"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 40 - 42
4. bis 18. Juni 1931


40

Skagerrak-Feier - Das Totenmal in der Reichshauptstadt - Invictis victi victuri - Von unseren Arrivierten - Die Flanellhose - Aus der Geschichte der Schaufensterfiguren - Der junge Mann mit Auto.

Das Soldatenhandwerk sei ein verächtliches Gewerbe, predigen uns die Neudeutschen; einer von ihnen hat sogar von dem "Felde der Unehre" gesprochen, auf dem unsere Kämpfer gefallen seien. Solchen Leuten würde in anderen, männlicheren Nationen schnell der Mund gestopft werden. Wir Deutschen aber müssen erst allmählich wieder den Stolz auf Mannestat lernen, der uns im Jahre 1918 verschüttet worden ist.

Eine Ahnung von dieser Notwendigkeit ist sogar dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert aufgeblitzt, so daß er durch eine Verordnung den Wunsch der Marine genehmigte, daß alljährlich zur Skagerrak-Feier alle Schiffe die alte Kriegsflagge hißten. In gleichem Sinne hat Hindenburg den Brauch eingeführt, daß jeweils an den beiden Tagen dieser Seeschlacht deutsche Matrosen die Ehrenposten in Berlin stellen. Das ist seither eine wahre Volkserhebung geworden. Zehntausende säumen den Weg von Moabit über die Königin-Augusta-Straße bis zur Wilhelmstraße, wo unsere "blauen Jungen" mit Tschingtara in strammem Schritt durchmarschieren.

Da strahlt Zukunftsfreude hellauf. Bisher wurde uns nur Vergangenheitstrauer gelehrt.

Auch das endlich eröffnete Totenmal für die Gefallenen des Weltkrieges in der Reichshauptstadt, in der Schinkelschen ehemaligen Neuen Wache neben dem Zeughaus Unter den Linden, ist keine Kundgebung des Stolzes, wie es die Grabstätte des "Unbekannten Soldaten" für jedes andere Volk ist.

Verführen wir dabei nach dem Beispiel von Paris und Budapest, so müßte der Sarkophag unter oder vor dem Brandenburger Tor stehen, sichtbar für jeden Daherwandelnden oder Daherfahrenden, wuchtig und groß. In London mahnt die Erinnerung hoch über dem dicksten Verkehrsgewühl, und kein Engländer - auch der Fremde fügt sich der Sitte - geht vorüber, ohne durch Hutabnehmen das Heldentum zu grüßen: To the Glorious Dead. In Rom ist die Ehrentafel in das ungeheure Marmorgebirge, das sich Nationaldenkmal nennt, gebettet, und da leuchten immer wieder frische Weihekränze weit über die Piazza. In Berlin aber hat man sich scheu, nicht mit Stolz, sondern mit betonter Trauer, in ein geschlossenes Gebäude geflüchtet, eben in die Neue Wache; hier ist es eine ausgesprochene Gruft. Die Wände kahles Mauerwerk, der Boden Klinkerpflaster, in der Mitte ein großer, tiefschwarzer Würfel mit einem stilisierten steifen Lorbeer-Eichen-Kranz darauf, davor im Boden - neben dem Rost, durch den das aus dem offenen Oberlicht kommende Regen- oder Schneewasser abfließen soll - eine Platte mit den Zahlen 1914 und 1918, hinter dem Block zwei eiserne Mannesmannröhren (Kandelaber kann man die Dinger nicht gut nennen) mit je einem Flämmchen. Das ganze ist nüchtern und erkältend.

Und doch wenigstens endlich eine Ehrung unserer Gefallenen, von denen die regierenden Roten uns bisher immer einzureden versuchten, sie seien nutzlos für eine schlechte Sache dahingeopfert. Ja, wenn sie als Revolutionäre auf den Barrikaden gefallen wären, im Bürgerkrieg, im Bruderkrieg! Aber sie kämpften und litten ja nur für die gesamte Nation, für Kaiser und Reich, als Verteidiger von Leben, Ehre, Freiheit, Eigentum jedes einzelnen Deutschen, als Hüter von Kraft und Glück, bis alles zerbrach, nein: zerbrochen - wurde.

Außer den beiden Zahlen grüßt keine Inschrift von dem Würfel oder den Wänden. Die Sprache ist uns verschlagen. Was man auch schriebe, irgendein Volksteil würde aufbegehren, entweder der von links oder der von rechts. Also schweigen wir mutlos.

Wer mehr haben will, der geht um die Universität herum in deren Gartenhof. Dort erhebt sich das Denkmal der gefallenen Studenten. Man hat für die jungen Akademiker, die das verstehen, eine lateinische Inschrift gewählt. Sie ist einprägsam und stark. "Invictis victi victuri!" So monumental kann man es im Deutschen nicht ausdrücken. Es heißt: Den Unbesiegten die Besiegten, die einst siegen werden! Da ist Stolz auf die Vergangenheit und Stolz auf das Kommende, Trauer nur um die Gegenwart.

