"Rumpelstilzchen"

"Mang uns mang . . ."
(Jahrgangsband 1932/33)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1933

Glossen 31 - 33
6. bis 20. April 1933


31

Goebbels bei der Dacho - Gitta Alpar - Fremdenfeindlichkeit ? - Wo die S.A.-Stiefel herkommen - Beim Wohlfahrts-Arzt - Im Reichskabinett - Der andere Wind - Konfirmationsfeiern - Ein neues Deutschland-Lied.

Man braucht nicht gleich eine Tscheka mit Stahlruten aufzumachen, wie es in Hofgeismar und anderen Orten geschehen ist, sicherlich zum äußersten Mißbehagen Hitlers selbst. Es geht auch mit Liebenswürdigkeit. Da kann der neue Propagandaminister Goebbels ein so strahlendes Jungengesicht zeigen, wenn er vor den Vertretern der Dachorganisation der Filmindustrie steht, daß die Herren selbst die Rutenstreiche in seinen Sätzen sozusagen geschmeichelt hinnehmen. Das ist keine große historische Szene aus der deutschen Revolution, sondern nur ein kleines Zwischenspiel, aber es verdiente es, im Bilde für die Nachwelt festgehalten zu werden. Wie das versammelte Fett dann vor Goebbels defiliert und jeder dieser typischen Libanon-Tiroler glücklich ist, die Hand des Herrn Ministers zu erwischen! Auf einer großen Hofcour könnte man nicht glücklichere Mienen sehen.

Selbst Gitta Alpar, die nicht zur Dacho gehört, sondern bloß mitgenommen worden ist, spitzt sich auf die Hand, obwohl sie durch die Heirat mit Gustav Fröhlich doch nicht persönlich "aufgenordet" worden ist, sondern die bloß Blondgefärbte aus dem ungarischen Ghetto bleibt.

Singen kann sie, das läßt sich nicht leugnen. Darin ist sie zur Zeit eine unserer Besten. Nebenbei hat sie - hier paßt endlich das für Musik viel mißbrauchte Wort - schmissige Beine. Also ist sie als Sängerin und Tänzerin eine gute Soubrette. Am glänzendsten war sie als "Die Dubarry", geradezu sieghaft. Auch in diesem Jahr hat sie noch den Anfangserfolg vom "Ball im Savoy" gemacht. Schon vor Jahr und Tag bekam sie ein Honorar von 800 Mark für jeden Abend ihres Auftretens. Die größten Stargagen schieben die Fetten nach Möglichkeit eben "ihren" Leuten zu. Dann verlangte Gitta Alpar aber immer noch mehr, und da hatte sie den Bogen überspannt, da fand sich eines Tages billiger ein guter deutscher Ersatz für sie.

Goebbels verließ auf der Dacho-Versammlung unter einem Vorwand seinen Platz, ehe er öffentlich dieser Dame die Hand schütteln oder gar küssen mußte. Man kann sich doch vom Auslande mit einiger Geschicklichkeit distanzieren, nicht wahr?

Wir Deutschen, besonders wir Preußen, sind nie fremdenfeindlich gewesen, sondern immer duldsam.

Berlin war die Zufluchtsstätte für alle um des Glaubens oder der Gesinnung willen Verfolgten, vom Philosophen und Aristokraten bis zum Handschuhmacher und Bauer. Wir hier im Norden haben auch nie eigene Volksgenossen anderen Stammes mit Spottnamen belegt, etwa jemals von "Saubayern" gesprochen. Im Gegenteil, wir haben sie immer umarmt und traktiert. Aber wenn den wirklich Fremden jetzt der Brotkorb etwas höher gehängt wird, damit die Landeskinder nicht mehr so zu hungern brauchen, ist es uns ganz recht.

Das Kabinett Jungdeutschlands ist darin vollkommen einig, Hitler denkt da genau so wie Hugenberg; dieser hat im Bereiche der von seinen Ministerien mehr oder weniger abhängigen Gesellschaften ebenfalls mit eisernem Besen ausgekehrt. Auch aus der ganz privaten Ufa sind in hohem Bogen auf einmal 18 Fremdstämmige hinausgeflogen.

In manchen Berufen, so dem der Anwälte und Ärzte, hatten die Fremden geradezu monopolartige Stellungen inne. Darauf habe ich wiederholt hingewiesen.

Aha, schreibt nun ein Berliner Ullsteinblatt, wenn Rumpelstilzchen das sagt, so sieht man also, was der Anti-Boykott vom vorigen Sonnabend war: nicht eine Kundgebung gegen die ausländische Greuelhetze, sondern Konkurrenzmanöver. Das ist talmudische Dialektik, darauf gehe ich nicht ein.

Die weitere Brandmarkung ist ja sowieso abgepfiffen worden. Tietz macht, wie gesagt, ein großes Geschäft mit schwarzweißroten und Hakenkreuzflaggen. Und der alte Israelski von der Firma Israelski u. Robinsohn A.G., Schuhwaren-Engros und -Export, feixt und sagt:

"Nu kaufen sich die S.A.-Männer christliche lange Stiefel in deutschen Geschäften und wissen nicht, daß die Stiefel alle von Israelski sind!"

Hie und da haben Warenhäuser sich auch personell umgestellt, indem eine Reihe ihrer Aufsichtsratsmitglieder "ausgetreten" sind. Diese Tarnung ändert nichts an der Sachlage: busineß as usual, wie die Engländer zu Beginn des Krieges sagten (ich glaube, Churchill war es), also das Geschäft geht ungestört weiter. Die Zettel von den Schaufenstern sind entfernt. Der Staat und die Parteien überlassen alles Weitere der privaten Initiative, die dahinführen müßte (auch dies übrigens nach englischem Vorbilde), daß fortan in den Auslagen unserer eigenen Landsleute zwei Plakate ständig werden: "Deutsches Geschäft" und "Nur deutsche Waren".

