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Flucht vor der deutschen Revolution - Theodor Wolff - Musiker und Kommunisten - Verbot des Nigger-Jazz - Unsere Bar-Damen - Schenker und Co. - Gladenbeck auf der Ausstellung - Nicht meckern! - Noch einmal im Reichstag - Der Königsplatz - Schwarzweißrot - Frau Minna Faßhauer.
Die deutsche Revolution geht wie ein reißender Bergstrom weiter. Rette sich, wer kann! Alle Städte rund um Deutschland sind voll von Flüchtlingen. Es ist eine Völkerwanderung wie nach der Zerstörung von Jerusalem.
Bei diesem Auseinanderspritzen nach Moskau, Stockholm, Prag, Brüssel, Luxemburg, Amsterdam, Kopenhagen, Helsingfors, Wien, Ofenpest wird das deutschfeindliche Paris am meisten bevorzugt. Nachdem der erste Theaterkritiker des "Berliner Tageblatts", Kerr, dorthin gegangen ist, sind ihm auch der ständige Leitartikler des Blattes, Olden, und sogar der langjährige Chefredakteur, Theodor Wolff gefolgt. Wolff stammt aus dem Posenschen. Er hatte nicht einmal das Einjährige, mußte also als "gemeiner" Dragoner dienen, wobei die Dienstzeit ihm noch verkürzt wurde, und ging dann auf Kosten der ihm entfernt verwandten Mosses auf ein paar Jahre nach Paris. Dort lernte er französisch lesen, sprechen, denken. So wurde er reif für die Chefredaktion des "Berliner Tageblattes".
Nicht alle können ins Ausland, denn nicht alle haben dort heimlich Geld.
Aber aufgeräumt wird in Berlin auf alle Fälle. Das verbotene Mossesche "8-Uhr-Abendblatt" ist, um wieder herauskommen zu können, in einer demütigen Erklärung zu Kreuze gekrochen und hat seinen Chefredakteur H.Zucker - auch das steht in der Erklärung - "fristlos entlassen". Das ist der demokratische Mannesmut! Das ist die demokratische soziale Gesinnung! Dieser Herr Zucker hat jahrelang seine Pflicht im Sinne und im Auftrage seiner Mosseschen Auftraggeber getan und wird nun ohne Einhaltung der Kündigungsfrist auf die Straße gesetzt, weil die Konjunktur umgeschlagen ist.
Wie wäre es, wenn der Reichsverband der Deutschen Presse sich mit dem Fall beschäftigte?
Man müßte die Leute richtig in die Zange nehmen, von der Regierung auf der einen, von dem Berufsstand auf der anderen Seite, bis sie Anstand lernen und das einzige herausgeben, was sie anbeten, das bißchen Geld.
Der Komponist des alten Schlagers "Was macht der Meyer am Himalaja" ist (hat er was auf dem Kerbholz?) nach Wien verduftet; unseretwegen gern sogar nach dem Himalaja. Heimann, gleichfalls Musiker, ist in Nizza, Schauer vom Benjamin- und City-Verlag in der Schweiz, Robinson vom Alrobi-Konzern in Ischl, Szytch vom Beboton-Verlag in St.Moritz, wo auch der Komponist Jurmann sitzt. Der Oberbürgermeister von Altona, Genosse Brauer, von Beruf Glasbläser, ist verschwunden, ehe er in einer Bestechungssache verhaftet werden konnte. Der Kapellmeister Israelson aus Berlin ist auf und davon. Dajos Bela fürchtet die Ausweisung in seine polnische Heimat und will vorher heim.
Jedenfalls ist der Malstrom in allen Großstädten in Bewegung. In der "Künstlerkolonie" am Laubenheimer Platz in Berlin fand die Polizei bei der jüngsten Razzia verschiedene Wohnungen luxuriös eingerichtet, aber verlassen. So wie man ging und stand, ist man ausgerückt. Noch steht der erkaltete Mokka auf der Anrichte, liegt das Obst auf der Glasschale, ist die Likörflasche geöffnet; in der Speisekammer aber verschimmelt in den Schüsseln schon dies und das.
Herrgott, was müssen die Leute für eine Angst gehabt haben!
Die tapferen Kommunisten vorneweg. Besonders die "Edelkommunisten" mit Vermögen oder großer Einnahme. Dann die Kulturbolschewisten überhaupt. Ihr Geschäft wird von der deutschen Revolution zum wenigsten stark beschnitten.
Den Foxtrott, den Walzer, den Tango rührt niemand an, aber der spezifischen "Negermusik", dem unmelodischen Gejaule und Geräusch, ist, vorläufig im Rundfunk, ein Ende gemacht worden. Jahrelang haben die Bolschewisten uns dazu erzogen, das schön zu finden. Der "Jazz-König" Paul Whitemann - Weißmann heißt er und aus Amörikkäh kam er natürlich - hatte es zuletzt sogar fertig gebracht, zum Radaumachen in sein Orchester mehrere alte Schreibmaschinen, eine Feuerwehrsirene, einen Einbrecheralarm und eine ungeölte Nähmaschine aufzunehmen. Verrückt, nicht? Ja, sagen Sie jetzt! Aber vor wenigen Monaten lobten die Zeitungen so etwas noch hoch.
Vor den Homosexuellen-Lokalen (die bunten Schilder sind noch da) herabgelassene Jalousien. Alles polizeilich geschlossen. Und die Bardamen, soweit sie Damen gegen bar sind, sehen sich nach bürgerlichen Berufen um.