Die große Masse freilich kennt weder Stolz noch Trauer, sondern lebt ohne Zukunft dahin. Läßt es sich nicht auch so ganz gut leben, wenn man nur zu leben versteht? Da ist ein roter Würdenträger in Berlin, der seit ein paar Jahren das Gehalt eines höheren Beamten bezieht, vorher nur sein Existenzminimum hatte, aber jetzt für 125 000 Mark eine Villa sich erwerben kann. Woher das Geld kommt? Dumme Frage! Woher hat Scheidemann auf einem einzigen seiner Bankkonten Werte von rund 100 000 Mark? Woher besitzt der Genosse Heilmann ein Vielfaches davon? Genug, wir wissen, daß die Herren alle "arriviert" sind, gelandet in der Großbourgeoisie, die sie angeblich bekämpfen. Es war nur der Kampf um das eigene Hineingelangen. Was, die Arbeiterschaft draußen will einem jetzt "dumm kommen"? Bloß das nicht! Es ist vielleicht das beste, man läßt sie nicht hineinsehen.

Daher schon vor Jahr und Tag der Erlaß der roten Preußenregierung, Minister dürften während ihrer Teilnahme an Festessen nicht mehr photographiert werden. Oder man hilft sich anderswie. Ein sozialdemokratischer Oberpräsident, dem einst vorgeworfen wurde, daß er mit Kind und Kegel und mit dem Schwiegerneffen und dessen "Freundin" eine Luxusreise unternommen habe, ist dieser Tage von einem Amerikabummel heimgekehrt, auf einem deutschen Prachtschiff, natürlich erster Klasse. Aber in der Passagierliste durfte der Schnelldampfer "Steuben" den Namen seines hohen Gastes nicht führen, weil der offenbar ein Interesse daran hatte, daß die Reise den steuerzahlenden Untertanen nicht bekannt würde.

Was ich nicht weiß, macht mir das Herz nicht heiß. Hat doch jedermann so schon seine Sorgen.

Auf einmal gehört zur notwendigen Bekleidung jedes Gentlemans, ob er nun alter Geheimrat oder junger Arbeiter ist, die hellgraue oder hellbraune Flanellhose. Die ist zur Zeit das einzige große Saisongeschäft der Konfektion. Die Damen aber stürzen sich wie im Vorjahr auf alles Buntgeblümte und Buntgetupfte, das den meisten frühlingsmäßig reizend steht, bei einige von ihnen aber an unsere Kanonen aus dem letzten Kriegsjahr erinnert, die auch so scheckig getarnt wurden. Wer keine Strandhaubitze sehen mag, der kann seine ästhetischen Genüsse sich an den Schaufenstern holen; die modernen Dekorationsfiguren in ihren luftigen Gewändern sind wirklich eine Augenweide. In eine von diesen Wachsdämchen habe ich mich, in Ermangelung eines gleichwertigen lebenden Modells, vor ein paar Wochen richtig verliebt. So wie der sagenhafte König Pygmalion, dem es ähnlich mit einer von ihm angefertigten Elfenbeinstatue erging, die dann von der mitleidigen Göttin Aphrodite belebt wurde. Da konnten die beiden aufatmend heiraten.

Seit drei Wochen ist meine Puppe aus dem Eckfenster des Warenhauses verschwunden, seit drei Wochen ist meine Liebe zu ihr tot. Ein lebendiges Seelchen ist doch etwas ganz anderes, sagen Sie? Gewiß, gewiß! Jedenfalls aber hat das einwöchige Verliebtsein vor dem Schaufenster mich zu der Untersuchung veranlaßt, wie dergleichen überhaupt möglich sei. Und die Lösung des Rätsels lautet: heute haben diese Dekorationsfiguren wirklich individuelle Gesichter, sind sie nicht mehr Puppen, sondern Persönlichkeiten.

In einer unserer größten Modellfabriken, Boehm & Co., die auch weithin ins Ausland liefert, bitte ich ein bißchen herumstöbern zu dürfen. Da entdecke ich zunächst, daß es gar nicht mehr Wachs ist mit seinem leichenhaften Glanz, sondern eine Hartmasse mit naturhafter Tönung, aus der die Bildhauer diese Modelle formen. Da stehen nun alle die schönen Damen - ich darf gar nicht sagen, wie wenig bekleidet - um mich herum, ich mache nach rechts und nach links meine Verbeugung, denn in der ganzen stummen Umgebung erkenne ich viele, die lebenden Menschen "sprechend ähnlich" sind, darunter einer hervorragenden russischen Tänzerin, einer hübschen jungen Segelfliegerin, einer auf den Tanzdielen des Westens oft gesehenen Mondäne, einer Anfängerin aus dem Romanischen Café, einer früheren Schauspielelevin aus der Reinhardtschule. Bei vielen kriege ich es nicht heraus, wo ich ihnen begegnet bin. Aber auf der Straße würde ich unwillkürlich den Hut ziehen. Es ist frappant. Es gibt keine Dutzendgesichter mehr.

In alten Zeiten kannte man nur Aushängeschilder, keine Schaufensterdekoration. Zu einer wirklichen Kunst hat sich diese erst seit etwa 40 Jahren entwickelt. Die damaligen Dekorationsfiguren können wir aber heute nicht mehr sehen, ohne zu lachen.

Es waren keine auf eigenen Füßen stehenden Figuren, sondern nur Oberkörper auf einem Dreibein. Der lange Rock reichte doch bis zum Fußboden und verdeckte das Gestell. Um die Wespentaille - schrecklich, schrecklich - spannte sich die Bluse, deren Stäbchenkragen den Hals hoch hinauf abschloß; darauf saß der übliche Serien-Puppenkopf. Etwa um die Zeit der Berliner großen Gewerbeausstellung herum, um 1896/97, wurde als Sensation das erste "ganze" Modell in den Katalogen ausgeboten:

Nr. 3882. Liane.  

