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Pfingsten auf dem Balkon - Die draußen und "ick" - Ausstellung von Hungerbriefen - Wenn wir bolschewisiert wären - Hand hoch oder Haft - Selbstverständlich gehorchen - Als Werber unterwegs - Kamele fliegen.
Herrliche Pfingsten. Ein Wetter zum Eierlegen. Über zwei Millionen Berliner unterwegs. Querab zwei bis reißig Kilometer von der Stadt. Ausflugslokale pfropfenvoll.
Mit anderen Worten: die ganze Großstadt war nach draußen verlegt, die Natur mit Berliner zugedeckt. Dafür in Innen-Berlin plötzlich dörfliche Stille, für die ich sehr viel übrig habe. Unser Mädchen schon vormittags weg, der wir Mundvorrat und Zehrgeld für sie und ihren Verlobten mitgegeben hatten, dazu eine Seite Bleistiftnotizen von mir, was sie sich in Potsdam ansehen sollten und wie sie am besten überall hinkämen. Nicht nur Ferien vom Ich, sondern Ferien von der Hausgehilfin können sehr nett sein. Man "macht es sich bequem".
Und dann der Höhepunkt: vom Balkon, 20 Meter über Berlin, auf die Straße spucken. Einmal, ganz langsam, genießerisch. Klatsch! Es ist eine Weltreise, die die Spucke gemacht hat. Sie kann niemand gefährden, denn es kommt ja niemand, ich sehe kilometerweit keinen Menschen. Und wenn ich am zweiten Feiertag dann durcharbeite, bei lauter geöffneten Fenstern, was sonst in der Innenstadt nicht immer geht, ist eine Stille um mich her, als säße ich in einem Schlößchen im Walde.
Abends nur eine Stunde schnell die Beine vertreten, bis zum Wannseebahnhof hin und zurück.
Wie das quillt!
Ich freue mich ja für alle die, die sonnverbrannt und glücklich in ihr Steinverließ zurückkehren. Aber ich bin noch glücklicher, denn ich war auf keiner Fahrt eingepfercht und habe mir keine Ellbogen abgeschürft und keine grünen Flecken in die Sommerhosen gesessen.
Mächen, Männa, seid ihr jlicklich? |
Also wir haben alle was von Pfingsten gehabt, die draußen und die drinnen, wir haben alle auf eine Weile die politischen und wirtschaftlichen Kümmernisse vergessen. Aber bitte, wir wollen nicht vergessen, wie anders es hätte sein können, wenn statt der in zwölfter Stunde gekommenen deutschen Revolution die bolschewistische hereingebrochen wäre. Dann säßen wir, soweit wir noch lebten, auf Trümmern und hätten nicht einmal das Stück Brot daheim, sondern allenfalls solch ein Gemisch aus Rinde, Torf, Gerste, wie es jetzt in einem Schaufenster am Belle-Alliance-Platz 6a aus der russischen Sowjetrepublik ausgestellt ist, eingerahmt von hundert Hungerbriefen.
Vor ein paar Monaten wäre ein solches Schaufenster, das die Wahrheit aus dem östlichen "Arbeiterparadies" der Kommunisten darstellt, wohl sofort eingeschlagen worden. Heute sind die Knallroten manierlicher. Sie spüren die harte Zügelfaust des preußischen Ministerpräsidenten Göring, der den ganzen Segen der Räterepublik in Bayern miterlebt und am 9. November vor zehn Jahren schwerverwundet auf dem Münchener Pflaster niedergestreckt wurde. Es gibt also doch eine Gerechtigkeit in der Weltgeschichte. Wann sie auch über die russische Sowjetrepublik kommt, wissen wir freilich nicht, nur das wissen wir aus dem Haufen von deutschen Originalbriefen auch im Hinterzimmer des Belle-Alliance-Platzes 6a, daß schon fast die Hälfte des Millionenvolkes der Deutschrussen umgekommen ist, daß man vielfach Brot überhaupt nicht mehr kennt, und daß die Kinder vor Hunger schreien, wenn sie tagsüber nur ein Stückchen Rübe oder Kürbis oder ein paar Kartoffelschalen bekommen haben.
Und das auf dem Lande, in dem einzigen fast reinen Agrarstaat Europas!
Es sind private, meist kirchliche Wohltätigkeits-Organisationen, die diese Ausstellung veranstalten, um unsere Hilfstätigkeit für die Landsleute anzuregen. Das Reich, das ja offiziell in den besten Beziehungen zu der Sowjet-Union leben muß, steht nicht dahinter. Infolgedessen kann auch der russische Botschafter Tschinschtschuk nicht mit irgendeiner Beschwerde eingreifen.
Wenn man den Kommunismus in seiner Auswirkung solchergestalt nackt vor sich sieht, als rippendürres Gespenst, dann preßt man entschlossen die Lippen aufeinander, wenn einem auch an unserer eigenen neuesten Entwicklung manches nicht gefällt. Vor allem nicht die ungeheure Empfindlichkeit gegen jedes Wort auch wohlmeinender Kritik. Friedrich der Große, der der erste Feldherr und beste Landesvater seiner Zeiten war, machte nebenbei sehr mäßige Verse und war entrüstet, wenn das festgestellt wurde, bis endlich einer ihm schrieb: "Wenn jemand Kegel geschoben hat, muß er sich vom Kegeljungen auch sagen lassen, wieviel er geschoben hat." Jetzt wenden sich viele an mich mit der Frage, was ich zu dieser oder jener Verfügung oder zu diesem oder jenem Urteil meine, und da will ich mit der Antwort nicht zurückhalten.
Also. In allen Schulen der Landwirtschaftskammer Halle seien die Zöglinge verpflichtet, sich des Grußes "Heil Hitler!" zu bedienen. Bei vielen Behörden in ganz Deutschland sei dies auch als offizielle Schlußformel der Briefe eingeführt. Ferner sei den Angehörigen der Wehrmacht, Offizieren wie Soldaten, befohlen, wenn sie sich in einem öffentlichen Lokal befänden und dort das Horst-Wessel-Lied gespielt würde, den rechten Arm zum faschistischen Gruß zu erheben. Schließlich sei ein Bankangestellter in Karlsruhe in Baden, weil er in einer überwiegend nationalsozialistischen Volksmenge das nicht getan habe, vom Amtsgericht wegen groben Unfugs zu zwei Tagen Haft verurteilt worden.
