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Auf der Suche nach Rohkost - Im Mazdaznan-Haus - Der rettende Cognac - Gespräch mit einem Heiden - Matrosenschule Deutschland - Endlich eine nationale Einheitsfront - Otto v. Below.
Man soll nicht über Dinge reden, die man nicht selbst erprobt hat, wird einem häufig gesagt. Also sehe, höre, schmecke, rieche, fühle ich meist selbst, ehe ich davon erzähle; oder tue es zur Korrektur etwaiger Irrtümer wenigstens nachträglich. Seit langer Zeit bin ich so auf der Suche nach einem Rohkost-Speisehaus in Berlin. Überall frage ich an und erhalte überall die Antwort: "Rohkost allein ? Das lohnt ja nicht!" Ich kenne eine große Zahl von Fanatikern der Rohkost, "aber sie machen den Kohl nicht fett", sagen sich offenbar die Inhaber der Restaurants. Es sind ihrer doch zu wenig. Oder sie gehen in kein Speisehaus, schaben sich ihre Rohkost selber zu Hause. Endlich lande ich dieser Tage im Mazdaznan-Haus, Bülowstraße 19, in dem Hause neben einem bekannten großen alkoholfreien Restaurant. Es ist nachts dort, besonders in der Nähe im Bülowbogen, eine sehr "dufte" Gegend, aller Laster von Lesbos bis Sodom gedrängte Ausstellung. Aber tagsüber anständig. Ehrliche Arbeit, flutender Verkehr; dazu, von meinem Standpunkt aus gesprochen, die Möglichkeit zur Kasteiung bei Rettich und Limonade.
Eine Treppe hoch, den sogenannten hochherrschaftlichen Aufgang hinauf! Nun umfängt mich Mazdaznan. In den hohen, hellen, sauberen Räumen zum Glück nicht gleich mit Knoblauchduft, obgleich Knoblauch eine große Rolle in dem Heil- und Heilsprogramm dieser Leute spielt. Auf der Speisekarte ist als billigstes Mazdaznan-Nationalgericht, für 20 Pfennige, rohe Zwiebel mit Zitrone beträufelt angegeben. Auch dafür danke ich; das mögen die Mazdaznan-Sektierer oder gewisse Magenkranke selber essen, ich bin weder Sektierer noch magenkrank. Aber andere Rohkost, warum nicht ? Als Junge habe ich, wenn im Herbst der Kohl gehobelt wurde, der dann in zwei großen Fässern im Winter zu Sauerkraut wurde, mit Wonne die Strünke stibitzt und gegessen. Dazu im Sommer junge Mohrrüben im Garten herausgezogen, am Hosenboden abgewischt und alsbald verzehrt. Noch heute kann ich ungekochte frische Spargelstangen wie der Engländer rohe Chicory zum Nachtisch schätzen. Also, eine Rohkost-Platte, bitte! Das Fräulein bringt sie mir. Sehr appetitlich. (Beides: die Platte und das Fräulein.) Auf einer die ganze Schüssel bedeckenden Unterlage von Kopfsalat finde ich Tomaten, geschnitzelte Mohrrüben, Pinienkerne (die fast wie Mandeln schmecken), trockene Haferflocken, rohe Erbsen, Gurkenscheiben. Nachdem ich das verzehrt, möchte ich noch gern etwas Warmes. Fleisch gibt es hier natürlich nicht. Aber allerlei Gemüse und Pilze für nicht "unbedingte" Rohkostler neben den schon fast ketzerischen Eiern als Warmgerichte. Das billigste sind allda "gebackene Kartoffelschalen", 30 Pfennige. "Das ist wohl ein Schreibfehler", frage ich, "Sie meinen doch in der Schale gebackene Kartoffeln ?" "Nein", erwidert das Fräulein, "es sind in Öl gebackene wirkliche Kartoffelschalen!" Hm. Hm. Bisher dachte ich, das sei Schweinefutter. Der Mann, der uns alle zwei Tage einen Block Eis ins Haus bringt, erbittet immer unsere Kartoffelschalen; er hat zwar kein Schwein, aber eine Ziege in seinem Laubengarten. Immerhin: Probieren geht über Studieren. Also her mit den gebackenen Kartoffelschalen! Wieder verschönen Jugenderinnerungen dieses Futter. Wenn wir mal in einer Sommernacht an den Bach gingen, um uns ein Schock Krebse zu käschern, machten wir immer am Ufer ein Feuerchen an und buken Kartoffeln in der Asche. Schmeckten mit etwas Salz daznvortrefflich!