Sitzende Damenfigur, vollständig naturgetreu!
Weißer Bezug, mit abnehmbarer Wachsbrust und
Armen in Ia künstlerischer Ausführung, ohne
Stuhl Mk. 305.-

Nein, für dieses Greuel mit Riesenbüste hätte ich mich nie erwärmt. Starr blickte es geradeaus. Auch die männlichen Figuren mit Haby-Schnurrbart sahen damals ganz hölzern aus.

Als wir dieser Puppen - heute sind sie noch allenfalls bei Bauchrednern im Variété ähnlich über den Leisten geschlagen - überdrüssig geworden waren, begann das große Tasten. Eine Weile versuchten es die Modellfabriken, statt der deutschen Puppengesichter den ausgesprochen orientalischen Typ zu lancieren. Das war ein Mißerfolg. Dann wurde man expressionistisch-futuristisch, endete bei der kopflosen Goldfigur mit Dreizackhals oder tünchte die Gesichter violett, grün, orange. In allerletzter Zeit, über die noch steife "neue Sachlichkeit" hinweg, ist man dann ganz realistisch geworden.

Man ist sogar ins Karikaturistische geraten. Da sehe ich im Lagerraum der Fabrik wie leibhaftig Siegfried Arno mit seiner Riesen-Hakennase ("Was kann der Sigismund dafür, daß er so schön ist") stehen, daneben einen kleinen Jungen mit Wasserkopf, der den Finger in den Mund steckt, dahinter einen Herrn mit Dickbauch und Kropfkinn.

Das darf nicht der letzte Eindruck sein. Also noch einmal hin zu den schönen schlanken Damen. Wie das alles lebt! Ich meine die Köpfe; die Körper sind gleichmäßige Idealfiguren, da wird nicht nach der Natur modelliert, und - das ist vielleicht gut so. Ich blättere noch in einem großen Katalog, der sich "Der neue Frauentyp im Schaufenster" nennt. Ich lerne daraus, daß die Schulter die Schönheit der Figur bestimmt, daß die Hand die Lebendigkeit der Haltung entscheidet, daß die Hüfte den Stoffbahnen den malerischen Fall gibt.

Dann ist dieser Spuk vorüber. Ich stehe wieder draußen im Sonnenlicht in der flutenden Menge. Die schönen Mädchen sind wie weggeblasen. Oder nicht? Jetzt wird der Blick bewußt suchend. Und, siehe da, es stimmt, es stimmt doch, was uns alle Fremden sagen, daß es ungezählte herrlich gewachsene Geschöpfe unter den Jungmädchen von heute bei uns gibt.

Dem Wert entsprechend der Preis. Oder, besser gesagt, die Umrahmung. Soll man, wenn man mit solch einem Wuchs an der Nähmaschine sitzt oder Bonbons verkauft, nicht von einem Milliardär träumen dürfen? Pah, der Monteur von nebenan! Der ist ja, man kann nichts sagen, wirklich ein braver Mensch und würde einen auch heiraten. Aber ob der jemals ein Auto oder auch nur ein Paar Oxford-Hosen haben wird? Diesen Mädels verdreht außerdem jeder dritte Film die Köpfe, in dem eine junge Friseuse von einem Generaldirektor heimgeführt wird oder so. Nun lesen sie in den Kleinen Anzeigen der Zeitungen, wieviele Auto- oder Motorbootbesitzer eine schicke Mitfahrerin suchen, und melden sich daraufhin, zunächst einmal vorsichtshalber paarweise.

Hurra, eine Antwort! Erwartungsvoll stehen Lissy und Dolly zu der Stunde, wo der Ersehnte mit hundertpferdigem Auto wohl heranbrausen wird, in ihrem besten Staate da. Es kommt eine kleine Muckepicke, und ihr entsteigt ein mickriger Konfektionsjüngling mit blaurasierten Wangen. Ach nu nee! Und Lissy sagt spitz: "Ist das Ihre Blechkommode?" Und Dolly übertrumpft sie eisig: "Das ist keine Blechkommode, das ist ein ausgetretener Rollschuh!" Die Verhandlung ist kühl und vornehm. Ein zweites Stelldichein der Enttäuschten ist selten. Der wackere Monteur oder Tischlergeselle oder Botenmeister oder Amtmann hat wieder Aussichten.
4. Juni 1931 (Donnerstag)


41

Aus muffiger Zeit - Der Sport als moralischer Faktor - Auf Suche nach einer Steuerfrau - Das "Hut ab!" des Chauffeurs - Bei den Segelfliegern in Gatow - Kein schwaches Geschlecht mehr - Tanzdamen im Badetrikot.

Da sitzt man denn mit dem alten Oberst a.D. beisammen und spinnt ein Garn aus vergangenen Zeiten. "Als ich noch Leutnant war, da hatten die Amorsäle nichts zu lachen!", sagt er und streicht sich schmunzelnd den Schnauzbart. "Seither hat sich aber die Welt sehr gewandelt", antworte ich, "denn heute geht der Leutnant allenfalls zu Roesch am Kurfürstendamm tanzen, aber nur mit jungen Damen der Gesellschaft.

Der Oberst sinnt nach und gibt mir Recht; auch in seinen Bekanntenkreisen ist es überall so, daß der freiere Umgang zwischen jungen Leuten aus guter Familie dazu geführt hat, daß die Anziehungskraft von Palais de Danse und ähnlichen Stätten, wo man berufsmäßige Huldinnen findet, doch sehr stark nachläßt.

