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Gegen das Denunziationswesen - W. R. I. - Aus Nantes Zeit - Kommt Marlene ? - Die Luisen - Aus der bisherigen Giftküche - Böß wird überpinselt - In Jüterbog - S wie Samuel.
Kinder, bloß nicht so aufgeregt! Es ist Zeit, daß das hysterische Getue ein Ende nimmt. In sehr vernünftigen Aufrufen ersuchen nationalsozialistische Prominente darum. Das Wort von der Totalität macht manche kleinen Leute total verrückt. Man kurbelt die Wirtschaft nicht an, indem man, wie Wagener erklärt, grundlos Wirtschaftsführer verhaftet. Und man hilft laut Göring nicht der Kunst durch Ernennung wilder Kommissare. Wir wollen nicht die Zeit der Arbeiter- und Soldatenräte wiederholen.
Die unnützen Denunziationen häufen sich. Aber auch die Rufe zur Ordnung werden stärker.
Eine der ulkigsten Denunziationen hat eine Berliner Ärztin erlebt, die beruflich Kinderfürsorge gelernt hat und außerberuflich deutschnational ist. Wegen letzteren Umstandes versagte ihr, als sie vor 12 Jahren zur Schulärztin gewählt wurde, der rote Berliner Stadtmedizinalrat die Bestätigung. Dieser Umstand ist wohl auch heute noch störend, item, besagte Ärztin versorgt heute, billig und aufreibend, die Wohlfahrtspatienten ihres Bezirks. Eine der Patientinnen, der es im Wartezimmer zu langweilig wird, schnüffelt in die Privatwohnung hinein, bückt sich im Speisezimmer und entdeckt unten am Bufett die geschnitzten Initialen W.R.J., wobei sie nicht daran denkt, daß der Familienname der Ärztin mit J. anfängt, sondern, da sie wohl mal die Initialen W.I.R. (Wilhelm Imperator Rex) gelesen hat, sofort an die Schatullverwaltung des Königlichen Hauses schreibt, diese Ärztin besitze ein aus einem Königlichen Schlosse geklautes Möbel.
Telephonische Anfrage aus der Schatullverwaltung. Und alsbald stürmisches Gelächter diesseits und jenseits des Drahtes. Diesseits ich und - meine Schwägerin. Das ist nämlich die Ärztin. Das Büfett hat meine Schwiegermutter 1890 in London gekauft.
Also, Kinder, immer mit der Ruhe.
Wozu stellen wir uns alle so wütig und besoffen? Gar keine Veranlassung! Der Schnapskonsum ist doch gegen früher in Berlin um 70 Prozent, Gott sei Dank, zurückgegangen. Sogar auf Herrenpartien. Na also. In den Zeiten des seligen Eckenstehers Nante, der stereotypen Figur des Humoristen Glaßbrenner in Berlin, war es noch anders. Nante hatte immer die Buddel bei sich und trank immer:
"Aach, det schmeckt! Det schmeckt, als wenn eener Schnaps trinkt, und er schmeckt ihm. So, nun hab' ick jefrühstückt, nu wer' ick mir mal die Welt ansehen, ob noch allens in Ordnung is. Lebenslauf, ick erwarte dir!"
Die Erinnerung an Nante beschämt mich. Wieviel Eiskümmel habe ich eigentlich vor zwei Jahren bei Admiral Kolbe in Kiel gehoben? Da war ich der Eckensteher Nante. Aber heute hat man wirklich andere Interessen. Soweit sie sich nicht auf Politik konzentrieren, gipfeln sie für Berlin W in dem Alarmruf: Marlene kommt! Also Marlene Dietrich ist mit ihrer Heidede wahrhaftig wieder unterwegs nach Europa, vielleicht gar nach Berlin, auf dem Atlantik. Ihr "Blauer Engel" ist noch unvergessen. Die Reklame von Hollywood tutet genau so stark wie das letztemal bei Chaplins Europabummel. Alles ist Geschäft. Das vorige Mal hatte die Filmgesellschaft für Marlene auf dem Ozeandampfer eine gläserne Frisierstube und ein gläsernes Wohnzimmer einbauen lassen, so daß man tagsüber jede Bewegung der Künstlerin vom Lever an begucken und reportern konnte. Nur die Schlafkabine war verhängt. Jetzt hat man etwas anderes ausgedacht. Die Filmdiva existiert, als wenn sie Transvestitin wäre, nur noch in Herrentracht, hat zu schwarzen Beinkleidern Smoking und Frack. Alles für die Firma. Arme Marlene. Ob man sich dem Schnapsteufel oder dem Filmteufel verschrieben hat, ist egal, ein normaler Mensch ist man dann selten mehr.
Aber es gibt noch ganz normale Frauen und Mädchen unter uns, sogar in Berlin, mehr noch im Reiche, gut deutsche Wesen, die wie die Sagenhaften aus unserer Vorzeit die Wagenburg verteidigen, vor der die Männer, die Brüder, die Väter kämpfen. Drei Tage lang ist ganz Berlin und Potsdam blau gewesen, kornblumenblau, weil an die 30 000 "Luisen" zur Zehnjahresfeier hier zusammenkamen. Frau v.Hadeln, die lohende, hinreißende Rednerin, an der Spitze; im Sportpalast auch die Kronprinzessin mit einer lieben Ansprache und einer inneren Verbeugung vor Hitler, die sie auch zum Ausdruck brachte. Vor zehn Jahren hatten wir den Eislebener Tag, Gottesdienst auf dem Markt, eine schöne Rede von Duesterberg. Dazwischen knallten aber die Schüsse der Kommunisten, ganz Mitteldeutschland erbebte unter rotem Terror. Sonntag um Sonntag zogen die Männer vom Stahlhelm aus und durch die Dörfer, um Wankelmütige wieder emporzureißen. Die Frauen und Töchter, derweil allein, wollten nicht dahinterbleiben, gründeten ihren Luisenbund und begannen ihre Liebesarbeit, die heute, wo schon über 150 000 dazu gehören, in Kinderheimen, Frauenheimen, Armenspeisung und sonstiger sozialer fraulicher Tätigkeit, auch in Aufklärung, sich auswirkt.