Wir brauchen keine "echt" englischen Stoffe, keine dänische Butter, keine litauischen Eier, keine tschechischen Stiefel.

Es ist auch nicht nötig, daß unsere deutschen Mädchen und Frauen, soweit sie als erwerbslos der "Wohle" unterstehen, von nichtdeutschen Ärzten betastet werden. In Berlin sind zur Zeit überall deutsche Ärzte und Ärztinnen zunächst ehrenamtlich eingesprungen. Das Gehalt bekommen einstweilen noch die anderen. Für Nichtstun. Diese ruhigste aller Revolutionen achtet ja sogar die Kündigungsfristen.

Von den zwölf in Berlin verhafteten Krankenkassendirektoren, durchweg sozialdemokratische Bonzen, denen allerlei Übles vorgeworfen wird, besitzen 11 eine Villa und ein Auto. Die Ärzte hat man aber immer weiter proletarisiert. Die Wohlfahrtsärzte erhalten rund 170 Mark monatlich Gehalt. Wenn man das auf die Patienten umrechnet, so bekommt der Arzt in Berlin für jeden von ihnen monatlich durchschnittlich 48 Pfennige, ganz gleich, wie oft dieser in die Sprechstunde kommt oder, bei Bettlägerigkeit, sich zu Hause untersuchen läßt. Davon geht Seife- und Lichtverbrauch und alles sonst zum Beruf Notwendige ab. Der Kassenlöwe, der Wohlelöwe untersucht überhaupt nicht mehr, sondern füllt nur Formulare aus und "schreibt etwas auf", dann kann man es schaffen, wenn im Wartezimmer und im Korridor auch 60 Patienten Kopf an Kopf stehen.

Aber über manchen deutschen Arzt, manche deutsche Ärztin kommt das große Mitleid, wenn sie - 3.Hof, 4 Treppen - irgendwo hinaufgekeucht sind und sehen, unter welchen Verhältnissen heute die Ärmsten der Armen leben; und dann gibt es eine Untersuchung wie bei Privatpatienten und wohl auch ein paar gute Worte hinterdrein. Das sind nicht alles "Proleten", sondern auch ehemalige Fabrikbesitzer, Kaufleute, Schriftsteller, Gutsbesitzer, Ingenieure, ja einen leibhaftigen Grafen traf ich dieser Tage in einer Wohle-Sprechstunde, in die ich zufällig hineingeschneit war. Sie sind meist dankbar und von guten Formen.

Es gibt aber auch Wohlfahrtspatienten, die bei 37,5 Grad Temperatur oder einem kleinen Schnupfen (der Arzt kostet ja nichts!) den Doktor kommen lassen, womöglich am späten Abend, und dann auch noch schimpfen. Oder außerhalb der angesetzten Sprechstunde zum Arzt kommen, den Fuß zwischen die Tür setzen und sich den Eintritt erzwingen.

Kommt da so ein junger Fant und verlangt vormittags, eine Stunde nach Wohle-Schluß, den Arzt.

"Frieher konnte ick nich, ick bin jestan Aamd mit meine Braut ausjewesen, un da mußte ick mir erst ausschlafen heite frieh!"

So, so; aber der Arzt sei doch auch um ½7 Uhr aufgestanden, sagt das Mädchen. Darauf er:

"Der Aazt? Det is mir piepe, der muß ja. Icke nich!"

So haben sich Bismarck und der alte Kaiser die Entwicklung unserer sozialen Fürsorge jedenfalls nicht gedacht; unser Volk ist am Verwildern.

Es gibt viel, sehr viel aufzuräumen.

Die Männer, die jetzt im Kabinett zusammensitzen, wollen zusammen an alles herangehen, auch wenn sie nicht eine so homogene Gesellschaft sind, wie es wäre, wenn sie nur einer Partei angehörten.

Papen mit seiner Sondergründung "Kreuz und Adler" tanzt für die Begriffe manchen Zuschauers etwas aus der Reihe, ist aber der geistvollste Redner unter allen Ministern.

Hitler, von dessen Temperament als Volkstribun man allerlei befürchtete, hat die Kollegen durch seine ruhige Führung angenehm überrascht und arbeitet mit den übrigen Herren gut zusammen.

Seldte, der in Braunschweig vielleicht anders hätte durchgreifen können, bleibt der alte Frontsoldat auch in seiner Sprache im Kabinett. Einmal wurde er auf einen, sagen wir, unparlamentarischen Ausdruck aufmerksam gemacht. Da antwortete er: "Verzeihung, ich wußte nicht, daß ich in einer so scheißfeinen Gesellschaft bin!"

Krosigk ist wie Hugenberg große Kanone als Fachmann, war schon in Genf für alle Nationen Nachschlagebuch in Finanzfragen.

Den Gerüchten über Neuraths, des Außenministers, angeblich bevorstehenden Rücktritt bin ich an anderer Stelle, wo ich nur konnte, entgegengetreten. Womit nicht gesagt sei, daß das ihm unterstehende Auswärtige Amt nicht einer grundlegenden Reform bedürfte, auch in der Vertretung des Deutschen Reiches draußen. Nadolny-Genf ist noch ganz von stresemännischer Knieschwäche, um von vielen anderen nicht erst zu reden.

Der Reichsinnenminister Frick ist genau derselbe geradlinige Mann, wie ich ihn 1924 während des Hitler-Ludendorff-Prozesses in München kennengelernt habe, und eifrig dabei, Deutschland wieder deutsch und gesund und stark zu machen.

