"Rumpelstilzchen"

Piept es ?
(Jahrgangsband 1929/30)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1930

Glossen 46 - 47
17. bis 24. Juli 1930


46

Tänzerin und Frau - Wühlen in der Hinterlassenschaft - Die Sprüche-Seuche - Wie man sich einen denkt und wie er ist - Besondere Kennzeichen: keine - Straßenhändler in Berlin W - Beim Astrologen für 50 Pfennige.

Mehr Theater als jemals vorher in Berlin machen Sommerferien. Die Hotelportiers wissen kaum, was sie da den Fremden, die in Berlin große Kunst genießen wollen, anraten sollen. Etliche Darsteller und Darstellerinnen gehen auf Gastspielreisen, etliche haben es nicht nötig und können sich auch zwei Monate Muße gönnen, aber das Gros schnallt sich sozusagen den Gürtel enger. Das ansässige Publikum ist im Dezember und im Juli/August für das Theater nicht zu haben, allenfalls nur dann, wenn auf der Bühne - getanzt wird, so in der Revueoperette, in der Carola Neher monatelang auftreten konnte.

Auch tänzerische Sondervorstellungen sind noch leidlich besucht; die in ihrem Stil mir nicht recht zusagende denkerisch-herrische Mary Wigman hatte kürzlich ein volles Haus. Ist es nicht getanzte Philosophie, sondern getanzte Anmut, dann ist die Zeit des Erdenwallens für eine Tänzerin "als solche" nicht sehr lang, wird sie schnell wieder vergessen. Wer spricht in Berlin noch von der fabelhaften Edith v.Schrenck ? Sie ist ja wirklich noch nicht alt, aber doch schon seit langen Jahren das Heimchen bei dem Dichter Bonsels geworden, dem berühmten Verfasser der Biene Maja, mit dem sie zusammenlebt. Sorglos dank der Aufopferung von Bonsels' geschiedener Frau, die alle Kinder erzieht, - auch den achtjährigen Kai v.Schrenck. Tänzerin und Frau: ein ewig wiederkehrendes Kapitel im Leben unserer Künstler, die in ihrem gefährlichen Alter plötzlich ohne Egeria oder Rautendelein nicht leben zu können glauben; und dann eines Tages vielleicht doch vor der mütterlichen Hoheit der Frau in die Knie sinken. Gerade eben ist auch Otto Erich Hartlebens "Moppchen" in Berlin gestorben. Ein paar Zeitungen haben ihrer kurz gedacht.

Es kommen Erben, oft ganz fremde, und wühlen die Hinterlassenschaft durch. Briefe, Gedichte, Bilder, in denen einst eine Seele, eine ganze Welt lag, werden bestenfalls verbrannt. Wohl dem, der bei Lebzeiten das Persönliche-Allzupersönliche zum Scheiterhaufen schichtete. Mir geht es darin wie so vielen anderen: man möchte auch, man sollte doch, aber man kommt nicht dazu.

Nur gelegentlich wird von dem ganzen "Kram" irgend ein Häuflein - Papier, Holz, Leinewand, Porzellan - bewußt zerrissen und zertrümmert, damit Luft wird.

Was nicht in Kisten und Schränken und Schubladen liegt, sondern darauf steht oder an den Wänden hängt, schleppt sich meist "wie eine ewige Krankheit fort", die uns selber nicht bewußt wird, aber jedem Besucher. Die Sprüchekrankheit ist in unserer neuen Zeit Gott sei Dank im Verschwinden. Aber dieser Tage schaute ich zufällig in einen Berliner guten Haushalt hinein, in dem sie noch schrecklich grassiert.

Vor der Flurtüre: "Salve!" Im Flur selbst: "Grüß Gott, tritt ein, bring' Glück herein!" und "Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts in der Welt!" Hoffentlich, hoffentlich; aber gerade schilt die Gattin den ganz verschüchterten Ehegemahl aus. Überall Sprüche in Kreuzstich und Brandmalerei. Manchmal denke ich da ganz Lästerliches über die Tanten und Nichten der guten alten Zeit, die in Berlin genau so spießerisch war wie in der Kleinstadt. Über dem Monstrum von Umbausofa im Speisezimmer bei diesen Bekannten: "Trautes Heim, Glück allein." Auf dem Sofakissen: "Nur ein Viertelstündchen!" Im Badezimmer auf dem Handtuch: "Morgenstunde hat Gold im Munde." Auf dem Damenschreibtisch sogar: "Eigner Herd, Goldes wert." Auf der Truhendecke, die einst einen Kinderwagen zierte, die knallrote Stickerei: "Auf die Nacht dir ein neuer Morgen lacht."