Viel hat der Sport dazu beigetragen, die Freude an Luft und Sonne und an federnder eigener Kraft. Auch die gegenseitige Freude. Wenn früher die junge Dame, die in der einen Hand den Sonnenschirm hielt und mit der anderen Hand das lange Kleid raffte, einen Straßenbahn besteigen wollte, konnte sie dies kaum ohne fremde Hilfe. Heute springt sie mit elastischen, raumgreifenden Schritten daher. Der kurze Rock ist ein Kulturfaktor geworden. Er hat mehr für unsere auch moralische Entmuffung getan als tausend Traktätchen. Gute Sportkameraden sind die jungen Leute geworden, die unbefangen das Leben genießen können, ohne daß Schwüles sich zu melden braucht. Bei dem Oberregierungsrat im Berliner Westen schrillt das Telephon. Der in der Familie gut bekannte Leutnant, der sich schon als Primaner mit der Tochter des Hauses - und mit vielen anderen jungen Mädchen - harmlos duzte, will sie, die jetzige Studentin, sprechen. Bitte sehr. Es wird nach ihrem Zimmer umgeschaltet. Keine Mutter stürzt mit hochrotem Kopfe herbei und versucht zu horchen, denn heute gibt das Vertrauen auf das Kind mehr Sicherheit als früher die Überwachung.

"'n Tag, Else! Du, der Kelch ist an mir vorübergegangen, ich bin am Sonntag nicht Offizier vom Dienst. Frei ab Sonnabend zwölf! Ich möchte mit Martens, der auch dienstfrei ist, anderthalb Tage rudern, Doppelzweier mit. Hast du Lust? Wir suchen eine Steuerfrau, die uns bekocht und nett aussieht."

"Nein, Kerlchen, kann leider nicht. Du weißt doch, sonnabends von drei bis sechs haben wir Segelfliegen. Eher schwänze ich meine historischen Vorlesungen als das. Meine Schwester? Nein, die kann auch nicht. Die hat sich zum Hockey verabredet und hat so schon kaputte Schienbeine. Also haut alleine ab!"

Das tun die beiden Leutnants denn auch. Und ich brause in einer Autodroschke nach Gatow, um mir mal die Segelfliegerei der Mädels anzusehen. Es ist doch eine wunderlich verwandelte Welt, aber schön, schön! Unterwegs, an einem langen Stand von Droschken, fährt die meinige plötzlich langsam. Der Kutscher beugt sich hinaus und ruft: "He, Emil, ick komme nich vor Fümwen!", wendet sich dann entschuldigend zu mir um und sagt: "Jetzt Kolleje von mir, ooch Droschkenschaffehr, war im Kriege eine Zeitlang in Namur mein Hauptmann." Wo er gedient habe, frage ich den Mann. Marineluftschiffabteilung! "Da kannten Sie also den Fregattenkapitän Peter Strasser?" Mit einem Ruck hält das Auto auf dem Kaiserdamm, der Chauffeur zieht seine Mütze und sagt andächtig: "Hut ab vor den Mann! Ick habe zuletzt det Kasino jehabt. Die jungen Offiziere haben manchmal uff ihn jeschimpt. Aber er war schneidig un jerecht!" Und Stricker und Freiherr v.Buttlar und Wendt und die anderen? Ja, die kenne er alle, lauter feine Kerls, Gott sei Dank.

So, nun sind wir in Gatow an der Havel. Das liegt näher als die Wasserkuppe in der Rhön oder Rossiten auf der Nehrung, wohin mich längst die Sehnsucht zog, die aber für den beruflich täglich an Berlin Geketteten unerreichbar sind.

Von der Chaussee, auf der die Berliner Autobusse nach Cladow donnern, geht es ein Stückchen rechts ab und aufwärts, an einem richtigen Gutshof vorbei. Urplötzlich - man staunt, daß es so etwas so nah bei Berlin gibt - ist man auf dem Lande. Man steht auf der nächsten jenseitigen Erhebung an der Havel. Man schaut weit über die Ebene mit ihren Wiesen, Feldern, Wäldern. Herrgott, drüben, das ist ja schon Döberitz! D wie Döberitz, lang - kurz - kurz. Jedem Soldaten ein vertrauter Klang. "Taktaktak!", hämmert es leise herüber durch den Frieden der Natur. Maschinengewehre tacken von ferne.

Und Lerchen tirilieren, Grillen zirpen rund um mich.

Oben auf dem Hang steht ein großer Kunstvogel aus Stahldraht und Leinewand, ein motorloses Segelflugzeug. "Fräulein Karla, drehen Sie die Maschine in den Wind und bleiben Sie dabei, bis die anderen kommen!", sagt der Fluglehrer. Fräulein Karla, in Hemd und Trainingshose, mit braunem Gesicht unter blondem Schopf, dreht das leichte Gestellchen und legt sich ins Gras. Da wimmeln noch andere Mädels herum, meist nur in ganz kurzer Sporthose, Laien würden sagen: im Badeanzug. Auch einige Jünglinge.