Ich will hier nicht sämtliche Herren einzeln aufzählen, aber ich habe nach allem, was ich höre, tatsächlich den Eindruck, daß sie vier Jahre lang zum Segen von Land und Volk zusammenarbeiten können und wollen. Nicht in der Reichskanzlei in Berlin, sondern nur draußen im Lande - bei Meckerern, Putschisten, Ämterjägern - gibt es Gefahren.

Mit dem Rundfunk, glaube ich, ist es schon besser geworden. Aber auch dort sind die Personalveränderungen noch nicht endgültig. Es gibt da Märzlinge, die noch auf Herz und Nieren geprüft werden müssen. In den Theatern weht ein neuer Wind, aber es ist noch keine Orgelmusik. Die Schule, davon bin ich überzeugt, wird am schnellsten auf deutschen Geist sich wieder einstellen lassen. Es gibt da zu viele Lehrer, die unter dem bisherigen System geseufzt haben, als daß es anders sein könnte.

Augenblicklich sind die Schulentlassenen unsere große Sorge, die, ohne eine Stellung oder eine Lehre gefunden zu haben, zu Hause herumhocken.

Gerade sind überall die Konfirmationsfeiern vorbei. Der fünfzehnjährige Sohn unseres Portiers, der mich am Montag vormittag herauffährt, ist zu meinem Erstaunen noch "ganz in Schale", schwarzer Sonntagsanzug, hoher Umlegekragen. Ja, sagt er, er sei überhaupt noch nicht zu Bett gewesen; bis 6 Uhr früh habe die Feier der Konfirmation eines Freundes von ihm gedauert. Es seien 7 Jungens und 3 Mädels dagewesen, man habe gespielt, getanzt, geklöhnt, geraucht und Punsch getrunken.

Konfirmationsfeier Berlin 1933. Das Bild sei festgehalten. Hoffentlich wird es schon 1934 erheblich retouchiert.

Vielleicht haben wir dann auch eine richtige Nationalhymne. Weder das Horst-Wessel-Lied (die deutsche "Giovinezza") noch das Deutschlandlied sähe ich in der jetzigen Form gern erhalten. Wir brauchen etwas, was die Verbundenheit aller Deutschen der Erde uns klarmacht. Einen Versuch dazu, einen recht glücklichen, macht ein Dresdener Volkswirt und Stahlhelmkamerad mit der Strophe:

Deutschland, Deutschland, du vor allem,
Was uns bieten kann die Welt,
Bist die heißgeliebte Mutter,
Die uns fest zusammenhält.
Wo auf Erden Deutsche wohnen,
Glücklich oder gramzerquält,
Klingt es: Deutschland, du mein Alles,
Du mein Alles auf der Welt!

6. April 1933 (Donnerstag)


32

Die Übertritte - Mussolini-Nobile - Gedächtnisfeier für Hünefeld - Märchenstunde in der Alten Schänke - Unsere Zwerge historisch - "Fremde" Gesandte - Dienstmädchen aus der Prima - In der Passage.

"Was, der auch?"

Das ist einer der häufigsten Ausrufe, die man in dieser Zeit der Umwälzung hören kann.

Der Abgeordnete Dr. Hugo, der in der Deutschen Volkspartei am äußersten demokratisch-kapitalistischen Ende saß, führt jetzt die letzten Versprengten der Stresemann-Dingeldeyer, soweit sie seinen Haß gegen die Deutschnationalen teilen, der Einfachheit halber gleich den Nationalsozialisten zu. Der Schauspieler und Rezitator Alfred Beierle, bisher dicker Kommunist, ein sehr begabter Mensch, den ein Mann der äußersten Rechten nach dem Kriege vor dem materiellen Untergange bewahrte, verfilmt jetzt Lessings Minna von Barnhelm.

Das sind nur zwei typische Beispiele aus entgegengesetzten Lagern. Man könnte solcher Beispiele aber viele Tausende aufführen.

Selbstverständlich freut man sich, wenn das Reichsbanner Schwarzrotgold seinen Selbstmord ankündigt, und überhaupt alles, was bisher links stand, zusammenbricht und nach rechts hinüberfällt. Der Beweggrund ist aber häufig nicht das plötzliche Anders-überzeugt-sein, nicht ein "Tag von Damaskus", sondern Feigheit und Selbsterhaltungstrieb. Man kann und soll für alle Märzlinge die Arme weit geöffnet halten, denn es sind doch deutsche Brüder, aber danach muß man aufpassen und sichten.

Unwillkürlich kommt einem der Gedanke an das Verhalten Mussolinis gegenüber dem General Nobile.

Also Nobile wollte mit dem Luftschiff "Italia", das zunächst bei uns - in Ostpommern - stationiert wurde, zum Nordpol fliegen und dort in das ewige Eis die italienische Fahne und ein faschistisches Emblem und ein Kreuz einpflanzen. Bessere Reklamesache, würde der Berliner sagen. Nobile selbst, ein sehr aufgeblasener und nervöser Mensch, konnte unglaublich viel Zigaretten rauchen, aber kein Luftschiff führen. Die Katastrophe trat pünktlich ein; bei der Suche nach den Vermißten verlor ein so kostbarer Mensch wie Amundsen sein Leben, von der Besatzung kam eine große Zahl Leute um, aber Nobile, der Kommandant, ließ sich allein vor allen anderen retten. Es gab ein greuliches Echo in der Weltpresse. Da brauste Mussolini auf, denn ein Italiener war beleidigt worden, und General Nobile wurde, auf einen Wink von oben hin, bei seiner Heimkehr in Italien wie ein Triumphator empfangen. Aber wenige Wochen später bekam er in aller Stille seinen schlichten Abschied unter Aberkennung sogar der Pension.