Das ist natürlich allerhand. Wenn aber "die Obrigkeit, die die Gewalt hat", das durchdrücken will und darin einen Fortschritt zu unserer Volkwerdung sieht, so sage ich: selbstverständlich mitmachen!
Haben wir nicht früher alle "Perron" gesagt und "Billett"? Natürlich. Aber dann wurde befohlen, daß es "Bahnsteig" und "Fahrkarte" heiße. Fertig; wir haben das alle übernommen. Haben nicht im Mittelalter die Magistrate besondere Kleiderordnungen erlassen, die zollgenau und stoffgenau alles vorschrieben? Also Herr Otto Maier in Karlsruhe kann, aus Achtung vor der Obrigkeit, nächstens in einer Volksmenge auch "Heil Hitler!" rufen; das heißt, um kein Ärgernis zu geben, eine Formel ausüben, die an seiner inneren, vielleicht anderen Überzeugung nichts ändert.
Was der Staat anordnet, haben seine Führer zu verantworten, nicht wir. Wir haben zu gehorchen. Auch dann, wenn wir etwas für unnütz oder für falsch halten. Es sei denn, daß wir - wie die Sachsen von dem Frankenkaiser Karl mit dem Schwert zur christlichen Taufe in den Fluß gejagt wurden - zu einem Abschwören dessen gezwungen werden, was uns heilig ist. Ich ließe nie meine schwarzweißrote Flagge oder meine alte Uniform oder meinen König in den Dreck zerren, selbst wenn ein kommunistisches Regime das verlangte; da ließe ich mich lieber erschießen. Aber so etwas verlangt der heutige Staat ja gar nicht.
Etwas ganz anderes ist es um geistige oder geschäftliche Brandschatzung, die von privater Seite ausgeht und die uns schon so viel, gelinde gesagt, Fehlzündungen bei dem Versuch, die Wirtschaft anzukurbeln, gebracht hat, daß die Regierung selbst immer wieder, so Göring in seinen Erlassen gegen den und jenen "Kampfbund", scharf durchpariert. Besonders auffällig ist das in dem Gewerbebetrieb der Zeitungen, wo verschiedene Werbekolonnen, um den anders Eingestellten Abonnenten und Inserate abzujagen, sogar zu Boykottandrohungen und sonstigen verbotenen Nötigungen greifen. Da müssen die Gerichte Ordnung schaffen. Bisher war ich stets nur passiv den Werbern oder Vertretern ausgesetzt, die die Klingelbatterie an der Haustür abnützen und einem ein Kistchen Zigarren oder eine neue Wochenschrift oder Wichsbürsten oder auf Abzahlung einen Staubsauger dalassen wollen; aber nun habe ich es auch einmal selber probiert, um zu sehen, wie es in diesem Erwerbszweig zugeht.
Bei einem bürgerlich-nationalen Zeitungsverlag lasse ich mir zu diesem Zweck große Listen in die Hand drücken. Da stehen von einem Bezirk die Abbesteller, da wird mir ein anderer Bezirk als ergiebiges Neuland bezeichnet.
Auf nach Neukölln in das ehemalige Kommunistenviertel.
Ich klingele an einer Wohnung das erstemal, leidlich zaghaft. Ein kleiner Türspalt öffnet sich, ein junger Mann sieht mich mißtrauisch und abweisend an, als wollte er sagen: "Seife brauchen wa nich!" Ich bete meinen Spruch herunter: ich käme von dem und dem Verlag, leider sei die Zeitung abbestellt worden, da wolle ich mal fragen, ob die Herrschaften Grund zur Unzufriedenheit hätten, ob die Belieferung nicht pünktlich oder ob sie mit der Tendenz nicht einverstanden gewesen seien.
"Tendenz? Was'n det? Moment mal! Mutta, hier is eener!"
Da schlurft die Mutter heran, wischt sich die Hände an der Schürze ab und erzählt von den schlechten Zeiten. Der Mann sei gezwungen worden, ein anderes Blatt zu halten, und zwei Zeitungen, nein, das ginge nicht. Für ein Monatsabonnement kriege man ja schon ein Paar Stiefelsohlen. Täte ihr sehr leid, sie liebe das alte Blatt, aber da sei nichts zu machen. In der ganzen Weserstraße mit ihren Stuckhäusern, wo man immer Angst hat, daß einem solch ein Engel über der Haustür auf den Kopf fällt, wo in den Treppenhäusern dafür ein entsetzlicher Mief herrscht, habe ich mich so umgesehen und hie und da ein bißchen geplauscht. Fast überall erwachsene arbeitslose Kinder zu Hause.
Dann habe ich weit im Nordwesten, in der Tegeler Gegend, eine Kleinsiedlung besucht, um neue Abonnenten zu werben, und habe schließlich, dank allmählichen inneren Einarbeitens in die Sache, in mehreren Stunden fünf Eroberungen gemacht. Eine Frau zog mich scheu in ihre Wohnung, damit draußen es niemand höre, und sagte mir dort leise:
"Ich möchte ja so gerne, aber ich darf nicht. Ullsteins Morgenpost würde man mir nicht verübeln, aber eine nationale bürgerliche Zeitung, nein. Sehen Sie drüben die Frau? Die ist gut konservativ geblieben, jetzt spricht kein Mensch in der Kolonie auch nur noch ein Wort mit ihr, und wenn sie bei der Nachbarin ein halbes Pfund Mehl pumpen will, zuckt die bloß die Achseln. Die früher ganz Roten, die jetzt mit den Lippen Hurrah schreien, sind die tollsten."
Das ist auch so ein Zeitbildchen. Die Frauen sind vielfach verängstet. Die Männer aber stellen sich "auf den Boden der gegebenen Tatsachen". Es ist nicht viel los mit diesen Männern. Erst auf die nächste Generation wird man sich vielleicht verlassen können. Die jetzt erst schulpflichtig zu werden beginnt.