Animieren (und Mittrinken) ist nämlich fortan verboten.
Unendlich viel ist noch - allein in Berlin schon - auszumisten. In einem an den Verband der Spediteure gerichteten Schreiben hat der Minister Dr. Hugenberg bereits erklärt, daß die Monopolverträge der Wiener Firma Schenker & Co. revidiert werden würden. Die Inhaber, Carpeles Holzer und Marzell Holzer, sind sozusagen Hofspediteure aller kommunistischen Verlage gewesen, haben den polnischen Staat, der daraufhin der Firma die Konzession entzogen hat, durch Schmuggel auf Grund gefälschter Frachtbriefe um mehrere 100 000 Zloty betrogen und aus Deutschland, unter Ruinierung des Einzelgewerbes der Spedition, viele Millionen herausgezogen. Ihr Hauptcoup war die Pachtung aller Berliner städtischen Häfen und Lagerhäuser auf 60 Jahre für ein Butterbrot sozusagen.
Das vermittelte der sozialdemokratische Stadtrat Schüning, der daraufhin Direktor bei Schenker & Co. mit mehr als Ministergehalt wurde.
Sein Sohn, ein Jüngelchen, ist mit 1000 Mark Monatsgehalt angestellt. Der Verfasser des Vertragsentwurfs für die Berliner Hafen- und Lagergesellschaft (Behala), Justizrat Orgler, erhält dafür eine lebenslängliche Rente von 1100 Mark monatlich.
Es ist ein Geschäft, das den Herren Carpeles und Marzell Holzer Millionen eingebracht hat und einbringt. Es ist höchste Zeit, daß die neue Regierung da eingreift, damit nicht die Wiener Firma immer fetter wird, während unsere Wohlfahrtsarmen hungern.
Wir konnten nicht hochkommen, so lange die Marxisten herrschten.
Mühe genug haben wir uns gegeben. Jede Berliner Messe (jetzt kommt "Die Frau" an die Reihe) ist des Zeuge, nicht nur die an sich populäre Automesse. Aber wer konnte denn noch kaufen, wo alles Geld in die Hände unserer Aussauger kam? Ich will nur ein Beispiel nennen. Die berühmte Erzgießerei Gladenbeck, die früher alle Dörfer mit Kriegerdenkmälern, zahlreiche Gaststätten und Vereine mit Kaiserbüsten versorgte, stellte also auch auf der Messe aus. Draußen in Berlin am Kaiserdamm. Schöne, auch ganz moderne Sachen. Kostenpunkt für die Firma: 3000 Mark. Dagegen gesamte Einnahmen: brutto 150 Mark. Dafür wurde ihr eine Kleinigkeit abgekauft.
Jetzt hat der 12.März - Kommunalwahlen - den nationalen Sieg verbreitert und den Höhepunkt des Rauschzustandes gebracht, den wir vom Felde her kennen, wenn der an die Stellung gefesselte Mensch endlich zum Angriff vorstürmen durfte. Sterben? Das kann man, wenn man in den feindlichen Graben eingedrungen ist. Das Schlimmste ist das tatenlose Warten vorher und das Sich-beschießen-lassen. Wir haben 14 Jahre politisch so gewartet. Sind gefesselt gewesen. Haben Tote und Verwundete gehabt, ohne hinauspreschen zu dürfen. Jetzt endlich war die Bahn frei, für die vereinigten nationalen Deutschen. Ich weiß, im Lande wird noch hie und da gemeckert. In SA.-Kasernen genau so wie an deutschnationalen Stammtischen. Schlagt die Leute auf den Mund! Wenn die Generale sich vertragen haben, sollen die Musketiere sich nicht prügeln.
Nun könnte es aufwärts gehen. Schon sehr bald erfahren wir, wieviel Reich und Staat und Kommunen sparen, wenn die Verträge revidiert werden und wenn Gehälter und Pensionen für die Parteibuchbonzen wegfallen. Auch Leute wie Braun werden sich wundern.
Den letzten Tag vor dem 12.März, wo noch die Besichtigung des Reichstages freigegeben war, habe ich dazu benutzt, noch einmal die Brandstätte aufzusuchen. Dieser Brand war das Fanal. Er hat uns viel geholfen. Rund um den Riesenbau und auch innen dirigieren SA.-Leute das Publikum. Mit einem von ihnen habe ich beinahe Krach, aber ich denke natürlich nicht daran, es zu wirklichem Krach kommen zu lassen. Der Rundgang ist beendet, ich trapple mit der übrigen Menschenherde, die tief erschüttert ist, schon zum Ausgang am Portal V, im Munde die bei mir unvermeidliche Zigarre, die in den Zeiten äußersten Abgearbeitetseins mich immer aufrechterhalten hat.
Da reißt eine kräftige Faust mich am Mantelärmel zurück: "Haben Sie nicht so viel Anstand, daß Sie hier nicht rauchen?"
Ich: "Das ist nirgends verboten, sonst täte ich es nicht. Es stehen hier Schilder mit der Aufschrift 'Brandstelle' oder 'Einsturzgefahr' und andere, aber kein Schild mit einem Rauchverbot."
Er, drohend: "Ich habe meinen Dienstbefehl!"
