"Rumpelstilzchen"

"Nee aber sowas!"
(Jahrgangsband 1934/35)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 10 - 12
13. bis 27. Dezember 1934


10

Mit Lachen leicht zu lernen - Der Tag der "nationalen Solidarität" - Bitte nicht verkitschen! - Liliputanerdorf im Lustgarten - Die Freunde um Samuel Untermeyer - Krauß statt Furtwängler.

Wenn einem etwas Fett abgezapft wird, so muß man jodeln, dann macht die ganze Prozedur geradezu Spaß.

Das ist das ganze Geheimnis der Marschmusik beim Militär, daß sie totmatte Leute immer noch auf den Beinen erhält. Oder wenn man Angst vor jenen schmalen Brettern hat, die heute in den Winterbergen die Welt bedeuten, so lese man Riemkastens "Schilaufen mit Lachen leicht zu lernen", das nebenbei ein richtiges Lehrbuch ist. Holt ein Inkassogeschäft aber eine fällige Rate ab, so lächele man beim Abschied den Mann an und sage: "War mir ein Fest!"

Weil sie die Psyche des Volkes kennt, weil sie um des Berliners "Spaß muß sind!" weiß, weil sie aus der Geschichte Roms das "panem et circenses" gelernt hat, macht unsere heutige Regierung aus dem Zahlen ein lustiges Theater. Vom Postscheckamt, das jeden Monat einen bestimmten Betrag für die Winterhilfe von Deinem Guthaben abschreibt, kriegst Du jedesmal ein schönes Bildchen zum Anpappen an die Haustür. Gibst Du beträchtlich mehr, so posaunt der Rundfunk Dich in ganz Deutschland aus, wenn Du es vergißt, Dir das in Deiner Bescheidenheit vorher zu verbitten. Daraufhin bekommst Du von den entferntesten Neffen liebe Briefe: sie freuten sich so sehr, daß es Dir offenbar noch gut ginge. Also auch der Familiensinn wird gestärkt. Jedenfalls hat im vorigen Winter auf diese Weise die Regierung 356 Millionen Mark für die Ärmsten der Armen zusammenbekommen, eine in der ganzen Welt bei irgendeiner Wohltätigkeitsaktion noch nie erreichte Summe. Und das aus einem durch Tributzahlung und Inflation verarmten Deutschland, das nicht mehr die Hälfte von seinem Vorkriegsvermögen besitzt. In diesem Jahre wird die Sammlung sicherlich ebensoviel, wenn nicht mehr ergeben. Das macht: alles ist wiederum mit Tschingtara und Spaßvergnügen aufgezogen.

Der Berliner Trubel am vorigen Sonnabend läßt jedes Münchener Oktoberfest, jeden Kölner Karneval, jede Londoner Prinzenhochzeit im Schatten. Vielleicht anderthalb Millionen Menschen treiben sich glückselig auf den nassen Straßen umher, denn überall ist irgendein Prominenter oder eine Prominente gegen "Unkostenbeitrag nach Belieben" zu sehen. Regierung, Universitäten, Theater, Film, Schrifttum, Sport, Reichsbank, Stadtverwaltung, alles klappert lustig mit der Sammelbüchse. Sonst zitiert man immer das Wort: ". . . denn eine Würde, eine Höhe entfernte die Vertraulichkeit." Nichts da. Volksgenossen unter Volksgenossen. Wenn die paar jungen Deutschamerikanerinnen, die aus dem Hotel Adlon herauskommen, Goebbels und Göring umarmen und abküssen wollten, es könnte gelingen; denn wie sie zu ihrem Erstaunen feststellen, trennt kein Gitter, keine Schutzmannsmauer die Minister von der vorüberdrängenden Menge. "Det is eene Pfundssache", gluckst begeistert ein Dreikäsehoch, "for zwee Sechser alle beede de Hand jedrickt!"

Sei nur froh, mein Junge, daß es nicht Max Schmeling war. Der kann doll drücken, da vor dem Rathaus. Auch die Flieger Udet und Loerzer in der Potsdamer Straße sind in der Beziehung nicht zu verachten. Da ist mir für meine Person das Lächeln von Frau Goebbels oder von Maria Paudler oder von Emmi Sonnemann oder von Käte Haack schon lieber, mit dem sie meinen Einwurf quittieren.

