"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 43 - 45
25. Juni bis 9. Juli 1931


43

Der Kettenbrief - Man kann Dummheit nicht verbieten - Meine Zirkusfee - Hans Stosch-Sarrasani - Nur keine Millionäre! - Köpfe - Technik und Romantik - Nächtlicher Flug über Berlin.

"Sende diese Kette weiter, fertige 9 Abschriften an und sende diese 9 deinen begabtesten Freunden, denen du Glück und Karriere wünschst."

Ich berste noch vor Stolz, gnädige Frau, daß Sie mich für einen Ihrer begabtesten Freunde halten und mir daher, freundlich besorgt um meine Karriere, diesen Kettenbrief zugeschickt haben. Aber, liebste Frau Ilse, bin ich wirklich Ihr Freund? Freunde sollte man kennen, und wenn Sie mich kennen, müssen Sie wissen, daß ich so unmodern bin, ganz und gar nicht abergläubisch zu sein.

Also ich habe die Kette gebrochen. Trotz aller fürchterlichen Drohungen gegen Nichtfolgsame habe ich Ihren Brief nicht abgeschrieben und nicht weiterverbreitet, sondern acht Wochen ruhig liegen lassen. In dieser Zeit ist mir weder mein Haus zertrümmert, noch bin ich blind geworden, noch ist mir ein Bein amputiert, noch habe ich mich - wie die in Ihrem Kettenbrief als warnendes Beispiel genannten Signor Ferrari und Pan Lubomirski - gegen das Strafgesetzbuch vergangen. Nicht einmal gegen das Republikschutzgesetz, obwohl mir das schon eher läge.

Im Gegenteil. Es geht mir ganz ausgezeichnet. Ich steige, wie Sie, gnädige Frau, sagen würden, überhaupt nicht mehr mit dem linken Bein aus dem Bett; ich springe fröhlich auf beide, werfe der Morgensonne ein Kußhändchen zu und habe mir eigens eine Grammophonplatte gekauft, von der es widerhallt: "Ich bin ja heut' so glücklich!"

Und ich lache mich schief, daß es in Deutschland, in deutschen Großstädten, in Hamburg (gelt, da wohnen Sie, verehrte Frau Ilse?) und gar in Berlin, noch so viele Menschen gibt, die an den Hokuspokus glauben. Fast sollte man zornig werden über diese Deutschen, die ja auch an Wilson und Hoover und an Demokratie und Weltgewissen glauben. Und es ist erschütternd, daß unter den früheren Kettengliedern Ihres Briefes, der im Auslande zu laufen begann, sogar der Spötter Bernard Shaw sich befindet. Daß Maxe Schmeling zu den ersten Deutschen der Kette gehört, wundert mich weniger. Frau Mimi Groener hätte ich unter den Briefschreibern nicht erwartet, davor hätte ihr Mann sie doch bewahren können. Aber daß Helene Mayer den Brief an Lil Dagover, Lil Dagover an Frau Käthe Stresemann, Frau Stresemann an Rechtsanwalt Blumentopf gesandt hat, ist wiederum verständlich. Dann geht die Kurve wieder aufwärts. Bis zum jungen König von Rumänien, der den Jux auch mitgemacht hat. Was soll der aber noch weiter für eine Karriere haben? Vielleicht sagen Sie, gnädige Frau, er könne noch Kaiser von Paneuropa dank dem Kettenbrief werden, aber Paneuropa existiert ebenso wenig als die Weltvernunft oder die Menschheit oder die Tierheit oder die Baumheit.

Am 10. April 1937 will der italienische Hauptmann Mario di Vilterio über das Schicksal des Briefes im Pariser "Matin" berichten. Dann ist er sicherlich Major; aber wenn er dies nur der Glückskette zu verdanken hätte, würde ich an Mussolinis Stelle, der ja auch die gewerbsmäßige Wahrsagerei verboten hat, dem Mann den Abschied erteilen. Bitte unterrichten Sie den italienischen Capitano rechtzeitig vorher über mich verruchten Kettenbrecher. Ich hätte, wenn überhaupt, keinen Deutschen mit dem Zauberschreiben belästigt, sondern den Brief nur an minderbegabte ausländische "Freunde" geschickt, was neunmal 25 Pfennige Porto ausmachen würde. Für dieses tatsächlich nun ersparte Geld habe ich lächelnd Götter und Dämonen herausgefordert.

Dafür ließ sich nämlich in einem kleinen Lädchen ein wundervoller Strauß Pfingstrosen erstehen, der strahlte mich Glücklichen dann so an, daß ich mir nur sagen konnte: das ist unendlich viel schöner als das dumpfe Harren auf den Zauber.

Man kann Dummheit nicht verbieten. Man kann Dummheit nur lächerlich machen. Allein in Berlin, der Lichtstadt, beträgt der Umlauf an derartigen Kettenbriefen jährlich schätzungsweise mehr als zehntausend Stück. Man dämmt den Unsinn am ehesten ein, wenn man die Namen der Schreiber veröffentlicht. Auf jeder Gesellschaft müßten sie durch den Kakao gezogen werden. Mitsamt den Glückspuppen und jeglichem Talisman.

Aberglaube macht schlaff. Glaube an eigene Kraft stärkt.

Alle Erfolgreichen haben an sich geglaubt; wer vor einem dunklen Schicksal sich beugt, der geht, und hieße er Wallenstein oder deutsches Volk, unrettbar zu Grunde. "Willenskraft Wege schafft!" heißt - und das ist klar und einfach - der Wahlspruch eines Mannes, von dem jetzt wieder ganz Berlin spricht. Es ist, erschrecken Sie nicht, ein Zirkusbesitzer. Aber was für einer! Dieser Hans Stosch-Sarrasani hat vor zwei Monaten Aufsehen erregt, als er allen Ernstes für den Posten des Berliner Oberbürgermeisters kandidierte. Die einfache Begründung: er verstehe es, zu organisieren und zu sanieren.