Und nun fällt es mir zum Schluß ein, daß es zu Pfingsten doch nicht ganz so dörflich still war bei mir, wie ich anfangs erzählt habe. Sicherlich kennen Sie alle aus der Kinderzeit das schöne Spiel: "Alle Vögel fliegen hoch! Schwalben fliegen! Enten fliegen! Kamele fliegen!" Dieses Spiel ist eigentlich nicht mehr zu gebrauchen. Denn: Maschinen fliegen. Alle Tage, auch zu Pfingsten, brausen große dreimotorige über unser Haus, auch der riesige D 2500, Generalfeldmarschall v.Hindenburg", hat es getan, und einmal hat ein Flugzeug ein lebendes junges Kamel von Afrika mitgebracht.
Also sogar Kamele fliegen.
Aber natürlich, sagt eine junge Dame, die neulich bei wüstem Sturm über die Ostsee geflogen ist und zu ihrer "Erleichterung" zehn Papiertüten gebraucht hat. Wenn ich ihr jedoch eine Flug stiftete, sagt sie, möchte sie gleich wieder.
8. Juni 1933 (Donnerstag)
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Ohne Strümpfe auf dem Tauentzien - Alles für die Jugend - "S.A.-Mann Brand" - Der verödete Lunapark - Auktion im Rathaus Schöneberg - Arbeitslosen-Gespräche - Nationale Gaststätte am Pariser Platz.
Alles prallt unvermittelter als früher in der Reichshauptstadt aufeinander. Es fehlen die Übergänge. Es ist einem manchmal so, als sei die noch leidlich verdienende, solide bürgerliche Mittelklasse, die sich gut, aber nicht auffallend kleidet und gibt, ausgestorben.
In der Tauentzienstraße schwänzeln noch immer, wenn auch nicht mehr so zahlreich, die jungen und älteren Damen von Berlin W herum, denen man es ansieht, daß sie einen halben Vormittag lang in einem teuren Schönheitssalon auflackiert sind; daneben stapfen aber fest und sicher, jetzt schon bis in heiratsfähige Jahre hinein mit Hängezöpfen, junge Mädchen einher, die in ihrer äußeren Aufmachung an die Wandervogelzeit erinnern. Das macht sich auf Waldwegen wunderhübsch, aber in der Großstadt bin ich mehr für das mittlere Genre, das sauber und gepflegt, aber nach keiner Richtung auffällig ist. Die kahlen Beine sind auf der Havel in der Vierergig, wo die Mädel für sich ebenso skullen, wie es jahrzehntelang nur die Jungen getan haben, ganz am Platze. Und wenn da eine, während das Boot eine Pause macht, sich mal an der Wade kratzt, so ist dagegen nichts einzuwenden. Nur auf dem Bummelsteig in der Stadt sieht man lange Strümpfe lieber.
Ich muß da immer an eine der klassischen Sentenzen meines oberschlesischen Burschen denken, der mir einmal während des Krieges, als wir gemeinsam auf Urlaub in Berlin waren, sagte:
"Is mirr Bienenstich auf Kuchenteller in Konditrei libber als Mückenstich an Mäddchenbein!"
Das können wir Männer sagen, oder vielleicht nur denken, aber die jeweilige Zeitmode lacht uns aus. Ob wir für kurze oder für lange Kleider sind, für volles Haar oder für den Schnittkopf, ist gänzlich belanglos. Das schöne Geschlecht, das man vielleicht deshalb das schwache nennt, macht besinnungslos mit, was - die anderen machen. Das geht bis zu ihren ältesten Semestern, aber vor allem die sogenannte reifere Jugend ist, wie sie glaubt, eigenwillig, indem sie sich jede neue Modeströmung diktieren läßt. Dabei pocht sie noch darauf, daß dies das Recht der Jugend sei; denn sie ist doch "die Zukunft", und alles andere nichts.
O, Ihr Lieben, auch Eure Zukunft ist das Alter.
Jugend ist nur ein schnell vorübergehendes Stadium der Gegenwart, wenn auch sehr schön. Es ist herrlich, sich sagen zu lassen, jeder von Euch Lieben trage den Marschallstab im Tornister. Besonders in revolutionären Zeiten ist das sogar eine Wahrheit. Napoleon war mit 27 Jahren Divisionsgeneral. Dem Berliner S.A.-Gruppenführer Ernst, einem sehr tüchtigen, energiegeladenen Menschen, unterstehen, obwohl er erst 28 Jahre alt ist, rund 60 000 Mann. In Österreich ist der unmittelbare Vorgesetzte der N.S.-Frauenschaft ein sogar erst 22jähriger Rheinländer. Solche Zeiten zu durchleben, gönnt man heute der Jugend, nachdem sie vierzehn Jahre der Hoffnungslosigkeit hinter sich hat. Nur rückt auch sie doch von Jahr zu Jahr der Zukunft zu, die das Alter ist, und wer heute 25 Jahre alt ist, dem wird nach 25 Jahren auch zugerufen werden, er sei verkalkt; und wenn er heute übertreibt, zahlen einst seine Kinder es ihm heim. Wir waren manngewordene Jugend, ohne Rücksicht auf die Jahre des einzelnen, als wir den Krieg durchgefochten und nach dem "Dolchstoß von hinten" fortan nur noch den einen Gedanken hatten, die nationale Gegenrevolution zu betreiben. Was seither in das wahlfähige Alter hereinwuchs, das wuchs uns zu und hat es dann geschafft.
Am gestrigen Mittwoch ist das Heldenlied dieser Revolution über die Leinwand gegangen.
Im Ufa-Palast am Zoo hat der Film "S.A.-Mann Brand" seine Uraufführung erlebt, ein Werk der Bavaria-Film A.G. in München. Ein Kapitel Weltgeschichte. "So war's! So war's!", schreit es aus tausend zerquälten und tausend jubelnden Herzen auf.