Diesmal ist es eine Gruppe von der Hochschule für Leibesübungen, der vier Maschinen zur Verfügung stehen, die auch von den jungen Philologen und Philologinnen der Universität benutzt werden. Was, du willst mal Studienrätin werden, Kleine? Für Deutsch und Religion? Ja, ja, ich weiß schon, Turn- und Ruderkursus hast du hinter dir, und nun kommt das Fliegen dran. Glück ab, Mädel! Ja, ja, als deine Mutter das Lehrerinnenexamen machte, da gab es so etwas noch nicht. Hier in Gatow üben auch schon 11 Schülergruppen von annähernd je 20 Mitgliedern, von 8 Gymnasien und 3 Berufsschulen; diese für Bauhandwerker, für das graphische Gewerbe, für Metallarbeiter. Der Reichsverband deutscher Lehrer für den motorlosen Flug, für das selige Dahingleiten und Aufwärtsschweben, ist der Unternehmer. Schon im vorigen Jahre hat Gatow nicht weniger als 5500 Aufstiege erlebt.

Einen sehe ich mir an. Der jüngste Flugschüler ist noch nicht 16, der älteste über 40 Jahre alt. Gerade eben setzt sich die junge Frau des Volksschullehrers, der die Übungen leitet, in den Apparat. Knüttel und Fußbrett sind da, man kann also Höhensteuer, Verwindung, Seitensteuer wie auf dem Motorflugzeug bedienen, nur der Gashebel fehlt und die übrige Maschinerie. Das leichte Gestell steht auf Kufen. Zwei lange Taue, jedes aus 600 feinen Gummischnüren kabelartig gewunden, werden vorn in die Öse des Flugzeugs gehakt, sechs Paar kräftige Fäuste fangen an zu ziehen, während das Flugzeug festgehalten wird, sechs Paar kräftige Beine fangen den Hang hinunter an zu laufen, nun wird im Augenblick der stärksten Spannung losgelassen, das Flugzeug schnellt empor, die Taue lösen sich selbsttätig aus und fallen zu Boden: da, da, der weiße Vogel schwebt! Schwebt wundervoll ruhig daher und landet weit hinten sanft auf einer Wiese.

Hier wird jeder, der guten Gleichgewichtssinn hat, so weit gebracht, daß er ein paar Minuten fliegen, eine S-Kurve drehen, sich über den Startplatz mit Aufwind erheben, sich durch Hinunterdrücken schnelle Fahrt geben kann. Wasserkuppe, Grunau, Rossitten sind nach dieser Vorschule dann die Hochschule. Im Segelflug haben wir Deutschen alle Weltrekorde: 3100 Meter hoch, 265 Kilometer weit. Der Darmstädter Segelflieger Fuchs zog in der vorigen Woche stundenlang seine Kreise in 900 bis 1200 Metern Höhe über Berlin; die Großstadt ist ein brodelnder Kochtopf und hat viel Aufwind. Es gibt überall solche vertikalen Strömungen, am stärksten, wenn vor einer Gewitterwand die Kaltluft über den Boden fegt und vor ihr die warme überall eilends emporflüchtet. Die motorlosen Flugzeuge segeln stundenlang daher wie ohne Flügelschlag der Albatros.

Man kriegt selber Lust, obwohl man Zeppelinschiffer und Motorflieger gewesen ist. Wenn man nur Zeit hätte! Ich habe jahrelang eifrig dem Freiballonsport gehuldigt. Da weiß ich, wie schön das Luftschwimmen ist.

Die jetzt heranwachsenden Buben und Mädchen sollen die Freude wenigstens haben. Sie zahlen in ihren Schülergruppen nur 1 Mark monatlich Beitrag. Das Segelfliegen kostet ja keinen teuren Betriebsstoff. Überall in Deutschland erstehen schon Übungsplätze.

Diese neue Jugend - und auch die älteren Semester, die sich jünger erhalten haben, als es früher möglich war - tummelt sich in diesem Jahre mehr denn je in den Freibädern um Berlin. Die haben ein völlig verändertes Gesicht bekommen. Noch vor acht Jahren erlebte man es vielfach, daß der junge Mann mit "seinem" Mädel zum Wannsee zog, daß diese Pärchen sich dann in den Sand lagerten und sich mit der einen mitgebrachten Wolldecke zudeckten. Kommt heute nicht mehr vor. Es ist eine gesündere Zeit. Man kann paarweise kommen, aber es ist nicht nötig, denn man kommt doch nicht zum "Amusement", sondern um den eigenen Körper Luft und Sonne trinken zu lassen. Je mehr, desto besser. Das sehen wir schon junge Damen, die nicht einmal den üblichen Badeanzug, sondern nur, ohne jede Koketterie, eine Art Büstenhalter und eine kleine Herrenbadehose anhaben.

Auch Lilian Harvey hat sich so, "mit Bauchnabel", photographieren lassen.

Sogar meine Frau, die doch über die revolutionäre Jugend hinaus und jeder bewußten Schaustellung weiblicher Reize abhold ist, rümpft nicht die Nase, sondern freut sich. Es kommt hier wirklich nicht auf "Reize" an. Es führen wirklich nur "die Wege zu Kraft und Schönheit" hierher. Kaum je früher sah man so viele prachtvoll gewachsene junge Mädchen und junge Männer. Wer aber auf Abenteuer ausgeht, der sollte sich lieber andere Jagdgründe suchen. Er kann von einem Mädel, das er anspricht, eine derartig hochmütig-überlegene Abweisung erfahren, daß er sich schleunigst verdrückt. Aber mit einem, dem man es ansieht, daß er nicht kam, "ein Weib zu finden", kann man natürlich plaudern. Man kennt doch sich selber. Man ist nicht mehr schwaches Geschlecht. Man könnte sogar ruhig in die Höhle des Löwen gehen, auf die Bude irgend eines Junggesellen der gleichen gesellschaftlichen Schicht. Wenn er keine Ehrfurcht kennt, wird sie ihm beigebracht; und wenn er angriffslustig wird, kann er versichert sein, daß das junge Sportmädchen genau weiß, wo der Solarplexus sitzt, und den Angreifer durch einen Magenhieb kampfunfähig macht.