Das muß der blasse Neid ihm lassen. Aus den kleinsten Anfängen heraus hat er ein Riesenunternehmen geschaffen, das Krieg und Revolution und Inflation überstand und das heute eine stattliche Anzahl von Millionen wert ist. Er allein. Er allein ist noch heute der Besitzer, wenn auch der sehr sorgenvolle Besitzer, nicht irgend eine Gesellschaft, und sein Wille pulst durch den ganzen Betrieb. Als ich ihn vor langen Jahren, ich selber war damals blutjung, zum ersten Mal sah, war er Stallbursche in einem kleinen Reisezirkus, der mit 4 Pferden und 6 Artisten Kleinstädte abklapperte. Von meinen bescheidenen Groschen kaufte ich mir eine Tafel Schokolade und schenkte sie unter glühendem Gestammel meiner ersten Liebe, der Schlangendame dieses Zirkus. Sie sah mich etwas mitleidig und etwas mütterlich an. Im selben Augenblick tauchte der Clown des Unternehmens neben uns auf und fauchte mich in seiner Kreideweißheit an:

"Erlauben Se mal, das is meine Frau!"

Damals wußte ich noch nicht, daß man um eine Frau kämpfen kann, ich fühlte nur, und das ist mir eigentlich mein Leben hindurch geblieben, daß eines anderen Mannes Frau oder Braut oder Geliebte einem heilig sein muß, also verschwand ich bestürzt.

Die Tafel Schokolade aber hatte flink und gewandt - der Stallbursche Hans Stosch an sich genommen.

Wenn er keine Pferde zu putzen, zu füttern, zu tränken, zu satteln, zu schirren hatte, vertrieb er sich die Zeit damit, dem Pudel des Chefs ein paar Kunststücke beizubringen. Stosch saß immer bei den Tieren, das war seine Arbeit, aber auch seine Erholung. Er rauchte nicht, er trank nicht. Jeden Pfennig, und es war meist nur Kupfergeld, das er bekam, sparte er. Dafür kaufte er sich eines Tages Stoff, nähte sich selber ein Clownkostüm und führte dann dem erstaunten Herrn "Direktor" den Pudel vor. Nun war er eine fertige Nummer. Dann fanden sich von weiterem Ersparten mehrere Gänse und ein Affe hinzu, die er dressierte. Aus dem Tierclown wurde 1901, nach einigen Jahren eisernen Zusammenhaltens, der glückliche Besitzer eines winzigen Wanderzirkus.

Heute besitzt Hans Stosch-Sarrasani eines der größten Unternehmen der Welt.

Seine Wanderstadt steht diesmal in Berlin auf dem freien Gelände an der Wullenweberstraße hinter dem Bahnhof Tiergarten. Kein Krone, kein Schumann, kein Busch, ja selbst kein Barnum & Bailey, deren Mehrfach-Arena nur verwirrt und ermüdet, bietet bessere Leistungen. In der Reklame ist er den meisten über. Dafür wirft er, ganz amerikanisch, jährlich 500 000 Mark in seinem Etat aus. Sie bringt ihm ein Vielfaches ein. Ebenso energisch wird aber in schlechten Zeiten gestrichen; die "Sarrasani-Illustrierte", die sonst in jeder Stadt neu erscheint, stammt diesmal noch aus der Zeit vor Ostern und enthält noch die alten Voranzeigen für Dresden.

Man muß sparen können. Wenn Hans Stosch nicht in Schulden ertrinken will, muß er im Durchschnitt täglich - jawohl, täglich - 31 280 Mark einnehmen. Davon leben 800 Angestellte und 600 Tiere. Davon flammen 20 000 Glühlampen in dieser Wanderstadt, dieser Wunderstadt, deren Kraftmaschinen täglich 50 Zentner Kohlen verbrauchen. Die Eisbären bekommen täglich 50 Liter Lebertran, die Seelöwen und Robben 4 Zentner Fische, die Raubtiere 4 Zentner Pferdefleisch, die Pferde 30 Zentner Heu, dazu entsprechend Stroh, Hafer, Kleie; die Autos brauchen täglich 200 Liter Benzin, die Ställe und Manegen 220 Zentner Sägemehl. Alles das und die Neuanschaffungen und die Amortisationen und die Steuern für das Unternehmen, dessen Bilanzwert heute 10,9 Millionen Mark beträgt, schafft der Wille dieses Mannes und sein guter Blick für das Erfolgreiche.

Aber sein deutsches Vaterland, der heutige Staat, krallt ihm die Hand um die Gurgel. Stosch wird von den Steuern erwürgt. In einem Jahre hat er an die von ihm besuchten Städte 800 000 Mark Lustbarkeitssteuer entrichten müssen. Das ist erst eine einzige Steuer; aber er muß 20 verschiedene Steuern, 26 verschiedene Gebühren bezahlen, darunter Luftraumbenutzungsgebühr für solche Reklame, die in den Luftraum über der Straße hineinragt, Postierungsgebühren für die Gestellung von Polizeibeamten, Erlaubnisgebühren für die Vorführung von dressierten Raubtieren. Dabei hat er in den ersten elf Tagen in Berlin - nicht jedermann kann heute ein Zirkusbillet erschwingen - ein Defizit von 95 143 Mark gehabt.

Er hängt an seinen Tieren und Menschen.