Es ist ein ausgesprochen nationalsozialistischer Propaganda-Film, aber man kann ebenso sagen: ein ausgesprochen nationaler, ein ausgesprochen deutscher, vaterländisch durchglühter Film, bei dessen Miterleben kein Stahlhelmer und kein Deutschnationaler die Nichterwähnung seiner Arbeit an seinem Frontabschnitt den Herstellern - Dalman, Stöckel, Seitz - irgendwie verübelt. Man hat das Gefühl: ein siegreiches Heer zieht ein, und da winkt man und da jubelt man eben mit. "So war's! So war's!" Rotmord auf allen Gassen, der Sowjetagent im Hintergrunde, Waffenspeicher der Kommunisten, Vorbereitung des Bolschewismus, Knebelung aller Nationalgesinnten, Terror jeder Art. Durften nicht noch unter Brüning die roten Zeitungen straflos schreiben: "Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!"? Wurden nicht Arbeiter zu Arbeitermördern, Kinder zu Kindermördern?
Einmal in meinem Leben - der Beruf erlaubt mir dergleichen selten - habe ich einen nationalen Propagandamarsch durch Berliner Kommunistenviertel mit meiner ganzen Familie mitgemacht und es auch erlebt, daß die verhetzten Leute vor uns ausspieen, die Fäuste erhoben, pfiffen, uns wüst anschrien, genau so wie im Film. "So war's! So war's!" Es ist kein Hurrapatriotismus und keine verlogene Sentimentalität, sondern nur echteste Vaterlandsliebe in dem Stück. Echt die Not im Stübchen der Heimarbeiterin, echt der Riß in den Arbeiterfamilien, echt der satanische Sowjetrusse Turow, echt der Fabrikbesitzer Neuberg, der bei Beginn der deutschen Revolution fragt: "Wann geht der nächste Zug in die Schweiz?", echt die Sehnsucht des kleinen Erich, dessen Vater im Felde gefallen ist, nach einer Uniform, echt der kleinbürgerliche Humor, wo der Vater Brand - bitte sehr, S.P.D. - mitspielt, rein und keusch die Rolle der Kommunistentochter Anni, die den jungen S.A.-Mann Brand vor den Kugeln ihrer Genossen retten möchte. Er wird schwer verwundet, bleibt aber am Leben und sieht noch den Sieg am 30. Januar und 5. März, der kleine Hitlerjunge Erich aber fällt. "Für Deutschland, wie Vater im Kriege!" ist sein letzter froher Seufzer.
Propaganda hin, Propaganda her: ich glaube, selbst ein Zentrumsmann, der vor Jahr und Tag noch Brünings dollfüßige Unterdrückungspolitik gutgeheißen hat, kann, wenn er noch deutsch zu denken fähig ist, nicht ohne Erschütterung diesen Film sehen. Er ist ganz ausgezeichnet gemacht, ist wirklich erlebte Geschichte und dabei, ohne Verbrecherinstinkte zu kitzeln, zum Bersten spannend wie ein Detektivroman.
Und so war es wirklich, der Film ist buchstäblich aus dem Leben gegriffen. Drüben die arme, mir bekannte Frau aus der Bärwaldstraße. Der Mann fiel 1918 im Felde. Ihr siebzehnjähriger blonder Hitlerjunge aber wurde vor ihren Augen von Rotmord gemeuchelt. Schuß durch den Magen, Schuß durch das Rückgrat; Krankenlager und Tod. Die Frau weint heute noch täglich am Grabe.
Der äußere Sieg ist jetzt da, er wird uns sinnfällig hier im Ufa-Palast zu Gemüte geführt. Die feindlichen Stellungen sind erstürmt. Hakenkreuz und Schwarz-weiß-rot wehen. Aber Stellungen muß man halten und ausbauen. Die materielle Not ist zu beheben und vor allem die innere Umwandlung des ganzen Volkes herbeizuführen. Der Wechsel von Abzeichen allein macht es noch nicht.
Die materielle Not fällt einem in Berlin jetzt besonders auf, weil hier im Gegensatz zu anderen Großstädten die Fassade bisher immer noch glänzend war. Die Fassade: das ist der "Betrieb", das ist die Kleidung, das ist das Vergnügungsgewerbe. Das alles schrumpft jetzt von Woche zu Woche. Da ist lange Jahre hindurch der Lunapark, unser Großrummel, die beliebteste und überfüllteste Stätte der Lust gewesen. Und heute? Der Eintritt kostet nur noch 25 Pfennige, aber selbst an sonnigen Tagen und warmen Abenden "tröpfelt" die Menschheit lediglich her, obwohl es Musik, Variété-Vorstellungen im Freien, Feuerwerk und allerlei sonst noch gibt - und eine Tasse Kaffee mit Sahne für 27 Pfennige zu haben ist. Der Lunapark ist verkleinert, das Negerdorf, die Wasserrutschbahn, Remdes Hausboot und ein gutes Dutzend Buden sind verschwunden, das Teufelsrad geht nicht mehr, der Motorfahrerturm ist abgerissen. Im Wellenbad zahlt der Zuschauer nur noch 10 Pfennige Eintritt.
Hat der Lunapark sich überlebt wie einst Castans Panoptikum? Ach nein; nur das Geld fehlt den Menschen. Auf der Weinterrasse war vor vier Jahren kaum ein Tisch zu haben. Damals bedienten 30 Kellner. Heute sind es noch zwei. Der eine davon ist der frühere Fraktionsdiener der Deutschen Volkspartei im Reichstage. Und der Pächter, der ehemalige Reichstagsökonom Jürgens, zahlt täglich zu, statt zu verdienen.
Stellenweise leben wir sozusagen von der gegenseitigen Armut. Erbe der erwerbslosen Kleinrentner ist das Wohlfahrtsamt, das sie unterhält. Dieser Nachlaß wird dann versteigert, damit "die Wohle" einen Bruchteil ihrer Kosten wieder hereinbekommt. Auf solche Auktionen gehen andere Arme.