Die markieren nicht die Damen von Welt. Die ziehen schlichte Leinenkleider an. Die laufen in derbem Schuhwerk herum. Daher sind sie für die Intellektuaille auch immer ein Gegenstand gemeinsten Hohnes gewesen.
Wir wollen es der Gerlachschen "Welt am Montag" nicht vergessen, was sie in einem Lambach-Artikel am 30.Juli 1928 schrieb:
"Natürlich gibt es noch Herzensmonarchisten; besonders zahlreich sind ihre Anhänger unter den älteren Jungfrauen, die ihre verdrängten Sexualkomplexe durch Hohenzollernverehrung abreagieren!"
Lieber soll man dreckige Bücher lesen. Im ersten Märzheft des Großmannschen "Tagebuchs" von 1929 stand gedruckt:
"Ganz unentbehrlich ist für die Jugend jedenfalls der Schmutz. Es steht in Wirklichkeit so, daß die Phantasie junger Menschen im Pubertätsalter und noch etwas nachher schmutzig ist - und diese Phantasie bedarf der Schmutzschriften, um ihre Erregungen auf unschädliche Art abzureagieren. Für die Jugend bedeuten Schmutzschrift ebensoviel und noch mehr wie für den Erwachsenen Zoten."
Man muß sich immer wieder die Augen reiben: welche Zeiten haben wir durchlebt!
Wir brauchen nicht prüde, nicht unnatürlich, nicht reaktionär zu werden, der Hans soll nach wie vor seine Grete finden, das deutsche Mädel auch nicht zur Nonne werden, aber daß solche Blätter jetzt abgewürgt sind, das ist ein Werk der Lebensrettung an unserem Volke. Damit allein, auch mit den Korruptionsprozessen, ist es freilich noch nicht geschafft, auch das liebe Brot ist nötig, Arbeit ist nötig, damit wir wieder auf gesunde Gedanken kommen. Und auf wirklich fröhlichen statt des bloßen Galgenhumors, der in dem Berliner Liedchen vom Sozius gipfelt:
Die Trommel schlug zum Streite, |
Das Alte ist wirklich am Verschwinden. Nicht nur Straßennamen und Denkmäler, die die Novemberlinge geschaffen haben, verschwinden auf höheren Befehl, sondern auch manche Erinnerung ganz freiwillig und lautlos. In dem Hauptsaal des Pilsener, das im Seitenflügel des Hotels Exzelsior in der Anhaltstraße neben dem Thomasbräu sich befindet, einem stark besuchten Lokal, da zur Zeit in Berlin wieder das Bier dem Wein den Rang abläuft, gab es an den Wänden al-fresco-Bilder zu sehen. Ansichten und Männer von Berlin. Und nun, man traut seinen Augen kaum, ist in einer Nacht von Heinzelmännchen das Porträt des weiland Oberbürgermeisters Böß plötzlich überstrichen worden und somit aus der fixierten Geschichte des Hotels Exzelsior und seines Besitzers Elschner verschwunden . . .
Manchmal möchte man, wenn man Tag um Tag und Woche um Woche an Berlin gekettet ist, gern wissen, ob es draußen im Lande ähnliche Umwandlungen gibt.
Nur - wie kommt unsereins dahin?
Aber da sind liebe Bekannte, die haben ein kleines Auto und drängen schon lange. Am letzten Sonntag, bei richtigem Schnürlregen, haben sie uns endlich einmal verstaut. Los zur Fahrt ins Blaue, auch wenn alles grau in grau erscheint! Wir verfranzen uns natürlich auf Waldwegen über den Kummersdorfer Schießplatz, denn wir haben keine Karte mit, nur ein unbekümmertes Herz. Tut nichts. Wir kommen an Dörfern vorbei, da exerzieren im Regen Stahlhelmer oder da marschieren Kolonnen von Braunhemden. Überall frohe Gesichter und freundliche Auskunft.
Auf einmal sind wir in der nächsten Garnison, dem Städtchen mit den alten Toren und Türmen, dessen Wahrzeichen stets die draußen an einem Baume hängende Keule mit der heute veralteten Inschrift war: "Wer seinen Kindern gibt das Brot - und selbst im Alter leidet Not - den schlagt mit dieser Keule tot!" Ach, da müßten viele heute totgeschlagen werden. Wir von unserer Generation tun ja alles für die nächste. In dem Städtchen ist nicht viel Geld, fast jedermann hat schon am 1.Mai die letzten überzähligen Groschen beim Festtag der Arbeit für ein ordentliches Glas Bier hergegeben, aber nun tröpfelt, nun strömt es doch von allen Seiten zum Turnierplatz: großes Preisreiten!
Die junge Frau, deren Mann das Autochen gehört, sitzt mit roten Wangen und leuchtenden Augen da. Sie hat noch nie die Zeit oder das Geld für ein Pferderennen oder ähnliches gehabt. Sie hat lieber fleißig ihrem Manne in seiner Berufsarbeit geholfen - und nun ist es hier so schön, ach, so wunderschön.
Berittene Bauernburschen von den ländlichen Reitervereinen, Offiziere und Mannschaften von der Kavallerie und der Artillerie, Gespanne verschiedenster Art unter Zivilisten konkurrieren. Es gibt manchmal ein begeisterndes fehlerloses Daherfegen über alle schweren Hindernisse. Und dazwischen natürlich eine Gymkhana, einen Ulk. Leute kommen in Sporthose mit nackten Beinen auf ungesattelten Pferden dahergesprengt, springen ab, stecken den Kopf in Wassereimer, fischen mit dem Munde eine Zitrone daraus, sitzen auf und galoppieren davon, kehren zurück, sind im Nu wieder unten, zünden sich eine Zigarette an, satteln und müssen nun mit brennender Zigarette um die Wette das Ziel erreichen.