Tief erschrocken beschließe ich, nun auch in der eigenen Wohnung fürchterliche Musterung zu halten.

Unter dem Gerümpel auf der Bodenkammer steht noch von Großmutters Jugendzeit her eine handkoffergroße lederne Reisetasche; mit Perlen ist darauf gestickt: "Bon voyage". Mag sie stehen und weiter verstauben, es bekommt sie ja kaum jemand zu Gesicht. Von uns geht keiner mit ihr auf Reisen. Weiter, durch die Zimmer: sogenannte Aufstellsachen kennen wir längst nicht mehr, geschenkte Wandsprüche wurden immer bald unterschlagen und kamen in den Müllkasten. Und der Kreuzstich, der mir immer einen Stich ins Kreuz gibt, war bei uns überhaupt nie Mode. Zu meiner Aussteuer - ich lache noch heute darüber - bekam ich vor langen Jahren auch ein Tablett zum Auftragen, Porzellanboden mit Holzrahmen und Messinggriffen, und auf dem Porzellan sah man eine natürlich "altdeutsche" Frauengestalt mit Gänsebraten und der erhabenen Umschrift: "Was ein minnig Weiblein ihrem Manne brät - gar wohl gerät." Innig, minnig; gräßlich, gräßlich.

Nur ein Brettchen mit Brandmalerei, ich gestehe es, hängt allerdings über der Flügeltür in meinem Zimmer. In griechischer Sprache ein Spruch aus dem Neuen Testament. Das hat mir einst, als ich Primaner war, das braunäugige Töchterlein eines Superintendenten in Pommern gemacht, das beinahe meine Friederike von Sesenheim geworden wäre. Falls das Mädchen - oder die Frau - noch lebt, ich weiß es nicht, und diese Zeilen zufällig vor Augen bekommt: also ich bin derjenige, welcher; und ich bin wahrhaftig noch so versonnen sentimental, daß ich an diesem Spruch hänge; und dabei weiß ich, daß dieses eine Eingeständnis von Schwäche eigentlich meine ganze Philippika gegen die Sprüchekrankheit wertlos macht.

Hoffentlich glaubt es niemand, daß ich versonnen sentimental sein kann. Man kann richtig menschenscheu werden, weil man nicht so ist, wie die Menschen einen in Gedanken konstruieren. Häufig genug kommt es vor, daß jemand herkommt, um mich in irgend einer Angelegenheit zu sprechen. Und nach einer solchen sachlichen Unterredung höre ich beim Abschied meist den enttäuscht hervorgestoßenen Satz:

"Sie habe ich mir aber ganz anders vorgestellt!"

Wie denn ? Nun, heißt es dann meist, zunächst so etwa 1,90 groß. Und ich habe doch nur etwas über Durchschnittsmaß. Und überhaupt! Ich weiß schon: ich bin nicht Dichter, sondern nur Beobachter und Berichterstatter, habe weder einen fascinierenden Blick noch lockige Haare, sondern bin ganz unauffällig. Im Paß steht: Haare blond, Augen blau, alles andere gewöhnlich, besondere Kennzeichen fehlen. Auch die lange Narbe am linken Schienbein sieht man ja nur beim Baden. Kurz und gut, ich mache den korrekten Eindruck eines Dutzendmenschen.

Aber das ist wenigstens ein Anhaltspunkt zur Beurteilung für gewisse Geschäftsleute - auf der Straße. Das habe ich erst gestern wieder erlebt, wo ich feststellen konnte, daß wirklich noch "das Geld auf der Straße liegt". Diesmal auf der Neuen Winterfeldstraße, im guten Westen, wo die Dummen auch nicht alle werden. In langer Reihe ist der Rand des Bürgersteigs (der Wochenmarkt mit Lebensmitteln und Kurzwaren ist ganz in der Nähe auf dem großen Platz) mit Händlern besetzt. Für zehn Pfennige gibt es schon einen Kamm im Etui oder eine Flasche mit Wässerchen zur Nagelpflege und ähnliches mehr.