Über kurz oder lang wird mancher heutige Revolutionsgewinnler im neuen Deutschland wohl ähnliches erleben. Man kann schnell auf den Schild erhoben, aber noch schneller hinuntergestürzt werden. Nach einer Zeit der Läuterung wird es bekannt sein, wer wirklich aus einem Saulus zu einem Paulus geworden ist oder wer nur das alte Geschäft unter ein neues Firmenschild retten wollte. Der Berliner nennt diese Leute Beefsteaks; nämlich: außen braun, innen rot.

Alles Geschehen vollzieht sich in Wellenbewegungen. Nur hat den diesmal so jähen Anstieg kaum einer geahnt.

Einem hätte ich es gegönnt und gewünscht, daß er es noch erlebt hätte, meinem lieben Hünefeld. Er war der Treueste unter den Treuen, deren Herz für Deutschland und für ihren König schlug. Einzelne seiner Gedichte (übrigens auch solche von Bogislaw v.Selchow) müssen unbedingt in die gereinigten Schullesebücher, auch das letzte, das er am Abend vor seinem Tode, vor der 14. Operation seines ausgemergelten, zerschnittenen, granatenzerfetzten Körpers, niedergeschrieben hat. Es endet fast so wie Fürst Bismarcks verbürgter Sterbeseufzer:

"Deutschland! Deutschland! Gott, hilf!"

Daß der junge Vizekonsul Freiherr Günther v.Hünefeld, unter Verzicht auf Stellung und Gehalt, dem Kronprinzen freiwillig nach Wieringen folgte, um ihm die Verbannung zu erhellen, haben heute die meisten schon vergessen. Aber das weiß die Welt, daß er just vor fünf Jahren den ersten Ost-West-Flug über den Ozean vollbracht hat, um Deutschlands Namen zu Ehren zu bringen. Die deutsche Fichte-Gesellschaft hat dazu am Jahrestage eine erschütternde Gedenkfeier in einem Kino-Palast veranstaltet, mit Filmen, mit einem von Hauptmann a.D. Köhl vorgetragenen Bericht über diesen Flug der "drei Musketiere der Luft" und vor allem mit einem wundervollen, verhaltenen Nachruf und Rezitationen des Professors Carl Clewing, der mehr noch als ich das Anrecht auf Hünefelds Freundestitel gehabt hat.

Neben uns in der Loge sitzt das kleine Mütterlein, Frau v.Hünefeld, und natürlich rinnen ihr still und unaufhaltsam die Tränen herunter, während sie auf der Leinewand Not und Triumph ihres heimgegangenen Sohnes - der andere sitzt noch lebend hinter ihr - noch einmal miterlebt. Meine Frau streichelt ihr leise den Arm, und ich habe ihr schon tags zuvor gesagt, wie glücklich sie eigentlich darüber sein müßte, daß das, wofür ihr Sorgenkind sein Lebtag in Krieg und Frieden gekämpft habe, nun seiner Vollendung wirklich zu nahen beginne.

Das ist eine Feierstunde, wie wir in Berlin sie noch kaum je erlebt haben, und am 20. April gibt es eine neue, wenn dann Hans Johsts Drama "Schlageter" im staatlichen, so lange verdreckten Schauspielhaus aufgeführt werden wird.

Hünefeld, Schlageter, Horst Wessel: aus dem Blute dieser und anderer Märtyrer wurden wir in den letzten Jahren neu geboren.

Jeden Morgen liest man in seiner Zeitung von dieser Wiedergeburt ein weiteres Stück. Selbstverständlich ist ein solcher Akt auch im Leben eines Volkes mit Wehen verbunden. Auf den Straßen und in den Lokalen fehlen viele, die sie bisher aufdringlich bevölkerten, fehlt auch - ihr Geld. Es wird zur Zeit in Berlin erheblich weniger für Vergnügen und für Schmausen ausgegeben als vor dem 5. März, wobei freilich gesagt sein muß, daß dies nur eine Übergangsperiode der großen Verschiebung ist. Auf den Gängen, die mir diese Feststellung ermöglicht haben, bin ich auch wieder einmal, wir waren zu viert, in die "Alte Schänke" Unter den Linden Nr.16 geraten, von der ich schon einmal erzählt habe. Die Scheite im Kamin prasseln, die alten Zinnsachen glänzen. Eine Flasche vom Besten! Da kommt der Wirt:

"Sind Sie . . ."

"Nein, ich bin nicht."

"Aber Sie . . ."

"Nein, immer incognito."

Also eigentlich habe ich den guten Herrn Erich Haupt angegrobst. Mei Ruah will i hobn! Aber schließlich waren nur noch wir vier die letzten Gäste - drei Damen, ein Herr - und dazu der Wirt und von den Kellnern ein steinalter, und da erlosch das elektrische Licht, und auf unserem Tisch prangten Leuchter aus dem 16. Jahrhundert mit brennenden Kerzen, deren Flackerlicht sich mit dem des Kamins kreuzten.

Da schmolz jede Grobheit, und, kurz und gut, die dritte Flasche stiftete der Wirt, wozu es Römer gab, die auch wohl schon den Dreißigjährigen Krieg erlebt haben, und wir waren ein Herz und eine Seele.