Mal ansehen. Also los, zum Schöneberger Rathaus. Fünfter Stock, Dachgeschoß. Auf einem Raum von vielleicht 50 Quadratmetern an die 100 Menschen. Eine Luft zum Zerschneiden. Längs der Wand stehen Möbel, ein Küchenschrank, der sicher schon drei Menschenalter sah, ein Kleiderspind mit einem anscheinend aus dem Lachkabinett stammenden Zerrspiegel, Metallbetten, Holzbetten, einVertiko, ein Schreibtisch, dazu Kleider und andere Sachen. Zwei Stadtsekretäre versteigern. Drei Wintermäntel für Herren!
"Junge, Junge, det sin aber olle Dinger!", ertönt es im Hintergrunde. Alles vertragen und abgeschabt. Erstes Gebot: 20 Pfennige, 30, 35, 40. Für 50 Pfennige kriegt einer den Zuschlag und packt sich die drei Mäntel auf, deren frühere Träger jetzt unter der Erde nicht mehr zu frieren brauchen. Ein Damenmantel und ein Fuchskragen ("Sieht ja aus, als wären Läuse drin!") gehen für 80 Pfennige ab. Noch einmal drei Mäntel. "Meesta, warum imma jleich dreie? Ma kann doch bloß eenen dragen!" "Damit wir schneller fertig werden, es ist alles ein Preis, ob einer oder dreie." Gut, 1,10 Mark. Eine weiße Wanne, zwei Kochtöpfe, eine tönerne Kuchenform. "Los, Junge, sowas kann ich brauchen!", sagt eine junge Frau zu ihrem Mann. 50 Pfennige, 60, 70, 80. Bei 90 Pfennigen bietet niemand mehr, fällt der Hammer. Ein Regulator ohne Perpendikel bringt eine Mark. Das meiste Geld ein moderner großer Diplomaten-Schreibtisch, 23 Mark.
Ich schiebe mit der Menge ab. Die nächsten Parkbänke sind im Sonnenschein schnell besetzt. Eine junge Frau mit Kinderwagen flüstert: "Na, Puppe?" und schiebt ihn hin und her. Rundum lauter Arbeitslose. Einer sagt zu der jungen Frau, um auf diese Weise anzuknüpfen: "Haben Sie bloß Ihren Mann oder auch einen Freund?" Er bekommt einen leisen Verweis. Er sagt: "Ich heirate ein Mädchen bloß dann, wenn sie 1000 Mark mitbringt. Freundinnen kann ich genug haben." Man spricht hier sehr offen.
Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß noch vieles sich bei uns läutern muß.
Der etwa dreißigjährige Arbeitslose, der nicht unter 1000 Mark heiraten will, sagt: "Warum denn? Ich lebe ja auch so. Morgens um 10 Uhr auf und Kaffee gebraut. Tagsüber gibt es allerlei schöne Unterkommen. Man kann auch alle Zeitungen schmökern. Und abends um 12 in die Falle. Für das nötigste Essen langt's. Man strengt sich ja nicht an. Wenn ich heiraten wollte, warum nicht? Heute nimmt jede auch einen Arbeitslosen. Arzt haben wir umsonst. Und dann gibts Verpflegungszulage, Stillprämie, Radio." Dieser Dreißigjährige ist vielleicht nicht typisch, aber daß es überhaupt solche Lazzaroni gibt, rein auf Staatsrente eingestellt, ist schon traurig genug.
Zum Glück nimmt die Arbeitslosigkeit, wenn auch langsam, so doch merklich ab, während sie unter den Novemberparteien ständig stieg. Nur geht alles für unsere Wünsche noch nicht schnell genug.
Wir haben jahrzehntelang von dem hastenden, schuftenden, hämmernden Berlin gehört und sehen heute das schlendernde Berlin.
Selbst in der Prachtstraße der City, Unter den Linden, ist heute nachmittags manchmal jeder Fünfte, der einem begegnet, ohne Arbeit. Das schiebt sich an den Schaufenstern entlang, das sieht mit glanzlosen Augen in die Sonne, das ist die lebendige Anklage gegen diejenigen, die 1918 uns "Friede, Freiheit, Brot" versprachen und nichts davon zur Wahrheit machten. Das pendelt zwischen Lustgarten und Pariser Platz. Irgendwo wird es doch eine Anregung geben, irgendwo wird man doch etwas Neues sehen. Und richtig, am Pariser Platz, Südseite, also genau gegenüber der Französischen Botschaft, wehen riesengroß eine schwarzweißrote und eine Hakenkreuzflagge.
"Was'n da einklich los?", fragt jeder und tritt näher hinzu.
Und da liest er: Nationale Gaststätte. Im alten Palais Wrangel, in dem später die Offiziere der Garde du Corps und zuletzt, ehe er nach der Stresemannstraße verzog, die Mitglieder des Herrenklubs tafelten, zu ebener Erde. Im ersten Stock befindet sich das Bankgeschäft Karl W. Spiegel, im zweiten die Saint Phalle Bank A.G. Hier wohnte einst, Ende des 18. Jahrhunderts, Carl Gottlieb Suarez, der Schöpfer des Allgemeinen Preußischen Landrechts. Heute ist es ein Wirtshaus, in das der S.A.- oder S.S.-Mann einkehrt, der vorher vielleicht in irgendeinem Ministerium der benachbarten Wilhelmstraße vorgesprochen hat. Die Kellner rufen dem eintretenden Gast mit erhobenem Arm "Heil Hitler!" zu, an der Wand eines der Säle hängt ein Ölbild von Göring, die Speisekarte weist ein großes Hakenkreuz auf, ein riesiges Hakenkreuz aus Stiefmütterchen ziert auch den weißen Kies hinten im Garten; davor die kürzlich vom Motorsturm 6 gepflanzte Schlageter-Linde.
Und dieser Garten, das ist das Unerwartete. Er stößt an die Mauer des Reichspräsidenten-Gartens, er hat mitten in der Großstadt eine himmlische Luft, und er ist so voll von Vogelgezwitscher, daß man die nachmittags um 4 Uhr einsetzende, dabei nicht schlechte Orchestermusik als störend empfindet.