Uns alle, Sammler wie Spender, packt schließlich ein fröhlicher Rausch. Man bekommt mehr, als man dachte; man gibt mehr, als man eigentlich kann. Überall lustige Rede und Gegenrede, auch das Schwein Jolanthe grunzt vom Leiterwagen vergnügt darein.

Will man ehrlich das moralische Ergebnis feststellen, so kann man nur sagen, daß in Berlin - und anderswo muß es ähnlich gewesen sein - die echteste Volksgemeinschaft einen Triumph gefeiert hat. Reich und arm halfen mit, reich und arm gaben alles Mögliche.

Nur die Stimmungsbilder der Berliner Presse haben nach meinem Gefühl am nächsten Tage einen falschen Ton hineingebracht. Nämlich einen kitschig-sentimentalen. Nach dem Motto, daß "Deutschlands ärmster Sohn auch sein getreuester war", wurde behauptet, die vornehmen Damen im Persianerpelz hätten meist einen weiten Bogen um die Sammler gemacht, dagegen die einfachen Leute viel bereitwilliger gegeben. Nein: alle, wirklich alle, haben freudig geopfert. Man schafft nicht, sondern man zerstört die Volksgemeinschaft, wenn man den Armen einredet, die "Kapitalisten", die Leute mit höherem Einkommen, hätten sich zurückgehalten. Ministerpräsident Göring allein hat in vier Stunden Stand 76 700 Mark bekommen, das können also nicht nur Groschen gewesen sein, und er erkennt in seinem Dank auch offen die gespendeten größeren Schecks und Banknoten an. Der Führer Hitler selbst ist den Begüterten mit bestem Beispiel vorangegangen. Er hat drei überglücklichen jungen Damen, die von der Straße zu ihm hereingeholt wurden, je einen Tausendmarkschein in ihre Sammelbüchsen gestopft. Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb: das stand in den Gesichtern auch der noch Verdienenden geschrieben. Dazu strahlten überall auf den Straßen die hohen Christbäume. Diese Spendeseligkeit am Wochenendabend will schon etwas bedeuten, wo man doch weiß, daß die Vermögenssteuer im letzten Jahre um 300 Millionen Mark hinter der Veranlagung zurückgeblieben ist, die Vermögen also weiter zusammengeschrumpft sind.

Von oben strecken sich in herzlichem Opfern die Hände aus. Da soll man nicht zu geballten Fäusten von unten ermuntern.

Gott sei Dank, wir s i n d ein Volk, wir sind e i n Volk.

Was getan werden kann, um uns immer noch enger zusammenzubringen, das geschieht. Der Lustgarten vor dem Königlichen Schloß ist seit langen Jahren - die Novemberrepublik mochte so etwas nicht - zum erstenmal wieder zu einer Budenstadt geworden. Das quiekt und stelzt und trudelt, das ist ein ganz herrlicher Weihnachtsmarkt voll Spielzeug und Süßigkeiten, und mitten darin ist ein Liliputanerdorf aufgebaut. Gar putzige Männlein und Fräulein, kleinkindgroß, aber erwachsen, amtieren und hantieren als moderne Heinzelmännchen. Von dem Jauchzen, das da junge Besucher immer wieder ausstoßen, wird man für eine ganze Woche satt.

Beim Großherzog von Hessen sah ich einmal vor Zeiten ein anderthalb Meter hohes Häuschen im Garten, das er für seine kleine Tochter hatte bauen lassen. Seine später von ihm geschiedene erste Frau machte wilde Ritte durch die Forsten und saß abends im Kasino des Leibinfanterieregiments. Der Großherzog aber lag längelang vor dem Puppenhäuschen, dessen bester kunstgewerblicher Innenarchitekt er selber gewesen war, und erzählte seinem Kinde Märchen.

Nun gut, da hatte ein einziges Kind ein einziges Haus und spielte die Erwachsene. Im Berliner Lustgarten aber haben wir Dutzende von Häuschen, in denen winzige Erwachsene vor Kindern spielen.