Da sitzt der Mann bei uns, der sechs Tage in der Woche den Run auf sein Lokal zur Mittagszeit aushält, wo für 1,35 oder 1,50 Mark die Geschäftsleute der Umgegend und Fremde von Distinktion in Eile ihr Essen bekommen, dazu ein Gläschen Bier oder eine Orangeade, - der Mann, der aber Sonntags schließt, draußen in den Wald geht, in den deutschen Wald, jeden Käfer und jede Feldmaus liebt, um dann abends in seiner Sammlung von über 1200 Märchenbüchern, darunter verschiedenen Erstausgaben zu lesen. Daß eine davon ganze 500 Mark gekostet hat, darf die sorgende Frau gar nicht wissen. Und siehe da, dieser Gastwirt kennt Stellen aus Jakob Böhme und anderen Mystikern auswendig, hat zwei Bände Märchen von Ernst Moritz Arndt (wer kennt die?) gelesen, ist ein gläubiger Christ und guter Deutscher und offenbart in dieser schier märchenhaften Stunde, in der die Kerzen warm und wohlig bis um 3 Uhr nachts für uns allein brennen, uns seine Schätze, die Nürnberger Hochzeitskanne von anno Ehedem, dann eine andere aus Zinn, die 90 Pfund schwer ist, dann einen handgeschnitzten Steinkrug von 1500, und zeigt noch dies und zeigt noch jenes und ist in seiner Sammlerfreude beglückt durch unsere Freude an seiner Sammlung.

Endlich habe ich einmal einen Mann gefunden, der über Märchen und Sagen denkt wie ich, der sie "umkleidete Geschichte" nennt, übrigens ein sehr guter Ausdruck. Die Zwerge an Kreuzwegen und Klüften haben wirklich existiert, es ist die kleine gelbe Urrasse, die von Asien über Deutschland bis ins Mississippital reichte und von den germanischen "Riesen" ausgerottet oder in den Dienst gezwungen wurde. Und sie waren wirklich handfertig und geschickt, die Heinzelmännchen von damals. Bismarck hat einmal von einem Denkmal gesagt, es sei mit der Allegorie dringend verdächtigen Frauenzimmern umstellt, und ich kann diesen leisen Spott nachempfinden, weil es vor hundert Jahren Zeiten bei uns gab, wo die Romantik alles verallegorisierte, wo der historische Siegfried zur Sonne umgedeutet wurde und alle anderen Sagen auch in Naturphänomene aufgelöst. Da sitzt aber hier in "Old Inn" Unter den Linden, in der Alten Schänke, ein Mann, der sich nichts weismachen läßt: intuitiv fühlt er überall die deutsche Vorgeschichte heraus.

Draußen das Erwachen.

Das Märchen ist zu Ende. Nachts knattern die elektrischen Niethämmer an den Straßenbahngeleisen, zischt das Sauerstoffgebläse seine Gluten, tags ist dann alles, woran deutsche Arbeiterfäuste gewirkt haben, fertig, und der Verkehrslärm beginnt. Da walzen auch die großen Rundfahrtautos los. In der Voßstraße sagt der Erklärer den mitfahrenden Amerikanern durchs Megaphon: "The Bavarian Embassy!", und in der Stresemannstraße (wann wird sie wieder zur Königgrätzer?) sagt er: "The Saxonian Embassy". Da wundern sich Mister Moneymaker und Frau, daß es eine bayrische und sächsische Gesandtschaft gibt, als hätten auswärtige Staaten hier "in Preußen" ihre beglaubigten Vertreter und als gäbe es gar nicht ein einiges Deutsches Reich.

Wer hat bisher etwas von einem schottischen Gesandten in London, von einem bretonischen in Paris, von einem kalifornischen in Washington gehört?

Aber wenn ein Deutscher aus Feldafing oder Partenkirchen im Auslande nach seiner Nationalität gefragt wurde, sagte er bisher meist: "Ich bin Bayer!" Man muß sich doch partikulieren, nicht wahr, man ist, um ein anderes Beispiel zu wählen, entweder ein Frankfurter oder ein Hergeloffener.

Gott sei Dank, daß auch hier herein der Sturmwind der nationalen Revolution, der große Frühlingswind, geweht und alles Verkrustete im Handumdrehen weggeschmolzen hat: von jetzt ab gibt es nur "deutsche Reichsangehörige" in den Reisepässen, nicht Preußen oder Mecklenburger oder Thüringer oder Badenser.

Und das Reich hat in den Ländern seine Statthalter, nicht umgekehrt.

Das ist in unserer Volkwerdung ein Riesenschritt vorwärts, und das in einer Zeit der äußeren Knechtung, wo unsere Gegner es am liebsten gesehen hätten, wenn Deutschland wieder auf der Landkarte aussähe wie 1807 nach dem Frieden von Tilsit oder aus hundert Flicken lose geheftet wie 1648 nach dem Frieden von Osnabrück und Münster. Bismarck mußte 1870 bei Ludwig von Bayern die Zustimmung zum Kaiserreich erlisten, Bismarck war noch ein vom Partikularismus der Deutschen gefesselter Riese, aber 1933 sind wir endlich eine Nation geworden.

Natürlich ist das alles vorerst nur ein Rahmen, nur ein Knochengerüst, und es gehört noch Fleisch und Blut dazu, ein wieder ganz, nicht nur zu 51,7 Prozent, deutsch denkendes und - wieder seiner Arbeit lebendes Volk, in dem jeder seinen auskömmlichen Platz dort findet, wo er hingehört.

Wie war das doch mit dem Versprechen der freien Bahn für den Tüchtigen?

Gerade eben hat ein Dienstmädchen aus einem Berliner Vorort bei uns gesessen, ein schlichtes, bescheidenes Ding, das (sollte man so etwas für möglich halten!) nicht einmal tanzen kann, aber - das Gymnasium bis Oberprima besucht hat. Dieses Mädel schuftet von morgens 6 Uhr bis abends ½10 Uhr, scheuert, wäscht, kocht, stopft die Strümpfe, gibt nachmittags den Kindern Schulnachhilfe, bekommt aber für alles - und es hat auch bei der gröbsten Arbeit keine Unterstützung - nur etwas über die Hälfte des üblichen Magdlohns, denn - es ist doch ein gebildetes Mädchen und darf nicht "ausverschämt" sein, meint die Madam, sondern soll sich damit zufrieden geben, daß es so überhaupt sein Dasein friste . . .