Husch, husch. Vorbei. Wieder in Berlin, wieder große Politik.
Aber gelegentlich auch eine kleine, ganz unpolitische Freude. Jetzt an der sogenannten Buchstabiertafel für Ferngespräche, die bisher so alttestamentarisch klang. Das ist nun umgeändert. Wir hören also nicht mehr: D wie David, J wie Jakob, N wie Nathan, S wie Samuel, Z wie Zacharias. Hatten wir das wirklich so nötig?
18. Mai 1933 (Donnerstag)
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Die himmlische Schulzeit - Unsere Mädels ändern sich - Sammelbüchsen auf Schritt und Tritt - Auf der Großen Landwirtschaftlichen Ausstellung - Pläne für die Sommerreise - Bonifazius Folli - Via triumphalis - Der Kleinprofit-Komplex.
"Ist es nicht eine himmlische Zeit heute?", zwitschert eine kleine Fünfzehnjährige.
Also zuerst habe man überlebensgroße Osterferien gehabt, das Semester habe erst am 2.Mai angefangen. In der jetzigen Woche Dienstag Wandertag, Donnerstag Himmelfahrt, Freitag Schlageterfeier. Vom 1. bis zum 9.Juni die Pfingstpause, und schon am 29.Juni Beginn der großen Ferien. Ein solches Vierteljahr sei bisher nicht dagewesen.
"Es ist so schön in der Schule wie noch nie! Das haben wir alles unserem Hitler zu verdanken!"
Na, na. Der preußische Kultusminister Rust ist da doch der Zuständige. Einerlei. Ich schmunzele nur fröhlich und schweige.
Es ist nämlich wirklich etwas Schönes um diese jugendliche Begeisterung, um diesen Jubelrausch, der so gar nichts mit der Geschäfts-Byzantinerei zu tun hat. Da erlebt man Dinge, Dinge, sage ich Ihnen - also das Schnitzel à la Hitler ist noch das geringste, das Schnitzel mit Ei, auf dem sich ein Hakenkreuz aus Heringsrogen befindet; von den Hitler-Drops mit Hakenkreuz habe ich schon im vorigen Sommer erzählt.
Also es ist, wenn man den Händlerkitsch der sich überstürzenden Geschäftswelt streicht, wirklich etwas Schönes um den hellen Frohsinn der Kinder. In den letzten Jahren war es zum Verzweifeln, niemand in der Schule hatte noch Lebensfreude, jetzt aber keimt überall wieder die Hoffnung, daß man nicht umsonst lebt, sondern etwas erreicht. Von allen Seiten erzählen mir Berliner Lehrer und Lehrerinnen, daß das Arbeiten in den Schulen viel leichter, die Schülerschaft viel lenkbarer geworden sei. Viele Abiturientinnen verzichten heute freiwillig auf das Studium, freuen sich des Werkhalbjahrs, interessieren sich für Kochen, stürzen sich mit Juhu aufs Schneidern und Handarbeiten, gehen voll Eifer an den Gartenbau.
Aus einer der bisher verrufensten Berufsschulen in Berlin-Neukölln, in der ungelernte Arbeiterinnen unterrichtet werden, höre ich, daß früher rabiat kommunistische Mädels heute um den Finger zu wickeln sind.
Natürlich gibt es auch unter ihnen noch Verbissene. Zu einer nationalen Schulfeier - Beteiligung freigestellt - kommen neulich fünf dieser unbelehrbaren Knallroten. Sobald das Deutschlandlied ertönt, erheben sie sich ostentativ, verlassen die Aula und hauen die Tür zu, daß es kracht. Aber das sind schon Ausnahmen. Die Mehrzahl hat sehr schnell begriffen, daß man national sein muß, und daß national sein für sie bedeutet, sich anständig zu benehmen. Das gibt Berufsfreudigkeit auch für das Lehrpersonal.
Daß heute kleine Hosenmätze mehr über Politik als über Mathematik sprechen, muß man freilich in den Kauf nehmen. Das ist vermutlich in anderen Städten genau so wie in Berlin, in anderen Staaten genau so wie in Deutschland. Und nun gar Politik - mitmachen, nicht nur bei einer der ungezählten öffentlichen Kundgebungen, sondern richtig, ganz richtig! Wenn gelegentlich Vierzehnjährige mithelfen können, bei irgendeiner politischen oder sonstigen Razzia Straßen abzuriegeln, so ist das natürlich viel aufwühlender als Indianerspielen.
"Überhaupt, es ist immer was los!", sagt mit leuchtenden Augen das Jungvolk.
Wenn nichts anderes, dann wenigstens Geldsammeln. Überall klappert es. Ich gehe auf die Große Landwirtschaftliche Ausstellung, und es vergeht während der Stunden dort kaum eine Minute, wo ich nicht angeklappert werde. "Für die Krankenhäuser in den deutschen Kolonien!" Ich belehre das junge Mädchen, daß es leider sagen müsse, in den "ehemaligen" deutschen Kolonien, aber es starrt mich nur verständnislos an. "Für die S.A.-Küche!" rufen und sammeln Braunhemden. "Für die schwarzweißrote Front!" ebenso eifrig Blauhemden. Dann stehen Feldgraue da und wiederholen ständig: "Für die Stahlhelmlotterie!" Auch Hallelujah-Mädchen schwirren umher: "Für die Armen der Heilsarmee!" Und schon wieder einer: "Für die N.S.-Volkswohlfahrt!" Dazwischen gibt es noch Margueriten-, Edelweiß-, Kornblumentage für allerlei Zwecke, und jedermann muß sich etwas anstecken, um nicht an der nächsten Ecke wieder gebrandschatzt zu werden.