Auch die Kartoffelschalen an diesem Abend in der Bülowstraße schmecken gut. Und sind "bekanntlich" sehr vitaminreich. Auch das ganze Grünzeug schmeckt gut. Kostet freilich auch 1,20 Mark. Nur, ich weiß nicht, wie wird mir ? Nach 20 Minuten habe ich furchtbares Bauchgrimmen. Schnell hinüber zur Fürstenhof-Quelle am Nollendorfplatz. Ein Stückchen Matjeshering und einen großen, aber auch wirklich ganz großen Cognac! Gott sei Dank, nun ist mir wieder besser.
An dem Abend sind sehr wenige Besucher im Mazdaznan-Haus, offenbar gut trainierte Leute, die nicht wie ich Kolik bekommen. Am nächsten Mittag - doppelt erprobt, überzeugt besser - aber sind beide Speisesäle ganz gefüllt. "Selleriesalat (sehr nervenstärkend)" steht u.a. auf der Speisekarte. Habe ich das nötig ? Nein, essen wir gleich ein ganzes "Menü". Also bitte: Gurkensalat, Kartoffelbrei, Pfifferlinge. Kostenpunkt: 1,70 Mark. Au verflucht, mir scheint, daß der Mazdaznanismus eine ganz einträgliche Sache ist. Für 1,70 Mark pro Mund machen wir zu Hause ein Festessen. Aber es sind viele nette, ernste, überzeugte Leute im Mazdaznan-Haus, denen jedenfalls nicht, wie es in der Bibel heißt, "der Bauch ihr Gott ist", sondern die, wenn sie es für richtig halten, ergeben Kraut und Gras fressen. Ich habe, das ist auch sehr wesentlich, keinen Dicken da gesehen. Mein Tischnachbar an diesem Mittag ist ein etwas gelbgetönter Herr aus fernen Zonen, akademisch gebildet, in allen Erdteilen gewesen. Im Gespräch frage ich ihn, ob er Moslem sei. "Nein, Heide!" Er lächelt dabei ein langes, unergründliches Lächeln. Dann sagt er, es störe ihn aber in Deutschland nichts, er habe gar nicht das Gefühl, im Schoße der Christenheit zu weilen. "Sehen Sie, hier werden billig Götzen ageboten!" Und er weist mir in einer Anzeige eines Geschenkhauses der Leipziger Straße die Abbildung von winzigen "Glückspüppchen", am Ring am kleinen Finger zu tragen. "Und jedes Auto hat sein Billiken. Und man beschwört die bösen Geister, indem man Toi-Toi sagt und unter die Tischplatte klopft. Und man betet durch Tagewählen, das schon Ihre Bibel unter die dümmste Zauberei rechnet, die Sterne an. Und den gleichen Hokuspokus, den ein Medizinmann bei den Negern oder Indianern oder Mongolen macht, finden Sie bei tausend Quacksalbern in Berlin. Und die Wahrsager sind Legion. Mir scheint, daß Sie viel ärgere Heiden sind als wir, denn bei Ihnen gehören auch Gebildete dazu, bei uns nicht!" Ich hatte geglaubt, er werde auf das Moralische hinauskommen: seht, wir Wilden sind doch bessere Menschen! Da hätte ich ihm nach Kräften gedient. Denn tatsächlich haben die Christenvölker nicht etwa nur den Schnaps, sondern auch die zehn Gebote überall in die Wildnis gebracht, das Mein und Dein geordnet, den Häuptlings-Despotismus ausgerottet, die Frau befreit, manches Laster verschwinden lassen und die Sklaverei aufgehoben. Nachdem sie sie allerdings zuerst übernommen und ausgenutzt hatten. Sehr, sehr langsam ist es mit der Abschaffung gegangen. Die frommen Engländer haben erst 1928, jawohl, im vorigen Jahre, in ihrer Kolonie in Sierra Leone die Sklaverei verboten. Also auf eine solche Auseinandersetzung wäre ich gefaßt gewesen. Aber die leichte Überlegenheit, mit der dieser "Heide" über unseren Aberglauben spricht, ist entwaffnend. Ein paar junge Menschen am Nebentisch haben zugehört. Sie rücken jetzt heran. Sie sagen: Reinheit sei alles. Man bekämpfe Heidentum und Aberglauben am besten, indem man seinen Leib nicht durch Fleischgenuß beschmutze und vergifte. Daher komme alles Übel.