Innerhalb des Vierjahresplanes werden wir, denke ich, auch da wieder zu der richtigen Schichtung kommen.

Alles ist im Fluß.

In der Passage (von den Linden an der Kranzlerecke zur Friedrich- und Behrenstraße) existierte vor dem Kriege das Café Keck, in dem der Provinzler als Fleischbeschauer der Weiblichkeit auftrat. Nach der Revolution wurde daraus ein koscheres Restaurant für die östlichen Neuberliner. Heute ist es das nationale Café Neumann, Verkehrslokal für den Sturm 5 Horst Wessel.
12. April 1933 (Mittwoch)


33

Was vom Hofe heraufklingt - Stelzentänzer und Kriegsveteran - Die Kaiserhymne - Prinz Wilhelms Verlobung - Ebenbürtigkeits-Fragen - Hitlers Geburtstag - Wer flaggt und wer nicht - Wie eine "Zelle" begründet wird - Im Zoo, im Flughafen.

Die Höfe der Mietskasernen in der Großstadt sind Schalltrichter.

Wer wie wir mit den Schlafzimmerfenstern zum Hofe zu im obersten Stockwerk wohnt, der kriegt es zu hören, als stünde er unmittelbar vor einem Riesenlautsprecher. Wer unten leise spricht, der wird oben deutlich gehört. Tapp, tapp, tapp - jeder Schritt kracht. Auf den zweiten und dritten Hof fluten morgens Menschen, da ist eine Buchdruckerei, da sind andere Betriebe, nur die Front des Hauses hat Familienwohnungen.

Man hat vielleicht bis 2 oder 3 Uhr morgens am Schreibtisch gesessen. Um ½7 Uhr aber knattert und knallt das erste Motorrad auf den Hof. Aus. Nun wird es wohl verständlich, weshalb ich gelegentlich nach einer Kleinstadt oder einem stillen Vorort seufze. Aber ich darf eben nicht zu weit weg von Wilhelmstraße, Zeitungsviertel, Bahnhöfen.

Auch holde Geräusche wirft der Hof nach oben.

Die Straßenmusikanten mehren sich wie Kaninchen. Manchmal stundenlang ununterbrochen Ablösung. Harmonium in Kleinformat und Singstimme. Ziehharmonika und Geige. Grauenhaft nur die klingende Säge. Die Kurrende im Chor. Ein nur noch tonlos krächzendes müdes Weiblein. Werkstudenten mit hellen Stimme. Ein vergnügtes Xylophon. Dazwischen Leierkasten, Leierkasten, Leierkasten.

Wenn man immer einen Groschen hinunterwürfe, könnte man sich bald arm schenken.

Zuweilen aber sause ich selber wie ein Blitz im Zickzack die vier Treppen hinunter, etwa wenn ein Kriegsblinder von einer jungen Frau geführt wird. Oder wenn es etwas ganz Absonderliches gibt, so dieser Tage die Stelzentänzer. Mann und Frau oder ihre zwei kleinen potzsauberen Mädel, dazu die beiden Schwäger als Musikanten. Seit 14 Jahren leben die sechs davon. Im Winter in Berlin, sonst auf Tour von Dorf zu Dorf, in den Ostseebädern, im Harz, im Riesengebirge. Natürlich wird kein Tango geschoben, sondern eher ein Rheinländer gehüpft. Wer auf Stelzen geht, der hat nicht die nötigen Plattfüße dazu, um moderne Tänze zu schleifen.

Oder da erscheint neulich ein alter Mann, der sich auf Befragen und nach seinen Papieren als Achtundsechzigjähriger erweist. Er ist nicht gerade Schüttler, aber die Harmonika zittert mit ihm um das bißchen Brot und Schlafstelle, gibt eigentlich nur ein paar Wehelaute her. Der Spieler ist, obwohl schon lange nicht mehr landsturmpflichtig, 1914 mit den Jungen an die Front gegangen, hat mitgekämpft und mitgeblutet. Ein einfacher Arbeiter. Wie der damals auch fünfzigjährige Dichter Richard Dehmel oder der ungefähr gleichalterige Schauspieler Paul Wegener. Und nun spielt er mit bebenden, schier versagenden Händen die vaterländischen Weisen, die er von damals kennt, darunter - "Fühl' in des Thrones Glanz die hohe Wonne ganz, Herrscher des Volks zu sein . . . Nicht Roß noch Reisige sichern die steile Höh', wo Fürsten steh'n".

Der Text gefällt mir zu drei Vierteln nicht, die Melodie ist entlehnt, aber nun packt mich nach langen Jahren der Qual, über die man seine Leser hinwegzulächeln versuchte, wieder bis in Herz und Nieren das Wiederhören der verlorenen Klänge.

Der Alte mit der Harmonika weiß nicht, wie ihm geschieht, als ihm plötzlich eine ganze Mark in die Hand gedrückt wird, was für ihn einen Tag ohne Sorgen bedeutet. Ihm hat kein Groener es beibringen können, daß der Begriff des Obersten Kriegsherrn, des nicht parteigebundenen Herzogs aller Deutschen, als "bloße Idee" kaum eines Achselzuckens wert sei.

Hitler hat vollkommen Recht: die Frage der Staatsform ist zur Zeit undiskutabel. Nämlich für die Regierenden, die zunächst unser Haus zu säubern haben. Aber im Volke diskutiert man mehr denn je.