Auch in den Mienen der Großen spiegelt sich allmählich der Glanz der Adventskerzen. Viele Befürchtungen, die sich an die bevorstehende Jahreswende knüpften, sind verflüchtigt. Man glaubt wieder an den Frieden in der Welt, an die Arbeit, an das Emporkommen. Allerdings hat gerade in London die "Nicht-Sekten-Liga" unter Vorsitz des Newyorker Anwalts und Multimillionärs Samuel Untermeyer getagt, um der verfluchten "Sekte" des Nationalsozialismus durch Boykott Deutschlands den Garaus zu machen, aber das ist nicht so einfach. In einer Berliner Zeitung habe ich den Führer der Londoner Zusammenkunft ein wenig unter die Lupe genommen. Prompt werde ich darauf um Mitternacht angerufen: "Hier Berliner Bureau des Herrn Samuel Untermeyer!" Gibt's ja gar nicht. Einerlei, der Anrufer läßt sich durch mein Lachen nicht stören, er sprudelt, daß man mir mein Handwerk schon legen werde, denn vor dem 30. Januar, das werde man nachweisen, hätte ich noch nicht "so" gedacht. Nun platze ich vollends aus. Du ahnst wohl kaum, mein Lieber, daß ich Vorläufer aller derer bin, die heute "so" denken, schon lange vor dem Kriege; reg' Dich ab, trink' ein Bier, geh' schlafen! Da knurrt der Mann am andern Ende der Strippe: "Ich trinke bloß Whisky!" und hängt an. Man muß solche Leute und die ganze Lage nicht zu ernst nehmen. Auch Deutschland wird von diesen Empörten nicht zur Strecke gebracht werden, am wenigsten von denen, die jetzt in der Wiener Oper - Clemens Krauß auspfeifen, weil er seiner Frau, weil er Wien, weil er der Kultur die Schmach antäte, Görings Ruf nach Hitler-Deutschland als Dirigent zu folgen.

Furtwängler, der ihm Platz gemacht hat, besitzt Zehntausende glühender Anhänger in Berlin, in Deutschland, im Auslande. Nur hat er leider keinen einzigen wirklichen Freund, der ihn davon abgehalten hätte, ausgerechnet für den Musikbolschewisten Hindemith öffentlich sich ins Zeug zu legen.

Im Weihnachtsmonat ist übrigens nicht gute Zeit für Oper und Theater. Man hört lieber Engelsmusik aus dem Munde der Kinder. Ganz mächtige Wünsche hat diesmal ein kleiner Junge aus unserer Straße. Er möchte einen Roller haben und dazu - eine Autoschutzbrille.
13. Dez. 1934 (Donnerstag)


11

Fortschritt und doch Sehnsucht - Wie der Weihnachtsmarkt früher war - Rummel - Der Tag der Polizei - Die Generaloberarztwitwe auf dem Wedding - Privates Wohltun ist immer noch nötig - Die Gratifikation - Plauderstündchen bei der Schneiderin.

Gewiß, gewiß. Es ist ja herrlich. So ein Fortschritt! Flugzeug, Rundfunk, elektrische Christbaumkerzen. Knips! Und die ganze Welt ist Dein. Alles mit Reißverschluß. Echt Chamäleon. Stellst Du am Heiligen Abend London ein, so erklingen aus Bethlehem die Originalglocken der Geburtskirche des Heilandes. Na, Mensch? Wir müssen aus einem Erstaunen ins andere fallen. Parole: nee aber so was!

Und doch ist immer noch die Sehnsucht da.

Nach Verlorenem.

Ich glaube: nach unserer eigenen Kindlichkeit. Nach dem Einfachen. Auch die Wiedereröffnung des Weihnachtsmarktes im Lustgarten, zwischen Schloß und Dom, ist für uns Sehnsüchtige doch ein bißchen Enttäuschung geworden. Als unsere Kinder noch klitzeklein waren, gingen wir vor Weihnachten zur Budenstadt am Belle-Alliance-Platz oder sonstwohin mit wenigen Groschen in der Tasche. Petroleumlampen blakten. Es gab noch keine an senkrechten Wänden laufenden Blechmäuse. Aber für 5 Pfennige zwei Tellerchen oder Gäbelchen und Messerchen zur Ergänzung des Puppenhaushalts. Oder einen Hampelmann. Oder einen Ball. Und sooo schöne, elastische, ins Unendliche reckbare Süßigkeit, die man Türkenhonig oder Jungfernleder nannte. Nun bin ich diesmal wiederholt im Lustgarten gewesen. Ist das noch Weihnachtsmarkt? Nein: Rummel!

Karussells kreischen Schlager. Kein Mann am Balken setzt dieses Göpelwerk in Bewegung, sondern alles ist motorisiert, elektrifiziert. Im Liliputanerdorf - Eintritt 40 Pfennige extra - lauter "Attraktionen". Eine Zeitung in winzigem Format. Ein Schutzmann von 94 Zentimeter Länge. Kleinfingergroße warme Bockwürstchen. Und dann auf dem ganzen Markt: Würfelbuden, Schießbuden, Würfelbuden.

