"Rumpelstilzchen"

Piept es ?
(Jahrgangsband 1929/30)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1930

Glossen 43 - 45
26. Juni bis 10. Juli 1930


43

Fünftausend Pferde - Zeppelin-Besuch - Im Gefolge des Luftschiffs - Vom R-Flugzeug bis zum Junkers 2000 - Fronleichnam - Der Fall v. Roemer - Die Rache des Masseurs.

Ein tiefer Orgelton dringt aus der Ferne durch die geöffneten Türen der Loggia bis in das Studierstübchen an den Doppelschreibtisch heran. Näher, näher! Es ist Nacht, der Großstadtlärm schon verebbt. Das ist die Zeit, in der man am besten arbeiten kann. Jetzt kann man es schon erkennen, daß es Motoren sind, die so brummen, aber in einem ganz anderen Baß als etwa das nächtliche Postflugzeug Berlin-Stockholm. Gerade hebt drüben die Uhr der Brüdergemeinde in dem Türmchen zum Schlagen der Zwölf an. Da, da . . .

Fünftausend Maybach-Pferde donnern einher!

Wir stürzen hinaus, schauen zum blauschwarzen Sternenhimmel empor. Meine Frau fällt mir schluchzend um den Hals: "Zeppelin, Zeppelin! Deutschland, o Deutschland!"

Da zieht der Riese dahin, unbekümmert, hoch über aller Erdennot. Der schon einmal die Ozeane und Kontinente umkreist, kürzlich erst in Tropenstürmen den Äquator überquert hat, Sinnbild deutschen Schöpfertums, Denkmal der Glaubenskraft des alten Grafen. Man möchte aus dem Prolog im Himmel zu Goethes Faust mit leichter Abwandlung die Worte zitieren: "Und seine vorgeschriebene Reise vollendet er mit Donnergang, sein Anblick gibt den Engeln Stärke, wenn keiner ihn ergründen mag; die unbegreiflich hohen Werke sind herrlich wie am ersten Tag."

Es ist wie eine Vision. Vom nächtlichen Abglanz der Großstadt ist der Leib des Riesen rötlich vergoldet; silbern blinken die Lichter aus den Kabinen darein. So schön sah ich ein Zeppelinluftschiff noch nie, obwohl ich es häufig gesehen, häufig auch - vor dem Kriege, im Kriege, nach dem Kriege - als Lernender oder als Passagier in der Führergondel gestanden habe. Wir sind innig erschüttert; ich weiß keinen anderen Ausdruck für unser Gefühl.

So mag es auch allen Auslandsdeutschen ergangen sein, denen der "Graf Zeppelin" den Ruhm des alten Vaterlandes kündete.

Drei Tage hatten ihn nun die Berliner. In jener Mitternachtsstunde, da er uns erschien, landete er noch nicht, weil die Landung erst auf 7 Uhr morgens angesetzt war. Machte statt dessen am Himmel noch einen kleinen Bummel. Besuchte so ganz beiläufig Kopenhagen und überflog auch noch die schwedische Küste. "Sache!" sagt der Berliner; das ist der höchste Ausdruck seines Lobes.

Aber die halbe Million Zuschauer, auf die man in Berlin-Staaken gleich am ersten Tage gerechnet hatte und für die ein Heer von Marketendern mit Zeppelin-Würstchen, Zeppelin-Schokolade, Zeppelin-Salzgurken und hundert anderen Dingen aufmarschiert war, kam nicht. Nur an jedem der drei Tage annähernd 50 000 Menschen fanden den Weg hinaus, standen und staunten stundenlang in schwälender Hitze. Man kann es ruhig sagen, daß es eine wenig lohnende Strapaze war, denn an das Luftschiff selbst wurde man nur einmal am späten Abend herangelassen, man durfte es sonst nur aus gehöriger Entfernung betrachten. Da ist es droben am Himmel wirklich schöner als hier am Ankermast, und diese drei Tage lang gab es denn auch unzählige "verdrehte Köpfe" in Berlin, denn immer war oben etwas zu sehen. Hinter oder über dem "Grafen Zeppelin" zuweilen der kleine Vetter Parseval, das Reklameluftschiff einer rührigen Schokoladefabrik, mit dem ich nächstens vielleicht einmal unsere Straßen und Gassen mir auch aus der Vogelschau ansehen werde, dazu der neueste Junkers, das größte Landflugzeug der Erde, auch mit einem kleinen Vetter, kurz, es gab Leben in der Luft.

Die Japaner verhandeln eben mit dem Zeppelin-Bau über eine Linie Tokio-San Franzisco. Die Italiener verhandeln eben mit dem Schütte-Lanz-Bau über eine Linie Rom-Buenos Aires.

Nach deutschen Luftschiffen verlangt die Welt.

Vielleicht werden wir einmal, trotz aller Erschwernisse, auch Weltlieferant für ganz große Verkehrsflugzeuge. Auch da liegt eine lange Erfahrung hinter uns, haben wir viel Lehrgeld bezahlt. Als ich im Februar 1917 auf ein R-Flugzeug - Riesenflugzeug - kommandiert wurde, das schon damals außer der Bombenlast sieben Offiziere als Besatzung trug und eine Spannweite von 41 Metern hatte (so breit ist die Straße Unter den Linden), da erfüllte die mächtige Kiste noch nicht alle Erwartungen. Die Landungen waren schwierig. Einmal erlebte ich es, wie nach scheinbar sanftem Aufsetzen ein solches Ungetüm zusammenkrachte und in Brand geriet; noch heute gellt mir der Todesschrei der Eingeschlossenen in die Träume. Der prächtige Dichter und Schriftsteller Euringer, damals bayrischer Fliegeroffizier, sollte auch Kommandant eines Riesenflugzeuges werden und fragte mich einmal, ob ich ihm einen Satz mit "immerhin" bilden könne. Nein ?