Und da ist heute an tausend Stammtischen und in hunderttausend Familien in Berlin, im Reiche wohl in Millionen, die brennende Frage aufgetaucht, ob der älteste Sohn des Kronprinzen nicht aus der Reihe der Thronanwärter ausgeschieden sei, weil er sich soeben mit einem "einfachen" Fräulein v.Salviati verlobt habe, die doch im alten Sinne nicht ebenbürtig sei. Zum Prinzen gehöre eine Prinzessin! Nur gemach. Der Stammvater des schwedischen Königshauses war ein ursprünglich napoleonischer Soldat, der Advokatensohn Bernadotte aus Pau, und heute heiraten schwedische Königskinder überallhin als ebenbürtig. Auch hier wird sich der Grundsatz durchringen: Rasse ist höher als Stand. Der spätere alte Kaiser durfte noch die Prinzessin Elise Radziwill nicht heiraten, weil sie nicht aus königlichem oder reichsständischem Geblüt stamme. Aber dieses falsche Ebenbürtigkeitsprinzip ist schon längst dahin; von keinem Geringeren außer Kraft gesetzt als von - Kaiser Wilhelm II., der viel volkhafter dachte, als die verhetzte breite Masse es geahnt hat.

Sein Sohn Prinz Oskar liebte und heiratete die "unebenbürtige" junge Gräfin Bassewitz aus Mecklenburg. Die beiden leben in glücklichster Ehe und erziehen ihre Kinder zu glühend nationalen Deutschen. Die Frau gehört zu den politisch gebildetsten und kenntnisreichsten Damen, die wir kennen. Hat nun Prinz Oskar eine "Mesalliance" geschlossen? Nein, zum Erstaunen aller Perücken hat der Kaiser die Gräfin Bassewitz als Prinzessin von Preußen in die Familie aufgenommen. Ihre Kinder sind nicht Grafen - vom "niederen" Adel -, sondern ebenbürtige Hohenzollern.

Nun will Prinz Wilhelm eine preußische Offizierstochter heimführen, seine Studentenliebe aus Bonn. Sie heißt "nur" v.Salviati. Aber ihre Vorfahren haben schon unter Friedrichs des Großen Fahnen gefochten. Prinz Wilhelms Schwiegermutter entstammt einer nichtadeligen bürgerlichen Familie aus Hamburg, aber einer alten und rein deutschen.

Seit sechs Jahren kennen und lieben sich die beiden. Sechs Jahre lang hat die junge Salviati gezittert, ob es denn wirklich wahr würde. Nun hat Prinz Wilhelm es wahrgemacht. Freilich unter Verzicht auf seine Erstgeburtsrechte laut Hausgesetz.

Aber es ist neue Zeit. Weg mit den Perücken! Es geht auch ohne sie.

Die Sturmflut fährt daher, Goebbels und die Seinen, die sich wahrhaftig auf Propaganda verstehen, haben die Dämme an den richtigen Stellen durchstochen, der Marxismus ersäuft, das nationale Führertum segelt auf den Wogen daher.

Daß seine Verherrlichung nicht in blöden Byzantinismus ausartet, dafür muß es selber in der Demut sorgen, die von Gottes Gnaden kommt. Die Masse byzantinert immer. Soweit sie ein Geschäft daraus macht, jeden Aschenbecher mit einem Hakenkreuz, jedes Schlummerkissen mit "Heil Hitler!" auf den Markt bringen will, ist sie schon zurückgepfiffen worden. Aber an dem Geburtstag des Reichskanzlers - dem Fürsten Bismarck versagte der Reichstag an seinem 80. den Glückwunsch - soll Deutschland ein Fahnenmeer sein. Es ist der Tag, an dem ich diese Zeilen schreibe. Gerade bin ich kreuz und quer durch Berlin gerast, um festzustellen, wie die Reichshauptstadt den Mann ehrt, der in fanatischer vierzehnjähriger Arbeit es soweit gebracht hat, daß der Nationalsozialismus alle Dämme überfluten konnte. Man kann mit ingrimmigem Behagen feststellen, daß sogar viele der am 1. April öffentlich gebrandmarkten Läden, darunter die Konditoreien Moritz Dobrin und das Schuhwarenhaus Tack und der Juwelier Marggraff, heute geflaggt haben.

Im allgemeinen haben ja die Geschäftsleute, abgesehen von Hotels und Bräus und Cafés, noch keinen rechten Mumm, das Konfektionsviertel am Spittelmarkt liegt verbissen und farblos, aber die Privaten haben erfreulich reich die schmucken Fahnen herausgehängt.

Sogar am Wedding und in Neukölln, den früheren roten Hochburgen. Im Westen ist das bayrische Viertel ganz bunt. In der Siedlung auf dem Tempelhofer Felde kaum eine Wohnung ohne Fahne, besonders auffällig ein großes Haus, das nur von Straßenbahnern bewohnt ist. Sieht man im Vorbeifahren in Nebenstraßen hinein, so scheint das Schwarzweißrot das Hakenkreuz zu übertreffen. Aber das scheint nur so, weil eben - das wissen unsere Seeleute - auf weite Sicht die schwarzweißrote Flagge die deutlichste der Welt ist. Allen anderen verschwimmen.

Mein Droschkenlenker hat auch einen Hakenkreuzwimpel am Kühler. "Nu ja, nu ja, det muß man doch wohl, so ist et." Ich wundere mich, daß manche Häuser, von denen ich es bestimmt erwartet hätte, doch nicht beflaggt sind. "Nu ja, nu ja, schon mein kleener Wimpel kost' doch zwee Mark fuffzig." Gut, das habe ich verstanden; Brot geht noch vor Flagge.

