ihm noch nie einen anderen Mann geliebt und geküßt habe.

Von allem, was er ihr im Zusammenhang damit auch sonst noch sagte, hörte sie nur heraus, daß sie lediglich bei allem, was ihr heilig sei, schwören solle und das erleichterte ihr den Schwur zu ihrer Freude ganz ungemein, denn was war ihr eigentlich heilig, seitdem sie mit ihrer Mutter, um die hohen Steuern zu sparen, aus der Kirche ausgetreten war? Beten tat sie schon längst nicht mehr, denn ihr Glaube an Gott hatte einen ganz gehörigen Knacks bekommen, seitdem sie damals beinahe Tag und Nacht, aber leider vergebens gebetet, der Himmel möge ihren über alles geliebten Kurt am Leben erhalten, damit sie ihn, wenn er erst wieder ganz gesund sei, heiraten könne. Heilig, wirklich heilig war ihr nichts mehr, — doch noch eins: die Liebe zu ihrer Mutter; aber erwies sie der nicht den größten Dienst damit, wenn sie den hübschen Rudi baldmöglichst heiratete? Da brauchte die Mutter sie nicht mehr zu ernähren, erst recht nicht mehr zu kleiden, und die gute Frau brauchte sich in Zukunft keine schlaflosen Nächte zu machen, um es sich in denen zu überlegen, woher sie nur das Geld nehmen solle, um die Rechnungen für sie zu bezahlen. Ja, ihrer Mutter würde, sobald sie verheiratet war, ein ganz großer finanzieller Stein von der Brust fallen, und anstatt daß die Mutter weiter nötig hatte, für sie zu sorgen, konnte sie fortan der das Leben erleichtern. Ja, die Liebe zu ihrer Mutter war ihr heilig, bei der wollte, konnte und mußte sie schwören.

So erhob sie die drei Finger der rechten Hand und schwur, daß sie vor ihm, der sie jetzt zum Weibe begehrte, noch nie einen anderen Mann geliebt und geküßt hätte — nein, nicht hätte, sondern hatte, hatte, hatte.

Und da, währed sie schwur, geschah etwas ganz Unerwartetes, etwas, das selbst sie nicht für möglich gehalten hätte.

Daß er, der hübsche Rudi, ihrem Schwur glauben würde, war ja selbstverständlich, das hatte sie von Anfang an gar nicht anders erwartet und daß er ihr glaubte, sah und merkte sie ihm deutlich an. Aber das Wunderbare war, daß auch sie selbst an das glaubte, was sie schwur. Das kam sicher von der Heiligkeit des Eides, aber doch wohl nicht nur daher, sondern das hing sicher mit der Erkenntnis zusammen, die eben über sie kam und die sie einsehen ließ, daß sie tatsächlich noch nie einen anderen liebte und küßte, daß alles, was sie in der Hinsicht erlebt zu haben glaubte, lediglich Einbildung gewesen war, oder ein Traum, aus dem sie jetzt erst erwachte.

Und so fest, so felsenfest war sie plötzlich davon überzeugt, nur die reinste, die lauterste Wahrheit zu schwören, daß sie, als sie geschworen hatte, am liebsten auf diesen ersten Eid gleich noch einen zweiten gesetzt hätte, um mit dem zu beschwören, daß sie mit dem ersten auch wirklich die Wahrheit schwur.


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