Ich saß dann auf der schmalen Estrade am Pariser Platz auch im Freien. Es waren viele Braunhemden, Schwarzjacken und etliche graue Feldblusen da. Dann nahte ein "Zivilist" wie ich und verlangte Kaffee Hag.
Da lächelte der Kellner. So etwas gäbe es hier nicht. Hierher kommen nur Männer und Frauen mit ganz starken Herzen. Die brauchen nicht den milden Hag.
15. Juni 1933 (Mittwoch)
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Begeisterung für den Männerstaat - "Deutscher Frauenwille" - Bloß keine Koedukation mehr - Rekord-Sportlerinnen - Nationale Flugschau - Von der Mordmaschine zum Verkehrsmittel - Im Berliner Kinderhotel - Vor dem "ehemaligen" Schloß
In brauner Kletterweste steht eine junge Dame mit blitzenden Augen vor mir und jauchzt:
"Frauenbewegung? Ich lache mich schief, wenn ich das Wort nur höre. In meinen Augen ist die einzig senkrechte Frauenbewegung: rechten Arm hoch und 'Heil Hitler!' Ihre Frau und Sie können meinetwegen 'Heil Deutschland!' sagen. Aber Frauenbewegung ist wirklich überlebter Quatsch. Parlament, Konferenzen, Regierung? Laß doch die Männer machen! Ich gehorche lieber einem Hitlerjungen als einer verkalkten Tante meines eigenen Geschlechts!"
So wie diese zwanzigjährige Berlinerin denken sicher viele Zehntausende.
Einen Tag später fallen zur Abendbrotzeit zwei auslandsdeutsche Mädel bei uns ein, die ich nicht kenne, die aber von mir was gelesen haben. Die eine studiert draußen irgendwo Geschichte, die andere ist noch Gymnasiastin; sie sind im Autobus, ganz billig, mit noch 23 anderen jungen Dingern und einer Führerin in fünf Tagereisen hergekommen und übernachten in der modernsten Jugendherberge Berlins, in Neukölln. "Essen Sie ein Butterbrot, ein Ei, ein paar Kirschen mit uns mit? Dann bitte zu Tisch, meine Damen!"
Und nun sprudelt das los und jauchzt eigentlich genau so wie tags zuvor die junge Berlinerin; es ist etwas Schönes um den Überschwang der Begeisterung bei allen diesen Werdenden.
Aber die Gewordenen sind zuweilen entsetzt. Soll wirklich jede von der Frau in Jahrzehnten eroberte Stellung freiwillig aufgegeben werden? Es regt sich was, es tut sich was. Kann man sich nach den Zeiten zurücksehnen, wo die Frau vor Gericht sich nicht selber vertreten, nicht Vormund ihrer eigenen Kinder sein durfte, über ihr Erspartes der Mann gebot? Der frühere freikonservative Reichtagsabgeordnete v.Stumm lief schon Sturm gegen diese Schranken. Und wie steht es mit der hohen Bildung aller Fakultäten, mit dem errungenen, jetzt wieder bestrittenen Anspruch der Gleichberechtigung bei jeder Postenbesetzung, bis in die höchsten Regierungsämter in Reich und Staat hinein?
Eine andere junge Berlinerin, Elfriede Luise Golbig, Charlottenburg 1, die schon etliche Male an unserem Tisch gesessen hat, jauchzt auch, aber in einem bergeversetzenden Glauben an die Berufung der Frau zu gleichberechtigter Arbeit im Staate.
Auch sie ist Nationalsozialistin. Aber sie will die Frau für die Frau mobilisieren. "Wir kommen noch auf 22 Millionen, dann sind wir die Mehrheit und schaffen das gleiche Recht auf Bildung und Arbeit!" Sie allein mit einer Kameradin hat die Bewegung ins Leben gerufen, die sich Deutscher Frauenwille nennt, erst wenige Wochen alt ist, aber schon in elf deutschen Städten eine Stammtruppe hat. Einmal will ich dem kenntnisreichen und wortgewaltigen Fräulein Golbig, das jetzt erst zum drittenmal "in kleinem Kreise" eine Versammlung abhält, obwohl Versammlungen mir ein Greuel sind, die Zeit dafür opfern. Restaurant des Städtischen Opernhauses Charlottenburg, gelbes Zimmer. Auf 30 Damen hat man gerechnet, es kommen aber 70. Darunter vier Männer: außer mir noch ein Ehemann, der dritte ein Verlobter mit seiner Braut, der vierte der Ruderfreund einer der jüngeren Damen.
Der Mann schweige in der Gemeinde. Wir hören nur zu.
Wir hören eine ganz prachtvoll frische, fortreißende Begrüßungsrede der Einberuferin, dann einen Vortrag über die alte Frauenbewegung und einige ihrer großen Repräsentantinnen, die Peters, die Lange und andere, von Sophie Philipps. Auch Marie Diers und Beda Prilipp und sonstige bekannte Namen sind da. Sophie Philipps, deren verstorbenen Bruder, den Pfarrer und Leiter des Johannisstifts in Spandau, ich gut gekannt habe, spricht ruhig, sachlich, ausgezeichnet. Nur einmal rebelliere ich innerlich. Da spottet sie über die verheirateten Frauen, die jeden dritten Satz mit dem Worte anfängt: "Mein Mann sagt . . ." Je nun, auch Sophie Philipps hat sich oft darauf berufen, was ihr Bruder gesagt hätte. Und Frau Dr. Elisabeth Förster-Nietzsche, der ich vor ein paar Jahren noch einmal die Hand küssen durfte, die Schwester Friedrich Nietzsches, die wissenschaftlich hochstehende Schöpferin des Nietzsche-Archivs, hat von Kind auf stets wiederholt: "Fritz sagt aber . . ."