Er will sein Werk nicht umkommen, nicht von den Steuern erwürgen lassen. Er hat alles, den ganzen Zirkus, dem Staat als Geschenk angeboten, damit er erhalten bleibe. Er hat keine Antwort bekommen. Man schlachtet stumpfsinnig die Kuh, die so viel Milch gibt. Es ist tausendfach im heutigen Deutschland immer wieder dasselbe.

Und man tötet einen der besten Organisatoren.

Am Ende wäre er wirklich ein tüchtiger Oberbürgermeister geworden. Jedenfalls ein besserer als die emporgeschwemmten Parteibuchinhaber.

Zum Vergleich mit ihm kann man allenfalls den alten Geheimrat Schichau heranziehen. Der fing einst als einfacher Schlossergeselle an, arbeitete eisern, trank nicht, rauchte nicht, tanzte nicht, sondern lernte und sparte, sparte und lernte. Als er starb, beschäftigte seine Werft rund 10 000 Arbeiter. Früher war solch ein Aufstieg möglich. In der "fluchbeladenen" Kaiserzeit, die dem Tüchtigen freie Bahn gab. In der Weimarer Nationalversammlung 1919 aber fiel das Wort: "Millionäre darf es überhaupt nicht mehr geben!" Es wird alles wegbesteuert. Auch dem Tüchtigen wird die Kapitalbildung so gut wie unmöglich gemacht. Dafür haben wir die Arbeitslosigkeit.

Aber wir haben auch immer noch Köpfe. Die und der Freiheitswille unserer gebildeten Jugend sind unsere einzige Hoffnung. Leider sitzen die besten Köpfe nicht auf den Schultern unserer derzeitigen Minister. Das sind allenfalls verhinderte Genies, weil sie das Bedächtige allzusehr lähmt. Aber von den Köpfen unserer Techniker weiß alle Welt. Sie ist es gewöhnt, alle paar Wochen zu hören, daß in Berlin ein epochemachender Schienen-Zeppelin angerast kommt oder eine neue Munition unseren Geschossen 1740 Sekundenmeter Anfangsgeschwindigkeit gibt oder ein Riesenflugzeug alle bestehenden Rekorde überbietet.

Die Technik mordet nicht die Romantik, wie es immer heißt. Oft erschließt uns die Technik sogar eine neue Romantik.

Das Zauberhafteste: Ein Nachtflug über der Großstadt.

Nachtflüge sind uns Kriegsfliegern eine gewohnte Beschäftigung gewesen. Abend für Abend, wenn es zu dunkeln begann, stieg man in Flandern mit den Bombern auf. Über tiefem Samtschwarz. Die Städte alle abgeblendet, die Dörfer, die Straßen. Matt schimmerte nur das Meer, auf das man hinausflog, 40 oder 50 Seemeilen weit, um dann einen Haken zu schlagen und Dünkirchen oder Calais oder einen anderen Platz anzufallen. Auch die im Dunkel. Nur die Front selbst, die sprühende, glühende, kochende, feuernde, lichtschirmübersäte, leuchtete wie die Hölle. Von den Schrapnells der Abwehrgeschütze umkracht, von den Scheinwerfern gezwickt, warf man seine Bomben ab, so gut wie möglich auf Munitionsschuppen gezielt, die man am lichten Tage vorher aus der Vogelschau ausgemacht und photographiert hatte. Das war tägliche harte Arbeit bis zur Erschöpfung. Das einzig romantische daran war die Überlistung des Gegners unter ständiger Lebensgefahr.

Und nun hat man es so bequem. Am vorigen Sonntag im Flughafen großer Nachtbetrieb. Mit dreimotorigen Kabinenflugzeugen, die je 10 Fahrgäste fassen. Der Vogel schwirrt dahin, erhebt sich, und man sieht alsbald den "illuminierten" Platz, die Nachtbefeuerung. Von Berlin bis Königsberg und von Berlin auch nach verschiedenen anderen Richtungen weisen die Leuchtfeuer den Weg. Der Pilot fliegt eine Lichterkette entlang. Wir aber suchen mit den Augen nicht nach dem nächsten Strahlenbündel am Horizont, sondern schauen gebannt nur nach unten.

Auf die langen Straßenschnüre, die von silbernen oder goldenen Knöpfchen gesäumt sind, elektrische oder Gaslaternen haben.

Auf das Blau und Rot und Grün der Lichtreklamen in den Geschäftsgegenden.

Auf das einsame Geglitzer aus dunkeln Parks, auf den taghell erleuchteten Halensee, auf den breiten Spiegel der Havel.

Für seine 10 Mark wird man 22 Minuten spazieren geflogen. Es gibt in der Nacht keine "Sonnenböen", das Flugzeug gleitet wie auf Schienen daher. In aller Ruhe kann man sich die Topographie der Riesenstadt einprägen, sich an die aus der Vogelschau verkürzten Maße gewöhnen. Da: das ist der Stößensee. Und da, nur eine Handbreit weiter, das Brandenburger Tor? Wie geht das nur zu? Und zwischen dem Kempinskibetrieb am Potsdamer Platz mit seiner Wanderlichtkuppel und hier dem Tempelhofer Felde ist ja nur ein Fingerbreit Raum! Es ist so, als sei auf einen dunkeln Lampenschirm mit hunderttausend blitzenden Pünktchen der Plan von Berlin eingestochen. "Von allem Qualm entladen" genießt man die Schönheit des Bildes. In 500 Metern Höhe sieht man nachts nur das strahlende, das reine, das bräutlich geschmückte und erglühende Berlin und fängt an, es innig zu lieben.

Am Tage ist es nur außerhalb schön. Die Völkerwanderung nach den Strandbädern wird daher immer größer. Am Wannsee schmoren in den Bratpfannen, auf den zementierten Dachgärten, die gebräuntesten Strandindianer noch nach.

Sie liegen hier meist bewegungslos, werden nur gelegentlich gewendet wie ein Kalbsschnitzel. Eine junge Dame macht dazwischen Kerze. Auf dem ersten Sonnendach wird zu Musik und Gongschlag rhythmisch geturnt, auf dem letzten Ping-Pong gespielt, auf den dazwischenliegenden fast nur gebraten. Aber auf C steht in der Ecke ein Grammophon und schlagert leise vor sich hin. Danach tanzen junge Paare; selbstverständlich im Badeanzug, aber wohl gerade deshalb, denn sonst wäre es widerwärtig, sehr dezent und ohne sogenannte lose Tuchfühlung. Das Grammophon orgelt gerade: "Die bessern ältern Herrn - Hat jedes Mädel gern." Das erscheint in dieser Umgebung ganz unmöglich. Im Auto, im Motorboot, im Luxuslokal, ja. Wenn aber hier draußen ein Alter den Protektor spielen wollte, würde er sicherlich den lachenden Hohn der Jugend ernten, die ihm, um ihn zu scheuchen, wohl nur den bekannten Vers zuzurufen brauchten:

"Da sprach der alte Auerhahn:
Jetzt, Kinder, laßt auch mich mal ran!"

25. Juni 1931 (Donnerstag)


44

Der Salon stirbt aus - Frau Luise Ebert - Bäckerlehrling mit Abitur - Studentenwerk E.V. - Mensa academica - Bei 70 Mark Monatswechsel - Im Dachgeschoß Unter den Linden.

Entweder hat man einen Salon oder man kommt überhaupt nicht in Betracht, sagten früher unsere großen Damen in Berlin; und dann gaben sich bei ihnen Name und Stellung und Leistung und Geist und Vermögen ein Stelldichein. Der Graf, der General, der Professor, der Dichter, der Bankier und alle Zwischenstufen. Dazu die Frauenwelt von der alten Exzellenz bis zur jungen Bühnendiva. Dazu Politik und Presse. Und alles machte, im Gegensatz zu der neuen Intellektuaille, einen bodenständigen und wohlfundierten Eindruck.

Heute, wo Güter von 4000 Morgen für 150 000 Mark unter den Hammer kommen, der gesellschaftliche Zustrom vom Lande völlig aufgehört hat, veröden auch in der Hauptstadt die alten Salons. Überall großer Ausverkauf. Der Auktionator ist Hausfreund. Der schöne Tizian, unter dem ich bei Frau v.Dircksen einmal so gern gesessen habe, und ihre anderen Kunstschätze wandern den Weg alles Fleisches. Frau Simrocks wunderbare Böcklins haben schon früher den Weg ins Ausland angetreten, als die Familie des berühmten Musikverlegers in der Inflation in Schwierigkeiten geriet. Bei lieben Bekannten in Hamburg, in dem Patrizierhause von 19 Zimmern am Harvestehuder Weg, dessen gesättigter Reichtum so wohltuend und unaufdringlich war, ist in diesen Tagen bis zum letzten Salzstreuer alles versteigert worden. Ein Freiherr in Wiesbaden, dessen Frau ich schon vor Jahren beraten durfte, bittet mich um Vermittelung, da er seine Sammlung antiker Bilder und Skulpturen losschlagen muß; es ist vergeblich.

Wo in diesen und hundert ähnlichen Fällen ein Salon noch besteht, wird es in ihm sehr still, hört die Gelegenheit zu geistreichem Gedankenaustausch zwischen Männern und Frauen von Bedeutung allmählich auf. Hie und da taucht freilich ein neuer auf, so der der Frau Kathinka v.Oheimb-Kardorff, der Tochter eines verstorbenen Warenhausbesitzers, aber da fehlt trotz aller zusammengekauften Erlesenheiten das geschichtlich Gewachsene. Auch ist nicht mehr das Haus die Burg dieser modernen Gesellschaft, sondern der Klub, der Verein, das Komitee.

Man ist soundsoviel mal Präsidentin.

Neulich machte der Tod diesen Posten im Letteverein in Berlin frei, der eine riesige wissenschaftliche Studienanstalt für annähernd 3000 erwachsene junge Damen ist. Da meldete sich alles, was zur nachnovemberlichen Elite gehört, worüber man an sich nicht erstaunt war. Aber daß auch Frau Luise Ebert darunter sein sollte, die eine sehr brave Frau ist, immerhin aber als Dienstmädchen ihren ersten Schliff erhalten hat, war auch für das heutige Publikum ein noch zu starker Tabak; gewählt wurde die Direktorin Hauff, die einst ihren Doktor der Nationalökonomie mit Auszeichnung gemacht hat.

Die alte Bildungsschicht hält mühsam, unter harten Entbehrungen ihren geistigen Status aufrecht. Wer drei oder vier Kinder hat, für den ist es blutig schwer, ihnen die eigene Bildung zu übermitteln, sie etwa alle studieren zu lassen. Hie und da läßt ein Herr Rat seinen Sohn schon Bäckerlehrling werden und sagt sich dabei: ist der Junge erst Meister und hat er ein gutgehendes Geschäft, dann werden wenigstens dessen Kinder unter bequemeren Umständen wieder auf die Hochschule gehen können. Aber vielleicht dauert es nicht lange, und von jedem Lehrling wird schon die Abiturientenprüfung verlangt; immer mehr versucht man, durch Examina den Drang zum Höheren zu drosseln.

Aber nichts kann den Drang wirklich hemmen. Jeder junge Deutsche dürstet nach Erkenntnis.

Das ist der Jüngling, der die Möglichkeit zu gelehrter Arbeit sich durch Körperarbeit erarbeiten muß, also unter Einsatz aller Kräfte, die das Wort vom Achtstundentag als Lächerlichkeit erscheinen lassen, Doppelarbeiter ist. Manchmal schließt das eine das andere aus. Wer als Häuer unter Tage schuftet, der kann nicht "nebenbei" studieren, sondern nur hoffen, daß ein Jahr Bergmannsarbeit ihm ein Jahr Studium ermöglicht. Bis zum Eismeer hin, bis in die Kohlengruben Spitzbergens, findet man deutsche Werkstudenten. Wenn es irgend geht, versucht man es, dieser Jugend die gelehrte und "nebenbei" eine andere Tätigkeit zu verschaffen, nicht umgekehrt. Das ist das Lebenswerk des alten Michaelis, der ein prachtvoller Verwaltungsbeamter von Tüchtigkeit und Güte war und kurze Zeit ein unglücklicher Reichskanzler. Noch heute steht er an der Spitze des Vereins, der sich "Studentenwerk" nennt, auf alle deutschen Hochschulen seine wohltätigen Einrichtungen ausgedehnt hat, in Berlin aber, unter Leitung des rührigen Dr. Pauls, ganz besonders durch erwerbschaffende Betriebe den Studenten hilft.

Und zwar Betriebe, die nicht rein körperliche, sondern geistige Betätigung bedingen.

Da gibt es ein großes Bureau für Zeitungsausschnitte, das die Besteller mit jedem gewünschten Stoff versieht. Da gibt es die studentische Fremdenführung durch Ausstellungen, Museen, Industriewerke. Da gibt es ein Übersetzungskollegium, das schon europäischen Ruf genießt. Mehr als 140 junge Leute arbeiten da in 43 Sprachen. Besonders die elektrische, die medizinische, die pharmazeutische Industrie beziehen von hier die Übersetzungen aus der einschlägigen neuen Literatur aller Länder und bleiben so auf dem Laufenden.

Diese und andere Betriebe werden kaufmännisch verwaltet, erhalten sich selbst, also ihre Mitarbeiter vor allem, und ergeben Überschüsse für die studentische Wohlfahrt. Alles in allem ist es ein Riesenetat. Der Staat sieht scheel darein. Er hat es sogar verhindert, daß das Studentenwerk sich ein eigenes großes Heim mit Garten, die alte Ressource mitten in der Stadt, erwürbe; und sein Anrecht auf Dreinreden leitet er von dem lumpigen Beitrag von 5000 Mark jährlich her, den er dem Studentenwerk (es könnte ruhig darauf verzichten) stiftet. Unsere Werkstudenten haben mit privater Hilfe alles geschafft. Den Staat kennen sie durch die Gummiknüttel der Polizei, von dem Staat erwarten sie nicht viel anderes; er hat ihre Eltern verarmen lassen, er erhebt Steuern für die Tribute, basta.

Für alle Berliner Studenten und Studentinnen, ich glaube, es sind rund 20 000, besteht eine Arbeitsvermittlung und eine Wohnungsvermittlung, eine Schusterei und eine Schneiderei, die billig arbeiten, weil sie Leder und Stoffe im großen beziehen, und noch andere praktische Einrichtungen. Vor allem: an zahlreichen Stellen der gute Mittagstisch.

In der Johannisstraße Nr. 1 sehe ich mir das mal an und probiere. Die jungen Leute stehen Schlange bis zur nächsten Querstraße und rücken langsam vor. Das Einzelessen kostet 70 Pfennige, im Zehnerblock 65, im ständigen Abonnement 55. Du zahlst und bekommst dein Kärtchen. Zweite Station: du nimmst dir ein großes Tablett, ein Besteck, eine Papierserviette. Weiter am laufenden Bande, auf der Schiebebahn immer weiter geglitten mit dem Tablett. Wupp, ein Teller kommt. Wupp, bei der nächsten Donna: ein Haufen Kartoffeln. Wupp, ein Stück Hackbraten mit Tunke. Wupp, ein Schälchen mit Gurkensalat. Wupp, ein Teller mit süßer kalter Sago-Rhabarber-Suppe. Das gab es gestern. Reichlich und gut. Wer fleischlos essen will, bekommt beispielsweise Makkaroni mit Tomatenpurée und Schokoladenspeise mit Schlagsahne. Wer sich extra etwas gönnen will, bekommt für 10 Pfennige ein Glas Milch, für 20 Pfennige einen Teller Erdbeeren mit Sahne, für 10 Pfennige eine rauchbare Zigarre.

Wer so leben kann, der lebt noch sehr gut; sonntags sind die Betriebe freilich geschlossen. Aber es gibt junge Studierende, die sich nur ein- oder zweimal wöchentlich ein Mittagessen leisten und sonst von Klappstullen leben. Hin und wieder auch das ganze Essen "durch stramme Haltung ersetzen". In den Vorlesungen und im Seminar fällt dann der eine oder die eine manchmal in Ohnmacht. Etwas besser gestellte Studierende, namentlich junge Damen, meiden die mensa academica wegen des Gedränges und wegen der Hast, geben lieber 20 Pfennige mehr und essen in irgendeinem vegetarischen Restaurant, wo man sich ruhig an einem gedeckten Tisch niederläßt und bedient wird.

Heute habe ich die billigste und üppigste Studentenspeisung erprobt, die es überhaupt gibt. In der Chaussestraße Nr. 32, wo täglich rund 400 Studierende in gemieteten Privaträumen, in denen sogar frische Blumen auf den Tischen stehen, beköstigt werden. Ein alter Deutschnationaler, Herr v.Arnim-Kröchlendorf, unterhält den Betrieb mit Hilfe einiger anderer märkischer Großgrundbesitzer, die mit ihm, trotz aller Not der Landwirtschaft, einen großen Teil der Lebensmittel umsonst liefern, auch bar zuschießen. Jeder dort Verpflegte kostet 90 Pfennige, zahlt aber nur 45. Dafür gab es heute Grünkernsuppe, Berliner Schnitzel mit Bechamelkartoffeln und Gurkensalat, Kirschenspeise mit Vanilletunke, Kaffee. Von Punkt 12 Uhr mittags ab dreieinhalb Stunden lang ein ewiges Kommen und Gehen. Man muß nach der Fütterung wieder Platz machen, es fehlt die Behaglichkeit der Mittagspause von daheim, aber das Gebotene ist großartig.

Der Andrang ist stärker als die Möglichkeit seiner Befriedigung. Und manch einer bringt nicht einmal die 45 Pfennige auf, sondern erhält, soweit es geht, wenigstens hin und wieder völligen Freitisch.

Nun noch ein Blick in eine "notgedrungene" Studentenbude der neuesten Zeit. Die Weinromantik sucht man da freilich vergebens. Meyer-Försters "Altheidelberg" und die meisten Kitschfilme aus dem Studentenleben gehören in eine versunkene Epoche. Ich klettere Unter den Linden, Nr. 54/55, in einem Hause, das einer von Hugenberg kontrollierten Grundstücksgesellschaft gehört, bis zum Dachgeschoß empor. Da sind zwei abgeschrägte Verschläge, 3 Betten in dem einen, 2 Betten in dem anderen. Da ist eine richtige Dachkammer als Wohnraum. Da ist sogar so etwas wie ein Saal, in dem die 5 Studenten morgens vor Tau und Tag ihre Fechtstunde abhalten. Auf einem Treppenabsatz ist mit ein paar Korbstühlen eine Art Boudoir hergerichtet. Die jungen Leute haben Wohnung ("mit Dachgarten"), Licht, Heizung, Bedienung, Telefon: und alles zusammen kostet jedem von ihnen monatlich nur 16,80 Mark!

Mehr könnten sie aber auch nicht geben. Einer von ihnen hat nur 70 Mark im Monat. Davon gehen schon 15 Mark auf Fahrgelder drauf, die bei den Riesenentfernungen in der Großstadt und dem Auseinanderliegen der Hörsäle und Sportplätze nötig sind. Die Fünf, die ich hier besuche, sitzen gerade bei ihrem selbstgemachten Abendbrot, Pellkartoffeln mit Specktunke. Bier und Zigaretten sind hier unbekannt. Die Fünf gehören zu einer "jugendbewegten" Korporation, zum Großdeutschen Gildenring, in den die Abiturienten aus der Freischar junger Nation - Führer: Admiral v.Trotha - einzutreten pflegen. Sie sind national, sie sind sportlich geübt, sie sind allsonntäglich "auf Fahrt", sie sind enthaltsam; doch ist dieses mehr Praxis als Prinzip.

In aller notgedrungenen Einschränkung bewahren sie sich doch den jungenhaften Humor. An einer kleinen Tür hängt ein großes Porzellanschild: "Zum Amtszimmer der Direktorin". Das haben sie aus dem Abbruchsschutt eines alten Mädchenlyzeums gefischt und hier an die Klosettür genagelt.

Von der Dachrinne aus können sie die ganze Straße Unter den Linden vom Brandenburger Tor bis zum Schloß übersehen.

Wenn hier wieder ein deutscher Kaiser einzieht, dann will ich unter ihnen stehen. Dann haben wir bessere Zeiten: ohne fette Bonzen und ohne halbverhungerte Gelehrte. Die Leistung muß wieder geschätzt werden und nicht nur das Parteibuch. Aber es ist ein hartes Geschlecht, das heute auf den Universitäten heranwächst. Das wird nie nach Frieden greinen, weil im Kriege die Butter ausgeht.
2. Juli 1931 (Donnerstag)


45

Verzicht auf Ferienreise - Reinhardts Ehe - Schöne Helena - Die Bergner als Star - Auch Sonntags im Freibad.

Diesmal sind zu Ferienbeginn 31 000 Menschen weniger als im vorigen Jahr von Berlin weggefahren.

Gleichzeitig sind 7 Theater mehr als im vorigen Jahr geschlossen.

Also müßten die wenigen, in denen noch gespielt wird, umso bessere Geschäfte machen. Leider ist das ein Trugschluß. Einzig und allein Reinhardt kann zufrieden sein, denn er hat in zwei Theatern zwei immer noch zugkräftige Stücke, in der Schumannstraße den Hauptmann von Cöpenick, am Kurfürstendamm die Schöne Helena. Von den 31 000 Berliner, die heuer zum ersten Male auf eine Urlaubsreise verzichten müssen, gehen freilich nicht viele hin, dafür aber Berlinbesucher aus dem Reiche und die Ausländer. Der Schusterhauptmann ist schon seit Monaten nicht totzukriegen, auch mit dem etwas melancholischeren Adalbert in der Titelrolle anstelle des vollsaftigen Krauß nicht; und die Schöne Helena, die soeben die dritte ihrer neuen Flitterwochen hinter sich hat, könnte es auch auf Monate bringen, so bezaubernd ist ihre Inszenierung durch Reinhardt, dem Offenbach genau so "liegt" wie Shakespeare, Vollmöller genau so wie Goldoni.

Man kann ein großer Künstler und doch ein kleiner Mensch sein, schrieb von ihm neulich ein Blatt der Linken, als die Kunde von seinem Ehescheidungsprozeß aus - Riga kam. Mit dem jungen, vielversprechenden, aber noch bitterlich armen Reinhardt teilte Else Heims 10 Jahre lang als ungetraute Geliebte jedes Glück und jede Not, jede Hoffnung und jede Enttäuschung. Ohne diese Frau wäre er vielleicht verdorben und gestorben. Dann war sie 10 Jahre lang seine angetraute Gattin, die Mutter seiner beiden frischen Buben.

Nun verstieß er sie. Um Helene Thiemigs willen? Um der englischen Lady willen? Um einer kleinen Theaternovize willen? Mit mehr oder weniger Berechtigung wurde in jeder Saison ein neuer Name genannt, ohne daß die Welt sich deshalb sonderlich aufgeregt hätte; nur das fand sie schäbig, daß Max Reinhardt, der vielleicht millionenschwere Besitzer des Schlosses Leopoldskron, seiner Frau, weil sie keinen Scheidungsgrund gab und in keine Scheidung einwilligte, die paar Bettelgroschen anständiger Alimentierung verweigerte.

Das ging so jahrelang. Als tschechoslovakischer Staatsangehöriger prozessierte Reinhardt vergeblich in Preßburg gegen Else Heims, um sie zum Verzicht zu zwingen. Schließlich fand er in Lettlands Hauptstadt Riga im Frühling 1931 willigere Richter erster Instanz - und engagierte zum Dank dafür das Ballettpersonal der lettischen Nationaloper für die Neueinstudierung von Offenbachs Schöner Helena im Kurfürstendamm-Theater. Wenn Reinhardt ein kleiner Mensch ist, so hat er das mit sich selbst und mit seiner Mischpoke abzumachen, aber daß er ein großer Künstler ist, beweist Jahr für Jahr jede seiner Inszenierungen. Auch jetzt die der Schönen Helena. Die lettischen Tanzmädchen freilich tragen am wenigsten dazu bei.

Auch der Komponist Offenbach und der Librettist H. Levy haben Reinhardt nur das Gerüst geliefert, auf dem sein Farbensinn, sein Humor, seine Erfindungsgabe turnen. Reinhardt ist im Ursinn des Wortes immer ausgelassen; der durch die Kunst von aller Erdenschwere befreite und darum auch befreiende Mensch.

Mit einem kecken Einfall läßt er die Offenbachiade gleich beginnen. Auf der Bühne sieht man ein paar riesige Mottenkisten: aus denen holen zwei moderne Gents mit Intelligenzbrille die Götter und Heroen und Könige heraus, stellen sie auf die Beine, blasen sie an, machen sie lebendig.

In ganz wundervollen Farbenkontrasten und Farbenakkorden geht das heiter parodistische, dem Geschmack des zweiten Kaiserreiches entsprechend frivole Spiel vor sich, in dem, was unter Napoleon III. ja nur die Bühne sich erlauben durfte, Herrschergröße und Frauentugend genau so "veräppelt" werden, wie man es bei den heutigen Galiziern des Kabaretts tausendfach erlebt. Veräppelt mit schmierigem Behagen. Es ist nichts von der freien Sinnlichkeit der Antike oder der Renaissance darin, nichts, was von Homer oder Bocaccio wiederklänge, sondern es ist eben Travestie etwa in der Art, wie Blumauer, auch ein den Offenbach und Genossen Verwandter, die Aeneis verballhornt hat. Aber Reinhardt bringt Schönheit herein. Wie der klassische Chor, in hellgrau mit rosa, bei ihm gegen die Theaterwand, wie die blitzenden Silberschilde gegen das Tiefblau des Himmels, wie die drei Göttinnen auf dem Berge Ida gegen die hängende Weide stehen, wie er alles Kommen und Gehen in tänzerische Bewegung auflöst, das ist das Glückhafte an dieser Aufführung, nicht das bißchen frivoler Witz und Verspottung des Hahnreis Menelaos. Natürlich sind die Witze nicht mehr von 1864 aus Paris, sondern großenteils aufpolierte Sachen von 1931 aus Berlin W, vom Sex appeal bis zu Paneuropa.

Sie sind darum um keinen Deut besser als die alten. Aber das ist ja ganz nebensächlich, wie auch die Musik Offenbachs, die in Hoffmanns Erzählungen nicht wegzudenken wäre, in der von Reinhardt herausgebrachten Schönen Helena durch eine beliebige andere ersetzt sein könnte: das Auge schwelgt so, daß das Ohr kaum Zeit hätte, sich gleichzeitig zu sättigen. Auch ein Bierulk kann so geadelt werden. Der Menelaos ist nicht vom Kurfürstendamm, sondern, wie auch Gott Merkur, noch von der Grenadier- oder Münzstraße, auch andere Darsteller lassen manches zu wünschen übrig, aber die schlanke Friedel Schuster macht einen ganz herrlichen Orestes, Gerd Niemar ist als Paris ein trefflicher jugendlicher Tenor, und an La Jana (der aus den Drei Musketieren bekannten akrobatischen Tänzerin) als Aphrodite hat man seine helle Freude; obgleich sie in diesem Stück, das sei nicht verschwiegen, nicht viel mehr Tanzkunst zu zeigen hat, als es zur Not jede Studierende der Hochschule für Leibesübungen am Stadion wohl auch fertig brächte. Wer in Berlin WW heute noch "greifbar" und nicht auf Ferienreisen ist, der ist sicher im ausverkauften Hause Reinhardts zu finden. Da gibt es noch keine Kassensorgen. Man läßt sich die veredelte Musikposse baß gefallen.

Noch ein anderes Theater ist gut gefüllt, das in der Stresemannstraße, einst als Hebbeltheater gegründet. Darin auch eine Ehetragödie, eine doppelte sogar, ebenfalls ins Schwankhafte verzerrt, "Der Kreis" von Maugham, ein alter Reißer, mit dem man als Star die Provinz gut abgrasen kann. Weshalb Kreis? Weil das Ende zum Anfang zurückkehrt, nämlich - Verzeihung - zwei Dreiecke sich runden.

Der Star ist Elisabeth Bergner, die geschäftstüchtige, die keine Sommerferien kennt, sondern schon seit einiger Zeit mit einer eigenen Truppe "auf Tournee" geht. Sie kommt gerade aus München. Nach acht Tagen stehen ihre Zelte wieder anderswo. Das englische Stückchen von der davongelaufenen Frau und der davonlaufenden Schwiegertochter, nebst allen dazugehörigen Männern im Zusammentreffen und Zusammenspiel, versucht ein bißchen Gesellschaftskritik, bleibt aber in deren Anfängen stecken. Die Darsteller sind - Elisabeth Bergner versteht zu sparen - mäßiges Mittelgut, nur "sie" soll ja als Star hervorleuchten.

Dieses körperlich infantile, ungraziöse, stimmlose Wesen mit der ungelenken Aussprache des Deutschen besitzt eine überragende Intelligenz und ist durch diese ihre Intelligenz der Liebling aller Gerissenen geworden, in Berlin die höchstbezahlte Schauspielerin, weil sie eben ihr zahlungskräftiges Publikum sicher hat. Sie mimt immer, auch wenn sie eine reife Frau darzustellen hat, das zerbrechliche Kind. Es gibt ja, auch im Künstlerischen, Liebhaber für grüne Früchtchen, das weiß die Bergner, die aus der Not eine Tugend macht. Sie ist grünes Früchtchen auch in scheinbar erotischen Szenen, die sie sozusagen kindhaft verniedlicht, weil sie sich ihrer Wirkung durch dieses System bewußt ist. Sie verliert sich nie an eine Rolle. Sie wird nie auf der Bühne aus Leidenschaft eine Persönlichkeit. Sie bleibt immer die überlegte Virtuosin.

Wer nicht nur den Intellekt anbetet, dem sagt sie wenig. Eine einzige Agnes Straub mit ihres deutschen Herzens Allgewalt wiegt zehn Elisabeth Bergners auf.

Soweit unsere heutige Jugend eiskühl ist, ist auch die Jugend von der Bergner hingerissen. Diese Jugend steht noch viertelstundenlang nach Schluß vor dem eisernen Vorhang, tobt immer wieder in Beifallsstürmen, bis die Bergner noch einmal und noch einmal erscheint. Dutzende von Händen strecken sich ihr entgegen, drücken die ihrigen, streicheln ihre mageren Ärmchen, versuchen zuletzt sogar, die ganze kleine Person ins Parkett herunterzuziehen. Ein Schwergewichtler der Bühne muß sie um die Taille fassen, damit sie oben bleibt. Es sind auch junge Männer unter den eiskühlen Tobenden, aber keiner von ihnen würde die Bergner etwa entführen wollen. Früher spannte man beliebten Mimen die Pferde aus, heute klaut man ihnen die Autos; und der tiefste Grund der "Begeisterung" ist das Staunen darüber, welche Macht von dieser virtuosen Rechnerin ausgeht. Das möchte man - auch so können.

Eigentlich ist es aber nur noch ein kleiner Kreis, der diesen Gefühlen so Ausdruck geben kann. Das Theater ist in Berlin nicht mehr eine Angelegenheit der Nation, sondern der Gutsituierten.

Die 31 000 zum ersten Male Daheimgebliebenen gehen nicht ins Theater, sondern, in diesem Jahre mehr denn je, in die Freibäder. "Aber sonntags kann man doch nicht!", sagt mir entrüstet die Witwe eines Seeoffiziers, der ich geraten habe, sie solle mit ihren beiden Kleinen dorthin. Doch, man kann! Früher wäre es vielleicht für unsereins so gut wie unmöglich gewesen. Auch heute kommt es freilich noch vor, daß tätowierte Mitglieder der "Wedding-Kolonne" hier erscheinen, daß sternförmig acht junge Männer sich lagern und aus der "Roten Fahne" sich vorlesen lassen, aber man braucht ja keine Notiz von ihnen zu nehmen, und sie selber machen sich auch nicht mausig. Natürlich bin ich am letzten heißen Sonntag auch dagewesen und habe sogar Bekannte der besten Gesellschaft dort vorgefunden. Dazu viel "Volk", aber gutes, ruhiges, anständiges, erholungsbedürftiges Volk. Die gemeinsame Not macht uns alle still und dankbar.

Manch einer hat auch noch ein paar Extragroschen übrig. Zwei Mädel möchten sich von dem Strandphotographen typen lassen. "Gemacht!", sagt er. Aber sie zögern. "Sie, Herr Photograph, haben Sie einen Kamm bei sich?" Nein, den hat er nicht. Und so zerschlägt sich das Geschäft, denn unfrisiert will keine Nixe sich verewigen lassen.

Auch die offiziellen fliegenden Händler werden reißend ihre Salzgurken, ihre Milch, ihr Obst, ihre Schokolade los. Auch Speiseeis in sauberem Staniolpapier, sogenannte kalte Küsse.

"Mir auch einen eisigen Kuß!"

"Ach, Fräulein, Ihnen gäbe ich lieber einen feurigen!", sagt der junge Händler.

Übelnehmen gibt es nicht, es wird bloß gelacht.

Am besten gehen immer noch Bananen, die wir wirklich nicht nötig hätten. Der Berliner nennt sie Negergurken, und seit dieser Ausdruck sich eingebürgert hat, sind sie noch einmal so volkstümlich geworden.
9. Juli 1931 (Donnerstag)



Glossen 40 - 42

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Glossen 46 - 47

© Karlheinz Everts