"Und weiter habt Ihr keine Sorgen ?", hätte ich beinahe gefragt. Junge Leute zwischen 18 und 25 Jahren stelle ich mir natürlich für Ideale glühend vor, aber für ganz andere. Es ist für unsereins ein nahezu unfaßbarer Gedanke, daß in der Reichshauptstadt hunderttausend und mehr solcher Jünglinge herumlaufen, die nicht nach der Freiheit des Vaterlandes lechzen, sondern nach einer "neuen Kultur" aus dem Speisezettel oder der Kleidung heraus. Dabei wird uns auf Schritt und Tritt unsere Unfreiheit dokumentiert. Am Sonntag war ich draußen in Potsdam-Charlottenhof, am Templiner See hinter dem Luftschiffhafen, wo die "Matrosenschule Deutschland", unter der tatkräftigen Förderung durch den Potsdamer Oberbürgermeister Rauscher , ihre Ausbildungsstätte hat. Wochentags gibt es Abendkurse in der Köpenickstraße in Berlin, wo die meist Fünfzehn-, Sechzehn-, Siebzehnjährigen in Seemannschaft, Morsen, Winkern, Turnen, Splissen, Schiffskunde und sonst noch allerlei unterrichtet werden, sonntags aber - den ganzen Tag über - kommen sie wirklich aufs Wasser und können alles praktisch erproben. Da haben sie außer verschiedenen Kuttern und Jollen vier größere Motorfahrzeuge, deren Rümpfe sie aus dem Altmaterial der Marine erstanden haben, drei ehemalige Minenräumer und einen ehemaligen Unterseeboot-Zerstörer. Den einen der ehemaligen Minenräumer, der jetzt, "auf Zivil umgebaut", etwa 8 Meilen in der Stunde Reisegeschwindigkeit hat, von 16 Mann - darunter Jungens, die Maschinenmeister werden wollen, aber auch Kaufmannslehrlingen und Gymnasiasten, die Sehnsucht nach der See haben - unter Führung von zwei Schiffsoffizieren bedient wird, habe ich mir draußen gründlich angesehen, habe mich darüber, wie sauber alles zurechtgebastelt ist und über die Disziplin der jungen Leute gefreut und - die große Enttäuschung und den heiligen Zorn miterlebt, nachdem das Verbot der geplanten Rheinreise bekanntgeworden war. Also es sollte die Havel und Elbe hinunter nach Hamburg gehen. Von dort sollte die kleine Flotille über Weser, Weser-Ems-Kanal, Ems weiter und schließlich den Rhein hinauf bis Koblenz fahren, dann wieder zurück, insgesamt drei Wochen. Aber die fremde Besatzungsbehörde verbietet es! Verbietet deutschen Jungen das Befahren des deutschen Rheins! Sie dürften, heißt es, sich ihm nur bis auf 25 Kilometer nähern.
