Eine schwierige Antwort.

Von Freiherr von Schlicht
in: „Die Lore”


Ganz leise hatte sich die Tür ihres Schlafzimmers hinter ihm geschlossen, so leise, daß sie jetzt das Alleinsein instinktiv mehr erriet als empfand, denn daß sie allein sei, sah die blendend schöne junge Frau Mali erst, als sie die großen unergründlich tiefen dunklen Augen öffnete und, aus dem seligen Verzücken, in dem sie bisher gelegen, erwachend, um sich blickte. Carl Martin war gegangen! Da hatte sie nun, da die Leidenschaften, die sich ausgetobt, schwiegen, Zeit, darüber nachzudenken, wie alles so schnell und wie alles hatte überhaupt geschehen können. Aber gab es da eigentlich noch etwas zu denken? Hatte sie nicht schon lange vorausgeahnt, daß das, was nun geschehen war, eines Tages geschehen würde, nein, geschehen müsse? Höchstens lohnte es sich, darüber zu grübeln, ob es einen Zufall auf der Welt gebe, oder ob es vielleicht doch ein Zufall war, der ihren Mann, mit dem sie schon seit drei Jahren verheiratet war, sogar glücklich verheiratet, da er eine prachtvolle Villa, zwei sehr schöne Autos und vieles andere besaß, was das Leben nicht nur erträglich, sondern auch ganz angenehm machte, ja, war es vielleicht doch ein Zufall, daß ein Telegramm ihn in einer geschäftlichen Angelegenheit wenige Stunden vor der endlichen Ankunft seines mit brennender Ungeduld erwarteten besten Freundes zu einer mehrtägigen unaufschiebbaren Reise zwang?

Länger als drei Jahre war Carl Martin, ein Schulfreund ihres Mannes, als Ingenieur im Ausland gewesen. Zum erstenmal hatte sie seinen Namen gleich nach ihrer Verlobung gehört, dann aber im Laufe der Zeit fast täglich, schon weil ihr Otto ihr immer wieder erklärte: „Ich bin zu neugierig, was Carl Martin sagen und was er für ein Gesicht machen wird, wenn er dich zum erstenmal sieht. Und ich freue mich schon jetzt auf den Augenblick, in dem er offen zugibt: Du weißt ja, wie ich persönlich über die Ehe denke, und daß ich es nicht verstehe, wie man heiraten kann, aber der Wahrheit die Ehre, die Frau, deine Frau hätte selbst ich geheiratet, wenn ich sie anders nicht hätte gewinnen können.”

Und nun hatte er sie gewonnen! Stunden des schönsten seligsten Erlebens lagen hinter ihr, standen ihr morgen wieder bevor, und im süßen Erschauern streckte und dehnte Frau Mali ihren schlanken Leib in den weichen Kissen, während sie dabei ganz leise mit den blendend weißen Zähnen knirschte.

Ganz, ganz anders hatte Carl Martin, wie er ihr gestand, sie sich gedacht, denn trotz seiner wiederholten Bitten hatte ihr Mann ihm nie ein Bild von ihr geschickt, um allen die Überraschung bei dem ersten Kennenlernen nicht zu verderben. Carl Martin aber hatte daraus geschlossen, daß sie nur innere, keine äußeren Reize besäße, und als er ihr dann gegenüberstand und sie fassungslos anstarrte, da hatte sie es gewußt, nein geahnt, daß es schon heute dahin kommen würde, wohin es nun gekommen war. Und sie hatte in demselben Augenblick noch mehr als bisher eingesehen, daß es doch sehr leichtsinning von ihrem Mann war, als er ihr bei seiner Abreise erklärte: „Carl Martin wohnt, auch wenn ich die ersten Tage nicht hier bin, von Anfang an, wie verabredet, bei uns im Hause. Er bekommt die Fremdenzimmer, die ich für ihn habe herrichten lassen, und wenn ich zurückkomme, seid inzwischen auch ihr die besten Freunde geworden. Biete ihm bitte gleich das schwesterliche Du an, denn ich könnte es nicht mit anhören, wenn er dich steif und förmlich ,gnädige Frau' nennen würde und du ihn ,Herr Doktor'.”

Aber aus dem schwesterlichen Du war nun in den Stunden, in denen sie sich angehörten und in denen ihre gegenseitigen Küsse ihre starken Leidenschaften zu immer neuen Flammen entzündeten, ein ganz anderes Du geworden, ein Du, das trotz ihrer so kurzen Bekanntschaft absolut nichts Steifes, Fremdes und Ungewohntes mehr an sich hatte wie das erste Du, mit dem sie sich auf Wunsch ihres Mannes schon gleich nach der ersten Begrüßung ansprachen.