Es wird noch einiger Zeit bedürfen, bis wir, die aus der vorigen Generation, das begriffen haben. Ich selbst habe schon vor einer Reihe von Jahren umgelernt; der Eindruck der entmufften Jugend war sehr stark.

Was heute "aus der Provinz" herkommt, ältere Leute, die das "dolle" Berlin erleben wollen, um nachher am Stammtisch renommieren zu können, das hat noch keinen Blick für die Gesundung. Das sucht nach den Reizen von früher, die doch immer "raffinierter" werden müßten, das wünscht sich die Amorsäle zurück und - findet freilich auch sie verzehnfacht. Sie heißen nur anders. Und die Tänzerinnen tragen keinen Schnürpanzer und auch nicht den einst - was waren das doch für komische Zeiten - so verführerischen Schlitzrock, sondern tragen in einigen Lokalen fast nichts.

"Vierzig junge schöne Damen in Badetrikot!"

Das ist der seit einigen Monaten immer mehr zur Mode werdende Trick zum Anlocken der ältesten und behäbigsten Berlinpilger aus dem Reiche. Wenn man diese Leute, zum Teil noch mit baumelndem Kneifer auf der Nase, ungepflegt in der äußeren Erscheinung und in der Gewandung, hordenweise in solchen Lokalen sieht, sehnt man Karl Arnold oder einen anderen Simplizissimus-Zeichner zu Momentaufnahmen herbei.

Der größte dieser Badetrikot-Betriebe ist in einer Gaststätte der Berliner City, deren Besitzer Meyerstein heißt, sich aber in den Zeitungen andersrum nennt, keine übertriebenen Preise macht und daher immer noch floriert. Also da sitzen die Mädchen, buchstäblich nur mit kurzem Badetrikot bekleidet, das nichts mehr verheimlicht und daher auch nicht mehr reizt, neben den Gästen an den Tischen, plaudern und trinken mit ihnen, tanzen auch auf Wunsch mit ihnen, wobei ihre nackten langen Beine, die wenigstens gerade Beine sind, in lächerlichem Gegensatz zu den ungebügelten Schlotterhosen des provinzlerischen Mittelstandes stehen. Es geht verhältnismäßig dezent zu, wenn auch hie und da ein alter Onkel, ein alter Esel, zaghaft einen bloßen Schenkel tätschelt und dafür eine neue Flasche oder ein paar Mark Tischgeld spendiert. Und es wirkt ekelhaft, wenn man aus der freien Gottesnatur hierher kommt.

Wer da glaubt, daß diese "vierzig jungen schönen Damen in Badetrikot" besoldet werden, der irrt sich. Im Gegenteil. Zugelassen werden sie nur, wenn sie Garderobegebühr und 2,20 Mark für ein Kaffeegedeck und sonst noch kleine Abgaben bezahlen, täglich zusammen 4 Mark. Sie sind also darauf angewiesen, ein Mehrfaches davon der Herrenwelt abzuschmeicheln, die hierher kommt.

Die alte Animierkneipe in neuer Gestalt. Es fehlt nur die früher polizeilich vorgeschriebene rote Laterne vor der Haustür. Die lockte damals die Unterprimaner. Die sind heute zum größten Teile Gottlob von anderen Interessen eingenommen.
11. Juni 1931 (Donnerstag)


42

Kein Niflheim - Der Sieg der Röllchensocken - Endlich einmal nicht am Schreibtisch - "Zeppelins Töchter" - Prinz August Wilhelm greift ein - Das Engelein - Verdreifachung der Verwaltungskosten - Vor dem Umschwung.

Nein, Deutschland ist kein Niflheim, kein Nebel- und Regenland, auch wenn es hin und wieder uns so scheint. Eher könnten Norweger und Engländer, ja sogar Schweizer darüber klagen.

Nicht jeder Sommer bringt uns zwar, wie der berühmte von 1921, der unseren Rheinwein so süßte, 92 Sonnentage, aber wer die gebräunte Berliner Menschheit, auch die ungeschminkte, sich ansieht, der weiß doch, daß man zuweilen in wörtlichem, nicht nur in übertragenem Sinne das Dichterwort zitieren darf: "Und die Sonne Homers, siehe, sie leuchtet auch uns!"

Wir vergessen nur immer so leicht die guten Tage, von denen wir jetzt wieder sechs köstlich hochsommerliche gehabt haben. Dann fliegt, nur leider noch nicht bei der gepanzerten Männerwelt, alles beengende in die Ecke, und luftig und leicht schweben die Mädchen daher.