Gut so. Man muß den Druck fühlen, um aufzubegehren. Wir spüren ihn alle noch zu wenig. Friede, Friede. Seit Genf sind wir ja mit den Franzosen herzeinig. Nur weht überall auf dem Rhein ihre Trikolore. Und unsere Buben - dürfen nicht hin.
Die Leitung der "Matrosenschule Deutschland" hat schnell umbefohlen und umorganisiert. Die jungen Menschen sollen doch ihre Ferienfahrt haben. Nur nicht den Rhein hinauf, sondern über die Ostsee, nach Stockholm; am Montag sind sie abgefahren, zunächst den Großschifffahrtsweg nach Stettin hinunter, beneidet von den Kameraden, die zurückblieben. Sind es doch im Durchschnitt über 200 Schüler. Sie werden, gegen einen winzigen Monatsbeitrag, so vorbereitet, daß sie nachher als Schiffsjunge oder Maschinistenanwärter auf irgendeinem Kauffahrteischiff gern angenommen werden. Die ganz großen Dampfergesellschaften wie Norddeutscher Lloyd oder Hamburg-Amerika-Linie ergänzen ihr künftiges Offizierpersonal allerdings von besonderen Schulschiffen und haben dafür genug Angebote von Gymnasiasten mit Reifeprüfung, aber es gibt ja auch "verspätete" Gymnasiasten, die bis zu 19 Jahren das Abiturium, bis zu 17 das Einjährige nicht schaffen und diese - dazu alle die Strebsamen mit noch weniger Schulbildung - kommen nun, wenn sie Berliner sind, auf dem Wege über die "Matrosenschule Deutschland" hinaus in den seemännischen Beruf und können es auch so zu etwas bringen, wenn sie eifrig sind und später ihre Steuermannsprüfung und dann die Prüfung zum Schiffer auf große Fahrt bestehen. Die große Masse geht freilich unvorbereitet zu irgendeinem Heuerbaas in einer Hafenstadt. Manch einem "glückt" es, anzukommen. Er wird Schiffsjunge auf einem nicht ausgesuchten, sondern einem beliebigen Schiff, und kriegt sofort eins mit dem Tauende übergerissen, wenn er dem Bootsmann im Wege steht, der gerade über die Reling spucken will. Und im Mannschaftslogis lernt er nicht gerade feine Rede und gute Sitte. Für viele ist es ein Martyrium. Nur die Härtesten pauken sich durch. Die "Matrosenschule Deutschland", die übrigens gut schwarzweißrot ist und schon seit 1906 besteht, erleichtert es ihren Zöglingen, weil sie sie nicht ganz so ahnungslos aufs Schiff bringt, und in der Mehrzahl der Fälle unter anständigen Kapitänen auf ein gutes Schiff.
Es ist wahr, daß ungezählte Deutsche "wie stumme Hunde" alle vaterländische Schmach hinnehmen, in diesem "Freistaat", der ganz und gar Obrigkeitsstaat ist: was die Regierung in Locarno, Thoiry, Paris tut, das ist wohlgetan. Der "Untertan" hat auch am 28. Juni den Mund zu halten. Die Regierungserklärung allein genügt, auch wenn sie nur die Alleinschuld Deutschlands am Kriege leugnet, also - eine Teilschuld zugibt und dadurch (war das der Zweck der Übung ?) Versailles von neuem versteift. Nun gibt es natürlich Millionen Nationaler in Deutschland, denen das auf der Seele brennt; sie möchten alles tun, um die Ketten von Versailles zu sprengen. Aber sie haben keine Zeit dazu. Sie müssen einander verketzern. Sie müssen das Banner des eigenen Grüppchens hochhalten. Brüderzwietracht ist die stärkste Zwietracht. Manchmal wird das fast komisch. Jedenfalls haben wir daheim laut aufgelacht, als ein nationalsozialistisches Blatt, das mein Mussolini -Buch, den "Schmied Roms", ganz