Im übrigen reißt die Sturmflut Trümmer mit sich. "Da kann keiner gegen an!", sagt der Abteilungschef eines großen ausländisch-jüdischen Unternehmens, dessen Berliner Handelsfiliale 120 Bureauangestellte hat. Er hat, als "überzeugter Kommunist", bisher die wenigen Nationaldenkenden ständig gequält. Die meisten von altersher stammenden Angestellten waren bei dieser Firma natürlich der Linken entnommen. Unter den 120 befanden sich ein eingeschriebener Nazi, ein Stahlhelm-Mitglied, sechs deutschnationale Wähler und Wählerinnen, während 112 mit ihrer November-Einstellung protzten.

Alles vorbei.

Es erscheint ein neunzehnjähriger S.A.-Mann, da der angesagte ältere Amtswalter verhindert ist, und sagt:

"Es wird eine nationalsozialistische Betriebszelle eingerichtet!"

Da schleichen bis auf zehn, die sich als deutschnational bekennen, also nicht umzulernen brauchen, fast alle Marxisten heran, an der Spitze der Abteilungschef, der noch vor wenigen Tagen alle Nationaldenkenden als "Wegelagerer und Verbrecher" bezeichnet hat. Überall Gezischel und Getuschel unter den Roten:

"Man muß doch irgendwie Stellung dazu nehmen . . . wenn es eine Stahlhelmzelle gäbe, würde ich sie als Übergang vorziehen . . . man kann nicht gegen den Strom schwimmen . . . wir fallen gewiß unangenehm auf, wenn wir nicht beitreten . . . vielleicht stehen wir uns besser dabei . . ."

Kurz und gut, die vorgedruckten Zettel füllen sich mit Eintragenden. Die Zelle ist begründet. Es gehören etwa 100 Marxisten dazu und der eine eingeschriebene Nazi. Der fremde junge Mann im Braunhemd wird nach verschiedenem befragt. Er antwortet:

"Die Hauptsache sind die Mitgliederbeiträge, die Sie als gut versorgte Angestellte für die nationale Sache zahlen müssen, alles andere liegt in den Händen unseres Führers Adolf Hitler, dem wir blindlings folgen werden, das muß Ihnen genügen."

Es hat mehr als genügt. Am nächsten Tage treten die Marxisten sehr sicher auf, denn nun könne ihnen ja nichts mehr passieren.

Leiser Spott bei den Andersdenkenden.

"Das war ja gestern die reine Komödie, heute rot, morgen braun, so schnell kann das nicht einmal ein Chamäleon."

Darauf der Abteilungschef:

"Fräulein, ich muß doch sehr bitten, lassen Sie das und treten Sie der Zelle bei!"

"Warum denn, ich bin ja immer national gewesen, ich wechsele meinen Heerbann nicht."

"Fräulein, man wird Sie doch zwingen oder, verstehen Sie mich, Sie fliegen! Wollen Sie wirklich lieber hungern und Ihren Dickkopf durchsetzen?"

"Ich habe keinen Dickkopf, sondern eine Weltanschauung, die nicht die Ihrige ist, und beim Fliegen haben nicht Sie allein die Entscheidung!"

Allgemeines Kopfschütteln. Diese Marxisten sind in vierzehn Jahren zu schwammigen Mollusken geworden. Man kann sie hintreten, wohin man sie haben will.

Das sind wohl Dinge, die sich so oder so ähnlich heute vielfach in Deutschland abspielen. Vor zehn Jahren hatten wir dieselben Vorgänge in Italien, nur daß eine Minderheit dort Zwangsmittel anwandte.

Bei uns ist alles legal. Der Stimmzettel hat es gemacht. Der Götze der Demokratie.

Ich sehe schon, man kommt in dieser Zeit auch "unter dem Strich" in der Zeitung von der Politik nicht los. In den Ostertagen freilich ruhte sie ein wenig. Im Zoologischen Garten, trotz kalter Sonne und Wintermantel, große Kinderfreude. Zu welchem Eingang man auch eintritt, überall eine Fenz, ein kleiner eingezäunter Raum mit lebenden Lämmchen, und im Hintergrunde ein winziges Häuschen, wo Osterhasen hinein- und heraushüpfen. Zutritt nur für Kinder unter drei Jahren. Es gibt welche darunter, die können ihr Entzücken nur durch "De-de-de!" ausdrücken. Es ist wonnig, da von außen zuzusehen. Und dann saust man zum Flughafen Berlin, wo zum erstenmal Kellner im Braunhemd servieren statt in weißer Jacke.

Aber das ist nicht die Sensation. Sondern Udet, Pourlemeritter, 31facher Luftsieger, als - Professor Canaros aus Vaduzien, der, "ohne je geflogen zu sein", es nach seinem Lehrbuch: "Wie lerne ich in zwei Stunden fliegen?" nun tun will. Mir war vorher etwas übel. Will unser Udet sich wirklich als Clown produzieren? Doch dann kam das fliegerisch Hinreißendste und Halsbrecherischste, was ich je gesehen und was nur das absolute Verschmolzensein von Mensch und Maschine zuwegebringt. Ist das Flugzeug betrunken? Es dreht sich zuerst wie ein Kreisel auf der Erde um sich selbst, es knallt (ha, Fehlzündung!), es holpert los, indem es abwechselnd links und rechts mit den Enden des Tragdecks den Rasen streift; nun startet es in Schräglage auf  e i n e m  Rade des Fahrgestells, nun rutscht es in der Luft hin und her (abwechselnd Verwindung gelegt), nun landet es, rollt aber nicht, sondern macht Bocksprünge auf Sporn und Rädern.

Von Buffalo Bill zu Pferde bis Grock am Klavier: das alles ist nichts hiergegen. Zehntausende von Menschen lachen Tränen vor Lust und Begeisterung.
20. April 1933 (Donnerstag)



Glossen 28 - 30

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Glossen 34 - 36

© Karlheinz Everts