Ich: "Lieber Freund, darin steht sicher nicht, daß Sie einem Raucher Mangel an Anstand vorwerfen sollen. Ist es Dienstbefehl, so sorgen Sie für ein Schild. Ich bin hier im Reichstage wohl schon so lange beruflich tätig, als Sie alt sind. Verboten ist seit jeher nur das Rauchen im Sitzungssaal. Überall sonst rauchen Abgeordnete, Minister, Pressevertreter, Besucher."
Ich lege ihm begütigend die Hand auf die Schulter. Er merkt wohl, daß wir zu derselben großen nationalen Gemeinschaft gehören.
Er, zögernd: "Na, ist gemacht!"
Also wir trennen uns in Frieden. Ich gehe hinüber in das deutschnationale Parteibureau und frage, weshalb der alte Königsplatz, an dem der Reichstag liegt, immer noch die Schilder "Platz der Republik" trägt. Das könnten doch ein paar Leute von der Kampfstaffel im Handumdrehen ordnen. Und das sei von ungeheurer, symbolhafter Wirkung, wenn der "Königsplatz" neu erstehe. Ja, ja, ich hätte wohl Recht, sagt einer der oberen Parteibeamten, - "aber wenn nun ein Schutzmann kommt?" Da brülle ich: "Der freut sich!" und gehe anderswo hin. Herrgott, Menschenskind, wir haben doch den Umschwung, wir können nun unsere verschüttete deutsche Geschichte wiederherstellen. Jetzt erst, 5 Tage später, erfahre ich, daß heute nacht Stahlhelmer auf die Platztafeln den Zettel "Königsplatz" übergeklebt haben. Der Wille ist gut, aber regenunsicher Zettel genügen nicht, es müssen richtige Blechschilder sein, und dann muß der Magistrat es hinterdrein genehmigen.
Manches muß nachträglich genehmigt werden. Zum Flaggenerlaß, der uns gottlob für Reich und Heer und Flotte das alte reine Schwarzweißrot wiedergebracht hat, ist der Reichspräsident verfassungsmäßig berechtigt. Zu der Änderung der Kokarden nicht, denn die "Farben" des neudeutschen Reiches sind laut Artikel 3 der Weimarer Verfassung schwarzrotgold.
Aber was geht uns das an? Die Herren oben sind der kommenden Indemnität wohl sicher. Genau so wie Bismarck, als er von 1862 bis 1866 "autoritär" das Heer verstärkte und den Etat ohne Parlament diktierte. Wer es noch nicht kapiert hat: wir stehen mitten in der deutschen Revolution. Die internationalistische von 1918 hat die Kaiseradler abgerissen, ohne viel zu fragen. Und Berlin war es, das der Welt das schmählichste Schauspiel bot: ein kommunistisches Lastauto, dahinter durch den Dreck geschleift die schwarzweißrote Flagge. Niemand schritt dagegen ein. Severing kicherte.
Jetzt vergeht den Herren das Lachen.
Ach, die schönen Zeiten . . . In Braunschweig wird 1918 eine Waschfrau, die Genossin Faßhauer, Kultusminister. Eines Tages redet sie einen kleinen Parteifreund, der nichts kann und nichts weiß, mit "Regierungsrat" an. Er prallt zurück. Darauf sie:
"Was sagst du? Du bist nicht Regierungsrat? Quatsch nich, Genosse! Wenn ich sage, Regierungsrat, dann bist du es!"
16. März 1933 (Donnerstag)
29
Der Tag von Potsdam - Neben Köhl - Fackelzug Unter den Linden - Märzlinge - Etwas Börsianerhumor - Kurtchen Ullstein - Auf der Ausstellung "Die Frau" - Neue Mütter - Wer im A.A. Kultur macht.
Als nach der Qual der Napoleonischen Elendsjahre unser Volk sich 1813 zum Befreiungskampfe erhob, schrieb ein großer Preuße: "Und jedermann ist so fromm zumute!"
Das ist - weit mehr als in den Augusttagen 1914, wo eine reiche Nation fast übermütig jeden neuen Feind begrüße - die eigentliche Stimmung dieses 21.März 1933 in Potsdam und Berlin gewesen. Wir saßen geheiligt in der Garnisonkirche, wo Fridericus Rex seine Gruft hat. Und dann staunten wir draußen andächtig über das Wunder unserer Volkwerdung. "Hoher Hut, Zylinder, ist vorgeschrieben!", hieß es. Habe ich nicht mehr. Also dann schon lieber zum erstenmal wieder das alte Kriegsgewand angezogen, das heute wieder geachtet ist und von dem niemand die Achselstücke abzureißen wagt.
Neben mir, zwischen Hindenburg und der Tribüne für Reichsregierung und Ehrengäste, steht Hauptmann Köhl, dem ich erzähle, wie wir in der Nacht, da er mit Hünefeld den Ozean überflog, bis an den Morgen für ihn gebetet und zum Wachbleiben "Köhlwasser" getrunken haben. Rechts von uns, verwittert und doch jugendschlank, der Feldmarschall von Mackensen, dazu andere große Führer von unserer Wehr und aus dem Zivil, mitten darunter der einstweilen enterbte Erbe der Zollernkrone.
Mal hatte ich was gegen Köhl. Damals, als er - ohne jede Verpflichtung hierzu - einen Kranz mit schwarzrotgelber Schleife an Eberts Grab in Heidelberg niederlegte. Damals war er Zentrumsmann. Heute steht er mit dem Rücken zu den prachtvoll stählern vorbeimarschierenden Truppen und starrt verzückt nur nach der Tribüne:
"Ich muß meinen Hitler sehen!"
Ich bin niemals Byzantiner gewesen. Ganz gleich, ob der Mensch Wilhelm II. oder Hindenburg, ob er Hitler oder Hugenberg hieß. Aber daß wir jetzt eine Nation werden, das leuchtet aus den Gesichtern der Hunderttausende in Potsdam.
Abends in Berlin bei dem Fackelzug, wo man nur Volk sieht, keine Marschallstäbe, keine Magnifizenzen, keine Botschaftergala, ist der Eindruck womöglich noch stärker. Eine ungeheure Masse Mensch feiert Auferstehung. Arme Erwerbslose hoffen wieder. Autokutscher haben Wasser in den Augen. Kleine Buben werden zu gewagten Fassadenkletterern. Wildfremde schütteln sich die Hände und sagen "Heil Deutschland!" oder "Heil Hitler!" Jeder Schutzmann strahlt und grüßt. Wir haben uns Unter den Linden bis zum Café König durchgekämpft und im 2. Stock ohne jede Miete einen Fensterplatz bekommen. Kein Mensch macht Geschäfte mit Aussicht. Hinter uns stehen Kopf an Kopf Leute auf den Billardtischen, um von oben auf die Straße sehen zu können. Um das grüne Tuch zu schonen, haben Herren und Damen sich die Stiefel ausgezogen. Der Fackelzug der Zehntausende ist imposant, aber nicht besonders gut organisiert, es gibt große Marschlücken, es gibt zu wenig Musik und es gibt zu viele politisierte kleine Kinder darunter, die um Mitternacht ins Bett gehören, nicht auf die Straße. Aber auch diese Versündigung an den Kleinen hat ein Gutes: sie werden nach 30 Jahren wiederum ihren Kindern von der Feier unserer Wiedergeburt erzählen können.
Nur eines gefällt mir ganz und gar nicht. Es gibt zu viele Märzlinge.
Neben uns preßt sich eine fette Dame ans Fenster. Es ist schon sehr durch die Blume gesprochen, wenn man sie bloß eine Kurfürstendammerin nennt. Unten singen die Kolonnen der Fackelträger Lieder, die etwas derb von Jerusalem handeln. Unsere Fette aber, die giftgrün werden müßte, reckt den Arm zum römischen Gruß und ruft fortwährend "Heil Hitler!" Ich hoffe, daß solche Leute noch erfahren werden, wie wenig dieser Ruf allein ein Versicherungspolice ist.
Einstweilen aber machen die Warenhäuser von Tietz noch ein Bombengeschäft mit schwarzweißroten und Hakenkreuzfahnen. Mal geht das Fahnentuch aus, mal die Stangen. Zum Glück arbeiten die Fabriken in Tag- und Nachtschicht, und die Käufer stehen in langer Schlange an und sind geduldig.
Anschluß heißt die Parole.
Mindestens ein Hakenkreuz oder einen Stern mit Adlerkopf oder ein Flügelrad oder ein schwarzweißrotes Bändchen muß man haben. Die drei abwärtsgekehrten Sklarekpfeile sind aus allen Schaufenstern verschwunden. Man kann sie ruhig einschmelzen. Die Zeiten kommen nicht wieder.
An der Börse klettern die Kurse. Man ist mit Hitler zufrieden. Der lasse ja vernünftig mit sich reden. Heulen und Zähneklappern nur bei den roten Parteibüchlern, bei vielen Ärzten, Richtern, Anwälten. Die frechsten roten Wohlfahrtsempfänger werden auf einmal manierlich. Aber unterirdisch wird natürlich noch viel gewühlt. Heißer Haß flammt aus kommunistischen Betriebszellen, soweit sie aufrecht geblieben und nicht zu Märzlingen geworden sind. In manchen Großunternehmen sprüht es gegen die Nationalen.
Nur noch eine Weile Geduld. Auch der Leute werden wir Herr.
Jetzt setzt außer der Säuberungs- auch die Erziehungsarbeit ein. Es ist richtig, daß heute mancher ein Amt bekommt, der noch vor zwei Jahren Rotfrontler war, dann aber die Konjunktur erfaßte. Wer von ihnen sich nicht bewährt, der wird fliegen.
Da hilft auch kein witzelnder Galgenhumor, wie er bis vor wenigen Wochen in Berlin umging.
Danach hieß es, daß nach den neuesten orthographischen Forschungen (o, Frau Pollack!) das deutsche Volk aus drei Stämmen bestehe, den Pleitonen, den Schnorrmannen, den Prolongobarden. Sie alle, sagte man, gehörten zur Konfession der Wechselprotestanten unter Luther, dem Locarno-Luther, dem man jetzt übrigens - weshalb, weiß niemand - den Botschafterposten in Washington zuschustern will. Die drei Stämme hätten kürzlich ihr Heiligtum in der Börse eingeweiht, über der Freiverkehrstreppe das Grabmal des unbekannten Solventen. Rechts davon stehe die Statue der heiligen Konkursula, links das Standbild des heiligen Insolwenzels. Am Sockel des Grabmals zwei allegorische Figuren, die verschleierte Bilanz von Mosais und die nackte Pleite, die ihre Blöße mit der Treuhand bedeckt. Zwischen den beiden ein Band mit dem Spruch: "Erkenne Dich selbst und belaste die Firma!" Zur Einweihung sei das Moratorium von Haendel und das Niederländische Bankgebet von Pallenberg gespielt.
Spotten ihrer selbst und wissen nicht wie . . .
Und nun noch der nationale Umschwung! Sogar Kurtchen Ullstein, Referendar und künftiger Erbe des Zeitungskonzerns, kriegte es mit der Verzweiflung und beschloß, im Auto nach der Tschechoslowakei zu entwetzen. Vorsichtshalber zog er sich dazu - S.A.-Uniform an und bewaffnete seinen Chauffeur mit einer Pistole. Leider hielt man ihn an der Grenze an. Da er unvorschriftsmäßig viel Geld mitgenommen hatte, wurde dies von der Behörde anderswo deponiert. Das gibt zusammen ein kleines, nicht ruinöses Strafverfahren.
Im übrigen ließ man Kurtchen laufen, nämlich nach Berlin zurückfahren.
Wenn die ausgerissenen Mitarbeiter Ullsteins, darunter besonders Lion Feuchtwanger in Amerika, jetzt Schauergeschichten schreiben, Artikel über "German atrocities", worin es sogar heißt, daß die Fremdrassigen bei uns in den Polizeigefängnissen gefoltert und daß ihnen die Augen ausgestochen würden, so ist das die alte Mär. Immer haben diese Leute deutsches Wesen verleumdet und beschimpft. Wenn das nicht bald im ganzen Auslande aufhört, können die Ullsteins samt dem Referendar Kurtchen sicher sein, daß auch ihnen die Bude für immer zugemacht wird. Sie haben Einflußmöglichkeit genug auf ihre Freunde draußen. Wenn sie die nicht ausnutzen, ist der Zusammenhang klar, sind die Folgerungen selbstverständlich.
Einstweilen kreischt noch überall ihre Reklame. Nicht nur in Wort und Bild und Flammenschrift, sondern auch in lebendigem Fleisch und Blut. Die naturblondesten deutschen Mädchen stehen in ihrem Dienst. Auch bei jeder Ausstellung in den Messehallen.
Jetzt hat sich "Die Frau" dort aufgebaut.
Vor etwa 20 Jahren hatten wir die erste derartige Ausstellung in Berlin: "Die Frau in Haus und Beruf". Das war noch sehr - damenhaft, auf den dicken Geldbeutel des Mannes oder Vaters zugeschnitten. Im Volksmunde hieß die Ausstellung daher auch: "Die Frau in Saus und Braus". Was damals die Frau angeblich alles brauchte, das ist heute imitiert und billig zu haben, vom Blaufuchskragen bis zum Sandwich mit Kaviar, nur haben die wenigsten Leute heute das Geld selbst für reduzierteste Preise.
Wissen Sie, wie es heute zugeht? Da ist die Staatliche Porzellan-Manufaktur Meißen, die von vornherein auf ihren Reklamekärtchen 30 Prozent Preisnachlaß verspricht. Und als ich mir ein wirklich schönes, neuartiges, schlichtes Tafelgeschirr ansehe, wird mir, ehe ich ein Wort geäußert habe, sogar ein Rabatt von 50 Prozent angeboten. So ist es aber überall auf der Ausstellung, ganz gleich, ob es sich um Möbel, elektrische Apparate, Puppen, Küchengerät, Kleider, Lebensmittel oder sonst etwas handelt.
Im Grunde wird auf allen diesen Ausstellungen - abgesehen von der charaktergebenden ersten Halle - immer dasselbe ausgestellt. Dutzende von Malen "das" Schlafzimmer aus geflammter Birke oder kaukasischem Nußholz. Diesmal sind freilich ein paar Kombiniermöbel neu: man dreht irgendwo, und dann ist es immer eine Hausbar, die sich offenbart. Dann habe ich zu meinem lebhaften Vergnügen in den Kojen der Berliner Damenschneiderinnung noch große breitrandige Hüte entdeckt, ausgestellt von Ida Kunze-Lange, und zwar genau aus dem Stoff des jeweiligen Kleides. Ein Kleid und ein Hut aus weißem Glasbattist: bei aller Einfachheit ganz zauberhaft, man denkt, es sei Frühling in der Biedermeierzeit, wir brächten mühsam ein paar wohlgesetzte Worte an Jungfer Röschen vor, und dabei jubiliere draußen die Vogelschar und drinnen das Herz, während süßer Duft fast übermächtig werde. Aber ich will von allen diesen lockenden Sachen, wozu auch - bitte sehr - Expreß-Strudelblätter gehören, aus denen man in wenigen Minuten fertigen Apfelstrudel machen kann, nicht erzählen, sondern von dem Eigentlichen und Zweckhaften.
Eine Rieseninschrift im großen Vorraum: "Volk ohne Jugend - Volk ohne Zukunft".
Der bildliche und zahlenmäßige Nachweis, daß Deutschland der geburtenärmste Staat Europas geworden ist. Mehr Volk! Wir brauchen Kinder! Es ist, richtig verstanden, diesmal nicht eine Ausstellung für die Weltdame, sondern für die deutsche Mutter. Mancher Hinweis hilft ihr. Sie wird mit weniger Nervosität und verdoppelter Liebe sich des Mannes, der Kinder, der Küche annehmen, wenn sie hier herauskommt.
Auch junge Mädchen können hier - nicht nur in der historischen Modeschau - viel lernen. Manches freilich könnte jemand für entbehrlich halten, so die riesengroß aufgemalte Statistik, zu wieviel Prozent die erste Aufklärung über den Geschlechtsverkehr unseren jungen Mädchen durch Kameradinnen, auf der Straße, durch den Mann, durch Bücher, durch Lehrer, durch die Eltern, durch den Arzt vermittelt wird. Auch die Schaubilder "Wie entstehen Zwillinge?" oder "Die Früherkennung der Schwangerschaft" und ähnliches macht sich ein wenig breit. Aber alles in allem: sehr sehenswert, sehr lehrreich. Wir müssen ja nach der fürchterlichen Zeit seit 1918, wo die jungen Dinger zu Flappers oder Flittchen, um newyorkisch oder berlinisch zu sprechen, erzogen wurden, wieder deutsche Mütter richtig züchten.
Ach, wie hofft alles darauf, daß wieder die Mutter alter Art entsteht, die blühende junge Mutter, die jedem neuen Kinde entgegenjauchzt, weil es Ebenbild des Mannes werden soll, trotzdem aber ihr ureigen!
Und dann hofft alles, daß unsere Jugend wieder dienen muß.
Wieder Potsdam! Und wieder das richtige Weimar mit Goethe und Schiller! Das war es, was diesmal - zum erstenmal - so viele Auslandsdeutsche herzog, hier mitzuwählen, um die Entscheidung zu bringen. Allein aus Südspanien sind 63 Deutsche mit Wahlschein gekommen, um dann an der ersten Grenzstation abzustimmen. Es ist wirklich der Aufbruch der deutschen Nation in allen Landen.
Sie haben noch viele andere Wünsche, unsere Auslandsbrüder, vor allem, was das Auswärtige Amt - kurz A.A. oder auch Auswärtiger Feind genannt - betrifft. An der Spitze jener Abteilung dieses Amtes, die die gesamte Kulturarbeit des Deutschtums im Auslande unter sich hatte, stand bisher ein - Buchbindergeselle, der nur den Vorzug hatte, die Nichte eines hohen Zentrumsgeistlichen zur Frau zu haben. Ich will nichts gegen das Buchbinden sagen, eine herrlich schöne Kunst, die aus Liebhaberei früher auch der Kaiser ausgeübt hat. Aber deshalb ist es doch nicht nötig, daß ein bekannter Professor, der gewaltige Verdienste um unsere Auslandsgeltung hat, im A.A. von einem Buchbinder mit den Worten empfangen wird:
"Na, Ihnen werde ich mal den Kopf waschen!"
23. März 1933 (Donnerstag)
30
Arbeitsbeginn nach der Revolution - Kinderkrankheiten - Buße tun bis zum Pastor hin - Bei Fräulein v. Ketelhodt in Lichtenrade - Schneeweiße Frettchen - Mode und Wirtschaft - Generaldirektor Winter - Wilhelm II. bei Kempinski.
Was wir in Potsdam und Berlin und draußen im Reiche in diesen Wochen erlebt haben, das ist sozusagen ein Sonnabend-Sonntag im Völkerdasein gewesen, durchjubelt in der Siegerfreude über die Eroberung der Stellungen der Internationalisten.
Jetzt kommt der Montag.
Diese nun beginnende Arbeitswoche der deutschen Geschichte soll vier Jahre dauern. Ihr Anfang mag noch kleine Schönheitsfehler zeigen. Die auf einmal nationalen Märzlinge wuchern jäh wie Unkraut, um geschäftlich den Anschluß nicht zu verfehlen. Auf der anderen Seite werden die Anfänge eines 1933er Parteibuchbeamtentums schmerzlich empfunden, nur daß es diesmal keine schwarzroten Vorzeichen hat. Auch der Braunschweiger Vorfall im Stahlhelm bestätigt das klassische Wort, daß außerhalb und innerhalb der Mauern von Ilion gesündigt wird.
Das sind Kinderkrankheiten. Es sind letzte Auswirkungen der Sonntagnacht. Das reckt sich zurecht.
Hitler hat soeben in München gesagt, an der Zusammenarbeit der Seinigen mit den nationalen Bundesgenossen ändere sich kein Jota. Das ist die Hauptsache. Dann schaffen wir die Arbeitswoche.
An ihrem Anfang steht noch die große Aufregung (nicht für uns) wegen des Boykotts wider den Boykott. Auch das wird in geregelte Bahnen kommen. Das wichtigste ist, daß wir als Volk, als Wirtschaftskörper, als Staat mit dem Berliner sagen können:
"Mang uns mang is keener mang, der nich mang uns mang jehört."
Dazu gehört aber auch das, was in Luthers erster Wittenberger These steht: tägliche Reue und Buße. Wenn ganze Gruppen von Verbänden, Zeitungen, Parteien, Gewerkschaften heute umfallen, genau wie 1918, so ist das kein Kunststück und kein Verdienst. Wo sind die Aufrechten? Im Jahre 1806 gaben preußische Kommandanten kampflos starke Festungen preis. Weil wir damals keine Parteien, sondern einen König hatten, konnte durch dessen Verordnung nachhher, als wir wieder frei von Napoleon waren, eine strenge Untersuchung stattfinden, die mit harten Strafen endete.
Ich hätte nichts dagegen, wenn heute ähnliches stattfände. In seinem wundervollen Buche "Wiederentdeckte Monarchie" hat Dr. Everling als erster sogar auf die Mitschuld der - Kirche an dem Unheil der verflossenen vierzehn Jahre hingewiesen. Vor Jahren war einmal ein emeritierter Pfarrer bei mir, rang die Hände und sagte:
"Es fehlt der Bekennermut, wir müßten Märtyrer haben. Wie anders stünde dann unsere Kirche da! Wenn auch nur tausend Pfarrer ihres Amtes entsetzt und brotlos gemacht wären . . . Weshalb? Einfach, weil sie trotz der Republik das Gebet für das Königshaus in der Liturgie beibehalten hätten!"
Nun gut. Schlage jeder bis zum Pfarrer an seine Brust. Jetzt ist Montag. Arbeitsbeginn. Die Lohntüten kommen erst viel später.
Einstweilen heißt es für jeden, bis die nationale Regierung dem ganzen Volke geholfen hat, sich hinüberzuretten in die bessere Zukunft. Die allgemeine Arbeitsdienstpflicht nach bulgarischem Muster wird uns ein wenig entlasten. Aber einstweilen bleiben noch Millionen, die nur ein Almosen zur Daseinsfristung aus den Steuern der noch Arbeitenden bekommen. Und diese müssen schuften. Das weiß heute freilich jeder Mensch.
Gerade komme ich von einer jungen Dame in Berlin-Lichtenrade, Fräulein v.Ketelhodt, die mir zunächst nicht einmal die Hand geben wollte, weil sie so dreckig von der Arbeit war. Ich habe die Hand aber doch gepackt und hätte sie streicheln können, obwohl diese Hand so, wie sie war, mit schwarzen Fingernägeln, auf der Tauentzienstraße natürlich unmöglich wäre. Also in der Bahnhofstraße Nr. 45 in Lichtenrade ist die große Zimmermannsche Gärtnerei, und davon hat Fräulein v.Ketelhodt ein Stück Land gepachtet und darauf eine Versuchsfarm für die Züchtung von Pelztieren angelegt. Frühmorgens im Wagen Kundenbesuche, zurück mit Futter für das ganze Gekrabbel, dann den Rest des Tages Arbeit, Arbeit, Arbeit auf diesem neuen Lebensgebiet, das nicht nur Existenz und Hinüberretten bedeutet, sondern innerlichen Beruf.
Der Vater ist im Kriege gefallen, das Familiengut ist futsch. Helfe sie sich, kleine Maus! Was fängt man an? Auf dem Lande groiß geworden, seit dem dritten Lebensjahr zu Pferde. Reiterin? Die Karriere ist kurz. Halt: Löwenbändigerin! Aber Mutter ist dagegen. Wie bringt man nun seine Tierliebe unter?
Die junge Ketelhodt geht als Volontärin auf eine Fuchsfarm im Harz. Sie lernt etliche Jahre, das Geschäftliche schließlich bei der Mascotte G.m.b.H. in Berlin, einer Filiale der großen amerikanischen Gesellschaft. Der geht es - auch in Berlin, auch in Bayern - unberufen sehr gut. Sie hat als Vertreter ehemalige Offiziere, auch Damen aus der Deutschen Adelsgenossenschaft, die haben hie und da Beziehungen zu Kreisen, die sich noch edles Pelzwerk leisten können.
Aber, aber -: Deutsche, kauft deutsche Ware!
Also Fräulein v.Ketelhodt züchtet Füchse und allerlei sonstige Tiere, kreuzt sie, gibt ihnen - außer Fleisch, Eiern, Fischen, Haferschrot - auch Öl als Futter, das, man denke, eine Bestrahlungskur durchgemacht hat. Es gibt noch allerlei dabei, was ihr Geheimnis ist. Die Natur wird durch menschliche Intelligenz, durch die Intelligenz dieses Fräuleins in Breeches und blonder Wuschelmähne, überlistet. Schon ist eine ganz neue Fuchsart da. "Hänschen, komm doch mal her!" Jedes Tier hat hier seinen Vornamen und ist zutraulich. Das nächste Ziel? Aus gelben Frettchen weiße machen, rein züchterisch; dann hat Fräulein v.Ketelhodt im Wettbewerb gegen Weißfuchs und Hermelin das Rennen geschafft. Aber so einfach wie im Laboratorium ist das nicht mit den lebendigen Tieren, denn, was keine Retorte tut: sie beißen oft, ja sie verbeißen sich in die Finger der Züchterin, solange sie noch nicht ganz zahm sind. So der Nerz. Noch bösartiger Nutria. Also läuft Fräulein v.Ketelhodt immer mit der Jodflasche in der Hosentasche herum, und manchmal muß sie auch, um einer Blutvergiftung zu entgehen, eine frische Wunde sofort mit der Zigarette ausbrennen.
Wovon lebt nun die junge Dame? Also erstens hat sie Privatkundschaft. Zweitens schickt sie Pelze auf die Auktion in London, wo augenblicklich der beste Markt ist. Drittens ist sie Vertreterin der Farmgesellschaft "Niedersachsen" bei Einbeck in Hannover, deren Germania-Füchse sie vertreibt. Viertens hat sie verkaufte lebende Tiere in Pension.
Hiervon - lebt auch das Publikum. Man lebt von guten Würfen. Also ein Pärchen hochwertiger Silberfüchse kostet 1500 Mark. Wenn Junge kommen, kann man, Pensionskosten abgerechnet, im Durchschnitt jährlich 800 Mark dafür kriegen.
Der Pelz gehört seit Jahren untrennbar, zeitweilig sogar im Sommer, zu Hals und Nacken der gutgekleideten Dame. Wenn die Federboa - es gab im vorigen Jahre einen Versuch dazu - wieder Mode geworden wäre, wäre mancher arabische Straußfedernhändler in Aden schwerreich und mancher deutsche Kürschner bettelarm geworden. Es blieb aber nur eine kleine Weile beim Pleureuschen am Fiffi-Hut.
Der normale Schaufenstergucker ahnt nicht, welche wirtschaftliche Bedeutung im Völkerleben die Mode hat. Der Schnittkopf setzte in wenigen Monaten die meisten Haarnadelfabriken schachmatt. Jetzt sieht man in Berlin wieder in hellen Scharen Konfirmandinnen mit langen Zöpfen. Damit tauchen erneut die bunten Schleifen auf, die man schon vergessen hatte: Hebung der Seidenbandfabrikation. Auch der Louis-Seize-Absatz, der himmelhohe, wird wird an den Gesellschaftsschuhen der Damen durch den flachen, englischen, gesunden abgelöst. Marke Potsdam, sagte man schon in den Jahren, als noch Brüning und Weimar regierten. Unsere hochbeinigen jungen Mädchen von heute brauchen keine Stelzen.
Die Welt dreht sich. Es gilt auch nicht mehr als vornehm, ein ausländisches Auto zu besitzen. Ein männlicher Filmstar ließ sich neulich auf der Messe für einen solchen Wagen plakatieren. Er erntete Hohn. Wer heute in Berlin amerikanische Autos vertritt, der "liegt schief". Es ist großenteils das Verdienst des Herzogs von Sachsen-Koburg, daß es dazu gekommen ist. Der deutsche Wagen, jetzt auch der N.A.G. mit Frontantrieb und Schwingachsen, erobert den heimischen Markt zurück. Und ist ganz billig geworden.
Nun bin ich neugierig, was der Generaldirektor der General Motors (Buick, Cadillac, Pontiac, Packard, Opel, Chevrolet), Herr Eduard Winter, in Berlin am Kurfürstendamm machen wird.
Das ist der Typ des Mannes, von dem man sagt: er kam, er sah, er siegte. Rostocker Kommerzienratssohn, prachtvoller Rowdy, beinahe Rekordbrecher im Hinausgeschmissenwerden von allen Schulen, begründete er im Alter von 21 Jahren - der Vater war Heringsimporteur en gros - eine Kafferösterei, pachtete Güter zum Cichorienanbau, kam schnell zu viel Geld, schmuggelte während der ersten Kriegsjahre für Deutschland Eisenerze aus Schweden, brannte am angesetzten Polterabend mit der Braut eines anderen durch und heiratete sie. Kurz: ein Hans Albers nicht aus dem Film, sondern aus dem Leben.
Nach dem Kriege, den er zuletzt als freiwilliger (und tapferer!) Benzinkutscher mitgemacht, kaufte er von den Soldatenräten alle erhältlichen Kraftwagen und machte mit Groschcke einen großen Laden auf. Dann stellte er sich, als das Ausland Mode wurde, auf General Motors um und wurde Leiter der Berliner Verkaufsabteilung.
Er ist auch innerlich "amerikanisch", auf Akkordarbeit und laufendes Band eingestellt. Ein Monteur, der bei einer Ausbesserungsarbeit auch nur um eine Minute die angesetzte Zeit überschreitet, kriegt sie angekreidet. Wird ein Mann sechsmal im Monat notiert, so fliegt er.
Vielleicht hat nun daraufhin - ich meine, auf diese Schilderung eines Großberliners hin - jemand Lust, Herrn Winter aufzusuchen. Hält schwer. Eher kommt man zu einem Minister. Und wenn man da ist? Ich möchte wetten, daß Winter dann etwa sagt:
"Fünf Minuten habe ich Zeit! Also, bitte los! Telegrammstil!"
Das ist das Berliner Tempo. Es geht weit über das Tempo 114 des soldatischen Marschierens hinaus. Leider müssen wir zur Zeit nur zu viel auf der Stelle treten. Die Arbeitsbeschaffung ist das Wesentliche.
Einstweilen wird es wenigstens Verschiebungen geben, indem nach Jahren bitterer Not Deutsche wieder zu etwas kommen, wo bisher Fremdstämmige das Monopol hatten. So im Rundfunk. So in den Krankenhäusern. Und an vielen, vielen anderen Stellen auch noch. Der Mannesmut der Abtretenden wiegt noch kein Milligramm. Sie weichen wortlos, sie sind heilfroh, wenn ihnen nichts geschieht. "Und konnten einst so tapfer schmälen . . ." Es ist bei allen Revolutionen immer dasselbe.
Jetzt ist auf einmal ein ungeheurer Patriotismus ausgebrochen. Man kann kaum schnell genug auf Potsdam umlernen.
Im November 1918 hatte das Haus Kempinski in der Leipziger Straße in seinem Cadiner Majolikasaal im Erdgeschoß, wo die Wände mit den Medaillons aller preußischen Könige geziert sind, die Büste Wilhelms II., die sich in einer großen Majolikamuschel über der Tür zu den übrigen Sälen befand, entfernt.
Seit heute früh ist die Büste wieder da.
30. März 1933 (Donnerstag)
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