"Na, wannst in ein R-Flugzeug steigst, bist immer hin!"

Dabei war er ein tapferer, todverachtender alter Aktiver, stieg ein, genau so unbekümmert, wie er vorher am Suezkanal seine Feindflüge gemacht hatte, und blieb doch am Leben.

Nachher sind wir auf Jahre hinaus im Flugzeugbau lahmgelegt worden, haben aber den Rückstand wieder eingeholt. Es fehlt uns noch heute der - verbotene - Absatz an Heer und Flotte, die in Deutschland vom Luftmeer laut Versailles ausgeschlossen sind. Unsere Fabriken sind also nur auf das Verkehrsbedürfnis angewiesen. Viele von ihnen haben den Betrieb einstellen müssen oder vegetieren kümmerlich, aber selbst in Ketten versuchen wir immer wieder den Anstieg.

Leider wird er nicht nur durch diese Ketten, sondern auch durch die Parteipolitik im Inneren erschwert. Sogar Eckener wird beschnüffelt, zu welchem Lager er sich rechne. Nicht, was ein Mann leistet, ist entscheidend, sondern bei welcher Partei er angeschrieben ist. Oder welche er - vor den Kopf gestoßen hat. Das Sichducken vor politischen Machtgruppen zerfrißt uns schließlich noch die einzige Organisation, die bisher dem Parteitreiben ferngehalten wurde, die Wehrmacht. In der Aera Schleicher geschehen da die merkwürdigsten Dinge. Ich meine nicht etwa die Verschwörung der Bendlerstraße zur Zerschlagung der Deutschnationalen Volkspartei, die ja "nicht ganz" gelungen ist, sondern etwas ganz anderes, woran mich die kürzliche Fronleichnamsprozession in Berlin erinnert, die man in Deutschland aus den Bilderblättern kennt. Da waren Reichskanzler und Minister mit dem Kirchenlicht in den Händen abgebildet, da konnte man sehen, "wohinter die Macht steht". Ich bin schon als Kind gelehrt worden, den Hut abzunehmen, wenn ich einen Leichenzug treffe, ich ehre jede fremde Trauer, jede fremde Freude, jeden fremden Gottesdienst, aber das geschieht natürlich freiwillig. Auf dem Platz vor der katholischen Hedwigskirche habe ich, zufällig zur Prozession hingeraten, natürlich auch mein Haupt entblößt. Der Bischof Schreiber trug "das Allerheiligste"; es wäre roh, darauf nicht Rücksicht zu nehmen. Aber nie im Leben ließe ich mich als Evangelischer zu einer katholischen Kulthandlung - kommandieren. So weit ist es bei uns, um des Zentrums willen, schon gekommen.

Ich meine den Fall des Majors v.Roemer, jetzt Oberstleutnants a.D. v.Roemer, der kürzlich, wie man im Reichswehrministerium denkt, seinen endgültigen Abschluß gefunden hat.

Ein ungemein tüchtiger Offizier, im Kriege mehrfach verwundet, mit ausgezeichneter Konduite, in der u.a. steht, daß er "mit Vorrang" zu befördern sei. Kommandeur des in Marburg in Hessen, der fast rein evangelischen Universitätsstadt, stationierten Ausbildungsbataillons. Major v.Roemer ist selber jahrelang Prinzenerzieher an einem katholischen Hof gewesen, hat da auch - aber freiwillig natürlich - die Fronleichnamsprozession mitgemacht. Am 21. Mai 1928 beantragt der katholische Militärseelsorger von Marburg die Stellung der Bataillonsmusik zur Prozession. Roemer lehnt das Gesuch ab, weil es einer Ministerialverfügung vom 28. April 1927 widerspreche und Befehligung zu einer Kulthandlung einer anderen Konfession nicht angängig sei; die Bataillonsmusik, 25 Mann, zählt 21 Evangelische. Nun stecken sich hohe Zentrumsherren dahinter. Aus dem Reichswehrministerium kommt am 6. Juni nachmittags der telegraphische Befehl, am nächsten Tage, Fronleichnam, die Musik geschlossen in Uniform dienstlich zu stellen. Inzwischen hatte freilich das katholische Pfarramt schon die Stadtkapelle engagiert.

Im nächsten Jahre, 1929, dasselbe Theater.

Am 19. Juni wird Major v.Roemer ("wegen Ihrer Stellung in der Prozessionsangelegenheit") wegversetzt, verteidigt seine Haltung, tritt für die gewährleistete Gewissensfreiheit ein, beruft sich auch auf den Artikel 135 der Verfassung, wonach niemand zur Teilnahme an religiösen Übungen gezwungen werden dürfe, wird aber von allen Instanzen abschlägig beschieden und endlich in diesem Jahre, am 31. März 1930, - verabschiedet.