Nun gut, das ist Groschensache, aber es wird auch stärker an den Gemeinsinn appeliert; bei einer Großbank erscheinen neulich die Vertreter einer Organisation und erbitten 1½ Millionen Mark bar und blank auf den Tisch des Hauses. Das ist schon fast zum Piepen. Wenn der Benzintank leer ist, kann man mit dem Ankurbeln allein nicht weit kommen.
Nichtberliner, die in dieses Treiben hereingeraten, finden es zum mindesten lästig. Aber die Große Landwirtschaftliche Ausstellung in den Riesenhallen und dem Freigelände am Funkturm, ja, die finden sie allesamt überwältigend.
Ich selber bin so überwältigt, daß ich nicht in der Lage bin, den vielen Bitten zu entsprechen, doch die Weine auf Stand Nummer Soundsoviel (man sei doch getreuer Leser!) oder den neuen Gemüseschäler fürs Haus oder den Kaltblüterhengst in der und der Box des einen großen Zeltes oder die prima Markenbutter der Molkerei Soundso zu würdigen und zu erwähnen. Herrschaften, es sind rund 15 000 Aussteller hier vertreten! Ich will mich nicht mit allen verkrachen, indem ich vielleicht ein Dutzend von ihnen ("Aber bitte, im Plauderton!") nenne.
Die Gartenbauausstellung in Halle 1 ist herrliche Poesie, ist mit ihrer mächtigen Birkenallee in der Mitte auch architektonisch ein Meisterwerk. In der landwirtschaftlichen Ausstellung habe ich mich vor allem in den Anschauungsunterricht vertieft, den das zahlreiche verbildlichte Material dem ahnungslosen Städter vermittelt, der noch nicht einmal weiß, daß der Wert unserer Milchproduktion den unserer Kohlenförderung übertrifft. "Hat der Bauer Geld, hat's die ganze Welt!" müßte in Riesenlettern darüber stehen, und das ist ja auch das A und das O dessen, was Hitler im Reichstag und am 1.Mai auf dem Tempelhofer Felde, Hugenberg bei der Eröffnung der Ausstellung selbst gesagt hat: man mache die Landwirtschaft, indem man den ungeheuren Preisverfall aufhält, wieder rentabel, dann kann sie dem Handwerker, dem Kaufmann, dem Industriellen ein besserer Abnehmer werden als das gesamte Ausland, und die Arbeitslosigkeit geht in schnellem Tempo zurück. Es kommt nicht darauf an, daß die Butter billiger wird, als der Bauer sie liefern kann, sondern daß wir alle genügend verdienen, um sie zu bezahlen.
Natürlich kann ich die Jagdausstellung mit ihren herrlichen Trophäen, darunter Geweihen aus der Hohenzollern-Sammlung vom Jahre 1415 an, trotz Sondereintrittsgeldes nicht umgehen, natürlich interessieren mich auch Siedlungshäuschen und Kleingärten, selbstverständlich sind die Maschinen zur Herstellung von Kartoffelflocken oder Hundekuchen, mitten in ihrer tosenden oder schnurrenden Arbeit zusehen, für mich ein Wunder; aber am meisten zieht es mich doch diesmal zur Kolonialabteilung, denn uns Deutschen liegt nun mal die Sehnsucht ins Weite im Blute, und Peters und Wißmann und die anderen kolonialen Pioniere habe ich einst noch selber gesprochen.
Also das Statistische gleich rechts über den Verkehr mit unseren ehemaligen Schutzgebieten - leider ist der Verkehr stark rückgängig - stimmt etwas wehmütig. Und trotzdem: sobald ich die Schiffsmodelle und alles übrige der Woermann-Linie, der Deutschen Ostafrika-Linie sehe, mit der ich auch einmal gefahren bin, erwachen sofort brennende Wünsche. Wieder einmal! Die Hochsommerferien rücken immer näher, auf einem deutschen Seeschiff kommt das Geld nur der deutschen Wirtschaft zugute, also wie wäre es, wenn ich wenigstens die Fahrt Hamburg-Genua machte? Bessere Luft und mehr Sonne habe ich nirgends, in der verleumdeten Biscaya habe ich persönlich stets gutes Wetter gehabt; man könnte Tetuan in Spanisch-Marokko sich ansehen, von Malaga aus unsere Freundin Frau Maria in Cartagena oder noch einmal die Alhambra in Granada aufsuchen, in Soller auf Mallorca mal dem guten Deutschen Don Pablo die Hand drücken, und das Ganze ist heute nicht einmal teuer bei den gesunkenen Passagepreisen. Her mit dem Atlas! Den ganzen Abend habe ich wieder nur Geographie ferner Meere geträumt . . .
In der Ausstellung selbst, vor dem "Historischen" mit den Erinnerungsstücken an die Zeit, wo schon unter dem Großen Kurfürsten die brandenburgische Kolonie Kamerun erstmalig begründet wurde, steht ein ehemaliger Schutztruppensoldat in Uniform mit Schlapphut. Man sieht lebende Kaffeebäume und allerlei sonst noch, Sisal roh und in seidigen Fasern und als Schiffstau, Maschinen, Pflanzungen in Miniatur, und am Lagerfeuer singt eine Gruppe junger Kolonialpfadfinder, deren Halstuch auf dem über den Nacken hängenden Dreieck den "schwarzen" Erdteil mit vier weißen Flecken zeigt: Togo, Kamerun, Südwest, Ost. Halt: da drüben steht ein bronzebrauner Asker, der unter Lettow-Vorbeck vier Jahre lang unbesiegt gegen 31fache Übermacht focht. Und da und da und da: noch andere Neger. Bei einem wundert sich eine kleine Berlinerin mit blonden Zöpfen, daß er, obwohl sonst dunkel braunschwarz, ganz helle innere Handflächen hat wie wir.