Ich lese zuweilen "Die deutsche Kämpferin", ich lese zuweilen "Die deutsche Frau". Ich bin wirklich gespannt darauf, wieviel von den erträumten 22 Millionen einmal Wahrheit werden. Persönlich gönne ich den Frauen jedenfalls die Erziehung ihres eigenen Geschlechts bis zu den Spitzengraden hinauf. Ich halte nicht viel von der Koedukation, von dem Sitzen der Lernenden beider Geschlechter auf der gleichen Bank. Ich hätte gar nichts gegen das amerikanische System bei uns, gegen eine reine Frauenuniversität, irgendwo auf dem Lande, nach dem Cottage-Plan aufgebaut; sogar mit weiblichen Professorinnen.
Ebenso bin ich nicht für das Hinauswerfen der erwerbstätigen Frauen aus ihren Berufen, dagegen dafür, daß das volle Drittel nicht heiratender deutscher Männer durch steuerliche Daumenschrauben dazu gezwungen wird, auf das reine Genußleben des Junggesellentums zu verzichten.
"Kraft erwart' ich vom Mann. Des Gesetzes Würde behaupt' er. |
sagt der vielleicht etwas altmodische Schiller. Er kannte noch nicht die Ministerialrätin, die Speerwerferin, die Rekordschwimmerin, die Prokuristin, die Ärztin, obwohl mich dünkt, daß zu seiner Zeit die Frauen viel mehr Einfluß hatten als heute, nicht etwa nur, wie manche höhnisch bemerken, auf dem Wege über das Schlafzimmer, sondern durch ihre Bildung, ihren Geist, ihre Arbeit. Er hatte auch noch keine Ahnung von solchen Geschöpfen, wie etwa Elli Beinhorn, die mutterseelenallein ganz Afrika in ihrer Maschine umfliegen und dazwischen mal einen Leoparden schießen oder in einer Hütte neben einer leprakranken Negerin schlafen kann. Eine Kollegin von Elli Beinhorn, Liesel Schwab, habe ich auf der Nationalen Flugschau am vorigen Sonntag auf dem Tempelhofer Felde wieder gesehen, nur daß diese nicht flog, sondern aus 400 Metern Höhe aus einem Flugzeug mit dem Fallschirm absprang. Auch so etwas hätte Schiller sich nicht träumen lassen, obwohl er an den künftig fliegenden Menschen geglaubt hat.
Es war wieder wundervoll, und man sieht jedesmal Neues, Unerhörtes. Diesmal habe ich mir zum erstenmal das Aufsteigen mit dem größten Landflugzeug der Welt, dem "Generalfeldmarschall v.Hindenburg", dem D 2500 unter Flugkapitän Brauer, gegönnt. Außer der Besatzung flogen 32 Passagiere mit. Ich hatte gerade die letzten beiden Fahrkarten erwischt und saß in dem wie ein Speisewagen mit bequemen Sesseln und Tischen ausgestatteten Gebäude mit meiner Begleiterin ganz hinten an einem Fenster, wo man die freieste Aussicht hat. Die sechs vorn in die Tragflächen eingebauten Passagiersitze sind nicht so angenehm, schon wegen der Wärmeausstrahlung der vier Motoren nicht, und noch weniger empfehlenswert sind die Plätze gleich dahinter im Rumpf, wo man eigentlich nur die Aussicht auf die riesigen Tragflächen hat.
Der deutsche Kronprinz, von dem Direktor der Lufthansa Wronsky geleitet, hatte sich gerade vorher das Innere des Flugzeugs angesehen und kam heraus, als wir einstiegen. Eigentlich wollte er mitfliegen. Hätte ich das gewußt, so wäre ich natürlich gern zurückgetreten und hätte auf meine letzte, schon mehrere Tage vorher bestellte Fahrkarte verzichtet.
Aber es war nun wirklich herrlich, sich in verschiedenen Runden ganz Berlin von oben anzusehen und schließlich über Havel und Wannsee hinweg auch noch Potsdam - da, der gelbe Fleck, das ist das Bornstedter Feld, ach, wie oft bin ich da geritten - aus der Vogelschau zu genießen. Wochentags ist der "Generalfeldmarschall v.Hindenburg" für den Expressverkehr mit München eingesetzt. Man fliegt um 8 Uhr morgens ab, erledigt Wichtiges oder Dringendes in München und ist nachmittags um 4 Uhr wieder in Berlin. Auf der Nationalen Flugschau wurden übrigens auch noch schnellere Maschinen, die 380 Kilometer in der Stunde hinter sich bringen, vorgeflogen.
Bald wird es Wahrheit werden, was noch vor einem Jahre als Scherz verzapft wurde. Ein Flugpassagier, bisher in die Zeitung beim Frühstück vertieft, fragt: "Käptn, wo sind wir?", bekommt den Bescheid: "Über Bremen!" und erwidert: "Ach, Unsinn, ich meine, über welchem Lande in Europa? Die einzelnen Nester interessieren mich nicht."
Der Flughafen Berlin, für die Masse der nichtfliegenden Erdenpilger schon längst eine beliebte tägliche Kaffeestation, ein stets fesselnder, staub- und rußfreier Luftbahnhof, ist einer der schönsten und vielleicht der praktischste der Welt, weil er unmittelbar an der Stadt liegt, keine ewige Anfahrt wie in Zürich, London, Wien und anderswo nötig ist. Die Besucher gewöhnen sich allmählich daran, hier nicht nur zu akrobatischen Sensationen herzukommen, wie man ja auch nicht verlangt, daß Lokomotiven auf den Bahnhöfen Purzelbäume schlagen, sondern ein normales und sicheres Verkehrsmittel vor sich zu sehen.
Das alte griechische Sprichwort, daß der Krieg der Vater aller Dinge sei, hat sich hier wieder einmal glänzend bewahrheitet, denn ohne den Krieg mit seinem Muß an ständigen neuen Erfindungen wären wir heute in der Luft noch nicht so weit.
Einmal in meinem Leben freilich habe ich an der Sache gezweifelt, damals vor dem Kriege, als ich alter Luftikus, auf sämtlichen atmosphärischen Vehikeln einschließlich Freiballon, Fesselballon, Zeppelin zu Hause, in Berlin-Johannisthal, wo ich nahezu täglich in der Frühe erschien, die Flieger Voß und Schendel tödlich abstürzen sah, das Flugzeug Kopf voran in die Tiefe.