Den größten Zulauf gibt es vor einem Klapptisch, hinter dem zwei Männer stehen, der eine bebrillte im weißen Arztmantel, der andere im Zivil des üblichen Anreißers. Auf dem Tisch sieht man einen kleinen Himmelsglobus, ferner eine runde Scheibe, die mit allerlei Zeichen bedruckt und symmetrisch mit bunten Glaskugeln besteckt ist, dazu Druckschriften und sonstiges.

Eine Frau ist gerade dran, die in ihrem Marktnetz etwas Gemüse heimbringt, eine Frau aus gutem Mittelstande. Durch ein Leseglas besieht der Weißkittel ihre Handlinien. Sie müsse in der Lotterie eine durch 8 teilbare Nummer spielen, sagt er. Und vor drei Jahren habe sie ein liebes Familienmitglied - sie schüttelt den Kopf - er meine, ein Mitglied der Verwandtschaft - wie ? - also der entfernteren Verwandtschaft durch den Tod verloren. Sie denkt nach. "Das könnte stimmen", sagt sie. So geht es noch etwa zwei Minuten weiter, alles für ein Honorar von 50 Pfennigen. Wahrsagerei auf offener Straße, im 20. Jahrhundert, in der Lichtstadt Berlin, wo sogar in Neapel Mussolini vor Jahr und Tag das ganze Gewerbe einfach verboten hat. Aber bitte, diese beiden Herren, der Anreißer und der Weißkittel, sind doch eingetragene Firmen, bezahlen ihre Gewerbesteuer, sind also wertvolle Staatsbürger!

Die Firma nennt sich Somo-Verlag und residiert in Berlin S am Luisenufer, allwo sie nachmittags von 3 bis 7 Uhr jeden Wahrheitssucher empfängt und berät. Schon habe ich einen Prospekt in Händen, unter dessen Anzeigen - auch "Krankenbehandlung durch Sympathie" befindet sich da - ich folgende, besonders schöne, lese:

Amulette - Talismane.

Dieselben werden nach dem mathematischen Horo-
skop und von der einfachsten bis zur feinsten Aus-
führung geliefert, somit ist es für jeden Menschen
möglich, sich einen Talisman anzuschaffen was ja
zu allen Zeiten  geschah  und  Erfolg,  Glück  und

Liebe bewirkt wurde.

Tennis spiele ich sehr mäßig; weil ich weder die Zeit noch die Lust dazu habe, mich alljährlich in einem Wiederholungskursus von einem sadistischen Trainer hin- und herjagen zu lassen. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, daß ich keinen Talisman trage. Zu "Glück" und "Liebe" hatte ich nie einen nötig, das kam auch so schon, aber "Erfolg" - wenigstens im sportlichen Wettbewerb gegen Ausländer - habe ich nur einmal gehabt, im Eislauf. Der Tennisweltmeister Tilden, siehstewoll, hat immer seinen Talisman bei sich. Während ich dies noch schmunzelnd überdenke, bin ich allmählich durch die enggekeilte Menge durch und am Klapptisch angelangt.

Die beiden Menschenkenner sagen sich, wenn ein Herr um diese Vormittagsstunde Zeit für sie habe, sei er wohl kein kleiner Angestellter, und außerdem taxieren sie, wie gesagt, meine schlicht korrekte Gewandung mit dem ersten Blick ab: diskret gestreifte Hosen, dunkles zweireihiges Jackett, Handschuhe, nagelneuer steifer Hut, kleine Mappe, - aha!