Es ist klar, daß solch ein Fall als Erschütterung in der Reichswehr empfunden wird. Das Offizierkorps hat selbstverständlich zu schweigen gelernt. Aber man kann in vertrautem Kreise schon bittere Bemerkungen darüber hören, daß man nächstens wohl auch zum Purim-Fest in die Synagogen kommandiert werden würde oder Beiträge für die rote Arbeiterhilfe abgezogen bekäme, je nach der Machtposition irgend einer der politischen Parteien. In einer ostpreußischen Stadt wurde bereits ein Major zur 50-Jahr-Feier als Vertreter der Wehrmacht, obwohl ihr heute kaum ein Jude angehört, in die Synagoge dienstlich befohlen. Dieses Gefühl, Reklame-Statist für die "herrschenden" Religionsgemeinschaften zu sein, dürfte man in Heer und Flotte nicht aufkommen lassen; sie müssen exklusiv bleiben, dem Parteitreiben entrückt sein.

Früher fragten sich nur die Börsianer, ob sie richtig lägen. Heute muß jedermann spekulieren, nämlich politisch spekulieren. Die Politik spielt in die Laufbahn und auch in das Privatleben hinein, ja sogar in die Kurbehandlung. Ein Reichstagsabgeordneter ist soeben aus Kissingen zurückgekehrt, wo er zuletzt Opfer eines bayrischen Masseurs war, des stämmigen Aloys. Der Herr Abgeordnete ist fast die Wände hochgegangen, so wurde er gezwackt und malträtiert; er ist am ganzen Körper braunblau. Warum nur ? Das Geheimnis ist inzwischen aufgedeckt. Ein anderer Kurgast, so ein Halunke, hat nämlich dem Aloys heimlich zugeflüstert:

"Dieser Reichstagsabgeordnete hat für die Erhöhung der Biersteuer gestimmt!"
26. Juni 1930 (Donnerstag)


44

Der Ausflug nach Dresden - Klub für junge Mädchen - Im Grunewald - Vom öffentlichen Knutschen - Der Film "Frauennot, Frauenglück" - Feier der Rheinlandräumung - Dirt-Track-Rennen.

Eine ganze Horde von jungen Gewerbeseminaristinnen aus Berlin macht neulich unter Führung einer Lehrerin eine Studienreise nach Dresden. Zur Hygiene-Ausstellung, zur Sixtinischen Madonna, zu den übrigen Kunstschätzen - und nachmittags zum Tanz. Da gibt es doch noch Tanzdielen, wo Fähnriche in Uniform verkehren, während es in Berlin dafür überall zu "gemischt" ist. Also die Ausflügler fühlen sich wohlgeborgen in anständiger, gänzlich unberlinischer Gesellschaft. Für die paar Tage muß man natürlich billiges Quartier haben, das hatte auch die Lehrerin für Kunstgeschichte eingesehen. Kein Hotel. Also, bitte, Marthahaus; je zu sieben in ein großes Zimmer. Es ist ein Heim für stellensuchende junge Mädchen. Unsere Gewerbeseminaristinnen jauchzen: "Wir sind verwahrloste Mädchen!" Und so vergnügt, so harmlos vergnügt sind sie schon lange nicht gewesen, auch die unter ihnen, die von Reisen mit den Eltern her vornehmere Unterkunft gewöhnt waren.

Auch in Berlin gibt es Marthahäuser. Gedacht für Hausgehilfinnen oder andere Mädchen mit bescheidenen Ansprüchen, die gerade keine Stellung haben, aber noch so eben das nötigste Geld, um nicht auf die Straße oder in ein sogenanntes Massageinstitut zu müssen. Diese Häuser wirken Segen; die innere Mission hat durch solche und ähnliche Unternehmungen in ganz Deutschland viel Gutes erreicht.

In losem Zusammenhang mit ihr stehen auch die Klubs für junge Mädchen, ein Seitenstück zu den Christlichen Vereinen junger Männer.

Die Gruppen des Klubs in Berlin sind über die ganze Stadt verbreitet. In der Wilhelmstraße existiert sogar ein Dauerheim, das 16 Einwohnerinnen, die zu zweit oder dritt je ein freundliches Zimmer bewohnen und nicht gezwungen sind, an der Bibelstunde oder sonstigen Veranstaltungen im Gesellschaftsraum teilzunehmen, volle Pension zu dem billigen Preise von 80,50 Mark monatlich gewährt. Es sind meist Jahresmieter. Augenblicklich sind ein paar Plätze frei, da konnte ich, "um Erkundigung für Bekannte gebeten", von der gar nicht altväterischen, sehr lebensbejahenden Hausmutter, einer Gräfin Schmettow, einige Informationen einholen.

Wer wohnt eigentlich da ? Nun, nur berufstätige, gelegentlich auch in der Ausbildung begriffene junge Damen. Da ist eine Verkäuferin von schlichtem Herkommen in einem Warenhaus. Da eine Studentin. Da eine adelige junge Sekretärin in einer Großbank.

Wer von ihnen und den vielen Hunderten der sonstigen Klubmitglieder am ganzen Sonntag oder wochentags nach Arbeitsschluß nichts rechtes sonst weiß oder den Großstadttrubel scheut, der fährt hinaus zum "Waldidyll" des Klubs, wenige Minuten hinter der Endhaltestelle der Straßenbahn in der Nähe des Hundekehlensees. Ein paar Morgen lichter Wald, eingezäunt, für Fremde unbetretbar, darin eine offene Halle für regnerische Tage mit einem Anbau, in dem eine Verwaltersfrau für 10 Pfennige die Tasse Kaffee ausgibt. Klapptische unter den Bäumen, Schemel, Liegestühle; gruppenweise da die jungen Mädchen, plaudernd, singend, spielend, Es ist ganz köstlich. Nur eines macht mich rebellisch: daß sie alle so "angezogen" sind; die Leitung des Klubs sollte doch modern genug sein, um den Mitgliedern das Luftbad im Turnanzug oder Badeanzug oder Strandanzug zu gestatten, umsomehr, als man ja hier ganz unter sich ist - und anderswo im Grunewald, vor aller Augen, doch jedermann sich sehr frei gibt.