Beide zogen - man konnte es mit bloßem Auge deutlich feststellen - mit aller Kraft Höhensteuer, aber das Steuer blieb stur. Damals ging ich, nachdem die Leichen geborgen waren, wie betäubt weg, und es klang mir dauernd in den Ohren: "Die Mordmaschine! Die Mordmaschine! Die Mordmaschine!" Um ein Haar wäre ich zu der Ansicht des Oberstleutnants Groß (des "halbstarren") bekehrt worden, daß das Flugzeug keine Zukunft habe, nur eine sozusagen Zirkusattraktion bleiben werde, ein Werkzeug für Gladiatoren. Und heute zieht es so sicher wie die Erde seine Bahn, so daß man jedermann nur raten kann:
"Wenn du Zeit sparen willst, wenn du es bequem haben willst, wenn du Schönes sehen willst, so nimm gleich den Hörer von deinem Fernsprecher ab und bestelle dir bei der Luft-Hansa deinen Platz!"
Heute lassen sich schon achtzigjährige Damen gern und ohne alle Bedenken eine 1000-Kilometer-Strecke fliegen, weil - die Bahnfahrt über dieselbe Strecke für sie zu ermüdend ist. Ganze Familien besteigen gleichmütig das Flugzeug. Bis Stuttgart flog ich einmal mit einem Elternpaar und zwei Kindern. Der Vater las die ganze Zeit, und die Mutter hatte damit zu tun, die Kinder, die abwechselnd futterten und sich schubsten, in Ordnung zu halten. Niemand von der Familie sah auch nur einmal zum Fenster hinaus, denn das Fliegen war für sie eben schon das gewöhnlichste Ding von der Welt.
Die Mutter habe ich damals sehr bedauert. Kinder können auf Reisen gräßlich sein.
Was tut man mit Kindern, wenn man, etwa vom Gebirge oder vom Strandaufenthalt zurück, auf der Durchreise einen Tag in Berlin verweilt? Der Aufenthalt im Hotel ist teuer, so billig es auch in der Sommerfrische war. Außerdem wird jedes Kind, das einmal eine solche großstädtische Karawanserai passiert und herablassend mit dem Portier gesprochen hat, unweigerlich zum Fratz. Und schließlich will man doch die Kleinen mal los sein, wenn man etwas zu besorgen oder in der Stadt Besuche zu machen hat.
Seit Mitte dieses Monats ist dem abgeholfen. Wir haben - ein Kinderhotel!
Der Verein "Deutsche Erholungsheime für Kinder und Jugendliche" hat in Berlin C, Poststraße 10-11, im ersten Stock eine Übernachtungsstelle für die Kleinen mit vorläufig zwei Schlafsälen, 11 und 9 Betten, für Mädchen und Jungen eingerichtet. Sie werden, auch wenn sie allein reisen, etwa von der Großmutter in Kolberg zu den Eltern in Chemnitz zurückkehren, vom Bahnhof abgeholt und wieder hingebracht, im Kinderhotel von einer Jugendleiterin, einer Geschäftsführerin, zwei Hortnerinnen, einer Putzfrau betreut und beschäftigt.
Kostenpunkt: 50 Pfennige für das Quartier je Tag, einmalig 35 Pfennige für Bettwäsche. Wer dort auch ißt, zahlt 25 Pfennige für das Frühstück und 50 für die treffliche Hauptmahlzeit oder das Abendbrot.
Um diesen Kostenpunkt handelt es sich bei der Anfrage eines neunzehnjährigen Berliner Reichswehrsoldaten, der gerne sein Schwesterchen, das 12 Jahre zählt, herkommen lassen und ihm ein paar Tage lang die Hauptstadt zeigen möchte. Der junge Mann ist gerade da, als wir die blütensaubere Anstalt besichtigen, und fragt etwas ängstlich, denn das Ganze geht doch von den Ersparnissen seiner Löhnung.
Ein vierjähriges Kind, auf der Durchreise in Berlin, hat Geburtstag. Es findet auf seinem Frühstücksteller einen Kuchen und vier Lichtchen herum. Das hat es mit Bewußtsein noch nicht erlebt. Und es fragt dreist und gottesfürchtig: "Tante, warum habt Ihr nicht noch viel mehr Lichtchen?" Es wird aufgeklärt und scheint es zu begreifen; die anderen Kinder sind mitselig.
Aus den Fenstern sieht man auf den stillen, grünumbuschten Platz vor der alten roten Nikolaikirche. Geht man aber zum Hinterhof hinaus, so ist man gleich in der Burgstraße an der Spree, und da ist die große Schiffsschleuse. Da kann man stundenlang zugucken. Während eine Hortnerin das Essen kocht, geht die andere mit den Kindern spazieren. Manchmal sogar bis in den Zoo. Aber schon dicht am Kinderhotel ist man im repräsentativen Zentrum Berlins, vor dem Königlichen Schloß und dem Lustgarten mit der Museumsinsel am Ende der Straße Unter den Linden.
Auf dem Berliner Taschenatlas, von Ullstein herausgegeben, steht übrigens: "Ehemaliges Schloß." Das ist genau so ein November-Fußtritt wie die Bezeichnung Ex-Kronprinz. Ehemaliges? Schloß bleibt doch Schloß, auch wenn Spartakisten oder Museumsschränke darin sind, wie auch die Marienburg die Marienburg blieb, auch wenn sie zuzeiten als Proviantamt und als Pferdestall benutzt wurde, ehe man sie restaurierte.
Vor dem Schloß treffe ich neulich ein paar echte Berliner Großstadtgöhren. Ich erzähle ihnen freiwillig etwas. Daß der Alte Fritz da geboren sei, und daß der Kaiser im Winter immer hier gewohnt habe. Da macht der eine Hosenmatz die Bemerkung: "Wissense sonst nischt?" Ich sage ganz sanft: "Mein Lieber, als ich so jung war wie Du, war ich höflicher!" Und er antwortet prompt:
"Jung, det jibt sich, aber doof, det bleibt!"
22. Juni 1933 (Donnerstag)
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