Der Weihnachtsmann wurde feierlich am Brandenburger Tor eingeholt. Alles wird Theater, alles wird Kundgebung. In unserer Kinderzeit kam der Weihnachtsmann heimlich und stand auf einmal im Zimmer.

Ein nettes Volksfest war aber soeben der Tag der Polizei.

Das ist mal etwas Neues, das wirklich zu Herzen geht. Es ist von tiefer symbolischer Bedeutung für die Volksgemeinschaft im Dritten Reiche. Der Polizist ist nicht mehr der "Schwarze Mann" zum Fürchten, sondern der Helfer. Kinder streicheln fröhlich die Gäule der Berittenen. Wie ein wüster Traum liegt die Zeit hinter uns, wo sie wilde Attacken gegen uns ritten. Man erlebt es auch nicht mehr, daß man bei Absperrungen statt des Festzuges nur einen wie ein Feuerwerksrad kreisenden Pferdeschwanz vor den Augen hat. Die Polizei als Waffe ist schärfer als je; aber ihre auf Spurensuche oder auf den Mann dressierten Hunde sind an diesem Tage auch vergnügt: die Sammelbüchsen, die sie tragen, füllen sich, und ihnen selber wird hie und da ein Zuckerstückchen oder gar ein Ende Wurst zugesteckt.

Das ganze Korps der Polizeibeamten ist verjüngt, sieht nicht mehr wütend oder bärbeißig, aber dafür prachtvoll soldatisch aus.

Und ist Mensch unter Menschen.

Da will ich mal eine kleine wahre Geschichte zum besten geben, die ich schon lange mit mir herumgetragen habe. In einer Siedlung vor Berlin wohnt die noch verhältnismäßig junge, hübsch und elegant aussehende Witwe eines Generaloberarztes. Sie möchte mal einen bestimmten Film sehen, der, wie sie in der Zeitung nachschlägt, nur noch in einem Kino gegeben wird, das im übelsten Berlin-Wedding liegt. Sie kennt die Gegend nicht.

Ungefähr dort angekommen, fragt sie einen Schutzmann darnach. Der sieht sie verblüfft an, mustert sie und sagt:

"Aber Fräulein, das ist doch nichts für Sie! Fahren Sie man mit der Untergrund nach'm Potsdamer Platz oder nach'm Zoo! Da sind auch die richtigen Cafés für Sie!"

Sie versteht nicht und bleibt bei ihrem Vorsatz. Da sagt er: "Moment, ja? Ich werde gleich abgelöst!", dann bringt er sie durch dunkle Gassen an den richtigen Ort und schärft ihr ein, wie sie nachher gut wieder zurückkomme. "Und, Fräulein, wenn Sie mich mal treffen wollen . . ." Sie lacht verlegen. "Ach, Herr Wachtmeister, mein Herz ist schon besetzt!" Da salutiert er höflich, schlägt die Hacken zusammen und geht.

Am nächsten Tage ruft sie einen guten Bekannten ihrer Familie an, dessen Elternhaus neben dem ihrigen stand, einen Polizeigeneral. "Du, Deine Beamten sind wirklich fabelhaft!", und erzählt ihm das Erlebnis. Er macht den Schutzmann, da Ort- und Zeitangabe vorliegen, bequem ausfindig, läßt ihn kommen und - belobt ihn.

Ist das nicht fast märchenhaft nett?

Aber es ist nicht lauter Glückseligkeit da, es gibt noch viel grause Not in der Großstadt. Selbstverständlich habe ich das, was ich in bar entbehren konnte, wie jeder anständige Deutsche dem Winterhilfswerk abgegeben. Selbstverständlich auch ein mächtiges Weihnachtspaket mit Büchern, Christstollen, Wurst, Süßigkeiten. Dazu hat meine Frau zwei ganze Tage lang rheinische Spekulatius für ein Arbeitslager von 70 Mann in Niederbayern gebacken. Aber man kennt auch rundum so viele Arme, die die öffentliche Wohltätigkeit vergißt, die also privat und persönlich betreut werden müssen. Was fangen wir nur mit dem kranken Kriegsleutnant vom Kreuzer "Rostock" an, der mit nur 36 Mark monatlicher Rente in einem feuchten Kellerloch haust, dessen Wände allerdings mit der schwarzweißroten Flagge, einer Kaiserbüste und einem Hitlerbild geschmückt sind? Da kommt rechtzeitig eine Kiste mit allerlei Geräuchertem von einer Leserin vom Lande, aus dem Hannoverschen, an. Sie sei altes Soldatenkind. Ob ich jemand wüßte, der . . .