Jawohl, sage ich ihr, auch die Fußsohlen sind weiß. Und bitte, lieber Bonifazius Folli, zeig' mal deine Zunge! Alles im Munde rosa wie bei uns. Ja, sage ich dem Mädelchen, nun sollten Sie erst ein neugeborenes Negerlein sehen! Nach der Geburt zunächst weiß wie wir; aber schon nach wenigen Stunden beginnt das Nachdunkeln, wie frischer geriebener Apfelbrei nach wenigen Minuten braun wird.
Folli grinst:
"Bei Erschaffung der Welt war Inflation, man konnte keine Seife kaufen, so blieben wir schwarz!"
Den guten Bonifazius Folli habe ich, in Kawaß-Tracht, zuletzt im "Ambassadeurs" in der Hardenbergstraße erlebt, da war er Kafedschi. Einst, vor dem Kriege, war er in Togo Küchenboy des Herzogs Adolf Friedrich zu Mecklenburg, als dieser dort als Gouverneur residierte. "Ambassadeurs" ist jetzt wie so vieles in Berlin pleite; und das Mutterhaus, wenn man so sagen darf, die "Barberina" daneben, gehört einer schwedischen Gesellschaft, die dabei auch nicht mehr fett wird. Folli aber grinst und lebt von allerlei Gelegenheitsarbeit. Er geht auch ins orientalische Seminar der Berliner Universität, um ein bißchen Hilfslektor zu spielen, wenn die Ewe-Sprache gelehrt wird. Aber wer studiert denn heute noch so etwas? Dann schon eher Suaheli, denn ins ehemalige Deutsch-Ostafrika ziehen doch noch mehr Deutsche.
Was an Reklame für den Besuch der Ausstellung gemacht werden kann, wird gemacht. Alle Berliner Fernbahnhöfe und die Straßenbahnwagen sind beflaggt. Auch das Brandenburger Tor. Von da ab, die Charlottenburger Chaussee und den Kaiserdamm entlang, eine via triumphalis, bunt wie in Italien, mit Grußtransparenten an die Landwirte. Alle 100 Meter weit, immer wieder, quer über die Straße eine Girlande von je 40 Hakenkreuzwimpeln. Da sieht der Landmann gleich: es ist doch verschiedenes anders geworden. Abends beim Bier liest er auch keine höhnischen, feindseligen Artikel mehr in der Asphaltpresse; Berliner Tageblatt und Tante Voß haben sich mit einem Salto auf den Boden der gegebenen Tatsachen gestellt und schreiben geradezu antisemitisch. Nur gegen Hugenberg läuft gelegentlich eine versteckte kleine Bosheit unter, denn das glaubt man straflos tun zu können.
Es scheinen mehr Landwirte in Berlin zu sein, als man zu hoffen gewagt hat, jedenfalls machen die Hoteliers und die Pensionsbesitzer seit langer Zeit zum erstenmal keine ganz so sorgenvolle Gesichter mehr. Kleinere Gasthöfe, die in den letzten Monaten nur 20 bis 25 Prozent ihrer Betten belegt hatten, bringen es jetzt auf 70 bis 80 Prozent. Nur verzehren die Gäste sehr wenig. Sie sitzen, wenn sie nicht auf der Ausstellung sind oder in den Ämtern antichambrieren, meist in der Halle, lesen eine Zeitung und verbrauchen allenfalls gratis ein paar Streichhölzchen. Zum Teil sind sie vom Kleinprofit-Komplex befallen und stecken sich auch etliche ein.
Wieviel sind "etliche"?
Unsere Gerichte haben einmal entschieden: so viel, als man ziffernmäßig beim ersten Blick sicher noch taxieren kann. Das seien 7 Stück. Wer sich also 7 Streichhölzer einsteckt, der ist ein Gentleman, wer sich aber 8 nimmt, der ist ein Dieb.
Den Kleinprofit-Komplex haben häufig Damen, die auf Reisen aus dem Auslande drei Stück Seife oder sonst eine Kleinigkeit hereinschmuggeln, weil sie daran 20 Pfennige ersparen, auch wenn das Gefahrenrisiko 20 Mark und den guten ehrlichen Namen umfaßt. "Lieber den Magen verrenkt, als dem Wirt was geschenkt!", sagen sie und löffeln im Restaurant die fetteste Tunke aus oder werfen sich, auch wenn ihnen nachher übel wird, sechs Stück Zucker in den Kaffee. Und dann verfahren sie mit einer Autodroschke 3½ Mark, weil irgendwo in Berlin N ein Vorhang oder sonst etwas 2 Mark billiger zu haben sein soll als in Berlin W.
In jeder Ehe gibt es Kleinprofit-Komplexe. Zu den kleinen Profiten gehört auch - das letzte Wort.
24. Mai 1933 (Mittwoch)
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Der Sommer ist da - Auf der Juvena-Insel - Die Chorführerin und ich - Am Schlageter-Tage von oben - Umsonst gefallen - Ein alter Stummfilm - Deutsche "Treue" - Kunstabend bei Bronsgeest-Bergin - Ingeborg Engström und Hilde Kretschmer - Ausflug am Skagerrak-Tage.
Früher, das sprach sich bis zu den Witzblättern herum, war das in Berlin so, daß, wenn es Ende Mai einmal blauen Himmel gab, der Gastwirt sagte: "Aujust, drag den Jarten raus!" Dann kamen zwei Lorbeerbäume in Kübeln auf den Bürgersteig, dazu ein Geländer mit künstlichem Weinlaub aus Papier, dahinter einige Tischchen und Stühle.
Das ist heute anders, nämlich die Eröffnung des Sommers wird draußen in der wirklichen Natur vorgenommen.