Von dem vielgelästerten Grunewald weiß der Nichtberliner nur, daß da angeblich überall Stullenpapier herumliegt und daß die Kiefern manchmal kümmerlich sind und das Gras wie in der Sommersteppe verbrannt. Von den unendlichen Schönheiten des Waldes an seinen Seen, von den Schluchten an Onkel Toms Hütte, von den Havelbergen mit der prächtigen Fernsicht ahnt der Fremde nichts. Auch ist ihm nicht bekannt, daß nächst den Freibädern, von denen neulich ein Holländer mir sagte, es gebe ihresgleichen in ganz Europa nicht, der Grunewald selbst der große Luftkurort für den kleinen Mann ist.

Wo man auch hinkommt, sieht man Leutchen im Badeanzug Ball spielen oder still sich sonnen, im allgemeinen viel gesitteter, als Fernstehende meinen; und wenn irgend eine Arbeiterfrau, deren Mann jackenlos und stiefellos daneben liegt, keinen Badeanzug besitzt, je nun, dann macht sie es sich eben in Hemd und Unterrock bequem und läßt ihr Bübchen völlig als Nackedei herumspringen.

Herrschaften, rümpft nicht die Nase! Faltet lieber die Hände!

Es geht doch ein Strom der Gesundheit für unser armes Volk der großstädtischen Wohnlöcher aus diesem Waldaufenthalt hervor.

Gewiß gibt es hie und da auch ein Liebespärchen. Wo gäbe es das nicht ? Aber im Hydepark mitten in London ist dieses Treiben an Sommerabenden viel schlimmer als draußen vor Berlin im Grunewald. Das wird sich auch nie ändern. Nur war früher die Schamhaftigkeit noch geschätzt, während man sie heute uns austreiben will. Ist nicht alles "Natürliche" entschuldbar oder gar berechtigt ? Ei freilich. Nur soll man nicht über alles Natürliche sprechen, debattieren, tratschen; und nicht vor aller Augen mit einander zärtlich tun und sich schnäbeln. Auch an den Liebespärchen im Grunewald oder irgendwo an der Havel habe ich meine Freude. Nur wenn nachher im Zuge das Mädchen dem Manne etwa dauernd am Ohrläppchen knabbert, während er sie heftig überall streichelt, finde ich es gräßlich plebejisch. Manchmal hilft es, wenn man ernst und prüfend solch ein Paar ansieht. Ich versuche es. Plötzlich steht der Mann auf.

"Sie haben meine Braut angelacht!"

"Ich denke nicht daran! Und wenn ich es getan hätte ? Doch besser, als wenn ich ü b e r Ihre Braut gelacht hätte! Ich danke Ihnen, daß Sie das für ausgeschlossen zu halten scheinen! Mich amüsiert so etwas nicht!"

Da weiß der Mann keine Antwort mehr. Fortan sitzen die beiden manierlich nebeneinander.

Am selben Abend sehe ich sie in Berlin in der Kaiserallee vor dem Atrium wieder. Und noch viele andere Pärchen. Auch Hunderte von einzelnen jungen Damen, von der im Privatauto heranrollenden Mondänen bis zu dem kleinen Mädchen mit Schneckenfrisur, das, halb Wandervogel, halb Gott im Herzen, die meterhohe Straßenreklame des Films "Frauennot, Frauenglück" studiert.

"Ein Film von den Beziehungen zwischen Mann und Frau, vom Werden und der Geburt des Menschen!"

"Der Kaiserschnitt, das Kind herausgehoben aus dem Mutterleib, der es ohne ärztliche Hilfe nicht gebären konnte!"

Das zieht. Da strömt man hin. Keine Schamhaftigkeit stört mehr. Mit angenehmem Gruseln sieht man draußen und drinnen Sanitäter verteilt, eine ganze Wache; denn bei der Première ist vielen Besuchern schlecht geworden, sind mehrere Mädchen in Ohnmacht gefallen. Das zieht.

Unter dem Vorgeben, daß es sich um einen Film zu wissenschaftlichen Zwecken handele, hat der Unternehmer, Friedmann heißt er, in der Universitätsfrauenklinik in Zürich seine Aufnahmen machen lassen dürfen. Die Berliner Zensur hat dann große Teile davon beanstandet, sie aber wieder freigegeben, als das Atrium sich verpflichtete, vor dem Film einen erklärenden "wissenschaftlichen Vortrag" halten zu lassen. Den hält also wirklich ein Arzt. Aber der Inhalt ist - ein Plaidoyer für die Geburteneinschränkung. Verbrämt mit schnodderigen Bemerkungen etwa der Art:

"Die Hauptaufgabe der Nachkriegszeit ist die Schaffung einer modernen Sexualmoral, da vorher sozusagen nur eine theologische Sexualmoral existierte."