Ach, Weihnachten, ach, Heiliger Abend, wie freut man sich darauf! Der tapfere Mann im Keller soll bestimmt auch sein Bäumchen haben!

In einem großen Verbande, der in Berlin seine Geschäftsstelle hat, 87 Angestellte, soll die sonst übliche Gratifikation wegfallen. Die Direktion habe alles Verfügbare an die Winterhilfe abgeführt. Lange Gesichter. Es heißt schließlich: wer unbedingt noch etwas brauche, der könne es als langfristigen Vorschuß haben. Da brodelt es in der Belegschaft. "Machen wir alleine!" Es wird eine Liste des Bedarfs zusammengestellt: hier 20, da 30, da 40 Mark, gelegentlich ist es noch etwas mehr. Und nun sagen die Sparer und Bessersituierten, die noch etwas auf der Bank oder auf dem Postscheckamt haben, sie selber stellten das Gewünschte gemeinsam den Kollegen leihweise zur Verfügung.

Jetzt lange Gesichter auf der anderen Seite. Und urplötzlich eine Verfügung: es gibt doch Gratifikation, 30 Mark für jeden Angestellten, 10 Mark Zulage für jedes Kind. Das nennt man gelungene Erziehung zu praktischem Christentum.

Jedenfalls berichten diesmal übereinstimmen alle Berliner Kaufleute, daß wieder mehr Geld ins Rollen komme, wenn auch das Jahr 1929 mit seiner gepumpten Scheinblüte, die wir nachher um so ärger büßen mußten, natürlich noch nicht erreicht sei. Nur werden freilich am meisten sogenannte Gebrauchsgegenstände geschenkt, hat die Klavierindustrie, der Buchverlag, das Künstlertum immer noch darüber zu klagen, daß an ihnen geknausert wird, auch wo es ginge.

Wir knausern ein bißchen am äußeren Behang. Die alten Kleider schaffen es auch noch. Unsere gute Erna Domke ist Meisterin in ihrem Fach. Aber für Januar 1935 wird kein Abendkleid bei ihr bestellt. Sie soll nur ein vorhandenes umarbeiten. Das tut sie mit ihrem wohltuend freudigen Zwitschern.

Manche Leute plaudern gern mit ihrem Barbier. Ich am liebsten mit der Schneiderin meiner Frau.

Die weiß von der Politik bis zum Theatertratsch alles. Die kommt mit Prinzessinnen und mit Tanzmädchen beim Anprobieren zusammen. Die liebt Erika v.Thellmans anständige Ablehnung jeder Rabattgewährung. Die kennt abgebaute Rechtsanwälte und neue Amtswalter. Aber sie ist die Diskretion selbst. Nur über ihre eigenen Angelegenheiten und über Geschmacksdinge spricht sie allerliebst.

Sie hat viel zu tun, sie ist abgearbeitet. Sie muß mal im Februar 3 Wochen Ferien machen, hat der Arzt gesagt, sonst schufte sie ihr Herz kaputt. Die Berufsreisen nach Paris oder nach Wien seien auch bloß Anstrengung.

Da hat sie einen großen Entschluß gefaßt.

"Wissen Sie, feine Leute fahren jetzt nicht mehr an die Riviera, sondern nach Marokko. Da mach' ich mit, mit der Hamburg-Süd, um auf dem Schiff die Toiletten der Damen zu sehen. Mindestpreis 170 Mark, billig, sagt auch mein Mann. Na und die Nebenkosten? 10 Pfennige Kaffee, 10 Pfennige Selters, davon krieg' ich auch nicht das Delirium. Wissen Sie, neulich war ich endlich mal im Schillertheater, ich denke, vor mir sitzt ein dicker Backfisch, grünes Kleid mit rosa Stoffröschen, und da dreht die Person sich um, was glauben Sie, mindestens 50 ist sie alt. Einen Geschmack haben die Leute! Und dann im Foyer eine Dame, langes Kleid, unten herum zotteliger Tibetbesatz. Wenn die auf die Straße geht, kriegt sie der Hundefänger!"
20. Dez. 1934 (Donnerstag)


12

"Hinaus in die Ferne" - Was man auf Pfefferkuchen liest - Am Heiligabend allein - Vom Rausch des Gebenwollens - Kameradschaft - Erster und zweiter Feiertag - Der Ansager im Tanzkabarett - Die "Zähringen".