Ich habe dem Anreißer meinen Geburtstag nennen müssen, was er mit dem Freudengeheul begrüßt: "Im Zeichen des Löwen, aus besonderem Holz, edle Gesinnung, vornehm und stolz!", wobei er mir ein paar Seiten Maschinenschrift überreicht, aus denen ich nachher ersehen kann, daß ich häufig Unruhe durch Neuanknüpfung in Herzensangelegenheiten habe, besonders anfällig an Schlagadern und Augen und Rücken (nie etwas davon gemerkt!) bin, Tee von Johanniskraut trinken und u.a. Oliven (ich kann sie nicht ausstehen) essen soll. Schon hat der Weißkittel aber auch meine Hand gepackt, mustert noch einmal meinen Anzug und sagt:

"Sie sind führender Beamter . . ."

"Nein."

". . . ich meine, Sie sind führender Beamter Ihrem Wesen nach, Sie haben das Zeug dazu, aber auch so, als führender Kaufmann, haben Sie eine straff zupackende Hand . . ."

Ich lächle.

". . . gewiß, Ihre Linien zeigen auch weniger glückliche Zeiten, ich möchte überhaupt das Geld haben, das Sie schon nutzlos hergegeben haben . . ."

"Sie haben ja schon meine 50 Pfennige!"

"Aber, mein Herr, das ist nichts, hier geben wir ja auch nur ein Probe-Horoskop, für zwei Mark können Sie ein mathematisches Spezial-Horoskop, für 2 bis 20 Mark sogar ein . . ."

"Ich danke."

"Sehen Sie Ihren kleinen Finger, so vollkommen gerade hat ihn nur jeder dritte Mensch, und nun, in den in der Handmitte sich kreuzenden Linien, der Glücksstern . . ."

Da winde ich mich lachend los. Eine ganze Menschenmauer hinter mir wartet schon auf die Lücke. Jedermann zückt sein Fünfzigpfennigstück. Stündlich verdienen die beiden "Astrologen-Chiromanten" 7 bis 8 Mark. Das ist für Idiotenwärter eine ganz annehmbare Bezahlung.
17. Juli 1930 (Donnerstag)


47

Vom Dünnwerden und Dünnmachen - Fern vom Wahllärm - Die Jägerstraße macht zu - 4500 brotlose Musiker - Was einst Amorsäle hieß - Auf der Filmbörse - Stahlhelm-Komparsen - Man bleibt in den Sielen.

Eine sonore Stimme ruft, mit einem Unterton des Jauchzens, dem Kellner zu: "Noch eine ganze Maß bitte!" Die Stimme, den Mann kenne ich doch. Richtig, er ist es. Ich denke, er ist noch in Kissingen zur Kur ?

"Ach was", sagt er, "das Dünnwerden habe ich dickgekriegt und da habe ich mich dünnegemacht!"

Er spricht immer sehr laut, mein guter Bekannter. Ein Nebentisch lacht. An einem anderen, an dem Ausländer sitzen, stecken diese die Köpfe zusammen. Sie dachten, sie könnten deutsch, aber das verstehen sie denn doch nicht, obwohl sie jedes einzelne Wort übersetzen können. Nach ein paar Tagen kann ich es ihnen ja zeigen, wie man sich "dünnemacht", denn dann winken auch meine Ferien. Ein bißchen Trainieren der eingerosteten Glieder in den bayerischen Bergen, dann ein bißchen faulenzen am Strande einer Insel in der südlichen Adria, das läßt Berlin vergessen. Berlin habe ich in elf Monaten immer dickgekriegt. Bis ich mich dann nach einem Monat wieder, mit einem Unterton des Jauchzens, in den Betrieb stürze. Aber das Jauchzen ist von Jahr zu Jahr dünner.

Diesmal entgehe ich, ich glaube, zum ersten Male in meinem Leben, dem unholden Lärm und der auch für mich vermehrten Arbeit, die der Meinungskampf vor einer Reichstagswahl mit sich bringt. Zur Wahl selbst bin ich natürlich längst wieder da, und die persönliche Entscheidung fällt mir und den Meinen nicht schwer. Ich bleibe, was ich bin; ich bin nie Überläufer gewesen. Ich gehöre zu den nachgerade seltenen Menschen, die keine neue Partei gründen oder unter dem Rufe "Einigkeit tut not!" die eigene wenigstens sprengen. Am Eibsee wird dies alles noch etwas zu mir herüberhallen; das Angebot an christlichnationalen, volksnationalen, volkskonservativen, staatskonservativen und sonstigen Führern ist sehr stark. Bis nach Korfu aber dringt, hoffe ich, nichts von dem ganzen Lärm derer, die für das Kabinett Brüning kämpfen. Ich war an dem Tage im Parlament, wo Brüning erklärte, seine Politik diene "der Sicherung der Demokratie". Danke, das genügt mir. Auf den Kalmus piep' ich nich, sagt der Berliner.