Es ist schon kurz vorher mit dem Berliner Frühling so. Draußen, ganz draußen, wo die aufgelegten Segeljachten, neu kalfatert und, wie der Seemann sagt, "gemalen", zu Wasser gelassen werden. Oder wo die modernen Ehen mobil werden, die da heißen: Zweizimmerwohnung, Motorrad, Klepperboot. Offiziell von dem Berlinertum anerkannter Sommer aber ist dann, wenn nach dem Rausch in Werder und nach dem Außenskat zu Himmelfahrt das Juvena-Boot vor dem Strandbad Wannsee festmacht. Diesmal nennt es sich sogar Juvena-Insel, sieht aus wie ein Schwimmdock oder wie F.P.1, etwas verkleinert. Jedenfalls haben 1200 Personen an Deck Platz, wenn sie es sich ganz gemütlich eng machen. Ständig an Bord sind der Käptn, der aber keiner nautischen Kenntnisse bedarf, vier "Rettungsschwimmer", die im allgemeinen wohl nur rein Schiff zu machen haben, zehn Mannequins, die Badekostüme der Firma vorführen, und allerlei sonstiges Personal.
Diese schier amerikanische, in der liebenswürdigen Einzelausführung aber deutsche Riesenreklame imponiert. Dabei sind nur 8 Prozent der Produktion der Chemnitzer Firma Bade- und Strandanzüge, das übrige Wäsche überhaupt. Vorsichtshalber habe ich mich schon im vorigen Jahre, als es noch keine "Insel", sondern nur ein "Boot" war, bei den Repräsentanten erkundigt, ob es ein wirklich deutsches Geschäft sei. "Aber ja, ganz bestimmt!" Und doch kamen dann Postkarten von zwei Lesern, worauf stand, nur die Angestellten seien deutsch, der Inhaber aber nicht, und zudem verbringe er das Geld in der Schweiz. Wie soll unsereins das nachprüfen? Und wie kann man als Berichterstatter alles Fesselnde totschweigen?
Ich selbst kümmere mich um die Reklame nicht. Ich gehe in Berlin einfach in einen unzweifelhaft deutschen Laden und suche mir irgend etwas Passendes aus, ganz gleich, ob es Ribana, Wegena, Juvena oder sonstwie heißt. Die Fabrikmarken - die Libelle, den Goldfisch, die fliegende Trikotnixe, die Boje, den Pleitegeier, die Fähnchen, den Delphin oder was es ist - lasse ich mir zu Hause sofort heraustrennen. Aber das muß ich freilich sagen: Die Eröffnung des Sommers auf der Juvena-Insel war ein Berliner gesellschaftliches Ereignis.
Der Berliner Chef und die Chorführerin der Mannequins sind die humorvollen Conferenciers am Sonnabend voriger Woche. Dazu hält der nationalsozialistische Direktor des Strandbades Wannsee, Finselberger, in S.A.-Uniform eine Ansprache.
Mir gefallen an der Bademode von 1933 (in einem Ulkspiel wurden vorher die von 1883 gezeigt) besonders die angeknöpften, glockig geschnittenen, ganz kurzen Luftbadehosen. Das kaschiert etwas den prallen Oberschenkelschluß der Trikots, mildert das Aussehen zu dicker oder zu dünner Beine und erlaubt den Damen trotzdem, sich ganz dem Licht auszusetzen. Dazu kommt die patentierte Erfindung der Sonnenschnur, die ein völliges Entblößen des Rückens in der Sonne ermöglicht, ohne daß der Badeanzug lose sitzt; also der Anblick bleibt dezent.
Dann interessiert mich noch etwas ganz anderes, darnach will ich fragen; also ich stehe von Kaffee und Kuchen auf und gehe zur Chorführerin, dem netten Fräulein Grund. Publizisten sind nun mal gründlich. Aber auf das Publikum scheint das den Eindruck zu machen, als wenn im Theater ein Schwerenöter und Genießer aus dem Parkett sich plötzlich an die Rampe der Bühne begäbe und der Prima Ballerina etwas zuflüsterte. Das verehrliche Berliner Publikum wiehert und klatscht - wie es glaubt, verständnisinnig - in die Hände. Das schlanke Fräulein Grund zerreißt aber sofort alles Zweifelhafte, indem es mit seiner klaren Stimme den versammelten Fleischbeschauern zuruft:
"Der Herr hat eben gefragt, woher die Sandalen unserer Vorführdamen stammen. Es sind Gummisandalen, nicht von unserem Hause, sondern von der Firma Phönix."
In der Tat, das habe ich gefragt, und nicht etwa nach der Adresse irgendeines der Juvena-Mädchen, die von den Locken bis zu den Knöcheln hier von dem Publikum gemustert werden. Es kommt nämlich nicht nur auf das Kleid, sondern auch auf Hut und Handtasche und Schuhe an, nicht nur auf den Badeanzug, sondern auch auf die Kappe und die Sandalen, und was ich bisher an Sandalen in den Bädern dreier Erdteile gesehen habe, das war entweder unpraktisch oder unschön, - selbst wenn (o du kostbare, junge, schwarzweiße Italienerin im Hotel Jensch in Sestri Levante) die entzückendsten Zehen daraus hervorlugten. Und hier habe ich eben zum erstenmal den Eindruck: diese Sandalen sitzen vollkommen gut und sind trotzdem schön. Wir schwojen langsam am Anker, die Sonne leuchtet gegen eine ferne Gewitterwand. Das Odol-Luftschiff (der kleine Zeppelin) und das Trumpf-Flugzeug umkreisen uns ganz niedrig. Also Eröffnung des Sommers, aber mit Reklame ringsum.
Man muß einmal über Berlin stehen, frei von dem allen. Irgendwo, wohin der "Betrieb" nicht dringt. Am Schlageter-Tage habe ich mich hinauf zum Dachgarten des elfstöckigen Europa-Hauses geflüchtet. Da ist Berlin weit weg, da brummt es nur ganz leise herauf. Ein junger Leutnant ist dabei, der von einem märkischen Rittergut stammt und hier zum erstenmal überwältigend den Begriff "Weltstadt" einatmet, wenn er über das steinerne Schluchtengewirr herniedersieht, begrenzt durch Havelberge und Müggelberge. Am Schlageter-Tage ist Berlin beflaggt wie noch nie; das Farbengewimmel an den Häuserfassaden in den Straßen selbst bleibt einem hier verborgen, aber dafür überschaut man alles, was an senkrechten Stangen mächtig auf den Dächern rauscht. Das ist ein Jubilieren im leichten Winde, das ist frohes Bekenntnis eines Volkes zu dem Stolz auf Heldentum und Vaterlandsliebe.