Was an dem Film Spielfilm ist, das schildert an mehreren Beispielen - wie sage ich es nur wissenschaftlich - die Untunlichkeit des Kinderkriegens aus sozialer Indikation. Was an dem Film Warnung ist, das ist Warnung vor den schmierigen Kurpfuscherinnen, die den Tod von Tausenden von Frauen und Mädchen alljährlich auf dem Gewissen haben. Der Rest ist ein Hohelied auf die saubere, gewissenhafte Arbeit einer richtigen Klinik. Dieser Teil ist ausgezeichnet, war auch nicht zum in Ohnmacht fallen; und das Schönste, was man da erlebte, war die Freude und der Jubel der Zuschauerinnen bei den Bildern aus der Säuglingsstation: da brach echtes Muttergefühl durch, da sah man, mochte auch der Freund daneben die Lippen schürzen, so manches junge Mädchen bei dem Gedanken strahlen, auch mal so ein süßes Balg zu besitzen.

In der Schweiz hat man sich über die öffentliche Vorführung des Films empört, hat er große Erregung hervorgerufen. In dem kaltschnäuzigen Berlin klatscht man mitten in die vorgeführte Operation hinein Beifall, denn wir sind ja kolossal sachlich.

Auch bei anderen Anlässen. Wir können uns "als Volk" nicht mehr empören, nicht mehr freuen. Nur als Partei, nur als Klasse. Die Feier der Rheinlandräumung beweist es wieder. An sich, so sehr auch die Rheinländer selbst aufatmen und bei einer guten Flasche das Wieder-unter-sich-sein begehen mögen: es ist kein Grund zu einer besonderen Feier, wenn man sich von quälenden Parasiten losgekauft hat, die einem zwölf Jahre lang am Leibe saßen; es ist eher ein Grund zur Scham über das lange Erdulden.

Item, noch nicht das tausendste Privathaus in Berlin war beflaggt.

Nur an dem trotzdem vielen Schwarzrotgelb konnte man erkennen, wie unglaublich viele Gebäude in Berlin heute der öffentlichen Hand gehören. Das Reichsbanner leitete die nationale Feier im Lustgarten - mit dem Gesang der Internationale ein. Das Gros der Bevölkerung war innerlich unbeteiligt.

Wirklich große Massen, vaterländisch bewegte Massen, gab es nur dort, wo Militär zu sehen war. Am Vorabend im Stadion beim Konzert, wo stürmisch "Die Wacht am Rhein" vom Publikum verlangt, aber nicht gespielt wurde; und dann mittags auf der Museumsinsel, wo zum ersten Male seit 1916 eine Batterie Salut schoß und dazu Hunderttausende auf die Beine gebracht hatte, so daß bis weit Unter den Linden und in der Burgstraße und am Kupfergraben jeglicher Verkehr stockte.

Das flammt auf und ist wieder vorbei. Ehe nicht das ganze Volk das Recht des freien Mannes auf Wehrhaftigkeit wieder von den Mächten sich ertrotzen will, sind wir keine Nation. So lange müssen wir uns mit den Sensationen des Sports begnügen. Es gibt immer wieder neue. Seit einigen Monaten sind in verschiedenen deutschen Städten - neulich hörte ich es von Stuttgart, ja sogar von Oberhausen im Rheinland - die Dirt-Track-Rennen, heißt Aschenspurrennen, einfacher gesagt, Dreckrennen, aufgekommen, die in Berlin vornehmlich von der Olympia-Radrennbahn in Plötzensee, wo man im vorigen Jahr mit den Hunderennen hinter dem elektrischen Hasen Pleite machte, gepflegt werden. Plötzensee liegt ein bißchen aus der Gegend, ist dem Westberliner nur wegen des dortigen Gefängnisses bekannt. Aber die Fahrt dahin ist sehr lehrreich. Man kommt an Flußläufen, Kanälen, Häfen vorbei, die voll von Schleppern, Leichtern, Kranen, Silos stecken, man ahnt hier, daß Berlin nächst Duisburg der größte deutsche Binnenhafen ist.

Dann ist man erstaunt, in der gottverlassenen Gegend so viele elegante Privatautos zu sehen. Trotzdem ist die Olympia zu 90 Prozent der Plätze völlig leer; in den Logen haben sich sogar nur 17 Besucher eingefunden. Fast scheint es mir, als ob auch die Dirt-Track-Rennen das Schicksal der Hunderennen erleben werden, obwohl Deutschland "das" Land der Motorradfahrer ist, der Motorradfimmel unsere ganze Jugend gepackt hat; das merke auch ich, weil ich vor wenigen Minuten die erste Rate für das Motorrad eines meiner Söhne "gestottert" habe.

Also eine ebene, an den Kurven nicht überhöhte Aschenbahn ist da. Der schwarze Dreck brandet hoch auf. Die Fahrer auf den Knatterbiestern sehen aus wie schwarze Teufel. Jeder schleudert Aschefontänen und Stinkwolken nach hinten, wo der Konkurrent heranbraust. Manchmal stieben Funken. Den Startschuß hört man nicht vor ohrenbetäubendem Geknatter. In den Kurven, in die sie im 100-Kilometer-Tempo hineingehen, steuern die Fahrer, indem sie das linke Bein im Dreck schleifen lassen. Vier gefährlich aussehende, aber glimpflich abgegangene Stürze habe ich da gestern Abend erlebt; vom "rein sportlichen" Standpunkt aus finde ich die Leistung der Fahrer großartig, aber wenn man einmal dabei war, um es kennenzulernen, hat man genug, während man zu Ruderregatten oder Pferderennen immer wieder hingehen kann.