Wenn sie nachmittags nach Bureauschluß über den übel duftenden Asphalt bei bereits 31 Grad Wärme müde heimwandern, sind sie freilich schon verwandelt, sind sie schwitzende Großstadtmenschen wie die Männer auch. Aber in der Morgenfrische sind sie eine Augenlabe. Da gehe ich kurz nach 7 Uhr einmal vor die Haustür, einmal "ums Viereck herum" ein paar Straßen ab. Ein Mütterchen holt sich die Milch, die grauen Haare sauber toupiert, das Hauskleidchen glatt gebügelt. Ein Beamter mit Aktentasche, noch mit hellen Morgenaugen, ist eine halbe Stunde früher als in besseren Zeiten aufgestanden, um sich Bewegung zu machen und - vor den Scherl-, Ullstein-, Mossefilialen seines Viertels die ersten Seiten sämtlicher Zeitungen durchzulesen und auf diese Weise sich kostenlos über die Weltereignisse zu unterrichten. Schulkinder trollen noch mit blanken Schuhen daher und sind um diese Stunde von Sorgen ganz unbeschwert. Vor allem aber: die vielen, vielen jungen Mädchen! Noch haben sie den Berufsärger nicht im Sinn, vielleicht auch noch nicht ihren Schatz und den Tanztee am Nachmittag, sondern sie trinken Luft und Sonne und schreiten mit federnden schlanken Beinen aus. Selbstverständlich mit nackten Beinen; die gesunde Mode der Röllchensocken hat auf der ganzen Linie gesiegt.

Es soll noch Eltern und Lehrer und Pfarrer geben, die verzweifelt die letzte Redoute halten und sagen: "Aber für Konfirmandinnen schickt sich das nicht mehr!"

Warum nicht? Es schickt sich alles, was nicht häßlich oder sündig ist. Nur das Verhüllte entblößt; das klingt paradox, ist aber wahr, und das weiß jedermann, der die Wirkung eines nahtlosen Seidenstrumpfes kennt. Also laßt den Kindern die Röllchensocken! Selbst wenn die Kinder schon 25 Jahre oder mehr erlebt haben. Nur den Schlampigen steht so etwas nicht. Aber drüben die saubere Portiersfrau, die selbst schon eine verheiratete Tochter hat, kann ruhig in dieser Sommertracht sich zeigen. Zum einfachen Kattunkleid. Wir finden ja auch nichts unschickliches darin, wenn auf dem Lande die Mägde barfuß im Felde arbeiten, nur mit grobem Rock und Hemd.

Allerdings gibt es eine Grenze, die jede Frau kennen muß. Da kommt mir eine entgegen, die hat diese Grenze, nicht des Alters, aber der Figur, überschritten. Da sehen die Röllchensocken aus wie die Papiermanschette am Hammelkotelett, dieses in tausendfacher Vergrößerung.

Zum Nachmittagskleid auf der Tauentzienstraße paßt diese Tracht nicht. Auch nicht zum Abendkleid im Theater. Wohl aber zu jedem Ausflug aus der großstädtischen Asphaltwüste hinaus. Sehnsüchtig sieht man den Eisenbahnzügen, den Dampfern, den Flugzeugen nach, die in die Weite gehen. Seit neun Monaten zum ersten Mal habe auch ich mir diesmal einen Sonnabend freinehmen, fast schluchzend vor Glück ein erstes Wochenende in Sonne und Bergwald feiern können.

O Täler weit, o Höhen!

Wir armen großstädtischen Schreibtischmenschen, die kaum mehr den Gebrauch der Beine kennen, weil die Hetze nur mit Straßenbahn, Auto, Untergrund zu bewältigen ist, können uns dann vor Seligkeit nicht lassen. Man weitet die Brust, man ballt die Faust, man kriegt auf einmal sein altes Jungenlachen wieder zurück, und der typisch berlinische Erschöpfungszustand weicht wie Nebel vor der Sonne.

Reisen und Wandern, Reisen und Wandern!

Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt, auch wenn es bloß bis zum verträumten Pfaffenstein drüben im Lande Sachsen ist oder bis zum Fläming in der Mark Brandenburg oder bis zur mecklenburgischen Seenplatte. Viele andere Leute haben freilich schon ihre "richtigen" Ferien angetreten, vielleicht zum ersten Mal schon so früh, weil in der Vorsaison überall noch billige Pension zu haben ist. Die Welt ist überflutet - wenn auch nicht so stark wie in früheren reichen Zeiten - von allerlei Deutschen, und das alte Kapitel "Der Berliner auf Reisen" wird um einige neue Anekdoten bereichert, die man sich dann landauf landab erzählt. Ich denke nicht daran, sie zu vermehren. Nur ein paar Sächelchen aus diesen letzten Tagen seien herausgegriffen, Erlebnisse von Berlinern unterwegs, aber ohne jeden Beigeschmack.

Das Erste. Berliner in Riccione. Die Sekretärin des Fremdenheims, der Pförtner, ein Kellner sind Bozener Tiroler, die man um ihrer Doppelsprachigkeit willen gerne nimmt, zumal da in Italien die reichsdeutschen und österreichischen Gäste überwiegen. Das Personal hat täglich seinen Kummer. Warum sprechen die Deutschen nicht deutsch? Jeder Engländer spricht doch englisch. Aber die Deutschen müssen unbedingt ihr bißchen Schulfranzösisch anbringen oder italienisch radebrechen. Je mehr sie das tun, desto weniger wird man geneigt sein, deutschsprechendes Personal zu halten. Und was soll man dazu sagen, wenn sogar "die beiden Töchter des Grafen Zeppelin", den der Kaiser den größten Deutschen des beginnenden 20. Jahrhunderts nannte, in Riccione nur englisch miteinander parlieren? Aber die Sekretärin, der Pförtner, der Kellner irren sich. Die eine der beiden Damen, die sich als Contessa Zeppelin eingetragen hat, ist eine geborene Mary McGarvey aus Kanada und hat nur einen in Steiermark wohnhaften Neffen des Grafen geheiratet, und die andere, die Lavendel heißt, ist auch amerikanischer Herkunft.