Schlageter starb nicht umsonst.
Das Wort "Umsonst!", das uns seit 1918 immer wieder anfiel wie ein räudiger Hund, ist erledigt. Keiner von den zwei Millionen Toten des Weltkrieges fiel umsonst. Es war auch nicht "umsonst", daß Hunderttausende daheim entkräftet der Grippe oder der Hungerblockade erlagen. Ebensowenig, wie es umsonst war, daß Major Schill allein mit wenigen Leuten sich "unbesonnen" gegen Napoleon und die Franzosen erhob, die ihn hinrichten ließen und seinen Kopf in Spiritus mitnahmen. Denn aus dem Blute der Schillschen Offiziere und aus der Galeerenstrafe der Schillschen Soldaten - die Franzosen sind in allen Jahrhunderten immer dieselben geblieben - wurde unser Befreiungskrieg geboren. Auch heute sind wir auf dem Wege, nicht zum Kriege, aber zur Freiheit.
Wir tasten noch auf diesem Wege. Manche Schritte sind unsicher, sind ein Versuch, festzustellen, wo es guten Boden gibt. In der Kunst, Bühne und Film, merkt man das am deutlichsten.
Von früher her ist freilich geblieben, daß die Kunst nach Brot geht. Das beste Theaterstück ist unnütz, wenn nur Freibilletler es besuchen. Der erhebendste Film ist niederdrückend, wenn das Kino leer ist. Soll man noch irgendeine "Klärung" abwarten? Hofft man auf eine Änderung des Geschmacks? Es scheint, daß die Produktion, um nicht in der Eile einen Fehltritt zu tun, sich zur Zeit stark zurückhält. In dieser Lage, wo man nur vorsichtig Fuß vor Fuß setzt, hat die Ufa - sagen wir, in einer Pause des Verschnaufens - ein eigenartiges Experiment gemacht, nämlich einen alten Stummfilm wieder vorgebracht, Thea v.Harbous 1. Teil Nibelungen, Siegfrieds Tod.
Weshalb? Nur deshalb, weil der Kultusminister Dr. Goebbels neulich gesagt hat, dieser Film gehöre zu den drei schönsten, sie er in seinem Leben gesehen habe? Das Wort kann ich dem Dr. Goebbels nachfühlen. Vielleicht hätte ich auf Anhieb ähnliches geäußert.
In irgendeinem alten Bande meiner Berliner Plaudereien steht eine begeisterte Schilderung dieses Films und seiner Verfasserin, auch der Regie ihres Gatten Fritz Lang. Nur geht es einem manchmal so: man erzählt jahrelang seiner Frau, so wohlschmeckenden Königsberger Klops, wie man ihn als Kind bei der Mutter gegessen habe, habe man nie wieder gefunden, und wenn man dann wirklich wieder einmal zur Mutter kommt und Königsberger Klops kriegt, ist er nicht besser als im eigenen Hause oder irgendeinem Gasthof.
Ähnlich mag jetzt für manche das Wiedersehen mit Siegfrieds Tod gewesen sein.
Ganz wundervoll, photographisch meisterhaft auch noch heute die ersten rein märchenhaften Szenen. Dann kommt das eigentliche Drama, das Brunhild heißen müßte, diese tolle Frauengeschichte aus wilder Vorzeit, die zur Ermordung Siegfrieds führt, die Hagen als übergetreuer Knecht seines Königs Gunther ausführt, so wie es etwa in der Ära der Merowinger häufig vorgekommen sein mag. Der Ausklang heißt wieder "Rache!", und wir wissen aus Sage und Geschichte, daß nun das Gemetzel durch des Hunnenkönigs Attila Scharen folgen wird. Und da ist der Zwiespalt schon da. Man versteht als moderner Mensch Brunhild, den rasenden Liebeshaß ihres Betrogenseins, und man soll doch eigentlich, darauf hin sind wir seit der Schulzeit erzogen, für die auf Siegfrieds Liebesnacht bei Brunhild stolze (!) Kriemhild und den dank dem Tarnhelm als Betrüger auftretenden Siegfried schwärmen.
Thea v.Harbou tut alles, was sie kann, um diese Schwärmerei zu begünstigen. Aber es gelingt ihr nicht mehr, trotz allen Strahlens . . .
Offen gestanden, wir sind nicht erhoben, sondern bedrückt. Der Bizeps und der federnde Schwung Siegfrieds genügen nicht. Wir gedenken schwer atmend der alten deutschen Geschichte, die nicht ein Hohelied der Treue, sondern eine Kette von lauter Untreue war. Nirgends hat es so viel Gegenkönige, so viel Verrat, so viel Dolchstoß oder Speerwurf von hinten gegeben, von der Völkerwanderung an bis zum Revolutionsnovember.
Wir haben immer nur die Treue als Ideal gesucht und von ihr gesprochen, weil wir sie nicht hatten. Nicht Geschichtsschreiber, sondern Romantiker beteuern ihr Dasein auf deutschem Boden.
Im übrigen ist der stumme Film auch jetzt noch genau so eindrucksvoll wie der tönende. Es bedarf zum Verständnis der Handlung keiner gesprochenen Worte, keines Keifens der Königinnen, keines Fauchens des Drachens, keines Hammergedröhns in der Schmiede. Die in Druckschrift erscheinenden Texte reichen aus.
