Auf Brautschau.

Erzählung aus dem Militärleben von Freiherrn von Schlicht.
in: „Hamburger Nachrichten”, belletristisch-literarische Beilage, vom 12.7., 19.7. und 26.7.1903 und
in: „Ein Ehrenwort”.


Leutnant von Wettborn saß an seinem Schreibtisch und las nun schon zum drittenmal den Brief, den er am Vormittag von seinem Onkel, dem Majoratsherrn auf Grosing, erhalten hatte.

„Mein lieber Fritz,” so lautete das Schreiben, „um Dir zuerst die Nachricht zu übermachen, die Dich am meisten interessiert und derentwegen Du allein diese Zeilen mit Ungeduld liest, teile ich Dir mit, daß ich Dir Deine Bitte erfülle und Dir für Deine diesjährige Brautschau das Geld abermals zur Verfügung stelle. Ich habe Dir durch meinen Bankier 5000 Mark anweisen lassen, die jetzt schon in Deinen Händen sein werden. Natürlich hat das seine guten Gründe, daß ich so freigebig bin, das „Warum” wird Dir schon klar werden, und nun tu' mir die Liebe und lies das, was ich Dir zu sagen habe, gewissenhaft durch, von allen anderen Gründen ganz abgesehen schon deshalb, weil mich die Gicht wieder plagt. Das Schreiben bereitet mir Schmerzen, laß mich also meine Hieroglyphen nicht umsonst malen.

„Also, mein Sohn, nun höre zu, nimm Dir meine Worte zu Herzen und handle darnach. Wie Du mir mitteilst, willst Du auch in diesem Jahre Deinen sechs­wöchent­lichen Urlaub dazu benutzen, ein Bad aufzusuchen, nicht um Dich vor irgend einem Leiden, das Du nicht hast, zu kurieren, sondern lediglich in der ausgesprochenen Absicht, Dich nach einer reichen Braut umzusehen. Ich billige diesen Entschluß durchaus, wie ich es auch schon früher tat, denn ich habe Dir im Laufe der Jahre bereits viermal Reisegeld zu demselben Zweck zur Verfügung gestellt. Wenn ein unparteiischer Dritter das hörte, daß ich, als Familien­oberhaupt, meinem Neffen für solche Zwecke Geld gebe, daß ich ihn in seinem Entschluß bestärke, sich nach einer reichen Braut umzusehen, so würde er mich sicher schelten, mir von der Heiligkeit der Ehe und dem Glück der reinen Liebe und von tausend anderen Dingen, die ich selbst ganz genau kenne, erzählen. Aber was tun? Du bist nicht reich, mein Junge. Als Dein Vater vor vielen Jahren starb, hinterließ er Deiner Mutter, die jetzt ja auch schon bald vier Jahre von ihrem schweren Leben ausruht, sieben lebendige, beständig hungrige Jungens und ein Vermögen, das sich allenfalls durch zwei, nie und nimmer aber durch sieben teilen ließ. Na gottlob ist es Euch ja bis heute trotzdem auf der Welt gut gegangen, und ich darf mir das Zeugnis ausstellen, daß ich das meinem verstorbenen Bruder gegebene Versprechen, Euch nicht zu verlassen, gehalten habe. Der gute Kerl, der so herzlich lachen konnte, würde seine helle Freude daran haben, wenn er die Summe lesen könnte, die Ihr Schlingels mir im Laufe der Zeit gekostet und durchgebracht habt. Voller Stolz würde er mir auf die Schulter klopfen und zu mir sagen: Sind doch verfluchte Bengels, was? — Na, mein Junge, was ich Euch gab, das gab ich mit tausend Freuden, aber ich fürchte, die Zeit ist nicht mehr fern, wo ich Euch nichts mehr geben kann. Sterbe ich, dann fällt das Majorat an die Seitenlinie, die sich leider immer noch nicht darüber tot geärgert hat, daß ich noch lebe. Euch fällt nur mein Barvermögen zu, etwas ist es ja, aber sieben ist sowieso eine böse Zahl, und als Divisor geradezu niederträchtig. Wenn sieben sich einen Kuchen teilen, kriegt der Einzelne noch weniger als garnichts, und wenn sich sieben in eine Million teilen — rechne es Dir selbst aus, mein Junge, was da auf den einzelnen kommt. Es ist zum Sterben zu viel, aber zum anständigen Leben reichen die Zinsen heutzutage nicht. Ich saß neulich mit dem dicken Grafen, den Du ja auch kennst, bei einer guten Flasche Rotspon zusammen. Der edle Conti hat viel Geld verloren und muß sich höllisch einschränken, und als er, angesichts des guten Rotweins, wieder über die schlechten Zeiten jammerte, sprach er gelassen das große Wort: „Unter zwanzigtausend Mark jährlich vegetiert man, wer da zwanzigtausend Mark hat, kann sorgenfrei leben, aber wer sein Leben genießen will, braucht fünfzig- bis sechzigtausend Mark!” Merk' Dir das Wort, mein Junge, es ist wahr. Erkundige Dich 'mal, was es heißt, eine Familie anständig zu ernähren, Du wirst Dich wundern. Denk' an den Ausspruch des edlen Conti, wenn Du jetzt wieder auf Brautschau fährst, und vor allen Dinge, mein Junge, mach dieses Mal Ernst, verlobe Dich wirklich und komme nicht ohne Braut zurück.

„Unter uns gesagt: es wird höchste Zeit für Dich, wenn Dein Äußeres im Verein mit Deinem tadellosen Namen und Deinem ritterlichen Wesen sich im Sturm das Herz einer Millionärin erobern soll. Du bist ein durch und durch anständiger Mensch, aber das allein genügt nicht, die Frauen wollen noch mehr als wir etwas für's Auge haben. Wenn sie sich auch nicht gerade einen sogenannten schönen Mann anschaffen, so wollen sie doch einen Gatten, der durch seine Erscheinung ein gewisses Aufsehen erregt und die Männer der besten Freundinnen aussticht. Du warst 'mal ein bildhübscher Junge, damals mit dreiundzwanzig Jahren, als Du Deiner blendend schönen, aber ganz armen Kousine Elli, die nachher den reichen Kaufmann heiratete, auf Teufelsohlen den Hof machtest. Inzwischen aber mein Sohn, bist Du nicht jünger geworden und hübscher auch nicht. Sieh in den Spiegel und sei offen und wahr gegen Dich selbst, wie Du es stets gegen andere gewesen bist. Belüge Dich nicht selbst, wie Du noch nie einen dritten belogst, und dann wirst Du Dir sagen: der Onkel hat recht, es wird die höchste Zeit für mich. Du bist erst fünfunddreißig, aber Du hast Neigung, stark zu werden, Dein Scheitel ist nicht mehr ganz so, wie er sein könnte, und Dein Gesicht hat schneller, als ich dachte, einen etwas alten, gottlob aber keinen verlebten Zug bekommen. Also, mein Junge, mach' Ernst, auch noch aus einem anderen Grunde. Wer da jedes Jahr offiziell auf Brautschau fährt und stets unverrichteter Sache wieder heimkehrt, wird bald eine Persona comica, vom dem es heißt: Den will keine. Und naturgemäß sinkt er im Wert. Glaub' mir, so etwas spricht sich auch bei den Damen herum, die denken dann, daß der Freier schon an anderen Türen abgewiesen wurde, und einen solchen wollen sie auch nicht. Aus diesem Grunde halte ich es auch für unbedingt nötig, daß Du in diesem Jahre nicht wieder auf den Schauplatz Deiner bisherigen Tätigkeit zurückkehrst, sondern Dir ein neues Feld suchst. Reise wohin Du willst, gehe nach Scheveningen oder Trouville, nach Helgoland oder nach Ostende, nach Karlsbad oder Heringsdorf, mir ist alles recht, aber überlege Dir, wohin Du willst, und siehst Du, daß es dort doch nicht der richtige Ort für Dich ist, dann reise weiter. Darum schickte ich Dir mehr Geld, als Du wünschtest, Du sollst Dich völlig frei bewegen können, und langen die Dukaten trotzdem nicht, so werde ich schon noch einen braunen Schein für Dich übrig haben, ebenso wie ich schon eine anständige Summe beiseite legte, um später Deiner Braut ein unserer Familie würdiges Verlobungs­geschenk machen zu können. Tritt überall anständig auf, aber vermeide es, den Anschein zu erwecken, als wärest Du reich, das wäre nicht nur dumm, sondern auch unehrenhaft. Bekenne auf Befragen offen und ehrlich, wie es mit Dir steht, und vor allem heuchle keine Liebe, die Du nicht empfindest, denn das ist gemein. Es gibt zahllose Ehen, die auf gegenseitiger Achtung und freundschaftlicher Zuneigung basieren und die tausendmal glücklicher sind, als die sogenannten Liebesheiraten, bei denen die Liebe oft nur zu schnell verfliegt. Mir selbst wäre es ja das liebste, Du wärest so reich, daß Du heiraten könntest, wen Du wolltest, aber ein armes Mädchen kann sich nur derjenige erwählen, der da entweder etwas besitzt oder die Aussicht hat, etwas zu erwerben. Das letztere ist bei Deinem Berufe ausgeschlossen. Ein armes Mädchen zu heiraten wäre an Deiner Stelle geradezu unrecht, dächte ich anders, hätte ich damals nicht mit aller Gewalt Deine Verlobung mit der Kousine hintertrieben. Man muß bei solchen Dingen nicht nur die Sinne, sondern auch den Verstand sprechen lassen. Im Gegensatz zu anderen Leuten halte ich es garnicht für so ehrenhaft, lediglich dem Zug des Herzens zu folgen. Die höchste Liebe besteht darin, nicht an sich, sondern an den anderen zu denken, und ein Wesen, das man über alles zu lieben glaubt, soll man nicht in eine sorgenvolle Ehe hineinziehen.