Auf Wunsch ihres Mannes! Nun fiel es ihr eigentlich erst wieder ein, daß sie einen hatte, aber sie dachte an ihn wie an ein Wesen, das kaum noch zu ihr gehörte. Allzuviel Liebe hatte sie ja nie zu ihm empfunden, ihn mehr aus Klugheit denn aus anderen Empfindungen heraus geheiratet, und als Carl Martin sie vorhin in seinen Armen hielt, da war es ihr erst ganz, ganz klar geworden, ihn, nur ihn hatte sie auf Grund dessen, was ihr Mann ihr immer wieder von ihm erzählt, geliebt, nur ihn. Nur ihm hatten die Zärtlichkeiten gegolten, die sie bisher ihrem Mann in den Stunden der Nacht schenkte, und das würde in Zukunft natürlich erst recht der Fall sein. Aber sie schauerte plötzlich bei dem Gedanken zusammen, daß sie fortan auch ihrem Mann wieder werde angehören müssen, schon weil er ein gesetzliches Recht auf ihren schönen Körper und auf ihre Liebe besaß.

Lange, lange lag Frau Mali vor sich hinträumend in ihren Kissen wach, bis die süße Erschlaffung der verflossenen Liebesstunden sie doch endlich einschläferte. Und sie mußte ja auch schlafen, denn schon für die zehnte Vormittagsstunde hatte sie sich mit Carl Martin zu dem gemeinsamen ersten Frühstück verabredet.

Aber als er dann in das Früstückszimmer trat, in dem sie ihn in duftigster verführerischster Morgentoilette bereits erwartete, erschrak sie über die Totenblässe seines Gesichts. Gewiß, auch sie hatte ein ganz klein wenig Rot auflegen müssen, um nicht etwas müde und abgespannt auszusehen, aber er war doch ein von Kraft und Gesundheit strotzender Mann. Wie war es da möglich, daß die Stunden, die er ihr in der Nacht geschenkt —

Bis sie aus seinem Munde erfuhr, warum er in Wahrheit ihr so totenblaß gegenübersaß, weil er, nachdem er sie verlassen, noch stundenlang ruhelos in seinem Zimmer auf und ab gegangen war, um sich, nachdem die Leidenschaften zur Ruhe gelangt, immer aufs neue den Treubruch klarzumachen, den er an dem Freunde begangen habe, der ihm das Kostbarste, was er besaß, anvertraute, und der ihm Gastfreundschaft gewährte.

Und er schloß mit den Worten: „Es gibt nur eins, ich muß offen vor Otto hintreten und ihm alles gestehen. Ich könnte ihm sonst nicht mehr in die Augen sehen, nicht mehr unter seinem Dach wohnen, nicht mehr an seinem Tisch essen. Aber da ich bei meinem Geständnis auch dich, Mali, erwähnen müßte, darf ich natürlich nur sprechen, wenn du es mir erlaubst, und nicht wahr, auch du bist der Ansicht, daß er alles erfahren und daß er alles wissen muß?”

Nein, der Ansicht war Frau Mali absolut nicht, im Gegenteil, ihr Mann durfte unter gar keinen Umständen etwas erfahren, der war, beschränkt und kleinlich, wie es die meisten Männer ja leider in vielen Dingen sind, imstande, sich von ihr scheiden zu lassen, und eine Ehescheidung war etwas so Häßliches und so Gewöhnliches. Und wenn man bei der nicht ein ganz, ganz gutes Gewissen hatte, blieb namentlich einer schönen jungen Frau leicht etwas an ihrem Ruf und an ihrer Ehre hängen. Das aber wollte sie denn lieber doch nicht erleben.

Und während der ganzen Nacht war ihr auch nicht eine Sekunde der Gedanke gekommen, Carl Martin würde ihrem Mann alles gestehen und beichten wollen. Da sah sie es leider wieder aufs neue, wie beschränkt und kleinlich selbst kluge Männer in manchen Dingen waren.

„Nicht wahr, Mali, auch du bist der Ansicht, daß Otto alles wissen muß?” fragte da Carl Martin zum zweitenmal, sie dadurch ihren Grübeleien entreißend.

Die Frage war schwierig und die Antwort war es erst recht. Nun hieß es für sie, klug sein. Um ihm den Unsinn auszureden, mußte sie ein Antwort finden, mit der sie ihm beistimmte, mit der sie ihn aber doch zugleich von seinem Vorhaben abbrachte.

So blickte sie denn lange nachdenklich vor sich hin. Dann aber erhob sie den Blick, und ihn mit ihren unergründlich tiefen dunklen Augen warm und zärtlich ansehend, sagte sie mit leiser weicher Stimme, während sie ihm zugleich ihre schöne schlanke Hand überließ: „Natürlich bin ich ganz deiner Ansicht, lieber Freund — aber sag' selbst, was hätte Otto davon, wenn er alles wüßte?”


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