Wer weiß, was alles ich nach meiner Rückkehr nicht mehr wiederfinde. Vorerst, bis zu Wahl, haben nach der Parole "Freie Fahrt dem Tüchtigen!" noch sämtliche aufgelösten Abgeordneten Freifahrt erster Klasse, nur wird mancher Bekannte unter ihnen sie nachher nicht mehr haben. Aber auch manche Stätte (der Reichstag selbst gehört leider nicht dazu), an der man sich traf, wird nach dem Sommer geschlossen sein. Das Sterben in der Vergnügungsindustrie geht weiter. In dem "Betriebszentrum" der Berliner Friedrichstadt, in der Jägerstraße, existieren schon heute Eulenspiegel, Weiße Maus, Monbijou, Indra, Confetti, Wien-Berlin, Libelle nicht mehr, die alle dem Schwarzen Kater, der als erster verblich, in den Hades gefolgt sind. Die Abgeordneten können wenigstens dafür sorgen, daß, wenn auch der Personenkreis wechselt, doch ihre Zahl erhalten bleibt. Da wird nicht abgebaut. Auch die Entlohnung bleibt dieselbe. Aber in der Vergnügungsindustrie herrscht Heulen und Zähneklappern, weil immer mehr in ihr Beschäftigte brotlos werden, im Kabarett, im Film, im Theater, in den Musikcafés.

Allein von den in Berlin statistisch festgestellten ausübenden Musikern sind drei Viertel, rund 4500 Mann, darunter hochqualifizierte, heute ohne Beschäftigung. In den Palastkinos hat der Tonfilm sie überflüssig gemacht, in den Kleinkunstbühnen sind die Kapellen verringert, in manchen Kaffeehäusern dient nur noch der Rundfunk als Ersatz für den Klavierspieler, den Geiger, den Cellisten, den Schlagzeugmann. Dabei sind immer noch an die 400 ausländischen Musiker in Berlin tätig. Selbstverständlich bin ich dagegen, aber ich frage die davon Betroffenen, die so entrüstet sind: "Habt ihr nie dänische statt deutscher Butter gekauft ? Seid ihr nie auf sogenannte echt englische Stoffe hereingefallen ? Müßt ihr unbedingt amerikanische statt deutscher Rasierklingen haben ? Fragt ihr im Restaurant jemals nach der Herkunft der zwei Eier im Glas ?"

Jetzt, wo die Not an euch - sie wird uns alle erreichen - herankommt, begreift ihr endlich, was die Not des deutschen Bauern, des deutschen Gewerbetreibenden bedeutet.

Wie die Musiker, so die Darsteller und Darstellerinnen, die Sänger und Sängerinnen, die Tänzer und Tänzerinnen, gleichviel, ob es sich um Solisten oder Trupps handelt. In der letzten Hoffnung aller dieser Leute spielt der Film als Großabnehmer immer noch eine Hauptrolle. Es ist richtig, daß überall fleißig gedreht wird, besonders infolge der fast urplötzlichen Umstellung von dem stummen auf den Tonfilm, es ist in ganz Berlin auch kaum je ein freies Filmatelier zu haben, alles schon auf Monate vorausbestellt, und trotzdem die große Arbeitslosigkeit unter dem darstellenden Personal. Es sind nicht nur die alljährlichen "Palmarum-Brüder", die nach Berlin zu den Agenten kommen, weil im Sommer die Theater in den Mittelstädten ihre Pforten schließen. Eine ganze Reihe von deutschen Bühnen ist überhaupt eingegangen, in den uns entrissenen Gebieten im Osten und Westen, ferner in den baltischen Staaten und in den Nachfolgeländern der alten österreichisch-ungarischen Monarchie; es sind nach meiner Zählung - es mögen noch mehr sein, ein Fachmann, Herr v.Allwörden, beziffert sie auf fast hundert - im ganzen 32 eingegangene deutsche Bühnen. Nun wird das Agenturwesen staatlich zentralisiert, vom 31. Dezember dieses Jahres ab sind gewerbsmäßige Stellenvermittler überhaupt, also auch für Theater-, Variété- und Filmpersonal, verboten, aber auch der zentralisierte und uneigennützige Arbeitsnachweis kann doch nur zwischen Angebot und Nachfrage vermitteln, aber nicht Arbeitsgelegenheit schaffen, wo keine da ist.