Nur gibt es in dieser Gegend noch Humor. Spät abends, als ich heimfahren will, schiebt sich neben meine Autodroschke ein auf Rennsport frisierter Kleinwagen, außen crêmeweiß, innen rot Lack, in dem ein sehr schicker Jüngling in lässiger Haltung liegt. Mein Chauffeur grinst und sagt:

"Na, junger Mann, Ihnen hat woll ooch Ihre Frau Mama in diesen Pantoffel trockenjelegt ?"
3. Juli 1930 (Donnerstag)


45

Strumpflose Beine - Reform auch der Männertracht ? - Amerikanischer Kriegsschiffbesuch - "Upstairs" - Parlamentarisches - Der Fall Bernhard-Rosi Gräfenberg - Eine Erinnerung aus Kamerun.

"Was meinen Sie, darf man Söckchen . . ."

Aber ja, meine Gnädigste, man darf. Jedenfalls in Berlin sind auf den Straßen die nackten Mädchenbeine sozusagen nicht mehr aufzuhalten. Dagegen kann man halt nichts machen. Ob ich das nicht unanständig finde ? Aber nein! Strümpfe sind nicht eine Frage der Weltanschauung, sondern des Geschmacks; oder, wenn Sie wollen, der Bequemlichkeit. Die Frauen der alten Germanen - und die waren laut Tacitus wahrhaftig nicht unanständig - trugen im Sommer sogar die Brust entblößt. So wie heute noch die Negerinnen im Innern Afrikas. Dies würde ich zwar nun nicht empfehlen; nur aus ästhetischen Gründen nicht empfehlen. Aber Beine ? Am Badestrand und auf dem Sportplatz sieht man deren genug. Der Anblick ist - oft sehr abhärtend. In unserer Straße, weiter oben, hat die Familie des Portiers Piesecke sich für Söckchen entschieden. Die sechzehnjährige Tochter, das flinke kleine Reh, sieht mit ihren nackten Beinen allerliebst aus. Und gar nicht aufreizend; Seidenbeine sind es viel mehr. Aber Frau Piesecke macht die Mode auch mit, und da sie, wo andere Menschen Waden haben, schon richtige Landschinken hat, ist das weniger erfreulich.

Nicht wahr, meine Gnädigste, nun verstehen wir uns schon ?

Jedenfalls lieber nur Söckchen als gerollte Kniestrümpfe, wie sie die Amerikanerinnen vor zwei Jahren auch bei uns aufbrachten.

Noch ein Grund, ein ganz praktischer: gute Strümpfe sind teuer und sehr vergänglich, Maschen fallen leicht, und eine Flohleiter, wie die Berliner Kinder solche Entfädelung nennen, führt doch meist zum Ausrangieren des Strumpfes. Bei Söckchen hat es keine Gefahr. Da spart man also. Haben Sie schon vergessen, wie wir um Kriegsende herum sparen mußten ? Und wie wir uns da gar nicht genierten ? Unser Jüngster lief als Quartaner gänzlich barfuß durch die Stadt zum Wannseebahnhof und fuhr dann so in sein Zehlendorfer Gymnasium. Kam in den besten Familien vor! Also keine falsche Scham wegen der Söckchen.

Nur bitte, meine Gnädigste, zu nackten Mädchenbeinen gehört auch ein kurzes, schlichtes Sommerkleid. Die Zusammenstellung von Söckchen mit einem eleganten Nachmittagskleid ist stillos. Und dann: bitte plädieren Sie dafür, daß auch das männliche Geschlecht (ebenfalls nur, soweit es nicht Ursache hat, die Beine lieber zu bergen) die Mode mitmacht. Kurze Sporthose und kurze Söckchen! Die so sportmäßig aussehenden Knickerbockers oder Breeches mit langen Wollstrümpfen täuschen, sie sind womöglich noch heißer und unpraktischer als der übliche Anzug mit langer Hose.

Da wären wir also einig.

Vorerst machen die jungen Männer es sich nur am Oberkörper bequem. Einfach Tennishemd. Es hat einiger Zeit bedurft, bis ich mich daran gewöhnt hatte, sie so im Freien tanzen zu sehen, während die Damen voll in Dreß sind. Nun gut. Wenn aber dann einer oder der andere noch die Ärmel bis über den Bizeps aufkrempelt, so ist das des Guten zu viel. Das mag beim Schweineschlachten richtig sein, aber nicht beim Tanzen mit jungen Damen.

Ob die Beine der Berliner Damen entblößt oder in Kunstseide gehüllt sind: so oder so gefallen die Berliner Damen durch die Bank den Fremden sehr.

Am vorigen Dienstag mußte ich vormittags zu Fuß den Tiergarten durchqueren. Da saß auf jeder dritten Bank ein junger Amerikaner in Uniform in sogenannter angenehmer Gesellschaft. So viele Amerikanerinnen, als zur Unterhaltung dieser 400 hergereisten Seeleute nötig wären, gibt es in ganz Berlin nicht. Also es waren fast durchweg Berlinerinnen, und zwar Berlinerinnen mit guter Schulbildung, die englisch plaudern können. In den Zeitungen steht, die Matrosen und Seekadetten seien vor allem von unserem Berliner Bier begeistert. Das ist schon eine feststehende Redensart. Es ist auch die übliche Freundlichkeit, die die Fremden einem Deutschen zuerst sagen. Aber wenn man der Wahrheit die Ehre geben will, muß man bekennen, daß die 400 Besucher von jenseits des großen Teiches die drei Tage über in Berlin sehr manierlich und sehr nüchtern waren, während man sich doch schon darauf gefaßt gemacht hatte, den einen oder anderen von ihnen so blau zu sehen wie einen seit zehn Jahren in Spiritus liegenden Molch. Nicht Kadetten, natürlich, aber Matrosen. Im übrigen stellen die Amerikaner jetzt jährlich rund 600 Seekadetten ein, wir jetzt jährlich nur rund 50 . . .