Das Zweite. Der Dr. Prinz August Wilhelm in der Eisenbahn. Ihm gegenüber sitzen zwei ältere Herren, augenscheinlich aus sogenannter guter Gesellschaft, der eine von ihnen der typische höhere Beamte. Sonst noch im Abteil: zwei Amerikanerinnen. Der Prinz hat gerade mein Büchlein "Bülow und der Kaiser" weggesteckt. Die beiden Herren unterhalten sich über dasselbe Thema, der eine bekennt sich als Bewunderer Bülows und schmäht den Kaiser, der, das wisse man ja, anormal gewesen sei. "Das ist mein Vater!", ruft da Prinz August Wilhelm, springt auf und redet in glühenden Worten, so wie nur verletzte Sohnesliebe sie eingeben kann, für den Kaiser. Die Herren sind indigniert. Die zwei Damen, die kein Wort verstehen, nur entsetzt über den Krach sind, werden von dem Prinzen auf englisch darüber unterrichtet, daß sein Vater beschimpft worden sei und er ihn verteidige. Nun nehmen sie seine Partei. Das verstehen sie. Ein Lump, der es besser weiß, aber aus Feigheit schweigt, wenn jemand verleumdet wird.

Das Dritte. Reisende im Flugzeug. Es fliegt die schönste Strecke, die es von Berlin aus gibt, die nach Westen über die Schlösser und Seen. Es soll über Köln nach London. Vorn, gleich hinter dem Bordfunker, sitzen, ohne daß es mit einem Worte verlautet, die Hätschelkinder der zusammengewürfelten Reisegesellschaft von meist Großkaufleuten, nämlich ein nettes Pärchen, das offenbar seine Hochzeitsreise angetreten hat. Meist Hand in Hand. Die Köpfe nah, ganz nah bei einander, denn - nicht wahr - der Motorenlärm ist doch arg und man versteht sonst nicht, was man an verliebter Torheit einander zu sagen hat. Die blutjunge Frau, zum ersten Mal in der Luft, hat ein bißchen Angst, der Mann aber, der welterfahrene, macht sie nur auf alle Schönheit der Welt aufmerksam. Der Bordfunker strahlt auch. Er zeigt auf der Kartenrolle der Dame immer die Position. Vor Magdeburg, in 1100 Metern Höhe, kommt man "in die Milchsuppe", in die Wolken, und ist gleich darauf über ihnen, über dem geballten leuchtenden Weiß. "Nun bist du ein Engelein!", jauchzt der Mann. Und ebenso jauchzend erwidert sie, indem sie ihm anstrahlt: "Jawohl, lieber Gott!"

Wie Figura zeigt: es gibt auch liebe Berliner.

Es sind nicht alle so, wie sie immer geschildert werden, patzig, eingebildet, großmäulig. Was sie so macht, das ist vielfach wohl bloß versetzte Sehnsucht nach dem, was draußen ist. Und das Verhocktsein in den Steinmauern. Die mögen manchmal imposant sein. Da ist man denn blasiert, da fängt man an zu prahlen, da ist draußen nichts mehr überwältigend. Du erzählst irgend einem Berliner von irgend einer fabelhaften Gaststätte irgendwo. Und da bemerkt er hohnvoll und sachlich richtig: "Das Hauptrestaurant im Berliner Zoo mit 20 000 Sitzplätzen im Hause und davor ist das größte in ganz Europa!" Stimmt, stimmt; aber dicht daneben das Café am Zoo will seine Pforten jetzt schließen, wie es das Rheingold schon am 1. Mai getan hat, und von den Luxushäusern geht überhaupt eins nach dem andern ein.

Kein Wunder. Abgesehen von den Tributsteuern braucht die öffentliche Hand heute auch sonst viel zu viel von uns. Im Jahre 1913 betrugen die Verwaltungskosten des Deutschen Reiches 3,2 Milliarden Mark, während es heute 10,1 Milliarden sind.

Und die neueste Verordnung zur Not hat Gesetzeskraft erhalten.

Und wir sinken immer tiefer.

Aber einmal, sehr bald, spätestens im kommenden Winter, sind wir auf den Boden gelangt und schnellen dann wieder empor. Die Tage der heutigen Tributpolitik sind gezählt. Es gibt keinen Stand und keinen Beruf mehr, der noch Vertrauen zu den bisher Regierenden hätte, und einmal wird das in einem explosionsartigen Ausbruch sich zeigen, wenn auch nur an den Wahlurnen. Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber. Bisher haben sich immer noch Mehrheiten für die den Roten hörigen Mittelparteien gefunden, aber darüber sind wir nun, nach der neuesten Notverordnung, die wiederum fast jedem Deutschen ein vollen Monatseinkommen wegnimmt, wohl hinaus.

Nicht nur wir warten auf den Tag des großen Umschwunges, sondern auch das gesamte Ausland sieht ihn schon voraus. Die Nation ist auf dem Marsch.
18. Juni 1931 (Donnerstag)



Glossen 37 - 39

Jahresinhalt

Glossen 43 - 45

© Karlheinz Everts