"Wupp! Rin!"

"Wupp! Rin!"

Das klingt uns in diesen Tagen nicht etwa vom Einrammen von Pfählen irgendwoher in die Ohren. Nein, man hörte es vor Weihnachten auf allen Berliner Bahnsteigen. Also im Vorzug - im ganzen sind 240 außerplanmäßige Züge von der Reichshauptstadt abgefertigt worden - hat nur etwa die Hälfte derer, die da mitwollen, ein Unterkommen gefunden. Der Rest erstürmt den Hauptzug und blockiert alsbald alle Seitengänge, so daß keine Katze durch kann. Da stehen nun die Inhaber von Platzkarten ratlos draußen. Aber man hilft sich alsbald, zu den geöffneten Fenstern werden - "Wupp! Rin!" - die Damen von hilfsbereiten, auch fremden, Männerarmen emporgehoben und hineingestopft, Koffer hinterher, Männer hinterher. So, da wäre man. Der Reiseverkehr, durch die verschiedenen Verbilligungen angeregt, ist wieder einmal größer denn je. Und da heute sportlich, nicht mehr prüde, gedacht wird, ist die Verfrachtung der weiblichen Weihnachtsengel überall gut gegangen. Nur eine dicke Dame hat so wild abwehrend mit den Beinen gestrampelt, daß sie den drei sie wuchtenden Männern aus den Händen fiel und sich den Fußknöchel brach.

In Potsdam versagten die Fahrkarten-Druckmaschinen, anderswo traten andere unvorhergesehene Hindernisse ein, kurz, in dem pünktlichen Deutschland gab es beim diesjährigen Weihnachtsverkehr ausnahmsweise Verspätungen. In Oberhausen im Rheinland erwartet eine alte Mutter ihr Kind aus Berlin um ½11 Uhr abends, der Zug läuft aber erst um ½3 Uhr morgens ein. Ähnlich ist es hie und da auch sonst gewesen. Was tut man da im Zuge, wenn man nicht schläft oder liest oder Doppelkopf spielt oder eine aussichtsvolle Bekanntschaft anknüpft? Man revidiert natürlich seinen Berliner Eßkober und überprüft auch noch die Mitbringsel. Ganze Abteile auch unbekannter Mitfahrer bekommen ein Kosthäppchen oder müssen die Pfefferkuchen vom Weihnachtsmarkt bewundern.

Schön in Zuckerguß alle die Sprüche darauf. Die Berliner Menschenkenner vom Konditorgewerbe haben sich angestrengt. Ihre Käufer sollen es leicht haben.

Da legen ein paar leidvolle Kinder, deren Eltern in ständigem Krach leben, diesen still ein großes Herz unter den Baum: "Das Schönste ist hienieden - Im Hause Ruh' und Frieden." Oder ein schüchterner Anbeter, der mit der Sprache nicht recht heraus will, bekommt von einem Mädel auf einem Pfefferkuchen die Zustellung: "Die Liebe ist ein Omnibus - Den jeder mal besteigen muß." Oder der Stammtischfreund, der nach der dritten Molle Bier immer heimatliche Beängstigungen hat, kann sich an der Inschrift erbauen: "Schlaf' jut, liebe Olle - Ick trinke noch 'ne Molle." Da hat er wieder Mut. Umgekehrt kann auch die Gattin einen milden Bekehrungsversuch in folgender Form machen: "Lieber Gott, gib Wirbelwind - Daß mein Mann nach Hause find't." Und sicherlich strahlt die Frau, deren Kinder ihr in süßen Buchstaben bescheinigen: "Mutti, Du beste - Flickst Hose und Weste." Oder es ist vielleicht nicht sehr zartfühlend, aber jedenfalls erzieherisch, wenn ein schnippisches junges Ding zu lesen bekommt: "Der Brägen kleen - Die Neese hoch." Für bescheidene Verhältnisse paßt die Entschuldigung: "Dieser Kuchen is aus Honig - Mehr jibt et sowieso nich." Völlig verschwunden sind die unflätigen Inschriften, die früher gelegentlich unterliefen, geblieben ist aber noch manche volkstümliche Derbheit, die im Grunde nicht schlimm gemeint ist: "Lieb' mich - Oder ich zerhack Dir die Kommode." Besonders begehrt sind, auch von Nicht-Urberlinern, die Pfefferkuchen, die ganz schlicht etwas Mundartliches bringen, so: "Oh, wie gut ich kenn' - Dich, mein Schnuteken." Schnuteken heißt auf berlinisch das Schnäuzchen, dä Schnüs, wie der Rheinländer es nennt, und Schnäuzchen muß natürlich Küßchen haben.