Im Lunapark, den sie angeblich in corpore besuchen wollten, traf ich am Abend zuvor ganze zwei Midshipmen. Wohlerzogene junge Leute; ungefähr derselbe Typ wie unsere eigenen Fähnriche zur See. Die ganze Gesellschaft hatte vormittags Potsdam besucht. Was ihnen da am meisten gefallen hätte, frage ich. Ich denke, nun sagen sie etwas von Friedrich dem Großen, entweder von seinen Wohnräumen im Schloß Sanssouci oder von seiner Grabkammer in der Garnisonkirche, aber ich bekomme nur die Antwort: "the grounds and the gardens", also die Parks und die Gärten. Für Geschichte und für Kunst haben die jungen Leute weniger übrig, aber den Berliner Tiergarten finden sie über die Maßen schön. Es fehlt den meisten Amerikanern wohl auch an Urteil über Architektur und dergleichen. Vor Jahren war einmal eine große amerikanische Gesellschaft in Dresden, machte dort eine Rundfahrt, bekam alles Herrliche gezeigt, aber den stärksten Eindruck hatte auf sie eine "orientalisch" stilisierte Zigarettenfabrik gemacht, die uns als Kitsch erscheint. Sie sagen: "Very compete style"; ein Stil, der sich sehen lassen könne.

Irgendeine, wenn auch noch so bescheidene, offizielle Festlichkeit oder Einladung gab es für die Amerikaner, die uns ihren "Gegenbesuch" machten, nicht. Sie hatten sich einen Sonderzug gemietet und ließen sich in Berlin von Cooks Reisebureau betreuen. Dieser Mangel an deutscher Gastlichkeit hat mir etwas leid getan, denn umgekehrt haben die Amerikaner es an nichts fehlen lassen, als unsere Matrosen und Seekadetten bei ihnen waren.

Besonders in San Diego und in Los Angeles in Kalifornien war unsere "Emden"-Besatzung großartig aufgenommen worden. Am meisten Spaß machte es damals unseren blauen Jungen, daß sie, wenn sie nach dem Festessen im Klub einen Diener etwas fragten, stets die Antwort erhielten: "upstairs". Das heißt: eine Treppe höher. Eine Treppe höher waren aber nicht etwa die Toiletten, sondern Säle, in denen Wein und Bier und Liköre nach Herzenslust genehmigt werden konnten; trocken war es nur unten.

Die kleine "Emden" ist gewiß ein schmuckes Fahrzeug, einfach Klasse, und die Besatzung war wie immer unser bestes Propagandamittel im Auslande, aber ihren Gegenbesuch haben die Amerikaner nun doch mit ganz anderen Fahrzeugen gemacht, drei Linienschiffen, von denen die "Arcansas" - die "Emden" hat 6000 - ganze 26 400 Tons zählt, die "Florida" 22 200, die "Utah" 23 400. Es sind dies die drei ältesten amerikanischen Linienschiffe, und doch viel jünger als unsere jüngsten! Laut Versailles soll unsere Flotte nicht nur klein, sondern auch möglichst veraltet sein.

Das versteht keiner der Amerikaner, daß uns das nicht auf der Seele brennt!

Schade, daß man zwischen ihnen und unseren Reichstagsabgeordneten, die sogar den Panzer B, den laut Versailles gestatteten 10 000-Tons-Ersatz für ein gänzlich überaltertes Linienschiff, abgelehnt haben, nicht ein Palaver veranstaltet hat. Sehr schade.

Diese Parlamentarier sind nicht nur - das waren sie immer - binnenländisch verhockt, sehr im Gegensatz zu der flottenbegeisterten Demokratie von 1848, sondern auch ohne jedes Staatsbewußtsein. Alles trägt die Scheuklappen der Partei und schielt nur auf die Wähler; das zeigen ja auch jetzt wieder die Verhandlungen über die neuen Steuern. Was sonst in der Welt vorgeht und mit Deutschland geschieht, das ist ihnen Hekuba. Der deutsche Volksparteiler Moldenhauer, der während der kurzen Zeit, da er Finanzminister war, für Sparsamkeit und für Gehälterkürzung eintrat, verlangt jetzt einen eigenen Gesetzentwurf für sich, daß er doch noch eine lebenslängliche Pension von 30 000 Mark jährlich bekomme. Wie soll man da erwarten, daß kleinere Leute sich einen Abzug von den Diäten gefallen lassen ? Und doch könnte man nur dadurch den außerparlamentarischen Beamten es plausibel machen, daß eben wir alle, ohne Ausnahme, büßen müssen, was in der großen Politik bei uns versiebt worden ist.

Einstweilen ist es ja im Reichstag noch ganz behaglich. Einstweilen hofft man, binnen vierzehn Tagen die Finanzreform erledigen und in die Ferien gehen zu können. Einstweilen plaudert es sich in den Wandelgängen ganz angenehm und schön.