Eines der interessantesten dieser neugeschaffenen staatlichen Arbeitsämter ist die sogenannte Filmbörse in der Besselstraße, in der südlichen Friedrichstadt, einer Gegend, wo sowieso die Kontorhäuser der meisten Filmgesellschaften sich befinden. Besselstraße, Besselstraße ? Wer anfangs der neunziger Jahre oder noch früher als junger Leutnant nach Berlin kommandiert war, zur Zentralturnanstalt oder zur Kriegsakademie oder zur Jüterboger Schießschule, der kennt den Namen, denn hier befanden sich - die Amorsäle. Jawohl, genau hier, wo heute das Arbeitsamt eingezogen ist. Die Mädchen, die hier von einem "Wollonkel" aus der Provinz sich Sekt spendieren ließen, von dem Berliner Spießer ein handfestes Abendbrot, mit dem nicht so zahlungsfähigen Leutnant in Zivil aber die ganze Nacht tanzten, erkannten die Neukommandierten auf den ersten Blick.

"'n Tag, Schießschulkarl!"

"Woher wissen Sie . . ."

"Na, zum Boxer biste zu schlapp, zum Akademiker zu dämlich!"

In dem großen Saal, in dem jetzt an Tischen, auf Stühlen, auf Bankreihen Hunderte von arbeitsuchenden Mimen, Sängerinnen, Tänzerinnen, Statisten sitzen und jeden Eintretenden mustern, ob er am Ende Aufnahmeleiter sei, befindet sich auch noch oben die mittlere Rangloge, von der sich einmal ein in die Amorsäle verschlagenes englisches Girl, nachdem es sich Kleider und Wäsche vom Leibe gerissen, nackt kopfüber auf das Parkett stürzte. Heute sucht hier niemand Vergnügen, sondern Arbeit, Arbeit, Arbeit. Es gibt auch keinen Sekt mehr in lauschigen Kojen, sondern ein Glas Milch für 10 Pfennige, eine Tasse Kaffee für 15 Pfennige in der billigen Kantine. In einem Nebenraum der Filmbörse, die von Herrn v.Allwörden und Frau Adamara - er war Schauspieler, sie kommt von der Ufa - vorbildlich geleitet wird, da ihnen die Arbeitslosigkeit der Kollegen wirklich ans Herz greift, ist eine Pendelkartei mit rund 2500 genauen Charakterisierungen der eingeschriebenen Männer und Frauen vom Bau untergebracht, die "dazugehören", ihre richtige Vorbildung haben, also nicht in anderen Berufen Gestrandete sind, die nun "mal beim Film" es versuchen möchten. Dieser Grundsatz wird eisern festgehalten; es ist also gänzlich zwecklos, daß etwa dem Beruf Fernstehende sich hier melden und die Zahl der Arbeitsuchenden noch vermehren. Ich greife wahllos hinein. Da ist ein Charakterdarsteller, der in "Sensationen" macht, jugendlicher Held, Motorradfahrer, Reiter, Führerscheininhaber, auch in anderen Sports bewandert. Er hatte neulich einen Nebenbuhler zu spielen, der von Heinrich George eine Treppe hinuntergestoßen wurde, und er kollerte so fabelhaft echt, so ohne jede Scheu vor Beulen und Rissen hinunter, daß der Regisseur ganz entzückt war. Oder ich ziehe die Karte einer Dame; spielt Gesellschaftssachen, Solo oder Komparsin, jugendliche Charakterdarstellerin, Tänzerin, Sopranistin, beherrscht Tennis, Golf und Schwimmen, hat dunkles Haar.