Wir zu Hause haben an diesem Christabend zum erstenmal auf den sonstigen frohen Trubel an 10 bis 12 bunten Tellern mit den von überallher zusammengetrommelten Kindern des Hauses verzichtet. Ganz still und allein gefeiert wie Altenteiler. Ich habe friedlich und glücklich die bei Bruckmann in München erschienenen beiden Bände Briefe Houston Stewart Chamberlains durchgelesen, darunter die an den Kaiser und vom Kaiser, darunter auch den wunderbar prophetischen vom Oktober 1923 an Adolf Hitler. Vorher aber waren wir mit Geschenkpaketen bei sonst Vergessenen unterwegs, ohne irgendwo unsere Namen anzugeben, nur eben so als kleine anonyme Angestellte des Christkindchens.

Weshalb ich so etwas erzähle? Ein Leser, der seine Anschrift tapfer verschweigt, meint spitz: um mich dicke zu tun. So hätte ich neulich den Bericht über den Armen in dem feuchten Keller mir sparen und den Mann lieber zu mir nehmen sollen. Ach, mein Lieber: ich habe fünf Monate lang einem arbeitslosen Monteur Obdach, Essen, Kleidung, Taschengeld gegeben, ich tue schon, was ich kann, aber ich habe eben nur meine paar Mietszimmer und nicht eine ganze Siedlung. Also weshalb ich so etwas erzähle? Erstens, um Berlin, auch aus der Perspektive eines einzelnen Hausstandes heraus, so zu schildern, wie es ist, und zweitens, das ist die Hauptsache, um anzuregen. Wenn einer ein Hindernis nimmt, dann springen auch die übrigen, versagt aber der erste, so stocken viele der folgenden.

Um eine große Anstrengung zu bestehen, muß der einzelne, muß ein Volk unmittelbar vorher von dem Rausch gepackt sein: "Ich schaff' es!"

Das ist ja das ganze Geheimnis der wirklich unerhörten Wohlfahrtsleistungen des Dritten Reiches, daß es diesen Rausch erzeugt, daß es mit Pauken und Trompeten uns in einen ekstatischen Zustand des Gebenwollens versetzt.

Er hat Hoch und Gering, Reich und Arm gepackt. Hier ein kleines Beispiel. In einem Kino, den Kammerspielen am Potsdamer Platz, wird bekannt, daß die Ufa allen Angestellten ein kleines Weihnachtsgeschenk in bar, ich glaube 30 Mark, machen will. Große Freude. Jeder, vom Kassierer bis zum Programmverteiler, rechnet schnell aus, was er sich dafür kaufen könne. Zweite Meldung: das Geschenk sei zuständig für alle, die mindestens im 12. Monat bei der Ufa angestellt seien. Da macht ein erst kürzlich Eingetretener zunächst ein betrübtes Gesicht. Na, dann helpt dat nich. Kopf hoch. Zwei Stunden später kommt der Kinopförtner zu ihm: "Wir Kameraden geben Dir etwas ab, hier hast Du unsere für Dich gesammelten 10 Mark!" Ergriffen eilt der Beschenkte mit dankend ausgestreckter Hand von einem zum anderen, aber alle stecken die Hände weg, stellen sich dumm und erklären:

"Nanu, wir haam uns doch schon längst Juten Tach gesaacht?"

Es hat fröhliche, es hat selige, es hat sogar "weiße" Weihnachten gegeben. Der erste Berliner Schnee im Jahr. Am ersten Feiertag - "Unsere lieben süßen Daam, zeigen alles, was sie haam", heißt ein alter Coupletvers - gibt es die große Modenschau auf allen Straßen. In irgendeinem Krähwinkel führen die kleinen Mädchen ihre neuen Puppen spazieren, in Berlin aber machen die erwachsenen Damen Besuch in möglichst neuem Behang.

Die meinige hat ein Paar große warme Überschuhe, mit Reißverschluß natürlich, bekommen. Auf der Straße kommen uns drei etwa sechzehnjährige Mädchen aus dem Volke, mit offenem Haar und ohne Mantel, entgegen, stoßen sich an, kichern. Eine zeigt auf die neuen gelben Pedalschützer meiner Frau und sagt:

"Huch, da geht mir direkt der Hut hoch!"