„So, und nun, mein Junge, habe ich Dir alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte. Es wird auch Zeit, daß ich schließe, denn der Friedrich, der Lümmel, der gestern wieder die Laura so kurz angehalftert hatte, daß sie sich über Nacht nicht legen konnte, und den ich nun nächstens, weiß Gott, vom Hofe herunterjage, also dieser Erzlümmel soll mit verschiedenen Sachen zur Stadt fahren und auch diesen Brief mitnehmen. Seit einer Viertelstunde hält er schon vor der Tür, und das muß man dem Kerl lassen, fahren kann er, und er hat die beiden Halbblüter eingefahren, daß sie beim Stehen sich nicht rühren und regen, und auf dem Bock sitzt er, daß es eine Freude ist, ihn anzusehen. Aber ein Lümmel ist er doch.

„Und nun, mein Junge, mach Deine Sache gut und erfreue bald durch die Nachricht, daß Du gefunden hast, was Du suchst
Deinen alten Gichtonkel
Gerd Freiherr von und zu Wettborn-Grosing.

Leutnant von Wettborn legte das Blatt zur Seite und überließ sich seinen Gedanken. Er mußte es zugeben, der Onkel hatte mit allem, was er schrieb, nur zu recht, und es wurde wirklich hohe Zeit, daß er Ernst machte. Allerdings, an ihm hatte es nicht gelegen, daß er bis heute noch unverheiratet war. Er hatte Umschau genug gehalten, aber er kam nicht zum Ziel, er wußte nicht, woran es lag. Vielleicht fehlte es ihm an Mut, frsch und flott darauflos zu freien, vielleicht hatte er es auch nicht richtig angefangen, sich die Gunst der Damen zu erringen, vielleicht hatte ihn das Bewußtsein: Du willst, du mußt heiraten, in seinem Benehmen unsicher gemacht, er hätte es selbst nicht sagen können, woran es lag, daß er noch nie um ein junges Mädchen angehalten hatte. Dieses Mal mußte er zum Ziel kommen. Er hatte den Onkel denn doch für reicher gehalten, was dann, wenn der einmal die Augen zumachte? Verwöhnt, wie er war, würden die Zinsen seines Vermögens später knapp für ihn allein reichen. Als Ältester der Brüder stand er bei einem der teuersten Kavallerie–Regimenter, die Brüder bei der Linien–Infanterie in der Provinz, für sie war die Summe, die ihnen später zufiel, ein Vermögen, für ihn eine Bagatelle. Mit sechstausend Mark im Jahr würde er später einer der Ärmsten im ganzen Regiment sein, er müßte sich einschränken, um ohne Schulden auszukommen, und woraufhin sollte er später borgen? Und auch in einem anderen Punkte hatte der Onkel recht. Kam er jetzt nicht zum Ziel, so war er dem Gespött und dem Gelächter aller ausgesetzt, die davon wußten, daß er abermals auf Brautschau auszog. Als er gestern im Kasino seine Urlaubsflasche gegeben hatte, da hatten die Kameraden daraufhin angestoßen, daß es nun endlich 'mal was würde. Sie hatten ihn geneckt und geuzt, und auch an Anspielungen, daß er nicht der rechte Mann sei, um Frauenherzen zu erobern, hatte es nicht gefehlt. Das hatte ihn in seinem Stolz und seinem Selbstbewußtsein gekränkt und beleidigt, und er hatte sich zu der Äußerung hinreißen lassen: „Entweder seht Ihr mich garnicht oder als glücklichen Bräutigam wieder.” Aber auch das hatte nichts geholfen, man hatte ihm sogar Wetten proponiert, und der leichtsinnige Asberg hatte zehn zu eins halten wollen. Er war wirklich froh gewesen, als der Eintritt einiger Vorgesetzter dem Gespräch ein Ende gemacht hatte.

Daß er nicht nur reich heiraten wollte, sondern es auch mußte, war von ihm, ebenso wie von vielen anderen im Regiment, allgemein bekannt, und die Kameraden gönnten ihm eine reiche Partie von Herzen. Er war sehr beliebt, ein guter Offizier, und schließlich wünschten sie ihm alle Geld, weil er ziemlich tief in der Patsche saß, nicht gerade tiefer als die anderen, aber die hatten alle Aussicht, einmal große Vermögen zu ererben, oder sie hatten reiche Verwandte, die dann auf dem Familientag beschlossen, den leichtsinnigen Neffen und Vetter, in den natürlich alle Tanten und Kousinen bis über beide Ohren verliebt waren, noch einmal, selbstverständlich zum allerletztenmal, wieder flott zu machen. Der eine kannte die Familien­verhältnisse des anderen ganz genau, Geheimnisse gab es dort nicht.

Lange saß Wettborn noch an seinem Schreibtisch, den Kopf auf die Hand gestützt und grübelte vor sich hin, bis der Eintritt seines Dieners ihn aus seinen Sinnen wachrief. Es galt noch die letzten Anordnungen zu treffen, die Reise sollte schon heute losgehen, die Koffer waren bereits gepackt, und nach kurzer Überlegung entschloß sich Wettborn, zuerst nach Karlsbad zu fahren, das gerade um diese Zeit der Sammelplatz der reichen und eleganten Welt war.

*         *         *

Wie täglich war Leutnant von Wettborn auch heute abend ins Theater gegangen, er hatte sich für allemal eine kleine Loge genommen und stand nun in der Zwischenpause an der Brüstung und musterte mit seinem Glas die Zuschauer. Er wußte, daß er selbst auch scharf beobachtet wurde, denn in dem kleinen Theater fiel es auf, daß er nun schon seit fünf Tagen bei jeder Vorstellung erschien. Seine große, schlanke Erscheinung, die in dem tadellosen, schwarzen Gesellschaftsanzug mit der unvermeidlichen gelben Nelke im Knopfloch, entschieden besser als in der Uniform zur Geltung kam, verfehlte nicht, stets allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen, und so bemerkte er auch heute mit Genugtuung, daß viele Operngläser sich ihm zuwandten. Er selbst aber sah sich vergebens nach einem bekannten Gesicht um, und so wurde er ärgerlich, als er eine junge, reiche Amerikanerin, die ihm noch am Mittag fest versprochen hatte, mit ihrer Mutter ins Theater zu kommen, nicht entdecken konnte. Er hatte im stillen gehofft, hinterher mit ihnen bei Pupp auf der Terrasse soupieren zu können, und in einer Anwandlung von Pessimismus sagte er sich: „Wärest Du nur ruhig zu Hause geblieben, auch diesesmal wird es wieder nichts mit Dir. Hättest Du auf die Dame nur den leisesten Eindruck gemacht, so hätte sie sicher ihr Versprechen gehalten und wäre heute Abend gekommen.” Schon wollte er verstimmt das Theater verlassen, als sein Blick ganz zufällig auf eine junge Dame fiel, die sich mit einem alten Herrn, anscheinend ihrem Vater, während der Pause in den Hintergrund ihrer Loge begeben hatte, und so sehr fesselte ihn die interessante Erscheinung, daß er sein Auge nicht von ihr abzuwenden vermochte. Er konnte sich nicht entsinnen, ihr schon irgend wo begegnet zu sein, und doch war es ausgeschlossen, daß er so viel Schönheit hätte übersehen können. So mußte sie also erst seit gestern oder heute in Karlsbad weilen.

Wer ist das denn nur? Fragend sah er sich um, er hatte es ganz vergessen, daß er allein in seiner Loge war. Nun wandte er der jungen Dame wieder seine Aufmerksamkeit zu, und auch sie mußte gerade nach ihm hingesehen haben, denn als ihre Blicke sich jetzt zufällig trafen, konnte sie eine leise Verlegenheit nicht verbergen und sie wandte sich mit ein paar Worten an ihren Vater, den sie auf irgend etwas aufmerksam zu machen schien, denn der nahm sein Glas und sah in das Parkett hinab. Und hinter dem Rücken des Vaters trafen sich ihre Blicke nochmals.

Herrgott, ist die schön, dachte Wettborn. Sicher war es eine Ausländerin, wenn er sich nicht täuschte, eine Französin. Das dunkelschwarze Haar, die braunen Augen, der etwas dunkle Teint, verrieten ebenso wie die Eleganz ihrer Toilette, daß sie keine Deutsche war. Solchen Hut trägt bei uns kein junges Mädchen, sagte er sich, tut sie es doch, so bekommen sämtliche Tanten, Nichten, Basen, und was es sonst noch an weiblicher Verwandtschaft gibt, einen Ohnmachtsanfall, und doch ist sie keineswegs auffallend gekleidet.

„Ich werde nachher, wenn das Theater aus ist, versuchen, ihnen unbemerkt zu folgen, und in Erfahrung zu bringen versuchen, wo sie wohnt,” nahm er sich vor. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Bühne zu, aber als der zweite Akt zu Ende war und als er seine Blicke wieder der Loge zuwandte, war die junge Dame mit ihrem Vater verschwunden.

„Du bist und bleibst ein Esel,” schalt er sich. „Du starrst auf die Bühne, anstatt die Loge im Auge zu behalten.”

Er wartete den Beginn des dritten Aktes ab, dann ging auch er, aber der Logenschließer, an den er sich wandte, vermochte ihm auch keine genügende Auskunft zu geben: „Die Herrschaften haben mir nur gesagt, daß sie die Loge vorläufig abonniert haben, sie sprachen mit mir deutsch, aber ich hab's doch gehört, daß es Franzosen sind!”

Er drückte dem Schließer ein Trinkgeld in die Hand und ging ärgerlich zu Pupp, wo er auch Wohnung genommen hatte, in der stillen Hoffnung, den beiden dort irgendwie zu begegnen. Und seine Hoffnung täuschte ihn nicht, als er die Veranda betrat, sah er sie in Gesellschaft mit einem zweiten Herrn, der ihm noch den Rücken zudrehte, an einem der Tische am offenen Fenster sitzen. Vergebens sah er sich nach einem leeren Tisch in ihrer Nähe um. Die junge Dame mochte über ihn eine Bemerkung gemacht haben, denn der Herr, der ihr gegenübersaß, wandte sich nach ihm in unauffälliger Weise um, und in demselben Augenblick sprang er auch in die Höhe: „Wettborn, Menschenskind, ist es denn möglich?”

„Herrgott, Köster, wo kommst Du denn her?”

„Heute mittag frisch angekommen, total mit dem Magen zusammengebrochen, wie das ja bei modernen Leuten ganz Brauch und Sitte ist. Aber das erzähle ich Dir alles später, darf ich Dich bekannt machen?”

Wettborn war über dieses glückliche Zusammentreffen hocherfreut, aber trotzdem machte er einen Einwurf: „Wenn ich nicht störe . . .,” aber der andere wehrte ab: „Unsinn, was sollst Du wohl stören, ich sitze hier bei alten Bekannten,” und gleich darauf stellte Leutnant Köster seinen Kriegsschul­kameraden dem Fabrikbesitzer Lasare nebst Fräulein Tochter aus Straßburg vor.

Mit einigen freundlichen Worten reichte ihm der alte Herr die Hand, und Wettborn setzte sich zu ihnen an den Tisch: „Ich hatte vorhin schon die Ehre, die Herrschaften im Theater zu sehen — Sie sind wohl erst heute angekommen?”

„Zusammen mit Ihrem Kameraden Köster,” lautete die Entgegnung, „einem lieben Freunde unseres Hauses.”

Wettborn blickte erstaunt auf. „Ja, weißt Du das denn garnicht,” rief Köster, „daß ich schon seit drei Jahren in Straßburg stehe?”

Der andere schüttelte den Kopf: „Keine Ahnung. Das sagt Du mir erst jetzt?”

Köster lachte laut auf: „Aber ich habe Dich doch erst seit einer halben Minute wiedergefunden.”

„Richtig, aber wenn man Deine guten, treuen Augen sieht, hat man das Gefühl, als wäre man nie getrennt gewesen.”

Der Piccolo stand schon seit einigen Minuten hinter Wettborn und erkundigte sich bereits zum drittenmal: „Und was trinken's?”

Wettborn wandte sich um: „Was ist los? Ach so, der Stift.”

„Trinken S' weiß oder rot?” fragte der noch einmal.

„Unsinn, eine Flasche Mumm, extra Dry, aber kalt, das Wiedersehen muß gefeiert werden.”

Köster erhob Einspruch: „Aber ich bin doch zur Kur hier.”

„Hast Du schon mit dem Brunnen angefangen? — Na ja also, dann kanst Du heute noch lustig leben, morgen beginnt die Enthaltsamkeit.”

„Und Du?”

Wettborn sah ih erstaunt an: „Ich? Ach so ja,” er wurde unwillkürlich etwas verlegen: „Du glaubst doch nicht, daß ich hier bin, um Brunnen zu trinken? Unsinn, ich will mich hier amüsieren.”

„Hier in Karlsbad?” fragte Herr Lasare verwundert, „kann man denn das überhaupt?”

„Sogar herrlich,” gab er zur Antwort. „Ich bitte Sie, schon das Bewußtsein, unter Kranken der einzig Gesunde zu sein, ist Goldes wert. Und nun vergegenwärtigen Sie sich mein Vergnügen, hier essen und trinken zu dürfen, was ich will, während den meisten das meiste verboten ist. Aber auch das ist noch das geringste Vergnügen. Meine größte Freude besteht darin, hier draußen bei Pupp zu sitzen, meine Zigarre zu rauchen und mit einem wahrhaft teuflischen Lächeln die Leute an mir vorüberziehen zu sehen. Auf dem Gesicht des einen steht geschrieben: „Ich muß, trotzdem wir 25 Grad im Schatten haben, auf den Aberg hinauf, ich haben meinen Doktor auf den Knieen angefleht, heute zu Hause bleiben zu dürfen, aber mit dem ausgestreckten Finger wies er mir zwar nicht die Tür, wohl aber durch das geöffnete Fenster den hohen Berg, auf den ich jetzt hinaufkraxle.” Ein zweiter stöhnt laut, weil er nach dem Veitsberg muß, ein dritter muß auf die Stephanienhöhe, so hat denn jeder seinen Berg und sein stilles Leid, nur ich sitze hier frisch, froh, fröhlich und vergnügt und genieße das schöne Bewußtsein, widerlich gesund zu sein.”

„Na, warten Sie,” schalt Herr Lasare halb neidisch, halb belustigt, „auch für Sie wird schon noch die Stunde kommen, in der Sie nicht nur zum Vergnügen hierher reisen. Einen Magen hat der Mensch nur, und der reicht bei der Art und Weise, wie man gesellschaftlich darauf los lebt, bis an unser Lebensende nur dann aus, wenn er von Zeit zu Zeit ausgebessert wird. Um Gotteswillen nicht —” er wies dankend das Glas Sekt zurück, das Wettborn ihm anbot, „Champagner ist mehr als Gift für mich.”

„Darf ich Ihnen ein Glas anbieten, gnädiges Fräulein?”

Sie sah fragend ihren Vater an, der nickte ihr zu: „Nimm nur, Claire, Dir schadet es ja nichts.”

„Die Herrschaften sind wohl nicht zum erstenmal hier in Karlsbad?” erkundigte sich Wettborn. Er hatte den Wunsch, Claire, die bisher nur eine stumme Zuhörerin gewesen war, ins Gespräch zu ziehen, sie hatte vorhin bei seiner Schilderung belustigt gelächelt, aber er hatte, als sie lachte, es noch mehr als sonst bemerkt, daß in ihren Augen und in ihrem feingeschnittenen Gesicht ein trauriger und wehmütiger Ausdruck lag, den er sich ebensowenig zu erklären vermochte, wie die leise fragenden Blicke, mit denen sie ihn zuweilen ansah. Endlich gelang es ihm. sie an der Unterhaltung zu beteiligen, sie wurde lebhaft, ihre Wangen röteten sich, sie ging auf alle Scherze ein, und im heitersten Gespräch saßen sie lange beisammen. Wettborn wußte selbst nicht, wie es kam, aber er hatte garnicht die Empfindung, mit Fremden zusammen zu sein, er fühlte sich an dem Tisch so wohl und behaglich, daß er den Zweck seiner Reise ganz vergaß und die junge Amerikanerin, die jetzt mit ihrer Mutter bei ihm vorüberging, nur mit einer kurzen, flüchtigen Verbeugung begrüßte. Er war fröhlich und heiter, er ließ seinem Humor freien Lauf, und schließlich machte er ein ganz erstauntes Gesicht, als die Tische sich mehr und mehr leerten und als auch Herr Lasare mahnte, daß es für heute genug sei.

Köster erhob sich als erster, um sich zu verabschieden, und mit Befremden bemerkte Wettborn den dankbaren Blick, den Claire dem Kameraden zuwarf. Der wandte sich jetzt an Wettborn: „Du begleitest mich wohl noch, wir trinken eine Tasse Kaffee im ;Elefanten', bitte, komm.”

Wettborn wollte bleiben, bis die anderen Herrschaften aufgebrochen wären, aber Herr Lasare wehrte ab: „Bitte, lassen Sie sich durch uns nicht abhalten, ich habe mit dem Oberkellner doch noch allerlei zu besprechen. Auf Wiedersehen morgen.”

So trennte man sich denn, und gemeinsam schlugen die beiden Freunde den Weg zum Kaffeehaus ein. „Sag' 'mal, wer und was ist dieser Herr Lasare eigentlich? Er scheint ja ein sehr feiner und liebenswürdiger Mensch zu sein.”

„Das ist er auch,” stimmte ihm der andere bei. „Er hat in Straßburg eine der größten Fabriken, er ist der Besitzer eines Vermögens, das nach vielen Millionen zählt, und er macht ein mehr als gastfreies Haus. Selbst wir Offiziere sind ihm jederzeit herzlich willkommen, und das will doch für einen geborenen Franzosen viel sagen, aber er ist ein sehr verständiger Mann, der sich ganz darein gefuden hat, daß Straßburg zu Deutschland gehört.”

Wettborn hatte aufmerksam zugehört, nun fragte er: „Sag' 'mal, wenn der alte Herr so reich ist, wie kommt es denn, daß die Claire, dieses bildhübsche Mädchen, noch nicht verlobt oder verheiratet ist?”

Der Andere schwieg einen Augenblick, dann sagte er: „Das wird Dir morgen klar werden, wenn Du sie auf der Promenade siehst. Sie hat ein körperliches Gebrechen — sie hinkt.”

Wettborn war stehen gebliebeb und ergriff den Arm des Freundes: „Das ist doch garnicht möglich, dieses bildschöne Geschöpf soll lahm sein, aber was hat sich denn die Natur nur dabei gedacht?”

„Die Natur garnichts, Claire ist gesund zur Welt gekommen, aber vor ungefähr drei Jahren ist sie mit dem Pferde gestürzt, sie hat sich das Bein gebrochen, die Kunst der Ärzte hat die Sache verschlimmert, anstatt sie zu heilen. Als Claire nach langen Wochen das Krankenlager verließ, mußten die Ärzte die Entdeckung machen, daß das Bein um einige Zentimeter zu kurz geblieben war.”

„Aber das ist ja entsetzlich, das ist ja mehr als grausam, gibt es denn da gar keine Heilung?”

Der Andere schüttelte den Kopf: „Du kannst Dir denken, daß der Vater nichts unversucht gelassen hat, die berühmtesten Ärzte sind konsultiert worden, aber alle sagen dasselbe, die Sache ist in dem ersten Stadium so verpfuscht, daß eine Heilung jetzt gänzlich ausgeschlossen ist.”

Die beiden Herren hatten das Café erreicht und unter den Bäumen Platz genommen.

„Aber das ist ja entsetzlich,” sagte Wettborn nochmals. Er empfand aufrichtiges Mitleid mit dem jungen Mädchen und plötzlich meinte er: „Nun weiß ich, warum sie so traurig aussieht, nun verstehe ich auch, warum sie Dir einen so dankbaren Blick zuwarf, als wir zuerst aufbrachen.”

„Gewiß,” bestätigte der andere. „Du kannst Dir denken, wie peinlich es für sie ist, einem Herrn, der sie zum erstenmal sieht, bei dem Fortgehen zu zeigen: ich hinke. Sie hat so oft die enttäuschten, entsetzten Gesichter gesehen, mit denen man sie dann anblickt, und eine leicht begreifliche Eitelkeit läßt sie diesen Augenblick fürchten. Es ist ja für die junge Dame unangenehm genug, daß sie sich bei dem Abschied sagen muß: sobald die beiden draußen sind, erfährt Wettborn, daß ich hinke. Und natürlich fragt sie sich unwillkürlich: wird er auch in Zukunft, nachdem er erfahren hat, daß ich ein Krüppel bin, so freundlich und liebenswürdig mit mir sein, wie heute abend? Wird er auch in Zukunft meine Gesellschaft suchen oder wird er mich meiden?”

„Aber Mensch, was redest Du denn da?” schalt Wettborn.

„Täusche Dich nicht,” erwiderte Köster gelassen. „Heute spricht das Mitleid aus Dir, morgen oder übermorgen urteilst Du ganz anders, da denkst Du sicher ebenso, wie alle anderen. Und wenn Du sie siehst, hast Du vielleicht ein freundliches Wort für sie, und wenn Du wirklich ein paar Schritte mit ihr gehst, so betrachtest Du das als ein Opfer, das Du ihr bringst,” und als Wettborn schweigend vor sich hinblickte, setzte er hinzu: „Übrigens ist Claire einmal verlobt gewesen.”

„Nun, und?” fragte Wettborn lebhaft.

„Natürlich ging die Sache wieder auseinander. In irgend einem Bad, ich glaube in Kissingen, hatte Claire einen Herrn kennen gelernt, der sich in sie verliebte, als er, so wie Du heute, zum erstenmal an einem Tisch gesessen hatte. Sie aßen in den nächsten Tagen verschiedentlich zusammen, und der Zufall fügte es, daß ihm ihr Leiden verborgen blieb. Eines Morgens hielt er schriftlich um sie an, sie gab ihm ihr Jawort, aber als er dann erfuhr, daß sie dieses körperliche Gebrechen hatte, reiste er noch demselben Tag ab und gab ihr ihr Wort zurück.”

Das Blut stieg Wettborn in die Wangen: „Das ist aber doch eine bodenlosen Gemeinheit.”

Köster streifte gelassen die Asche seiner Zigarre ab.

„Deine Entrüstung ehrt Dich, aber allzuhart darfst Du die Sache auch nicht beurteilen. Sieh' mal, lieber Freund, der Betreffende war ein Gesandtschafts­attaché, der viel an den Höfen verkehrte, also eine Frau brauchte, die da glänzt und durch ihre Schönheit und durch ihre Erscheinung in das ganze Milieu hineinpaßte. Und nun denk Dir da eine lahme Frau! Hand aufs Herz, lieber Freund, hättest Du da anders gehandelt? Würdest Du als stolzer Kavallerie–Offizier die Claire zur Frau nehmen? Würdest Du ein junges Mädchen heiraten, die hinkt und sich auf dem glatten Parkett nur unbeholfen fortzubewegen weiß? Wenn unsereins heiratet, will man in erster Linie eine Frau haben, die so schön ist, daß sie nicht nur uns, sondern auch anderen gefällt, wir sind in der Hinsicht ja gräßlich eitel, wie eitel, das habe ich erst bemerkt, seitdem ich selbst verheiratet bin.”

„Du bist verheiratet? Aber Mensch, davon ahnt mein Herz ja garnichts.”

Köster erzählte von seiner Familie und von seiner Häuslichkeit, dann kam das Gespräch wieder auf Claire zurück.

„Und glaubst Du nicht, daß die junge Dame doch noch einmal heiraten wird?” fragte Wettborn.

Der andere schüttelte den Kopf: „Ich glaube nicht daran. Daß es genug verkrachte Existenzen gibt, die glücklich wären, sich mit ihrem Geld wieder rangieren zu können, ist ja sicher, und an solchen Bewerbern fehlt es ihr nicht. Überall laufen Tagediebe herum, die nichts sind, keinen Pfennig besitzen, die als Schnorrer in Frack und weißer Binde von einer Gesellschaft zur anderen eilen, bis es ihnen endlich glückt, einen Goldfisch einzufangen. An solchen Freiern fehlt es Claire auch nicht, aber sie ist zu stolz und zu klug, um nur wegen ihrer Millionen geheiratet zu sein. Es ist ein hartes Geschick, das die Ärmste betroffen, aber ich glaube nicht daran, daß sie noch jemals glücklich werden wird.”

Es war spät, als die beiden Freunde endlich aufbrachen. „Wann sehe ich Dich morgen?” erkundigte sich Köster, „ich werde wohl zu mittag mit Lasare wieder bei Pupp zusammen sein, kommst Du auch?”

„Leider unmöglich,” erwiderte Wettborn, „ich habe schon eine andere Verabredung, aber sicher sehen wir uns morgen irgendwo, vielleicht schon am Brunnen.”

„Stehst Du denn schon so früh auf?”

„Na, für gewöhnlich gerade nicht. Die ersten Tage habe ich natürlich dazu benutzt, um gehörig auszuschlafen.” Und nach einer kleinen Pause fragte er: „Welchen Brunnen trinkt denn Herr Lasare?”

„Ach so, deswegen? Du willst Dir Fräulein Claire einmal auf der Straße ansehen? Tu' mir die einzige Liebe und zeige ihr nicht allzusehr Deine Enttäuschung.”

„Aber was denkst Du denn von mir?” brauste Wettborn auf.

„Na, nimm's nur nicht übel,” meinte der andere. „Im übrigen ist morgen früh um sieben Uhr Rendez-vous am Sprudel. Claire wird sich sehr freuen, wenn ich ihr sage, daß Du kommst, sie hat ja nur wenig Menschen, die freundlich zu ihr sind und die Zeit haben, sich um sie zu kümmern. So wird sie Dein Erscheinen doppelt dankbar anerkennen.”

„Ich komme bestimmt,” sagte Wettborn zum Abschied, aber im Hôtel fand er eine Aufforderung vor, sich an einer Partie nach Marienbad zu beteiligen, und so tröstete er sich denn damit, daß es ja am Abend auch noch früh genug wäre, Claire wiederzusehen.

*         *         *

Anstatt einen Tag, war Wettborn deren vier in Marienbad geblieben. Er hatte dort Bekannte und eine lustige Gesellschaft vorgefunden, die ihn durchaus nicht loslassen wollte, selbst seine Entschuldigung, daß er auf längere Zeit garnicht eingerichtet wäre, half ihm nichts, er mußte seinem Diener telegraphieren und sich Garderobe nachschicken lassen. Endlich machte er sich frei, und sein erster Weg, als er wieder in Karlsbad eintraf, galt Lasares. In dem Trubel der letzten Tage hatte er die Familie ganz vergessen, und er nahm sich jetzt vor, durch doppelte Liebenswürdigkeit wieder gutzumachen, was er bisher an Aufmerksamkeit hatte fehlen lassen. Mit einem herrlichen Blumenstrauß suchte er Lasares auf, aber er fand sie nicht zu Haus, dagegen erreichte ihn am Mittag eine Aufforderung, mit ihnen ins Theater zu gehen und hinterher gemeinsam zu essen. So leid es ihm tat, mußte er absagen, da er schon vorher eine andere Verabredung getroffen hatte, und ein unglücklicher Zufall fügte es, daß er auch in den nächsten Tagen nicht mit ihnen zusammentraf. „Ich kann's nicht ändern,” tröstete er sich, „und wenn Claire mein Ausbleiben falsch auslegt, kann ich nichts dafür.”

Ganz zufällig traf er eines Mittags im Restaurant des „goldenen Schildes” mit ihnen zusammen, er hatte für vier Personen einen Tisch belegen lassen, aber einen Brief vorgefunden, daß es den anderen im letzten Augenblick unmöglich geworden sei, die Verabredung innezuhalten. Aergerlich überlegte er, was er tun sollte, da sah er Lasares und Köster eintreten. Er eilte ihnen entgegen und bat sie, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Sie willigten ein, aber als Claire die Blumensträuße bemerkte, die bei den Kuverts lagen, wollte sie wieder gehen, bis er ihr erklärte, daß er im Stich gelassen worden sei. „Wir sind also Lückenbüßer,” sagte Claire nicht ohne Bitterkeit im Ausdruck.

„Aber, gnädiges Fräulein,” bat er, „wie können Sie nur so etwas sagen. Meine Schuld ist es doch nicht, daß ich hier so viele Bekannte habe, und dafür, daß wir uns beständig verfehlten, kann ich doch auch nichts.”

Er wandte sich an den Kellner: „Werfen Sie die Blumen fort.”

„Aber das ist doch eine Sünde,” rief Claire.

„Und es wäre eine Taktlosigkeit, Ihnen, gnädiges Fräulein, die Blumen anzubieten, die für andere bestimmt waren.”

„Ich würde sie auch nicht annehmen.”

Das klang sehr scharf, aber Wettborn tat, als hätte er es garnicht bemerkt. „Na ja, da sind wird uns ja also wieder einig,” neckte er, „also fort mit den Blumen, und lassen Sie mir sofort einen neuen, schönen Strauß besorgen.”

Er setzte sich an Claires Seite, und nach und nach gelang es ihm, ihre Verstimmung zu verscheuchen. Deutlich merkte er ihr an, daß sie sein Ausbleiben so gedeutet, wie Köster es damals prophezeit hatte. Sie hatte sich gesagt: er ist genau wie alle anderen, sobald sie wissen, was mir fehlt, halten sie es nicht mehr der Mühe wert, sich um mich zu kümmern. Empfindlich, wie sie es durch ihre Krankheit geworden war, hatte sie es ihm verdacht, daß er aus Marienbad nicht eine Zeile geschrieben, sich nicht einmal telegraphisch entschuldigt hatte. Sie wußte, es lag dazu keinerlei Veranlassung vor, da sie keinerlei Verabredung getroffen, aber sie hätte es trotzdem für liebenswürdiger und höflicher gehalten. Aber obwohl sie ihm noch böse war, schwand bei seiner frohen Stimmung ihre schlechte Laune bald dahin, und noch etwas versöhnte sie, das war die Art und Weise gewesen, in der er ihr körperliches Gebrechen überhaupt nicht bemerkt zu haben schien. Wie immer bei dem ersten Zusammen­treffen mit einem Fremden war sie vorhin tötlich verlegen geworden, hatte versucht, ihren schlechten Gang nach Möglichkeit zu verbergen, aber wie stets, hatte sie es auch heute dadurch nur schlimmer gemacht. Sie hatte ihn fest und scharf dabei beobachtet, aber keine Miene hatte in seinem Gesicht gezuckt, der Ausdruck war ganz derselbe geblieben und hatte weder Erstaunen, noch Schrecken verraten. Und besonders dankte sie es ihm, daß er sie nicht wie eine Kranke behandelte, ihr keine Hilfe anbot, sich nicht ängstlich um sie bemühte. Er war genau so unbefangen und heiter, wie beim ersten Zusammentreffen, und als sie im Laufe der Unterhaltung bemerkte, daß es ihm wirklich ernst war, daß er seinen Frohsinn nicht nur heuchelte, daß er nicht, wie so viele andere, in ihrer Gegenwart eine gezwungene Lustigkeit zur Schau trug, in der Absicht, sie heiter zu stimmen, da fand auch sie ihm gegenüber ihren alten Humor, ihre alte Unbefangenheit wieder. Sie beteiligte sich lebhaft am Gespräch, und im Fluge ging ihnen die Zeit dahin.

Man trennte sich endlich nach Tisch nur, um sich gleich darauf wieder bei Pupp zum Kaffee einzufinden, und am Abend waren alle im Theater zusammen. Am nächsten Morgen erschien Wettborn sogar am Brunnen. „Tun Sie das nicht wieder,” bat ihn Claire, „Sie wissen, seltene Naturerscheinungen und große Naturereignisse haben ja schon zuweilen zur Folge gehabt, daß die Brunnen plötzlich aufhören zu laufen. Und was dann, wenn hier mit einemmal alle Quellen versiegen? Ich garantiere Ihnen, daß Sie dann von sämtlichen Karlsbadern mit allen Chikanen der Neuzeit zu Tode gemartert werden.”

Er ging auf ihren fröhlichen Ton ein und schritt plaudernd an ihrer Seite auf und ab. Auch jetzt war er Claires Ansicht nach so ganz anders, als die meisten Menschen. Er sah sie beim Gespräch ruhig an und tat garnicht, als ob es ihr unangenehm sein könnte, daß er bei jedem Blick ihr Leiden aufs neue bemerkte. Er war die Natürlichkeit selbst, und gerade das nahm sie so für ihn ein. Aber als er jetzt im Vorübergehen einen großen Strauß gelber Rosen für sie erstand, wurde sie ihm beinahe böse:

„Es ist sehr unrecht von Ihnen, Herr von Wettborn, mir soviel Blumen zu schenken, Sie verwöhnen mich überhaupt in einer unverantwortlichen Art und Weise.”

Sie ärgerte sich selbst, daß sie das Wort „verwöhnen” gebraucht hatte, gerade aus ihrem Munde konnte es leicht heißen: „Was Du mir tust, tust Du nur aus Mitleid und Erbarmen.”

Aber er sah sie ganz unbefangen an: „Von verwöhnen kann doch wohl nicht die Rede sein, gnädiges Fräulein. Es ist vielleicht etwas unhöflich, es zu sagen, aber ich bin gegen Sie weder höflicher noch aufmerksamer als gegen jede andere junge Dame, die mir die Auszeichnung ihrer Gesellschaft zu teil werden läßt.”

Sie dankte ihm durch einen Blick, daß er sie auch jetzt in jeder Hinsicht allen anderen jungen Damen gleichstellte, dann nahm sie den Strauß aus seinen Händen entgegen, steckte sich eine Rose in den Gürtel und bot auch ihm eine Rose dar.

„Und da sprechen Sie noch von „verwöhnen,” schalt er. „Sie verwöhnen mich ja in einer geradezu unerhörten Weise. Sehen Sie nur die neidischen Blicke, mit denen man mich betrachtet.” Und wirklich sahen die Vorübergehenden die beiden an, als sie nun stehen blieb und die Rose in seinem Knopfloch befestigte.

Sie ging schweigend an seiner Seite weiter, aber plötzlich sagte sie, ihre innersten Gedanken verratend: „Sie haben vielleicht recht, Sie verwöhnen mich wohl nicht, aber Sie sind sehr, sehr gut mit mir.”

Das Blut stieg ihm in die Wangen, dann sagte er: „Gnädiges Fräulein, nun hören Sie aber bitte auf, Sie setzen mich wirklich in die größte Verlegenheit. Und lassen Sie mich Ihnen auch noch etwas sagen, wenn es eigentlich jetzt vor dem Frühstück zu einer Strafpredigt noch viel zu früh am Tage ist. Aber es geht nicht anders. Wer so schön ist, wie Sie, wen die Natur so schön geschaffen hat — —”

Ein bitteres Lächeln umzuckte ihren Mund: „Ja, ja, ich bin sehr schön, besonders, wenn ich gehe.”

Ärgerlich stieß er mit dem Stock auf den Boden: „Darf ich einmal schelten?” Und ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Ich sehe Sie allerdings heute erst zum drittenmal, aber ich habe Sie in der kurzen Zeit sehr scharf beobachtet. Sie kommen mir zuweilen vor, wie ein verzogenes Kind, das alles auf der Welt besitzt, dem aber irgend eine Kleinigkeit fehlt, die es aus Gottweiß welchen Gründen nicht bekommt. Aber anstatt sich nun über die tausend Sachen zu freuen, die es hat, heult und brüllt das Göhr den ganzen Tag, weil ihm gerade die eine Sache fehlt. So sind auch Sie: überreich hat die Natur Sie körperlich und geistig ausgestattet, aber anstatt sich dessen zu freuen, hadern Sie mit dem Geschick, weil Sie nach Ihrer Meinung nicht ganz so vollkommen sind, wie Sie es gern sein möchten. Das ist unrecht von Ihnen, aber ganz falsch ist, wenn Sie sagen, daß ich oder irgend ein anderer Mensch gut mit Ihnen wäre. Und selbst, wenn ich es wäre, dürften Sie es garnicht besonders betonen. Im Gegenteil, wer so schön ist wie Sie, hat ein Recht, es zu verlangen, daß alle Welt ihr huldigt, ja noch mehr, Sie müssen es gerade fordern, daß ein jeder sich um Ihre Gunst bewirbt. Jeder gilt heutzutage nur soviel, wie er sich selbst einschätzt, und wenn er selbst von sich gering denkt, darf er sich nicht wundern, wenn die lieben Mitmenschen das erst recht tun.” Er atmete erleichtert auf. „So, das wollte ich Ihnen schon lange einmal sagen. Woher ich mir eigentlich das Recht nehme, so zu Ihnen zu sprechen, weiß ich selbst nicht, und wenn Sie mir nun zürnen, dann würde ich das zwar aufrichtig bedauern, aber zurücknehmen könnte ich deshalb meine Worte doch nicht. Sind Sie mir böse?”

Sie schüttelte nur den Kopf.

„Da sehen Sie es ja wieder, was Sie für ein kluges Menschenkind sind,” neckte er, „und nun wollen wir dieses Thema nie wieder mit einer Silbe berühren, versprechen Sie es mir.”

Sie sah ihn mit großen Augen dankbar an und reichte ihm die Hand, die er unbekümmert um die Vorübergehenden an die Lippen führte.

Noch eine halbe Stunde promenierten sie auf und ab, dann gesellte sich Herr Lasare zu ihnen, der seinen letzten Becher Sprudel getrunken hatte, und man ging zum Frühstück, Lasares wie immer nach dem Freundschaftssaal, Wettborn zu Pupp.

Ida, das Kaffeemädchen, machte große Augen, als Wettborn schon zu so früher Stunde erschien: „Jesses, aber Herr Baron, was haben S' denn heute? Sie werden mir doch nicht krank geworden sein und auch Brunnen trinken müssen? Gehen S', so'n junger und schöner Herr, wie der Herr Baron! Machen S' doch nicht solche Geschichten.”

Stets hatte er für die schlanke, blonde Ida, die ihn täglich bediente, und die mit Argusaugen darüber wachte, daß keine ihrer Kolleginnen ihrem Herrn Baron zu nahe kam, ein freundliches, scherzendes Wort, aber heute war er still und schweigsam, und auch, als Ida ihm das Frühstück gebracht hatte, wartete sie vergebens auf eine Anrede: „Sind dem Herrn Baron heut' die Eier so recht? Ich hab's nochmal extra in der Küchen gesagt, daß sie nicht so weich sind, genau wie der Herr Baron es befehlen: vier Minuten.”

„Ja, ja, danke,” wehrte Wettborn kurz ab. Da kam auch schon der Boy mit den Zeitungen.

Er hatte das Frühstück schnell beendet, zündete sich seine Zigarre an und nahm die Zeitung zur Hand. Aber er las nicht, er rollte das Blatt zusammen, legte es in den Schoß und starrte vor sich hin.

„Jesses, was ist dem Herrn Baron heut' nur?” fragte sich Ida, die ihren Gast verwundert betrachtete. „Wenn er sonst die Zeitung nicht gleich hat, dann schilt er drauflos, obgleich er sonst so ein guter Herr ist. Heut' hat der Joseph sie ihm schon gebracht, bevor er sie bestellte, und nun liest er sie nicht. Jesses, mit dem ist's heut' nicht richtig, er wird mir doch nicht krank werden.”

Mehr und mehr leerten sich die Plätze, die Gäste gingen in den Wald hinein, um den ihnen ärztlich verordneten Berg zu nehmen, Frühaufsteher kamen schon vom Kaiserpark zurück, nur Wettborn machte keine Anstalten, eine Promenade zu unternehmen, er saß noch immer unbeweglich auf seinem Platz, den Kopf in die Hand gestützt, und blickte vor sich hin, ohne auf die Sonne zu achten, deren Strahlen gerade auf ihn niederfielen.

„Wenn der Herr Baron hier noch lange sitzen bleiben, werden der Herr Baron noch den schönsten Sonnenstich bekommen.”

Ida war zu ihrem Gast getreten, sie hielt es für unbedingt notwendig, ihn aus seinen Träumereien zu wecken.

Wettborn blickte auf: „Ach so, Sie sind es. Na, es wird auch Zeit — zahlen.”

Ida griff in die Geldtasche, um gleich wechseln zu können, obgleich sie wußte, daß der Herr Baron sich nie etwas herausgeben ließ. Der bezahlte täglich seinen Gulden, selbst auf die Gefahr hin, daß für Ida dabei zwanzig Kreuzer Trinkgeld zu viel abfielen. Heute aber reichte er ihr eine Fünfguldennote. „Einen Augenblick, Herr Baron, ich muß erst wechseln gehen.”

Ida eilte davon, aber als sie nach einigen Minuten zurückkam, war ihr Gast fort. „Habt's denn meinen Baron nit gesehen?” erkundigte sie sich bei ihren Kolleginnen, und als sie erfuhr, daß er in seine Wohnung gegangen sei, schlug sie verwundert die Hände zusammen: „Ich hab's ihm ja gleich angesehen, daß es heut' nicht richtig mit ihm ist. Jesses, wie kann ein vernünftiger Mensch nur fünf Gulden für sein Frühstück bezahlen.”

Kopfschüttelnd räumte sie das Geschirr zusammen, und mit einemmal ward es ihr zur Gewißheit, daß ihr Baron ernstlich krank war, er hatte nicht einen einzigen Kipfel gegessen!

*         *         *

Es war ungefähr drei Wochen später. Am Vormittag hatte Wettborn ein Telegramm seines Onkels erhalten: „Bis heute noch ohne jede Nachricht von Dir. Wie steht es?” Und seit Stunden saß er nun schon an seinem Schreibtisch, um die Antwort niederzuschreiben, aber die Feder ruhte still in seiner Hand, er achtete nicht darauf, daß Stunde auf Stunde verrann. Ganz mechanisch las er immer und immer wieder: „Wie steht es?”

Auf die Frage gab es nur eine Antwort, und die lautete: bin bis über beide Ohre in Claire verliebt. Das sagte er sich selbst, und doch wollte er es sich nicht eingestehen. Es war in den letzten Wochen kein Tag vergangen, an dem er nicht ausschließlich mit Claire zusammen gewesen war. Zuerst hatte ihn nur Mitleid bewogen, sich ihr so viel zu widmen, aber nur zu bald merkte er, daß er sie wirklich liebte, und daß nicht Mitleid, nicht der Wunsch, sie nach besten Kräften zu trösten, sondern wirkliche, tiefe Zuneigung ihn immer wieder zu ihr hinzog. Und wie dankte sie es ihm, daß er sich ihr so widmete, wie oft hatte sie ihm im Laufe der Zeit nicht wiederholt, daß die Worte, die er an jenem Morgen am Brunnen zu ihr gesprochen, aus seinem Munde, aus dem Munde eines ganz Fremden, ihr neuen Lebensmut und neues Selbstbewußtsein gegeben hätten. Wie ruhig und zufrieden trug sie nun ihr Geschick, wie heiter und sorglos war sie stets in seiner Nähe, wie glücklich war sie, als sie es unter seinem Zureden dahin gebracht hatte, daß sie aus ihrem Leiden kein Geheimnis mehr machte, daß sie sich um die neugierigen und mitleidigen Blicke der anderen garnicht mehr kümmerte. Wie dankbar hatte sie ihn oft angesehen, wenn gerade er, der durch seine Erscheinung und durch sein ganzes Wesen die Blicke vieler schönen und eleganten Frauen auf sich zog, sich liebevoll ihr widmete, wenn er garnicht auf halblaute Bemerkungen der anderen achtete, wenn er deutlich nur den einen Wunsch verriet, ihr zu gefallen. Er war in Claire ernstlich verliebt, die Liebe allein hatte sein ganzes Tun in dieser Zeit gelenkt, darüber half kein Diskutieren und Zweifel hinweg. Und was nun?

Die Zeit seines Urlaubs näherte sich dem Ende, beinahe fünf Wochen waren schon vergangen, spätestens in acht Tagen mußte er reisen, und wieder hatte er sein Ziel nicht erreicht. Er hatte die Chancen, die sich ihm boten, nicht ausgenutzt, er hatte die reiche Amerikanerin, die ihm, von Eifersucht gegen Claire erfaßt, die größten Avancen machte, geradezu beleidigt und tötlich erzürnt, als sie es in seiner Gegenwart eines Tages wagte, über Claire spöttische Bemerkungen zu machen. Auch dieses Mal würde er unverrichteter Sache heimkehren, und er konnte sich den Vorwurf nicht ersparen, die Zeit, die ihm zur Verfügung gestanden, nicht richtig ausgenutzt zu haben. Anstatt ernsthaft sich nach einer Braut umzusehen, hatte er sich in ein junges Mädchen verliebt, das er nicht heiraten konnte. Wie oft hatte er nicht an Kösters Worte denken müssen: „Würdest Du eine Frau wie Claire heiraten, die durch ihr körperliches Gebrechen das allgemeine Mitleid erregt? Willst nicht auch Du eine Frau haben, die ob ihrer Schönheit angestaunt wird und um derentwillen Du allgemein beneidet wirst”

Und doch liebte er Claire über alles, ihr Bild verfolgte ihn überall hin, er fand sie so schön und begehrenswert, daß er bei ihrem Anblick ihr Leiden vollständig vergaß, ihr ganzes Wesen zog ihn so an, daß er unglücklich war, wenn er einmal ihre Gesellschaft entbehren mußte.

Es klopfte an die Tür, einmal — — zweimal, Wettborn hörte es nicht, erst beim drittenmal fuhr er empor: „Herein!”

Auf der Schwelle erschien Herr Lasare, und wie bei einem Verbrechen ertappt, zuckte Wettborn zusammen. Was führte den gerade jetzt zu ihm, wo er sich mehr und mehr darüber klar geworden war, daß es für alle das beste sei, wenn er womöglich noch heute abreiste und sich schriftlich von Lasares verabschiedete.

„Ich bitte um Verzeihung, wenn ich störe,” sagte der Gast, „aber Claire schickt mich, wir wollen heute nachmittag eine Wagenfahrt nach Pirkenhammer unternehmen und ich möchte Sie fragen, ob Sie sich an dem Ausfluge beteiligen wollen.”

Wettborn hatte seinem Gast die Hand gereicht und ihm einen Stuhl angeboten, nun suchte er vergebens nach einer Ausrede: „Sie sind wirklich sehr liebenswürdig, aber — —”

„Bitte, genieren Sie sich absolut nicht. Wenn Sie irgend etwas anderes vorhaben, können wir den Ausflug ja auf morgen oder übermorgen verschieben. Claire meinte nur, weil Sie selbst so oft den Wunsch geäußert haben, sich die Porzellanfabrik dort einmal anzusehen —”

„Gewiß, gewiß,” stimmte Wettborn ihm bei, und dann sagte er plötzlich, weil er vergebens nach einer anderen Entschuldigung suchte: „Ich würde ja mit Freude Ihrer Aufforderung Folge leisten, aber ich habe heute Morgen ein Telegramm bekommen, das mich zwingt, wahrscheinlich noch heute abzureisen.”

Er wagte nicht, seinen Gast anzusehen, aber als er ihm schließlich doch seinen Blick zuwandte, sah er, wie Herr Lasare ihn mit weitgeöffneten Augen ganz erschrocken anstarrte: „Müssen Sie wirklich schon reisen?” fragte er. „Gestern sagten Sie doch noch, Sie blieben ungefähr noch vierzehn Tage. Das wird Claire sehr traurig machen.” Und noch einmal fragte er: „Müssen Sie wirklich schon fort?”

Wettborn ging in großer Erregung im Zimmer auf und ab, und nach langem, inneren Kampfe blieb er vor seinem Gast stehen und sagte: „Herr Lasare, ich will offen und wahr gegen Sie sein und zu Ihnen sprechen, wie ein Mann zum anderen. Wenn Sie mich fragen, so muß ich darauf antworten, daß ich nicht abreisen muß. Tue ich es dennoch, so geschieht es mit Rücksicht auf Ihr Fräulein Tochter und mich. Lassen Sie mich Ihnen alles erklären.”

Und mit ehrlicher Offenheit erzählte er, wie er hierhergekommen wäre, lediglich, um sich eine reiche Frau zu suchen, um seine glänzende Stellung als Kavallerie–Offizier später beibehalten zu können.

Aufmerksam hatte der alte Herr ihm zugehört: „Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir durch die eingehende Schilderung Ihrer Verhältnisse gegeben haben. Sie sind offen gegen mich gewesen, lassen Sie auch mich jetzt ebenso zu Ihnen sprechen. Ich habe es seit langer Zeit bemerkt: Sie lieben Claire ebenso wie Claire Sie liebt, und nun wollen Sie fliehen und sich nach einer anderen reichen Braut umschauen, weil Sie sich gegen Ihren Willen in Claire verliebten, weil Sie Claire ihres körperlichen Gebrechens wegen nicht heiraten können. Bitte, entschuldigen Sie sich nicht,” wehrte er ab, als Wettborn ihn unterbrechen wollte, „ich mache Ihnen daraus ja keinen Vorwurf, aber für mein armes Kind tut es mir sehr leid. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß Claire bereits einmal so gut wie verlobt war?”

Wettborn nickte zustimmend und es herrschte eine lange Pause, dann begann Herr Lasare: „Ich hätte es mir eigentlich denken können und mir klar machen müssen, daß es so kommen würde. Es wäre meine Pflicht gewesen, Claire beizeiten zu warnen und auch Ihnen, Herr Leutnant, zu sagen, daß ich mein Kind viel zu lieb habe, um es zum zweitenmal einer Enttäuschung und einem Schmerz, wie jetzt, auszusetzen. Ich wiederhole, ich mache Ihnen nicht den leisesten Vorwurf, dazu habe ich weder ein Recht, noch die geringste Veranlassung, im Gegenteil, ich kann Ihnen nur dankbar sein, daß Sie meine Tochter so verwöhnten, ihr so viel Aufmerksamkeiten erwiesen, aber ich bin traurig, daß es so gekommen ist. Ich würde viel, mein ganzes Vermögen darum geben, wenn Sie beide nur Freunde geblieben wären. Sie, Herr Leutnant, werden sich schnell zu trösten wissen. Sie gehen hinaus in die Welt, in die Gesellschaft, und wenn Sie erst die Braut gefunden haben, dann werden Sie überhaupt nicht mehr an Claire denken, sich kaum noch entsinnen, daß sie Ihnen jemals begegnete.”

Wettborns Wangen färbten sich dunkelrot: „Ich muß dringend bitten Herr Lasare, nicht so zu sprechen, nicht so von mir zu denken. Ich liebe Ihre Tochter heiß und leidenschaftlich, mehr, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich glaubte, über das, was man so die Liebe nennt, erhaben zu sein und habe doch einsehen müssen, daß es um die Liebe etwas Göttliches ist. Ja, weiß Gott, ich liebe Claire so heiß, wie ich noch nie ein Wesen liebte, das Bewußtsein, von ihr wieder geliebt zu werden, macht mich namenlos glücklich, und was kümmert es mich, ob Claires Gang lahm und schleppend ist, was liegt daran bei einem Menschen, den man so liebt, wie ich Ihr Kind liebe.”

Er hatte mit heiliger Wärme, mit warmer Begeisterung gesprochen, und in das Herz des Vaters, das da für das Glück seines Kindes bangte, zog neue Hoffnung: „Aber, Herr Leutnant, wenn Sie so denken, und ich glaube, daß es Ihnen Ernst ist mit Ihren Worten, warum heiraten Sie dann mein Kind nicht? Ich bin reich, viel reicher als Sie glauben, Claire ist meine einzige Erbin —”

Wettborn erhob abwehrend die Hand: „Bitte, sprechen Sie mir jetzt nicht davon, denn je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto klarer wurde es mir, daß es gerade Claires Vermögen ist, das mich verhindert, sie zu heiraten.”

Der Vater blickte erstaunt auf: „Ich verstehe Sie wirklich nicht. Bitte, erklären Sie sich deutlicher.”

„Schön, so will ich auch noch dieses gestehen,” erwiderte Wettborn. „Wie ich schon vorhin erwähnte, habe ich mir tausendmal gesagt: ich muß eine reiche Frau heiraten, aber, und das ist das Schlimmste, ich habe das nicht nur mir, sondern auch den Kameraden gesagt. Jeder im Regiment weiß, daß ich auf Brautschau bin, es sind sogar Wetten daraufhin abgeschlossen, ob ich diesesmal als glücklicher Bräutigam heimkehre oder nicht, ja, ich habe mich sogar zu der Äußerung hinreißen lassen, man sehe mich entweder verlobt oder garnicht wieder. Ich habe über meine bevorstehende Verlobung in der Art und Weise gesprochen, wie man über einen beabsichtigten Pferdehandel spricht. Kommt man da zurück, heißt es: Na, wie sieht das Pferd aus, braun oder schwarz, hoch oder niedrig? Und wenn ich erzähle, daß ich mich verlobte, wird es heißen: „Na, wie sieht Ihre Braut aus und vor allen Dingen wieviel bekommt sie mit.” Und ich kann diese Redensarten nicht einmal verbieten, denn ich selbst bin ja die Veranlassung, daß man so spricht. Werde ich grob, so wird man mich auslachen, und wenn ich gewaltsam dem Gerede ein Ende zu machen suche, dann wird man hinter meinem Rücken umsomehr reden und spotten und da sagen: „Was fällt denn dem Wettborn ein, sich auf einmal aufzuspielen, als hätte er nur aus Liebe geheiratet, uns soll er doch nichts vorreden, wir wissen doch, wie er in der Patsche saß, und wir wissen doch ganz genau, daß er in erster Linie Geld heiraten wollte. Sehen Sie, Herr Lasare, so würden die Kameraden, ohne sich viel böses dabei zu denken, schon sprechen, wenn ich an der Seite einer auffallend schönen Braut heimkehre. Erfahren Sie aber, daß ich mir eine Braut nahm, die ein körperliches Gebrechen hat, so wird des Geredes kein Ende sein und immer und immer wieder wird es heißen: „Na, daß er die nur ihrer Million wegen nahm, ist doch ganz klar.” Bei einer anderen Frau würde das Gerücht vielleicht mit der Zeit verstummen, bei Claire nie. Und aus diesen Gründen kann und darf ich Claire nicht heiraten, ich habe sie zu lieb, um sie einem derartigen Gerede auszusetzen, ich habe sie zu lieb, als daß ich auch nur den Schimmer eines Scheins aufkommen ließe, sie nur ihres Geldes wegen geheiratet zu haben. Ich würde jeden, der da wagte, die leiseste Anspielung zu machen, mit der Faust in's Gesicht schlagen, und doch hätte ich kein Recht dazu, denn ich selbst bin die Veranlassung, wenn man so sprechen würde. Ich habe, als ich von meiner beabsichtigten Verlobung sprach, wie ein törichter Knabe gehandelt, und muß jetzt die Folgen tragen. Was ich Ihnen soeben in kurzen Worten auseinandersetzte, ist mir heute in stundenlanger Überlegung in seinen kleinsten Einzelheiten klar geworden, als ich mich immer wieder fragte: „Warum willst du Claire nicht heiraten, und immer lautete die Antwort: Es geht nicht, um Claires selbst willen nicht. In jedem anderen Stande würde man anders denken, anders urteilen, aber von den Kameraden würde es mir niemand glauben, daß ich mich um Claire aus wirklicher Liebe beworben habe. Wäre sie ein armes Mädchen, dann ja, aber jetzt, wo sie reich ist, darf ich überhaupt nicht an eine Heirat denken, wenn ich nicht geradezu unehrenhaft handeln will.”

Wettborn schwieg, und wieder herrschte eine lange Pause, dann sagte Herr Lasare: „Ihre Worte, Herr Leutnant, beweisen mir auf's neue, daß Sie durch und durch ein Ehrenmann sind, aber ich glaube, Sie machen sich doch unnötigerweise Vorwürfe. Und die Schlußfolgerung, die Sie selbst ziehen, läßt mich vermuten, daß man ebenso sprechen würde, wenn Sie Ihre Absicht, sich eine reiche Braut zu suchen, nicht vorher geäußert hätten. Ich habe mein Kind sehr lieb, aber trotzdem muß ich Ihnen sagen, daß es mir ganz gleichgültig wäre, wie Ihre Kameraden Ihre Verlobung beurteilen, und so viel ich weiß, würde auch Claire deswegen sich nicht ein einziges graues Haar wachsen lassen, das Bewußtsein, von Ihnen wirklich geliebt zu werden, würde sie gegen alles Gerede ganz gleichgültig machen. Und deshalb möchte ich aus Liebe zu meinem Kind, das ich doch so gern glücklich sehen möchte, Sie noch einmal fragen: urteilen Sie nicht doch zu streng? Schließlich gibt es ja noch einen Ausweg, wenn Sie fürchten, daß man gerade in Ihrem alten Regiment, das Sie und Ihre Pläne kennt, so viel über Ihre Verlobung sprechen würde, warum lassen Sie sich denn da nicht versetzen?”

„Nie, niemals,” fuhr Wettborn auf. „Das wäre das falscheste, was ich tun könnte. Wenn alte Freunde es mir schon nicht glauben werden, daß ich lediglich aus Liebe heirate, so werden die fremden Kameraden dies erst recht nicht tun. Immer wieder würde es heißen, ich hätte mich auf Grund meiner Verlobung versetzen lassen, man würde Claire und mich mit mißtrauischen Blicken empfangen, und anstatt dem Gerede dadurch ein Ende zu machen, würde man neuen Stoff zu neuen Verdächtigungen geben.”

Erregt sprang Herr Lasare in die Höhe: „Aber was soll denn nun werden? Sie lieben meine Tochter, meine Tochter liebt sie, ich selbst würde mich herzlich und aufrichtig freuen, Sie als Schwiegersohn begrüßen zu können, und nun wollen Sie uns alle unglücklich machen? Von Ihrem Standpunkt aus als Offizier haben Sie vielleicht recht, das müssen Sie besser beurteilen können, als ich, aber es muß sich doch noch ein Ausweg finden lassen.”

Wettborn zuckte die Achseln: „Ich weiß keinen, ich habe vergebens darüber nachgedacht.”

„Aber so nehmen Sie doch Ihren Abschied,” rief Herr Lasare endlich.

Wettborn, der wieder erregt auf und ab gegangen war, blieb vor dem Sprecher stehen und starrte ihn groß an: „Was soll ich? Den Abschied nehmen, den bunten Rock ausziehen? Aufhören Soldat zu sein? Und selbst wenn ich es täte, würde ich da nicht erst recht Anlaß zu Gerede aller Art geben? Würde es da nicht heißen: Aha, er hat seine Uniform nur dazu gebraucht, sich eine reiche Braut zu erobern, und kaum hat er sie, da hängt er natürlich den Rock an den Nagel. Ich weiß, wie man in Kameraden­kreisen über die Offiziere denkt, die ihrer Frau zu Liebe oder aus Anlaß ihrer Verlobung den Rock ausziehen und weiter nichts sind, als nur die Männer ihrer Frauen, ich weiß, wie man über sie denkt und spricht, wenn sie fortan nur als Tagediebe durch die Welt laufen.”

„Aber wer sagt Ihnen denn, daß Sie in Zukunft nichts mehr tun sollen?” rief Herr Lasare erregt. „Sie sind doch noch jung, und wenn Sie wollen, finden Sie in meiner Fabrik mehr Arbeit, als Ihnen vielleicht lieb ist. Einen Sohn hat der Himmel mir nicht bescheert, werden Sie mein Sohn und führen Sie nach meinem Tode meine Fabrik fort, die ich aus kleinsten Anfängen mit sauerem Fleiß zu ihrer jetzigen Höhe emporbrachte, lassen Sie mich dereinst einschlafen mit dem glücklichen Bewußtsein, daß das, was ich mit soviel Liebe geschaffen, nicht gleich in fremde Hände übergeht. Tun Sie's mir zu Liebe, werden Sie mein Sohn und machen Sie mein Kind glücklich.”

Das klang so bittend und so flehend, daß Wettborn sich fast beschämt abwandte. Ein heftiger Kampf tobte in seinem Innern, und er trat an das geöffnete Fenster, um, erregt wie er war, die kühle Luft einzuatmen. Da sah er Claire. Sie hatte mit einem Buch unter den schattigen Bäumen Platz genommen, aber das Buch ruhte in ihrem Schoß, sinnend und träumend blickte sie traurig vor sich hin. Nun hob sie zufällig den Blick zu seinen Fenstern empor, ihre Blicke trafen sich, und ein glückliches, fröhliches Lächeln trat in ihre Züge. Und auch in sein Herz, das eben noch so traurig und verzagt gewesen war, drang heller Sonnenschein, und er mußte an sich halten, um nicht aufzujubeln vor lauter Glückseligkeit. Sein Entschluß war in diesem Augenblick gefaßt, es gab für ihn nur eins: er wollte und mußte noch heute seinen Abschied als Offizier erbitten, um Claire glücklich zu machen und um selbst durch sie glücklich zu werden.


zurück zur

Schlicht-Seite