Eine Säuberung in Literatur und Schaustellung war notwendig, aber mit der Rückkehr zu Mutters Königsberger Klops ist nicht alles geschafft. Viel wichtiger ist die Frage: wie schaffen wir unseren Künstlern wieder ein Publikum und wie schaffen wir unsern Künstlern wieder Brot? Ihrer drei Viertel sind doch heute Wohlfahrtserwerbslose oder lassen sich von alten Eltern durchfüttern oder machen irgendwelche Schwarzarbeit. Manche unter ihnen kommen da auf die sonderbarsten, zuweilen leidlich erfolgreichen Ideen. Bekomme ich da dieser Tage eine Einladung von Bronsgeest zu einem Abend - Eintrittspreis, wozu Tee und Kuchen gereicht werde, 2 Mark - in seinen und des Baritonisten Bergin Musiksalon.
Aha, denke ich, Cornelis Bronsgeest, den ich kürzlich als Regisseur im Funkhaus erlebte. Der Mann, der eben um einer jungen SEkretärin willen Frau und Kind verlassen hat. Das kann ja recht interessant werden.
Aber es ist Hendrik Bronsgeest, der um 16 Jahre jüngere Bruder, - ich bin im ersten Augenblick perplex, als ich ein bis dahin mir völlig fremdes Gesicht sehe. Auch Hendrik ist Sänger von Ruf, singt richtig in sieben Sprachen und hat vor einiger Zeit in der japanischen Botschaft sogar japanisch gesungen, aber für die sieben Sprachen finden sich in Berlin nicht sieben Theater oder Konzertsäle, sondern Hendrik Bronsgeest muß mit seinem Freunde, dem ebenfalls sehr sympathischen Bergin, wöchentlich etwa dreimal Kunstabende in der gemeinsamen, hierzu geschmackvoll ausgeräumten Fünfzimmerwohnung in der Kaiserallee veranstalten. Abende, an denen gute, aber in der großen Öffentlichkeit unbekannte und zur Zeit beschäftigungslose Künstler auftreten, deren Verwandten- und Bekanntenkreis dazu erscheint und - hoffentlich - auch der eine oder andere Kritiker.
Es sind schöne Räume. Hie und da nur ein einzelnes altes Möbel. Ein paar gute Kopien an den Wänden. Ein anständiger Flügel zum Begleiten. Sonst nur viel Platz für Stühle und Sessel.
Diesmal konnte ich hier die Bekanntschaft mit Ingeborg Engström, der jungen Tänzerin, Tochter eines wahldeutschen Offiziers schwedischer Abkunft, erneuern. Zuletzt ist sie, aber nur einmalig in einem Festakt, als Barberina zusammen mit Gebühr-Fridericus aufgetreten. Ihre Technik ist vollendet. Mit ihren Kinderärmchen und ihren elfenhaften Bewegungen ist sie so rührend, daß man die Salons Bronsgeest vergißt, daß man sich unwillkürlich bei Mondschein in einer stillen Waldlichtung fühlt.
Und dann die Sopranistin Hilde Kretschmer, eine Dresdnerin der Herkunft, nicht der Aussprache nach. Der Menschheit ganzer Jammer faßt einen an, wenn man hört, daß solche Menschen heute ohne Engagement sind, nur von Gelegenheitsverdienst leben. Noch nie hörte ich den "Jäger" von Brahms so innig, so neckisch, so schön. Vor einigen Jahren - Hilde Kretschmer war gerade 16½ Jahre alt - durfte sie der berühmten Eva von der Osten etwas vorsingen. Die sagte zuerst grob: "Die Stimme klingt wie ein Blechpott!", fügte aber gleich mit leuchtenden Augen hinzu: "Halte ein paar Jahre das Maul, und du wirst eine große Sängerin mit mindestens 15 000 Mark im Jahre!" Der Rat wurde prompt ausgeführt, die kleine Hilde ist eine große Sängerin geworden, aber die 15 000 Mark hängen auch heute noch im Monde.
Wir haben eine Fülle von Talenten. Nur keine Verwendung für sie . . .
Aber wir freuen uns wenigstens wieder an der eigenen Leistung und sind stolz auf den deutschen Namen. Der Kemperplatz heißt jetzt Skagerrakplatz. Königsplatz, Siegesallee, Skagerrakplatz, das ist die richtige Reihenfolge. Zum Gedenktage selbst bin ich nicht in Berlin geblieben, sondern unter Blitzezucken und Hagelprasseln durch die Lüfte davongebraust, hin nach Wilhelmshaven, wo damals die deutsche Flotte einlief, nachdem sie in der größten Seeschlacht aller Zeiten die englische geschlagen hatte. Waidwund so manches unserer eigenen Schiffe, Tote darauf und Verwundete. Aber - tapp, tapp, tapp - ganze Kolonnen englischer Gefangener (die Engländer hatten keinen einzigen deutschen Gefangenen aufzuweisen), zum Teil barfuß, mützenlos, so wie man sie aufgefischt hat bei ihren sinkenden Großmaul-Schiffen, marschieren unter Eskorte durch die Stadt, und dann in der Nacht durch die stillen Straßen Wilhelmshavens die Überlebenden unserer "Lützow" unter brausendem Gesange von der wilden, verwegenen Jagd.
Noch nie ward bis dahin England zur See niedergekämpft. Die Seeschlacht am Skagerrak, gegen eine überlegene Mehrheit siegreich durchgefochten, hat nur ein einziges Seitenstück in der Weltgeschichte: Leuthen unter Friedrich dem Großen.
Jetzt am Gedenktage in Wilhelmshaven Zapfenstreich, Parade, alles übrige - sehr, sehr schön. Aber das Erhebendste für mich eine stille Viertelstunde in der Garnisonkirche, die im Innern ein einziges, jubelndes Denkmal für unseren Jan Maat ist, für den blanken Hans, für unsere stählernen Schiffe und stählernen blauen Jungen.
1. Juni 1933 (Donnerstag)
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