Sie meint, daß sich ihr die Haare sträuben. Wir lachen uns alle fröhlich an und winken noch hinterdrein.

Der zweite Feiertag ist in Berlin herkömmlich der "außerhalbsche", wo man nicht in der Familie sitzt oder Bekannte besucht, sondern irgendeine öffentliche Gaststätte. Ein junges Brautpaar ist über Mittag bei uns, aber den Kaffee, Ehrensache, müssen wir außerhalb einnehmen. "Noch ein Tisch frei?", rufen wir hier, rufen wir da an, wo es Musik und Betrieb gibt. "Leider - Gott sei Dank - alles besetzt!", heißt es schon bald nach 4 Uhr nachmittags. Also auf gut Glück in den Westen. Das erste Tanzkabarett, in dem es sonst immer auch an solchen Tagen Plätze gab, ist gerammelt voll. Im zweiten, das eine Zeitlang wegen geringen Besuchs schon stillgelegt war, kriegen wir gerade noch einen Tisch. Aber merkwürdig, fast die Hälfte des Publikums sieht so, na sagen wir, nach Emigranten aus, wie sie jetzt in Paris und Prag und Wien und Amsterdam hausen. "Wo das Aas ist, da sammeln sich die Geier", kann man immer behaupten, und von diesen Zuschauern und Zuhörern also auf das Programm schließen, das sicher irgendwelchen fauligen Geruch hat. Das schlimmste Lokal dieser Art war früher das inzwischen eingegangene Charlott-Kasino am Kurfürstendamm. Wo wir eingefallen sind, in der Hardenbergstraße, sind die Variétévorführungen - Akrobaten, Tänzer, Tänzerinnen, Kunstradfahrer - ausgezeichnet, aber der Ansager paßt in das neue Deutschland wie ein Schmutzspritzer auf die weiße Weste.

Wir haben uns mit dem Brautpaar möglichst intensiv unterhalten, um den Dreck nicht zu hören.

Da spekuliert dieser Ansager auf etwas Grinsen oder etwas Wiehern oder etwas Applaus, wenn er von der Silberhochzeit eines Ehepaares folgendes angebliche Zwiegespräch wiedergibt.

"Nun kannst Du mir es ja ruhig sagen, Eduard, bist Du mir gelegentlich in diesen fünfundzwanzig Jahren auch untreu gewesen?"  "Ja, zweimal, einmal mit der Frau meines Chefs und einmal mit unserem Dienstmädchen Marie. Nun, und Du?"  "Ich auch nur zweimal, einmal mit dem Personal des Zirkus Sarrasani und einmal mit dem Philharmonischen Orchester."

In jedem autoritär geführten Staat wird selbstverständlich viel befohlen, viel verboten. Ich habe schon vor bald zwei Jahren geschrieben, daß wir alle uns darauf gefaßt machen müßten. Wo es um die Freiheit der Nation ginge, da müsse der einzelne seine Freiheit opfern können. Auch wenn es, besonders in kulturellen Dingen, einem schwer falle.

Wieviel mehr aber müßte die Frechheit daran glauben!

Es ist eine bodenlose Frechheit, an dem größten christlichen Feiertag einem zum größeren Teil deutschen Publikum, in der Mehrzahl tanzfreudigen jungen Leuten, solch eine Conférence vorzusetzen.

Die vielen Eintänzer und Eintänzerinnen, die berufsmäßig auf Tanzdielen wirken, haben an so drangvollen Tagen nicht etwa besonders viel zu tun. Sie fühlen sich sozusagen an die wand gequetscht. Es gibt kaum Einzelbesucher, alles ist familienweise, rudelweise erschienen und tanzt unter sich. Man sieht mitunter auch starke, ja stärkste Damen da, die sonst, wenn sie bewegt werden wollen, dem Eintänzer gegenüber mit einem guten Trinkgeld nicht knausern, aber heute ist es anders. Sie bleiben ruhig auf dem Platz und sehen der Tochter und dem Schwiegersohn zu, wenn die losscherbeln.

In der Reichsmarine pflegt man so umfangreiche Damen, die man nur mit weit vorgestreckten Armen führen kann, "Zähringen" zu nennen.

Die "Zähringen" ist unser Fernlenkschiff.
27. Dez. 1934 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts