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Hindenburg lebt - In der Dreifaltigkeitskirche - Der Studentenpfarrer - Lernt Fremdsprachen bei Tanz und Spiel! - Die Fünfuhr-Frau - In der "Kaffeeplantage" - Yvette Guilbert - Unsere Adligen im Erwerbsleben.
Hindenburg? Manche Lippen zucken weh, wenn dieser Name genannt wird. Hindenburg?
"Der ist ja schon längst gestorben, er weiß es nur nicht, weil es ihm noch niemand gesagt hat."
Alte Freunde behaupten, daß er ein Gefangener seiner Umgebung sei, bar eigenen Willens. Das ist wohl ein Irrtum. Es geht Hindenburg etwa wie dem schon schier unwirklichen Geheimrat Kahl, dem Senior der Deutschen Volkspartei, der seine erstaunlich nach links abgleitenden Meinungen fast immer damit begründet, daß er zuvor die ganze Nacht mit seinem Gewissen gerungen habe. Hindenburg ringt auch. Und lebt noch.
Nur sehr selten kann der Berliner sich von dem Dasein seines Reichspräsidenten überzeugen.
Der vorige, Fritz Ebert, war doch manchmal im Theater, häufiger noch in seiner Stammkneipe, bei Lauer in der Neuen Wilhelmstraße, zu sehen, aber Hindenburg lebt ganz zurückgezogen, beschränkt sich eigentlich nur noch auf die amtlichen Empfänge. Doch halt: er geht fast allsonntäglich in die Kirche. Nicht immer in dieselbe. Aber wer regelmäßig die Dreifaltigkeitskirche - ganz nahe an der Wilhelmstraße - besucht, der kriegt sicher irgend wann einmal Hindenburg zu Gesicht.
Am vorigen Sonntag akademischer Gottesdienst zur Eröffnung des Wintersemesters. Da stehen in der engen Taufkapelle etwa 60 studentische Chargierte mit Fahnen massiert, als der Generalfeldmarschall, wie immer pünktlich 5 Minuten vor Beginn des Gottesdienstes, erscheint und sie und die Rektoren der Berliner Hochschulen begrüßt. Immer noch bolzengerade, immer noch dank dem mächtigen Schädel größer wirkend, als er in der Tat ist. Der einst so buschige Schnurrbart ist schütter geworden, das Gesicht aber gleichzeitig voller und faltenloser; körperlich merkt man dem bald Sagenumwobenen sein Alter kaum an, und daß er geistig nicht etwa erloschen ist, das sehe ich an dem energischen Kopfnicken, mit dem er ein paar Sätze des Sprechers der Studentenschaft gegen die Gottlosen-Propaganda unterstreicht.
Dann innen in der Kirche. Wirklich "wie sein eigenes Denkmal" steht Hindenburg da, singt auswendig die Liturgie mit, singt auswendig alle 4 Strophen von "Ein' feste Burg ist unser Gott" herunter. Es ist die Feier des Reformationstages, die mit der studentischen verbunden wird.
Der baumlange evangelische "Studentenpfarrer" Bronisch-Holtze steht auf der Kanzel.
Auf derselben Kanzel, auf der einst Schleiermacher stand und den Preußen jenes Christentum predigte, das am besten unter den Zuhörern der Freiherr vom Stein verstand, jenes Christentum, das nicht verschwommen sentimentale Liebe, sondern Dienst und Opfer an der Nation bedeutet. Das gleiche sagt diesmal den jungen Leuten, die die kommende Führerschicht bilden sollen, ihr Studentenpfarrer. Dieses Amt besteht erst seit wenigen Jahren. Zur Zeit haben wir schon 17 evangelische Studentenpfarrer an deutschen Universitäten und noch viel mehr katholische, da bei den Katholiken jede studentische Verbindung am liebsten ihren eigenen Pfarrer haben möchte; und in Berlin gibt es auch einen Studenten-Rabbiner. Der Pfarrer Bronisch-Holtze kann froh sein, daß er nicht in den Zeiten Friedrich Wilhelms I. lebt, denn sonst würde er sicher in die Potsdamer Wachtparade gesteckt, da er eines Hauptes länger denn alles Volk ist. Heute ist die Hauptsache, was in solchem Haupte steckt. Unsere akademische mehr denn je gährende Jugend, und zwar heute die beider Geschlechter, kann einen "Seelsorger" nur dann brauchen, wenn er mit der ganzen Bildung des Jahrhunderts ausgerüstet, geistig und dialektisch ihr gewachsen und vor allem kein zelotischer Dogmenprediger ist.
Hunderte suchen im Laufe des Semesters diesen Pfarrer in seiner Sprechstunde daheim oder in der Universität auf und besprechen mit ihm ihre Nöte. Da ist so manches Jungchen von außerhalb, das mit der ersten erotischen Erschütterung seines Daseins zum Pfarrer kommt; Gott sei Dank, der versteht alles, der kann vor allem zuhören, bis alles vom Herzen herunter ist. Außer Einzelbesuchern gibt es da größere Gruppen von 30, von 35 jungen Menschen, die sich regelmäßig zusammenfinden, zu besonderen Veranstaltungen auch wohl 150 oder 200, im Sommer im Pfarrgarten, im Winter im Gemeindesaal. Den ganzen Tag vorher hat die Frau Pastorin mit dem Fertigmachen der belegten Brote zu tun, denn die heutige Kirche weiß es, daß das bequemste nur angelehnte Pförtchen zum Herzen - über den Magen führt. Und dann werden "Probleme" gewälzt. Etwa: Der Krieg. Oder: Völkische Religiosität. Oder: Staat und Kirche. Unter den Studenten und Studentinnen gibt es viele ernste Wahrheitssucher, viele, die im Zwiegespräch mit einem älteren, aber nicht verknöcherten - nicht "autoritären" - Freunde die Festigkeit ihres jeweiligen Idols erproben wollen. Häufig hat man es heute mit einer Vergötzung der Rasse zu tun wie in anderen Schichten mit einer Vergötzung der Klasse. Auch rein materialistisch gepanzert kommt schon mancher Gymnasiast zur Hochschule und leugnet zunächst die weltbewegenden Ideen, glaubt nur an das goldene Kalb.
Alles scharf abgezirkelt gegen einander. Das schönste, daß niemand gleichgültig bleibt. Kalt oder warm! Die Lauen, die in des lieben Gottes Spucknapf gehören, sind unter dem Nachwuchs selten geworden. Es gibt keine geborenen Philister mehr. Man will Klarheit, man will durchdacht leben und wieder überzeugt leben, nicht bloß vegetieren. Für den einen heißt Eros das große Problem, für den anderen heißt es Nation; und dazwischen steht die große Entsagungsfähigkeit in einem fast spartanischen Dasein, das weltenweit von der früheren Genießer-Poesie entfernt ist. Es gibt nur wenige Verbummelte. Man schafft mit eisernem Fleiß sein Pensum, das von Jahr zu Jahr in jedem Fach erweitert wird. Und man schafft oft ohne Hoffnung, schafft in einem Fieberzustande der Erwartung, wie es sein werde, wenn man nach Durchführung des Studiums schließlich doch keine Arbeit findet. Eine Marter für die meisten. Da verfliegt selbstverständlich jeder Leichtsinn.
Einstweilen übersteigert man seine Bildung, um konkurrenzfähig zu werden.
Auch die nichtstudierende Jugend macht das Wettrennen mit. Das nächstliegende, so meint der Kaufmannslehrling, so meint die Stenotypistin, ist das Erlernen von Fremdsprachen. Einen richtigen Kursus in der Berlitz-School kann man vielleicht nicht erschwingen, aber es gibt ja jetzt schon "kleine" (lies: billigere) Ausgaben Toussaint-Langenscheidt zum Selbstunterricht. Und dann wird doch schon überall das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden, heißt es schon hie und da: Lernt bei Tanz und Spiel!
Also da ist das Tanzcafé Uhlandeck im Westen. Nur 50 Pfennige der Eintritt. Dafür nimmst Du an irgendeinem der Tische Platz, an dem "richtiggehende Ausländer" mit Dir italienisch oder spanisch oder französisch oder englisch plaudern. Dazwischen wird getanzt.
Oder da ist, auch am Kurfürstendamm, der Anglo-American Tea Room. Kostenpunkt: einschließlich Tee und Sandwiches 2 Mark. Da ist es einfach "zum Piepen", würde der Berliner sagen. Am Donnerstag gibt es englische Vorträge, am Freitag Tanz und Spiel mit Sprachunterricht für Anfänger.
Eine Engländerin, eine Amerikanerin stehen an der Spitze des Unternehmens, ein englischer Pfarrer - was solch ein Reverend gesellschaftlich in England bedeutet, wissen wir aus hundert Romanen - ist sozusagen der Vergnügungskommissar. Achtung: Tierstimmen-Walzer! Auf der einen Seite die Damen, auf der anderen die Herren, jedermann soll eine Tierstimme nachmachen, es wird gekräht, geblökt, gebellt, gewiehert, und die "passenden Paare" treten zum Tanz an. Manchmal findet man sich auf diesem lebhaften Gutshof phonetisch nicht gleich zurecht.
"Are you a cow?", fragt ein Jüngling ein Mädchen, - "Sind Sie eine Kuh?"
"Yes, yes!"
Na, dann kann es ja losgehen. Nur zweie haben aneinander noch keinen Anschluß gefunden. Er hat gekullert als Truthahn. Sie hat gequiekt als Ferkelchen. Auf einmal ist das Kompromiß da: beide meckern! Also walzen auch sie daher, der Bock mit seiner Ziege. Und alles in dem Saale strahlt.
Leider sind fast nur deutsche Anfänger da, keine durchreisenden Engländer und Engländerinnen. Weil das Pfund so schlecht stehe, sagt der Reverend; sonst sei der Tea Room gut besucht.
So, nun ein neues Spiel: Worteraten. Die bekannte Geschichte, wo man zunächst fragt, ob es ein Gegenstand oder ein Begriff sei, dann, ob es zum Tierreich oder Pflanzenreich oder Steinreich gehöre, und shcließlich die Kreise immer enger und enger zieht. Nur, bitte, auf englisch, nur auf englisch! Ein ganz Raffinierter hat Stresemanns Locarno-Füllfederhalter zum Raten aufgegeben. Der Pfarrer strengt sich an, der Pfarrer hilft ein, der Pfarrer tupft sich den Schweiß von der Stirn. Ob er es gern tut? Einmal zischt er leise: "Rotten!" Wörtlich heißt das: "Verfault!" Sinngemäß: "So ein Quatsch!"
Vielleicht wird in allen Ländern so gestöhnt. Über die Sinnlosigkeit irgend eines Berufes, den man ohne inneren Beruf ausübt. Sicherlich wird überall in Deutschland die Sinnlosigkeit der Gegenwart empfunden. Nur merkt man das noch am wenigsten in Berlin. Du trittst aus dem Anglo-American Tea Room auf die Straße, die völlig ihr altes Gesicht zeigt, ein flanierendes elegantes Publikum. Vor allem die Fünfuhr-Frau, diese Mischung von Halbwelt- und Bürgertyp, in kesser Aufmachung, getüncht und gepinselt; von halb fünf bis sieben Uhr bevölkert sie die Straße und die Tanzdielen oder Konditoreien, oft wirklich nur, um mit Freundinnen der gleichen Art die paar Stunden zu verplauschen, manchmal auch zu einem Slow-Fox oder einem nicht einmal immer bohèmeartigen Gespräch mit Herren aus der Bekanntschaft. Das Lokal braucht nicht besonders fein zu sein, denn auch die Fünfuhr-Frau - bitte: immer "getrennte Kasse" - muß heute mit dem Groschen rechnen. Also geht man halt in die "Kaffeeplantage", wo für 40 Pfennige die Tasse serviert wird; dort prunken nicht Marmor und Bronze und Spiegel, sondern das ganze, mit der hingewischten Palmen-Malerei an den Wänden und den paar vertrockneten Kaffeesträuchern davor, ist bewußt auf Schäbigkeit abgestimmt. Tut nichts; es ist pfropfenvoll, man sieht bekannte Gesichter, da drüben sitzt ja wohl auch Konrad Veit, nichtwahr, und da, scheint es, hat Grete Mosheim eben zur Türe hereingesehen.
Bei weitem nicht so voll wie in den Fünfuhr-Stuben ist es in den Theatern und Konzertsälen. Nur ein paar ganz alte Freunde von Berlin W können noch große Räume mit Publikum füllen, nämlich alte Freunde aus Paris. Dem Kurfürstendamm der Mondänen geht Frankreich über alles in der Welt.
Die Cläre Waldoff von Paris, Yvette Guilbert, verehelichte Frau Schiller, war wieder da.
Die "grande Diseuse" hat schon jahrzehntelang vor dem Kriege uns entzückt. Nicht durch ihr brandrotes Haar, durch ihre freche Nase, durch ihre extravagante Kleidung, sondern durch die Fülle ihrer Register weit über die "vox humana" der Orgel hinaus, und durch die treffsicher unterstreichenden Gesten.
Manches ist technische Künstelei, aber doch drang uns diese Frau fast immer ans Herz; wie keine wußte sie zu rühren, wenn sie das Mutterschicksal sang oder das Erleben einer kleinen Midinette deklamierte. Jetzt ist Yvette Guilbert schon seit etlicher Zeit im siebenten Jahrzehnt ihres Daseins (fast hätte ich gesagt: ihres öffentlichen Auftretens) und muß, um noch zu wirken, vielfach an die Stelle des Charmes die saftige Gemeinheit setzen. Auch das geschieht noch in unnachahmlicher Form, gewiß. Noch heute erkennt man das Talent der Frau unumwunden an. Aber es ist doch eine melancholische Sache, wenn die massige und verwüstete Alte, als sei sie die Besitzerin eines Hauses der Toleranz, den Vertrauten fast nur noch Themen zum Wiehern vorträgt, weil sie bestimmt weiß, daß diese Vertrauten nicht mehr erröten. Zu 80 Prozent sitzt hier im Theaterrund jenes Publikum, das von Heine bis Tucholsky nur die eine Sehnsucht kennt: nach Paris, nach Paris!
Und der Rest, das sind nur Lehrerinnen. Denen ist der Stoff gleichgültig, die Sprache alles; und so wundervoll sprechen wie Yvette Guilbert können allerdings nur wenige Menschen - in Paris. In Deutschland haben wir Meister und Meisterinnen ihrer Art zu Hauf. Die können verhungern. Denn die sind ja nicht von weit her (eine Redensart, die es nur im Deutschen gibt).
Das Lebenmüssen treibt jetzt auch bei uns Leute aus Schichten, die es früher "nicht nötig" hatten oder sich nicht "unmöglich machen" wollten, in die merkwürdigsten Berufe. In dem alten bayrischen Adelsedikt von 1818 heißt es noch, daß jemandes Adel eingestellt sei, wenn er niedere Arbeit verrichte. Ein adeliger Monteur hat die Bestimmung jetzt zu Fall gebracht. Noch hat vor kurzem das Deutsche Adelsblatt sich darüber entrüstet, daß die Freiin v.Freyberg, gegen die sonst doch wirklich nichts einzuwenden ist, als "Miß Germany 1931" sich habe prämiieren lassen. Ist es etwa vornehmer, wenn ein Graf Reventlow als Eintänzer in der "Valencia" sich von fetten alten Weibern 10 Mark Trinkgeld in die Hand drücken ließ? Kein ehrlicher Gelderwerb schändet. Wenn ein Graf Lambsdorff als Chauffeur etwas geschenkt bekam, war auch nichts dagegen einzuwenden: das war für ihn ein Übergangsberuf, wie ja auch die Freiin v.Freyberg nach etwas ganz anderem strebt. Dieser Tage kommt ein Junge, ein Graf Schmettow, nach Berlin, wird irgendwo von einem "Empfangschef" durch Verbeugung begrüßt, verbeugt sich auch und stellt verdutzt sich vor:
"Schmettow!"
"Dito!"
"Graf Schmettow!"
"Dito!"
4. November 1931 (Mittwoch)
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Die ersten Bälle - Prinz Hendrik - Diplomaten und Presseleute - Adlon oblige - Von Vitalität und Kulturgenuß - Deutsches Nationaltheater - Das neue Musikdrama - Professor Hans Pfitzner.
Heissa, juchheissa, dideldumdei: die Saison ist los. Also doch! Man hatte eigentlich gedacht, es werde überhaupt keine großen Bälle mehr geben. Kein Geld, kein Geld. Und da sei es doch eine Sünde und Schande, wenn man . . . Aber nicht doch! Wenn jedermann auf Geldausgeben verzichtet, müssen noch mehr Menschen hungern.
Also kann man und soll man "wohltätig" tanzen. Der Presseball hat noch im vorigen Januar 110 000 Mark Überschuß ergeben, aus dem viel Witwennot behoben werden konnte, und rund 70 000 Mark haben andere Festivitäten für stellenlose Künstler ergeben. So hat denn die Saison Ende voriger Woche mit ein paar kräftigen Paukenschlägen eingesetzt: Fest der Technik, Gesellschaftsabend des Deutschen Offiziersbundes, Fest der deutsch-niederländischen Hilfe, Ball der ausländischen Presse, Fest der Weinheimer Korps. Vielleicht waren es noch ein paar mehr.
Freilich, ein arges Gedränge gibt es nicht, denn die Zahl derer, die sich Eintrittskarten und das ganze Drum und Dran leisten können, ist doch wieder weiter zurückgegangen.
Im Hotel Prinz Albrecht treffen sich außer dem jungen Volk, das überall hingegeben tanzt, ohne nach sonstigen Zwecken einer Veranstaltung zu fragen, auch alle diejenigen, die irgendwie etwas mit der deutsch-niederländischen Hilfe zu tun haben. Ihr Begründer ist unermüdlich im Heranziehen neuer Helfer. Es ist der Prinz Heinrich aus dem großherzoglichen Hause Mecklenburg, jetzt Prinz der Niederlande. Eine "Seele von Mensch", wie der Berliner sagt, ein Mensch, der immer wieder waggonweise Kleider und Lebensmittel nach Deutschland bringt, um den ärmsten seiner ehemaligen Landsleute zu helfen. Er selbst ist nicht reich, sein Taschengeld ist erstaunlich gering, er gibt schon, was er kann, und außerdem - kann er so herzlich bitten.
Tags zuvor bin ich auf einer Privatgesellschaft mit ihm zusammen, wo insgesamt 15 Personen, darunter er als der aufgeräumteste und am wenigsten förmliche, bei Tee und Butterbrot und schließlich Lautenspiel des darin einzigartigen Kurt Wolfram Kießlich einige Stunden verbringen. Für eine halbe Stunde aber sondert "der hohe Gast" - ach, solche Bezeichnungen passen für diesen lieben Menschen eigentlich garnicht - sich von den übrigen ab, um im Nebenzimmer mit zwei Herren zu beraten, wie einem armen Kerl mit ein paar hundert Mark (woher nehmen, woher nehmen?) zu helfen sei. An Bettelbriefen und an echten Notrufen fehlt es nicht, erfüllen aber kann man noch nicht jeden hundertsten Wunsch. Die Baronin Kenn van Hoogerwoerd, eine gebürtige Deutsche voll Mütterlichkeit, ist vom Prinzen eigens als ständige "Wohlfahrtsdame" zur Erledigung dieses Briefverkehrs angestellt und begleitet ihn neben seinem Adjutanten ständig auf den häufigen kurzen Ausflügen nach Deutschland. Auf seinem Ball im Hotel Prinz Albrecht kann er zahlreiche Bekannte begrüßen, die als Nichttänzer hier um der Sache willen erscheinen und ihren Obolus für einen Ansteckschmetterling oder die Tombola opfern, darunter auch Koryphäen der Wissenschaft, wie Geheimrat Professor Lubarsch oder Geheimrat Professor Schütte. Oder es taucht ein alter Schulkamerad auf, irgend einer, den Prinz Heinrich fröhlich auf mecklenburgisch Platt anreden kann.
Da ist so einer.
"Mit Riepenhausen habe ich mich als Junge feste gehauen, aber ein guter Kerl war er doch!"
Auch solche ehemaligen Kameraden sollen beim Helfen helfen; nur sind doch uns allen heute die Arme vom Geben schon lahm.
Viel pompöser der Ball der ausländischen Presse im Hotel Adlon. Gastgeber die Berliner Vertreter aller fremden großen Zeitungen, Gäste in erster Reihe die fremden Botschafter und Gesandten. Es ist mehr ein Diplomatenbankett als ein Ball. Die Leute mit Devisen können sich ein Ballsouper für 10 Mark und dazu den nötigen Wein noch leisten. Alle Weltsprachen schwirren durcheinander, englisch überwiegt heute schon das Französische, das ehedem in diesen Kreisen üblich war. Auch Marianne Winckelstern, die ich kurz begrüßen kann, spricht englisch mit ihrem Dauertänzer. Die reizende Schauspielerin Molino v.Kluck, die Enkelin des Generalobersten, läßt sich auf einen Augenblick erhaschen. Fräulein Wätzold - der Vater ist Generaldirektor der Staatlichen Museen - ist auch vielbegehrte Tänzerin, findet aber doch Zeit zu Plaudereinlagen. Man könnte noch ein Dutzend wirklich entzückender junger Mädchenblumen herzählen, die die Schönheit des Festes ausmachen. Die Würde sitzt derweil an Tischen und Tafeln rundherum. Diplomaten aller Erdteile, darunter ausgemergelte und ausgekochte Gesichter, gegen die die Behäbigkeit solcher deutschen Ehrengäste wie Groener und Dernburg auffallend absticht.
Eine der vornehmsten Erscheinungen - der Besitzer des Hotels selbst, Louis Adlon. Am häufigsten leuchtet das weiße Schnurrbärtchen des ritterlichen, hochragenden Mannes auf dem Tanzparkett auf. Sein Wahlspruch: "Adlon oblige". Adel verpflichtet, Adlon verpflichtet; sein Hotel muß das vornehmste und beste in Mitteleuropa sein. Aber es geht Adlon wie dem Adel: man lebt von der Substanz, nicht von den Einnahmen, die der Staat für seine Erfüllungspolitik wegnimmt. An der Industrieumlage für die Tribute ist Adlon mit 78 000 Mark beteiligt. Und an Hauszinssteuer hat das Hotel Adlon täglich, ganz gleich, ob 400 oder nur 4 Zimmer vermietet sind, 1000 Mark zu entrichten, buchstäblich 365 000 Mark im Jahr. Gewiß, für Laval und Briand, für Jackie Coogan oder Charlie Chaplin, für einen indischen Maharadscha oder einen europäischen Fürsten werden manchmal ganze Zimmerfluchten bestellt, aber das macht den Kohl nicht fett. Im alten Reich war das Leben und Treiben da doch ganz anders.
Feste täuschen. Man muß das Volk bei seiner Arbeit aufsuchen, sagt Gustav Freytag.
Wenn es welche hat . . .
Das ist es doch, daß heute der Arbeitsmangel so auf alles drückt, daß auch hier nur verzerrte Bilder entstehen. Fast in jedem Hause. Soll der Portier der Mietskaserne, in der ich wohne, nicht zufrieden sein? Er hat Wohnung und Lohn, und die Kinder sind bis auf eines schon alle erwachsen. Aber die drei Erwachsenen sind arbeitslos und liegen den Eltern zur Last, da sie von der Unterstützung allein nicht leben können. Hausen zu Hauf in einem winzigen fast luftlosen Raum. Ich selber habe einen abgebauten Sohn und einen, der nach 1933 beendetem Studium noch mindestens zehn Jahre auf Anstellung warten muß. Allüberall müssen Eltern, soweit sie noch Arbeit haben, bis in die Greisenzeit hinein schuften, ist von Zur-Ruhe-setzen keine Rede. Wenn nur das Existenzminimum da ist, damit man sich in bessere Zeiten hinüberrettet, sagt jedermann. Nur nicht den Gasschlauch nehmen müssen. Leben, leben, leben.
Das Leben hängt weniger vom guten Essen ab, denn man kann mit sehr wenig sein Dasein fristen, als von der Erhaltung der Lebenskraft. Um das Fremdwort zu gebrauchen: von der Vitalität.
Die ist bei verschiedenen Menschen von verschiedenen Dingen abhängig. Da kenne ich einen alten Mann von 91 Jahren, der noch heute frisch blickt, frisch spricht, frisch geht und auf die Frage, woher das komme, die verblüffende Antwort gibt:
"Ich habe 70 Jahre lang täglich mein Schnäpschen genommen!"
Ich glaube aber, die Hauptsache zur Erhaltung der Vitalität ist es, wenn man außer dem Existenzminimum leiblicher Art auch noch ein Minimum an kulturellen Genüssen hat. Manch einer sieht scheel dazu, daß Wohlfahrtsämter gratis Konzerte und Theateraufführungen für Erwerbslose veranstalten. Ich selbst finde es auch bedenklich, wenn man jungen arbeitslosem Janhagel den "Biberpelz" oder den "Hauptmann von Köpenick" oder eine andere Diebeskomödie auftischt, aber an sich ist es das beste, was der Staat oder die Gemeinde oder die Gesellschaft tun kann, wenn sie vor Sinkenden, denen allgemach jeder Lebensmut und jeder Tätigkeitsdrang entschwindet, Kunst aufstrahlen läßt. Die Kunst dem Volke. Vom Oratorium bis zum Filmschwank, von der Gemäldegalerie bis zum Zirkus. Daß nicht nur Arbeitslose, sondern zu einem Bruchteile auch Arbeitsscheue auf diese Weise "panem et circenses" bekommen, muß man halt in Kauf nehmen. Ein Lebensbedürfnis sind kulturelle Genüsse vor allem für die ehedem sogenannten gebildeten Stände, die einst eher auf ein Kistchen Zigarren als auf ein gutes Buch verzichteten, heute aber weder dies noch jenes sich leisten können. Hier einzugreifen, täte wohl mindestens so not als die "Winterhilfe" mit Filzschuhen und Mittagsportionen.
Unsere Konzertsäle - Philharmonie. Beethovensaal, Bachsaal, Bechsteinsaal, Singakademie, Schumannsaal, Meistersaal, Breitkopfsaal und wie sie heißen - weisen heute täglich trotz aller berufsmäßigen Freibillettler so viele Lücken auf, daß man hier wirklich zu Musik oder anderer erhebender Kunst, so etwa neulich zum Tanz der Palucca, danach hungernde Arme reichlich einladen könnte. Viel schwerer fällt einem dieser Gedanke schon bei den Theatern, die heute für die übriggebliebene Schicht der fetten Zahler die schlechtesten Stücke in bester Besetzung herausbringen, nur selten wirklich gut etwas klassisches oder wirklich gutes modernes.
Einer hat den Mut gehabt, dieser Tage ein Theater für die gute deutsche Familie zu eröffnen, für das nationale Berlin, für das erwachende Volk; es ist Lange, der frühere Volksoper-Intendant, der das Theater am Schiffbauerdamm gepachtet hat, um gut deutsche Stücke deutscher Autoren dort aufzuführen. Eine Menge Idealisten hat sich zu diesem "Deutschen Nationaltheater" zusammengefunden, auch unter dem tüchtigen darstellenden Personal, unter dem wir auch so eine knorrige Größe wie den Charakterspieler Mierendorf begrüßen. Man spielt für einen Apfel und ein Butterbrot, für wenige Mark täglich; die allerhöchste Gage beträgt 17 Mark für den Abend! Natürlich wird es von der Leistung abhängen, ob dieser neueste Versuch, was noch nicht sicher ist, Erfolg hat. Das Eröffnungsstück, Kysers loderndes "Es brennt an der Grenze", ist ein erschütterndes Drama, kann aber kein Kassenreißer werden, weil es bei aller Erhebung im einzelnen doch durch die Hoffnungslosigkeit lähmt; der gequälte Mensch von heute will dann wenigstens, daß das "Einst kommt der Tag!" von der Bühne her ihn emporreißt. Kleine Veränderungen, kleine Einschiebsel, könnten da vielleicht noch Wandel schaffen; und im übrigen hat man das Pult noch voll anderer Dramen.
Man ist erschüttert aus dem Deutschen Nationaltheater heimgegangen. Und beseligt aus der Staatsoper. Pfitzners neues Musikdrama "Das Herz" hat uns in der Generalprobe aufgewühlt. Es gibt noch heute Menschen, die da fragen: "Wer ist eigentlich dieser Pfitzner?", weil er, der erste große Gotiker in der Musik nach dem Spätbarock Richard Wagners, in seiner Art seiner Zeit ebenso voraus ist wie einst Wagner der seinigen. Dieser Christdeutsche, dieser Pfitzner, steht schon mitten im Dritten Reich, das hier einmal ganz unpolitisch gemeint sei, in dem entsühnten neuen Kunsttempel von morgen. Die Rattengesichter, die heute bei uns das Parkett bei Premièren füllen, verstehen ihn nicht, hassen ihn wohl gar. Dabei hat schon lange die dreibändige Geschichte der deutschen Musik Mosers von ihm festgestellt, daß sein "Dasein zu den größten Kulturwerten der deutschen Gegenwart überhaupt rechnet."
Ein ganz absonderlicher, versonnener, romantischer, gütiger, genialer Mensch . . .
"Das Herz" ist - nach "Armem Heinrich", "Rose vom Liebesgarten", "Palestrina", "Christ-Elflein" - sein fünftes Bühnenwerk, das der 1869 als Sohn eines deutschen Orchestermusikers in Moskau geborene Pfitzner uns heute beschert hat, ein deutsch-phantastisches Spiel, dessen Text von seinem Schüler und Freunde Hans Mahner stammt, dem Schriftsteller und Weltenbummler.
Manch einer kennt diesen Librettisten wohl von dem vielaufgeführten Schwank "Hasenklein kann nichts dafür" her und ist nun erstaunt, wieviel Seele und schon gesprochene Musik in seinem Text zu Pfitzners Musikdrama sich offenbart.
Die beiden sitzen eines Tages bei Mampe und trinken ihren Kaffee, da sagt Mahner: "Du, ich weiß was!" Sagt Pfitzner: "Schieß' los!" Erzählt Mahner: Ein Arzt, so um 1700 herum, möchte aller Welt helfen, wird zu einem sterbenden Prinzen gerufen, belebt es durch schwarze Magie, hat dafür dem Höllenfürsten eines der im Traumland schwebenden Menschenherzen greifen müssen, und siehe da, es ist das Herz der eigenen jungen Frau, die dann genau nach Jahresfrist entseelt zusammenbricht; der Magier kommt ins Verließ, soll Folter und Feuertod erleiden, weil auch der Prinz zu gleicher Zeit gestorben ist, da erscheint Helge als astrales Wesen, um den geliebten Gatten heimzuholen. Chorus mysticus etwa nach der Art aus Goethes Faust:
"Er ist gerichtet! Er ist gerettet!"
Das packt Pfitzner. Wann das Textbuch fertig sein könne, fragt er.
"In vier Wochen!"
"Nein, nein! Bitte, in vier Tagen!"
Und Mahner schafft es. Im Frühling 1931 setzt Pfitzner in Kissingen sich ans Komponieren, arbeitet so unermüdlich, wie nur er es kann, und heute beglückt uns die Uraufführung in München, seiner jetzigen Heimat, und in Berlin.
Ein ungeheuer starker Eindruck von der gewaltig sich wölbenden Musik her, von diesem Melos, das nur wenig mit den von früher her uns gewohnten Steckbriefen der Motive gemein hat, die da jeder auftretenden Person oder Idee angehängt sind. Schauer schütteln uns in den Szenen der Beschwörung, die auch bildhaft uns im Banne halten, und ebenso stark flammt Liebe in uns empor, Liebe zu diesen armen Menschenherzen in ihrer Not und in ihrer Größe.
Als vor etwa sechs Jahren seine Frau starb, brach Pfitzner nieder und sagte, er schreibe in seinem Leben keine Note mehr. Wir bekamen doch noch etwas, das Oratorium "Das dunkle Reich", das der Toten galt. Und nun hat Pfitzner sich die Seele wieder frei gemacht und seine größte Schöpfung vollendet.
Immer wieder ist er durch die Proben gehuscht. Bis zur letzten Minute hat er mit Furtwängler und den anderen jede Note, jeden Auftritt geprüft. Eines Tages ist das Kind, das den kranken Prinzen spielen soll, nicht da. Da legt Pfitzner sich in das Prinzenbett, spielt die Rolle und bringt es auch ganz naiv wie ein richtiger kleiner Junge heraus: "Wer bist Du, fremder Mann? Ich will zur Mutter!"
Genau so ist er einmal vor langen Jahren in einer öffentlichen Aufführung eingesprungen, in den "Meistersingern" in Straßburg. Der Beckmesser war krank geworden, die Vorstellung sollte abgesagt werden. Da ließ sich Pfitzner den Knebelbart, den er damals noch trug, abschneiden, kam auf die Bühne und sang die ganze Beckmesser-Partie auswendig herunter. Allgemeines Erstaunen. "Ja", sagte er, "ich kenne doch jedes Wort und jede Note von jeder Oper auswendig, die ich je dirigiert habe!" Er könnte auch sofort als Richard III. oder als Peer Gynt auftreten, so phänomenal ist sein Gedächtnis für Gelesenes oder Gehörtes. Aus Goethe, aus Schiller, aus Shakespeare, aus Schopenhauer kann er stundenlang wörtlich rezitieren. Es ist fabelhaft. Genie ist Gedächtnis, sagt Weininger.
Dieser staunenswerte, einzigartige Mensch ist nebenbei der beste Freund, der lustigste Kamerad bei Wein und Witz. Seine wunderbare Kantate "Von deutscher Seele" soll einmal in Berlin vom Philharmonischen Orchester aufgeführt werden. Ein jüdischer Maecen, der die Mehrkosten der sehr vielen Proben deckt, verlangt, daß dafür sein Rassengenosse Meyrowitz dirigieren solle. Wie es gewesen sei, wird Pfitzner nachher bei einer guten Flasche gefragt, und er antwortet lächelnd: "Na, die Kantate kann Tate!"
Eines kann Pfitzner in den Tod nicht leiden: Unpünktlichkeit. Er ist die absolute Pünktlichkeit. Er steht mit der Uhr in der Hand vor der Tür eines Bekannten. Der merkt es, öffnet und bittet, Pfitzner möge doch eintreten. Der läßt, ganz bei der Sache, den Blick nicht vom Sekundenzeiger. Noch acht Sekunden! Dann klopft er.
Jetzt hat es auch für ihn zwölf geschlagen. Er ist der Meister der Töne im neuen Reich.
12. November 1931 (Donnerstag)
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Das Schicksal der Abendkleider - Auf dem Filmball - Tilla Durieux' Roman - Baltenfest - Das Tanzpaar Krause-Harden - Es geht uns blendend - Beim Artistenverein "Sicher wie Jold".
Die Abendkleider werden wieder länger getragen. Auch meine Frau trägt ihr Abendkleid noch ein Jahr länger.
Die Damen geben sich und ihren Putz zum Besten, heißt es bei Goethe, und das hat für alle Zeiten Geltung. Wenn die Damen das nicht mehr können, dann hat das Leben für sie, auch wenn sie biedere Hausfrauen sind, doch einen starken Reiz verloren. Haben sie nur noch "das" Gesellschaftskleid, statt eines ganzen Schrankes voll davon, so können sie sich eben nicht mehr so häufig hintereinander zeigen. Das ist der Hauptgrund, weswegen die Besucherzahl der Wohltätigkeitsbälle seit dem vorigen Jahr so sehr abnimmt. Der Filmball am letzten Sonnabend, diese nächst dem Presseball vielleicht schon repräsentativste Festlichkeit Berlins, war aber noch ein einziges Gedränge und Geschiebe von schätzungsweise über 5000 Personen, denn in diesen Kreisen ist die Toilette nicht Luxus, sondern gehört zu den Berufsunkosten.
Getanzt wurde verhältnismäßig wenig, denn erstens bedingten Schlager-Sologesänge aus Tonfilmen und Operetten große Pausen, und zweitens thronten die Stars der Ufa und der Emelka und der Aafa - und wie sie alle heißen - in geschlossener Kompagniekolonne meist die ganze Zeit über steif auf ihren Plätzen.
Das Laienpublikum fiel ob der Überfülle der Berühmtheiten natürlich aus einem Entzücken ins andere und verschlang sie mit den Augen; sie und ihre - Abendkleider. Einmal wirbelte Lilian Harvey an mir vorüber. Ihr langes Kleid hatte mindestens 18 Volants, so daß einem der spitzbübische Gedanke kam: wenn man den obersten anfaßt und wie die Schnur eines Brummkreisels abzieht, dann gibt es eine fabelhafte Drehung, eine schnelle Abhaspelung, und Lilian "steht im Freien". Wohltuend berührte es, daß die Damen auf dem Filmball sehr gut und sehr geschmackvoll, aber fast durchweg weder kostbar noch extravagant angezogen waren. Die Schichten, in denen man es nicht unter Hermelinumhang oder bemalten Rückenausschnitt tut, sind eben heute stark durchgeforstet.
Bei den Schwerreichen wird es auch schon dünn. Die Zeiten, wo Guttmanns sich morgens zum Frühstück frischgeräucherten Haddock im Flugzeug aus London kommen ließen oder Katzenellenbogens dem kommunistischen Theaterleiter Piscator 500 000 Mark stifteten, sind vorüber. Es kriselt überall.
Der bisherige Schultheiß-Patzenhofer-Ostwerke-Gewaltige, Ludwig Katzenellenbogen, hat sogar 23 Stunden Untersuchungshaft erdulden müssen, bis 100 000 Mark Kaution zusammengekratzt waren. Seine Frau, die ihn in zweiter Ehe geheiratet und dadurch einen Zustand legalisiert hat, der schon während ihrer ersten Ehe mit Paul Cassirer bestand, die Schauspielerin Tilla Durieux, wird ob ihres "tragischen Geschicks" in Berlin W jetzt sehr bemitleidet. Uns ist dieser ganze Kreis sehr unsympathisch. Für den Katzenellenbogen-Kommunismus gewisser schnellreicher Kurfürstendammer haben wir noch weniger übrig als für den der von Moskau bezahlten armen Teufel. Aber Tilla Durieux macht jetzt wenigstens ein kleines buchhändlerisches Geschäft, denn jedermann in der Berliner Mischpoke, der ihn noch nicht besitzt, kauft sich jetzt ihren 1928 erschienenen Schlüsselroman "Eine Tür fällt ins Schloß", in der sie mit einer grandios-lästerlichen Offenheit die Liebesabenteuer aus dem fünften Jahrzehnt ihres Lebens schildert, mit Cassirer und mit Katzenellenbogen, nur daß die beiden unter anderen Namen und anderen Berufen, als Arzt und als Bankier, eingeführt werden. Diese Frau, mit ihrem bürgerlichen Namen Ottilie Godefroy, gute, aber verarmte Familie, ist in dem Roman so schonungslos (so "exhibitionistisch", sagen es mit einem Fremdwort die Ihrigen), daß einzelne der darin Abkonterfeiten es schon versucht haben, das Buch aufzukaufen und aus dem Verkehr zu bringen. Sie kommt nach der Epoche Cassirer, der schon andere Liebesepochen vorangegangen sind, zu dem logischen Schluß:
"Jude und Christin können sich leicht verstehen, wenn ihre gegenseitige Liebe der Dolmetsch ist; aber eine Christin in einer jüdischen Familie ist verloren!" Und trotzdem heiratet sie nachher noch den Katzenellenbogen. Der erste Mann, dem sie in ihrem Buche ein schmutziges Denkmal bis in Perversitäten hinein setzt, endete durch Selbstmord; der zweite ist jetzt Objekt des Staatsanwaltes, nachdem er angeblich den ihm anvertrauten Werken Millionenverluste verursacht und wohl auch sein eigenes sozusagen über Nacht entstandenes Riesenvermögen verloren hat.
Unter den Berliner alljährlichen Saisonfesten gibt es eines, auf dem man sicher sein kann, keinen Katzenellenbogens und sonstigen Salonkommunisten zu begegnen, nämlich das des baltischen Frauenhilfsvereins. Das ist das "blondeste" Fest der Reichshauptstadt überhaupt. Und als blondeste waltet im Präsidium die junge reichsdeutsche Frau v.Zengen, die so aussieht, als sei sie ihre eigene Tochter. Es fehlt auch sonst nicht an reizvollen Erscheinungen auf diesem Ball, den ich nun seit Jahren wieder zum ersten Male besucht habe, um erneut feststellen zu können, daß er ganz seinen alten Charakter behalten hat.
Er firmiert als "Gesellschaftsabend", also es gibt Vorträge und Vorführungen vor dem allgemeinen Tanz. Allgemeine gespannte Aufmerksamkeit erregt das Tanzpaar Krause-Harden, das hier den neuen Rumba vorführt und nicht mit nur achtungsvollem, sondern begeistertem Beifall überschüttet wird.
Krause, ehedem Amateurtänzer und Turniertänzer, ist heute einer der bekanntesten Tanzlehrer des Berliner Westens. "Krause? Entsetzlich! Da kann man ja lange im Telefonbuch suchen! Das gibt ja ganze Seiten wie bei Schulze und Schmidt!", meinen fremde Leute. Ach was. Erstens sagt einem jede sogenannte bessere Familie seine Adresse. Und zweitens steht er im Telefonbuch schon an 7. Stelle, also ganz am Anfang der Krause-Spalten. Er hat schon auf den Bällen des Kösener S.C., auf denen der Burschenschafter, der Landsmannschafter, des Vereins für das Deutschtum im Auslande vorgetanzt und wird immer begehrter nicht zuletzt dank seiner trefflich zu ihm passenden Partnerin Lilian Harden, die er in Bad Kreuznach im vorigen Jahre kennen gelernt hat, wo sie als "der schönste Kurgast" prämiiert wurde. Die 22 schönsten aus allen deutschen Badeorten wurden dann noch einmal in Baden-Baden gesiebt, und da bekam sie den zweiten Preis.
Besagte junge Dame, die übrigens unter der Hut seiner Mutter steht, der Frau Major Krause, die auch sonst ihre Hand über die Jugend-Tanzstunden der Halbflüggen hält, hatte auf dem Baltenfest ein Kostüm an, das - ja, wie sag' ich's nur meinem Kinde? Ich möchte es so sagen, daß die Männer schmunzeln können, die Frauen aber nicht zu erröten brauchen, und das ist schwer, wenn man nicht geprüfter Modezeichner ist. Also: man stelle sich eine junge nubische Tänzerin vor, die nur hüftabwärts einen Rock trägt, oben aber nichts. Selbstverständlich trägt Lilian Harden außer diesem Rock - kupferfarbig Panne - auf dem blondesten Ball noch das nötige übrige, aber das ist nur Gitterbrokat, ein weitmaschiges Netz aus Metallfäden, das das ganze Corsage bedeckt und durch seitliche Verschnürung so auf dem Körper anliegt, daß es zusammen mit der matt durchschimmernden Haut wie ein undurchbrochenes Kleidungsstück wirkt; die Brust wird durch ein aufgenähtes breites Panne-Band verdeckt. Das Kostüm ist kühn und schön und dabei garnicht anstößig. Und der Tanz hinreißend elegant.
Was tut man auf einem Ball? Man tanzt, sagt der schlechtunterrichtete Mitteleuropäer.
In Berlin tanzt auf den repräsentativen Bällen immer nur ein sehr kleiner Teil der Erschienenen. Die Mehrzahl sieht zu und unterhält sich. Und worüber? Über die schlechten Zeiten!
Das ist ein ganz dummes Gespräch. Wenn jemand gerad von Capri zurückkommt oder sich, in bescheideneren Verhältnissen, einen Rundfunkapparat für 240 Mark gekauft hat und dann jammert, so wirkt das verlogen. Auf mich trifft weder das erste noch das zweite zu, aber ich habe noch mein gutes Auskommen, wenn ich auch schon erheblich billigere Zigarren als früher rauche, und da sage ich immer: danke, es geht mir gut! Es gibt noch viele Berliner aus wirklich nicht wohlhabenden Schichten, die genau so denken und lieber mit einem Witzwort kommen als mit einem Gewinsel. Hier das aufgegriffene Gespräch zweier Arbeiter, die sich in der Untergrundbahn neulich treffen; es kann uns allen wahrhaftig zur Lehre dienen.
Sagt der eine: "'tach, wie jeht's?"
Sagt der andere: "Na, blendend!"
Sagt der eine: "Wat, blendend?"
Sagt der andere: "Ja, wenn ick in de Sonne kieke!"
Und lacht dabei nicht etwa bitter, sondern so recht von Herzen freundlich, streicht sich behäbig den hängenden Schnauzbart und schiebt den Priem Kautabak in die andere Backe. Er ist sicher nicht jedem Lebensgenuß abhold, schätzt aber auch das bescheidenste Vergnügen und wäre es - sinnbildlich gesprochen - nur das Blinzeln in die liebe Sonne.
So etwas ist ein seltenes Erlebnis. Als Berichterstatter sucht man meist das auf, wovon Berlin, wovon seine Presse spricht und kommt auch kaum zu den billigen Festivitäten der breiten Masse, wo es mindestens so lustig - meist lustiger - zugeht als auf den Bällen der oberen Zehntausend, nur daß es hie und da auch ein bißchen derber zugeht. Das gleich gilt von den Vorführungen. Die Witze sind da handgreiflicher, eindeutiger als in den Kabaretts des Westens, sind aber dem wirklichen Volksleben abgelauscht und trotz aller Derbheit doch nicht so schmierig. Da hat gestern Abend ein Parkett von sicherlich an 2000 Personen Tränen über einen Humoristen, den Sachsen Dittmann, gelacht, der da erzählt, wie ein Berliner Mädel nach einem Tanzvergnügen heult, weil ihm sein Portemonnaie geklaut sei. Wo sie es denn gehabt habe? Na, im Ausschnitt! Ob sie denn nicht gemerkt habe, als da einer hinfaßte? Und da schluchzt das Mädel zur Antwort:
"Ach Jott, ick dachte, er hat ernste Absichten!"
Ist nicht der oder jener Kleinen unter dem Publikum beim Knutschen irgendwann einmal ähnliches widerfahren? Oder es könnte doch sein! Das ganze, so derb es für zarte Ohren klingen mag, ist doch fabelhaft echt und volkstümlich und schlägt auch deshalb so durch. Dieses Parkett der 2000 ist im Großen Festsaal des Kriegervereinshauses in der Chausseestraße vereinigt, besteht aus den Mitgliedern, Familienangehörigen und Gästen des Internationalen Artistenvereins "Sicher wie Jold" von 1892, fast durchweg kleinen Leuten von geringem Einkommen und heute großer Arbeitslosigkeit - und tagt am Bußtag. Ein großer Teil der Mitglieder besteht aus Kaffeehaus-Musikern. Die müssen 362 Nachmittage, Abende, Nächte im Jahr fiedeln und blasen und trommeln, haben nur an den 3 "stillen" Tagen des Jahres die Möglichkeit, abends mit den Ihrigen mal auszugehen, und da gewährt denn die Behörde ihnen das geschlossene Fest.
In den anderen Sälen des Kriegervereinshauses tagen die ehemaligen 128er, die Sanitäter, die 13.Dragoner, der Ulanenbund und sonstige frühere Soldaten, natürlich ohne Musik, hier aber sind's eben die Artisten mit Familie, die sonst tagaus tagein nur für fremde Leute tätig sind und jetzt endlich einmal selber etwas haben wollen.
Da sind sie fast unersättlich. Von 4 bis 6 Uhr nachmittags Konzert, von 6 bis 1 Variété, von 1 bis 6 Uhr früh Tanz. Mutter ist stolz. Mieze freut sich. Und Emil repräsentiert. Den Anfang des vierzehnstündigen Programms und das Ende habe ich nicht miterlebt, bin nur mitteninne gewesen. Aber was ich sehen konnte, habe ich gesehen: alle waren glücklich.
Auf der Bühne eine große Kapelle von Jazz-Symphonikern. Man denkt, es ist eine gut eingespielte ständige Truppe aus irgend einem Riesenvariété, denn die Musik ist wirklich schmissig, aber man hört, daß es arbeitslose Künstler sind, die sich eben erst zusammengefunden haben. Ohne eine einzige Probe bestreiten sie das ganze Programm. Dazwischen tirilieren mit ihren Beinen acht gutexerzierte Tanzgirls, von denen ich nachher eine frage, wo sie sonst aufträten. "Wissen wir nicht!" Das verstehe ich zunächst nicht; ich denke, solch eine Gesellschaft hat doch immer Monats- oder Halbmonatsverträge an Variétés oder Kabaretts.
"Nee, wir werden immer bloß uff eenen Tag ins Kino engagiert, mal hier, mal da, wissen wir vorher wirklich nich!"
Nun geht mir ein Licht auf; also in sogenannten Vorstadtkinos, in die für 50 Pfennige zweimal in der Woche der kleine Mann aus dem Volke geht, um seine Schaulust zu befriedigen, will er vorher auf der Bühne immer Neues sehen, daher der ständige Wechsel. Das ist eben eine Welt, in die wir fast nie hinkommen. Auch ein einzelnes Tanzpaar, auch ein Steptänzer tritt in "Sicher wie Jold" auf. Zuletzt wird sogar ein richtiger Theaterschwank aufgeführt, von dessen Reden man schon in der Mitte des Saales und gar hinten zwar nichts versteht, aber das Publikum wird nicht unruhig, sondern hält musterhaft still.
Endlich "tritt der Tanz in seine Rechte". Er tritt nie in etwas anderes. Es wird hingebend getanzt; "Lehn' Deine Wang' an meine Wang'" und so. Einzelne Paare sind aber von großer natürlicher Anmut. Es mangelt etwas an Herren, von denen einige wenige in Smoking oder schwarzer Jacke, die meisten im Straßenanzug erschienen sind, zum Teil ganz unwahrscheinliche Haartollen haben. So müssen denn viele Mädel mit ihrer Mutti tanzen, die, wie man am Tanzen sieht, mehr als nur den Haushalt energisch zu führen weiß.
Meine Unkosten - als Eingeladener hatte ich keine Eintrittskarte zu bezahlen - betrugen am ganzen Abend 35 Pfennige für ein Glas Malzbier. Viel mehr haben auch die Umsitzenden nicht ausgegeben.
Unter diesen befand sich die Mutter eines jungen Saxophonbläsers und Geigers, die ein wenig den alten Zeiten nachseufzte und mir vordeklamierte:
"Ja, frieher, da jab es noch Kavaliere! Kamen se in't Lokal, so floß jleich eene Flasche Wein in Strömen. Und heite? Da bestellense eene Flasche Selters, und wenn ihnen det dritte Mal uffjestoßen is, is schon Polezeistunde!"
19. November 1931 (Donnerstag)
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