Hier können die Aufnahmeleiter sich vorweg flüchtig orientieren. Im großen Saal wird es ihnen dann ganz bequem gemacht. In der Mitte quer durch sitzen die "Charaktere". Links an der Wand alte Herren, rechts alte Damen. Auf der Estrade im Hintergrunde die ganz jungen Mädchen. Gerade schwebt eine schlanke, lichtblonde Tänzerin, vielleicht 18 Jahre alt, an mir vorüber dorthin. Ich möchte am liebsten nachschweben, aber mein Führer drängt mich ab. Der Überblick ist so gut, daß ein Regisseur in zehn Minuten hundert passende Leute engagieren kann; in ganz Europa hat diese praktisch eingerichtete Filmbörse nicht ihres Gleichen. Alles kann man da haben, was man selbst für ausgefallene Zwecke wünscht, auch den Mann mit Naturbuckel, auch die Frau mit Hakennase, auch den kleinen Dickus von zwei Zentnern.

Nachher auf dem Hofe schüttet mir ein alter Chargenspieler sein Herz aus.

"Wissen Sie, das schlimmste ist für uns der Wettbewerb der Nichtzünftigen. Wenn ein Film wie der Rosenmontag gedreht und die dort nötige kriegsstarke Kompagnie aus Stahlhelmern zusammengestellt wird, nicht aus uns Mimen, so verstehen wir das noch. Es ist natürlich auch zu begreifen, daß der Stahlhelm für seine arbeitslosen Kameraden sorgt. Aber sie sollen doch nicht ständig statieren! Dazu noch als Preisdrücker für 7,50 Mark, während unser Tariflohn für achtstündige Arbeit 12 Mark beträgt. Und dann die Vetternwirtschaft! Vom Regisseur bis zum letzten Beleuchter gibt es in den Filmgesellschaften keinen Angestellten, der nicht immer wieder mit Erfolg versuchte, ein paar Neffen oder Nichten in der Komparserie sich ein Taschengeld verdienen zu lassen. Die haben dann von Tuten und Blasen keine Ahnung. Wir aber wissen nicht, wovon wir unsere Familie ernähren oder unsere äußere Fassade in Ordnung halten sollen."

Ob ich, wenn ich vom Urlaub wieder heimkomme, ein Berlin und ein Deutschland vorfinde, dem es besser geht als in dem für mich abgelaufenen Plauderjahr, in dem von so viel Not zu berichten war ? Ich glaube nicht, solange bei uns die alte Politik getrieben wird, die sich in der Finanzierung des französischen Militarismus und des deutschen Sozialismus erschöpft, wozu der deutsche noch arbeitende Steuerzahler völlig ausgesaugt werden muß.

Am liebsten berichtete ich überhaupt nicht mehr. Eine Dame sitzt mir gestern Abend gegenüber - merkwürdig, ihr Gesicht ist so schwer zu erkennen, auch auf den Namen kann ich mich nicht besinnen - und dieser Dame sage ich entschlossen:

"Im Herbst heiratet einer meiner Söhne. Ich habe das Gefühl, daß ich dann doch zum alten Eisen gehöre. Irgendwann muß man mit dem Rumpeln aufhören."

Die Dame schwillt da vor Zorn wie Faustens Pudel. Sie schreit:

"Das dürfen Sie nicht! Sie gehören uns, Ihren Lesern! Wir verbieten es!"

Nun schreie ich: "Doch, das darf ich! Bei Ihnen piept es wohl ?"

Da wird sie ganz klein, sieht mich mit einem hilfesuchenden Blick an und klappt vornüber. Ich breite die Arme aus, sage noch: "Nichts für ungut, gnädige Frau, aber ich muß doch mal in den Ruhestand treten!" springe herzu, um sie aufzufangen, und - stoße mächtig mit dem Kopf irgendwo an.

In diesem Augenblick wache ich auf; leider war ich nur im Traum so entschlossen.
24. Juli 1930 (Donnerstag)



Glossen 43 - 45

Jahresinhalt

© Karlheinz Everts