Das ist da wie bei einem beliebigen Damenkaffee: man hechelt den Nächsten durch. Eine Wochenschrift, die dieser Tage die Intima aus dem Hause Ullstein veröffentlichte, dessen Vertreter Bernhard im Reichstage sitzt, fand reißenden Absatz. Also Bernhard - die Republik, die laut Verfassung keine Titel mehr verleiht, hat ihn zum "Professor" gemacht - ist hereingefallen. Mit der Geschichte gegen Frau Franz Ullstein, geschiedene Rosi Graefenberg, die hier einmal erzählt wurde. Der angebotene Beweis, daß sie Spionin gewesen sei, sei nicht erbracht; und die im Prozeß der Brüder Ullstein wider einander unwiderlegte Behauptung, daß sie einen recht starken Verbrauch an Liebhabern gehabt habe, macht heutzutage keinen Eindruck. Niemand käme doch auch auf den Gedanken, etwa Herrn Bernhards Amouren aktenkundig zu machen, um ihn deshalb als politisch unfähig zu bezeichnen. Jedenfalls, die Brüder Ullstein werden sich vielleicht, um des Geschäftes willen, irgendwie mit einander wieder vertragen, und Bernhard, der sich - etwas zagend - als Mauerbrecher wider den einen benutzen ließ, wird ausgebootet. Allerdings mit aller Rücksichtnahme und mit einem Abstandsgeld, das nach Hunderttausenden zählt.

Natürlich tut es ihm leid, seine führende Stellung in der Publizistik aufzugeben. Es war doch ein fabelhafter Aufstieg gewesen. Etliche Jahre vor dem Kriege, in seinen Anfängen, war Bernhard kleiner Börsenberichterstatter mit zerfransten Hosen, kleiner Sozialdemokrat, der noch dazu auf dem Dresdner Parteitag so madig gemacht wurde, daß er eine Zeitlang seinen Leuten als anrüchig galt. Jetzt tritt er in das Präsidium des Verbandes der Warenhäuser ein. Auch eine schöne Stellung, obwohl er, mit Leib und Seele bei dem bisherigen Handwerk, noch den Versuch gemacht hat, gleichzeitig seine Vereinsämter bei den Presseleuten zu behalten. Es hilft nichts, geschieden muß sein. Die neue Warenhaus-Position hat ihm aber auch einen neuen Namen eingebracht. Seine demokratischen Freunde nennen ihn zärtlich: "Unser Tietzian!"

In den Wandelgängen des Reichstages löst alle Geschichte sich in Geschichten auf. Da hat man kürzlich im Plenum noch gegen den Plan Englands protestiert, das Mandatsland Tanganjika, unser ehemaliges Deutschostafrika, zu einer Kronkolonie zu machen. Der Protest war bewegte Luft, sonst nichts. Nachher aber saß man draußen vor dem Plenarsaal wieder gemütlich beieinander und erzählte sich eins, von Ost und Südwest und Kamerun und Togo, und die Augen leuchteten vergnügt.

Hier eine der hanebüchensten da erzählten Geschichten. Aus Kamerun. Aus der Zeit des sehr unbekümmerten Gouverneurs v.Puttkamer.

Die Herren sitzen eines Abends beieinander und spielen Skat. Der vierte Mann, ein Korvettenkapitän, Kommandant eines kleinen Stationskreuzers, ist auf die Veranda gegangen und trinkt dort seinen Whisky-Soda oder sein Glas Sekt.

"Käptn, kommen Sie, Sie sind dran!"

Keine Antwort.

Man geht hinaus: der Kapitän ist vornübergesunken. Tot. Herzschlag.

Telegramm an die Behörden daheim und an die Witwe. Von der kommt, sehr schnell, die Bitte zurück, man möge den Leichnam ihres Gatten nach Deutschland schicken. "Ich habe doch keinen Zinksarg hier im Busch!" sagt Puttkamer. Man berät hin und her. Schließlich wird zur Wörmann-Faktorei, noch am selben Abend, geschickt, ein Faß und Salz geholt, und der tote Kapitän - eingepökelt. Was soll man sonst auch tun ? In den Tropen geht die Zersetzung sehr eilig vor sich, nach einem Tage ist eine Leiche nicht mehr versendungsfähig, und Einbalsamierer gibt es im Beamtenstab der Kolonie nicht.

Das Faß wird in eine sargähnliche große Sektexportkiste getan, die Kiste würdig gestrichen, mit Flagge und Palmwedeln besteckt. Leichenparade, Musik, rataplan, rataplan, tschingtara, Ehrensalve. Dasselbe nachher bei Ankunft des Schiffes in der Heimat. Alles in Ordnung.

Einige Wochen später muß eine neue Sektkiste aufgemacht werden, da der alte Bestand zu Ende ist. Der Boy stürzt verstört herein: in der Kiste - stecke das Pökelfaß mit der Leiche des Korvettenkapitäns.

"Verdammt, jetzt haben sie in Deutschland eine ganze Kiste Sekt begraben!" ruft Puttkamer wütend.

Der die Geschichte im Reichstag erzählte, ein Fregattenkapitän a.D., war selbst einmal in Kamerun stationiert und hat sie aus Puttkamers Munde. Nun wenn schon. Jedenfalls ist sie ein echter Puttkamer, nämlich von Anfang bis zum Ende geschnurrt. Herr v.Puttkamer hätte mit der Heimsendung der Leiche überhaupt nichts zu tun gehabt, denn das läge dem ersten Offizier des Kriegsschiffes ob. Im übrigen ist der genannte Kapitän nicht in Kamerun, sondern in Deutschland, an Diabetes, gestorben.

Immerhin, man lacht. Ohne solche Geschichten wäre es im Reichstag ja auch zum Auswachsen.
10. Juli 1930 (Donnerstag)



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Glossen 46 - 47

© Karlheinz Everts