ordentlich besprach, doch, um jeden Käufer abzuschrecken, hinzufügte, ich sei - bekanntlich Freimaurer! Der Gedanke, daß ich irgend etwas Internationalem, und sei es auch nur ein Sportverein, überhaupt angehören könnte, ist so grotesk, daß die Meinen sich über meine aus den Fingern gesogene Ernennung zum Freimaurer schier ausschütten wollten. Aber nun ist das große Wunder geschehen: zum deutschen Volksbegehren wider das Pariser Diktat und wider unser Parlamentselend haben sich wahrhaftig alle Gruppen und Grüppchen der Rechten in einer Einheitsfront zusammengefunden. Sie beargwöhnen einander nicht. Sie verketzern einander nicht. Ein Vertreter der Christlichnationalen Bauernpartei, die man doch "Renegaten" genannt hat, Wendhausen , drückt öffentlich sein "Vertrauen zu dem Führer der nationalen Opposition Hugenberg " aus. Ebenso wird Hitler nicht etwa mit verlegenem Schweigen angehört, sondern von Beifall umbraust. Der Stahlhelm mit Seldte und Duesterberg an der Spitze hat gut gekittet. Und es ist bezeichnend, daß einer unserer großen Heerführer aus dem Weltkriege, in dem wir eine einige Nation waren, Otto v.Below , das die Einigkeit besiegelnde Schlußwort in dieser Dienstag-Versammlung im ehemaligen Herrenhause erhält.
Below ist eine unserer Hoffnungen. Man wird noch von ihm sprechen. Kurland, Mazedonien, Lille, Oberitalien, Arras sahen seine siegreichen Armeen, jetzt aber wünschen wir ihm ein siegreiches Volk im Kriege um den Frieden. "Was, diesem Alten ?" Jawohl, diesem Alten. Er ist 72 Jahre alt. Aber macht's nach, wenn Ihr könnt, Ihr Jungen: den ganzen eisigen Winter hindurch hat dieser Stahlharte noch in der Werra gebadet. Er ist nie ein Mann von vielen Reden, aber stets ein Mann von schnellem Entschluß gewesen.
Als jungem Hauptmann wird ihm einmal durch den Kommandierenden seine bevorstehende Versetzung mitgeteilt. "Ist diese Versetzung unumstößlich, Euer Exzellenz ?" "Jawohl, unumstößlich." "Darf ich dann noch eine persönliche Bitte an Eure Exzellenz richten ?" "Bitte sehr." "Ich möchte um die Hand von Euer Exzellenz Tochter bitten." Das war eine der knappsten Verlobungen, die man je erlebt hat; und es wurde eine sehr glückliche Ehe. Ein anderes Mal, kurz vorher, steht derselbe Hauptmann v.Below in der Schießübung inmitten seiner Leute. Da kommt ein Stabsoffizier herangeprescht und ruft: "Stopfen! Stopfen! Sehen Sie nicht, daß vor der Front Rindvieh ist ?" Da setzt Below seelenruhig die Trillerpfeife an den Mund, pfeift ab und kommandiert, während der Stabsoffizier hoch zu Roß vor ihm hält: "Feuer einstellen! Vor der Front steht Rindvieh!"
11. Juli 1929 (Donnerstag)
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Fremdenverkehrspleite - Franz v. Hofmannsthals Selbstmord - Der Dichter Hugo v. Hofmannsthal - Bummeliges Berlinisch - Tennis-Turnier Deutschland-England - Frau Löbes große Reise.
Was gestern sproß, das modert heute; drei Stunden nach einem Erlebnis ist es schon nicht mehr wahr; man beginnt zu sterben, wenn man geboren wird; aus dem Abbruch wächst die neue Hausmauer; die Extreme berühren einander, also auch Gründung und Pleite.
Solche Gedanken huschen einem durchs Hirn, wenn man überschaut, was in Berlin in einem Jahre im Raketentempo emporschoß und wieder zerplatzte. Tempo, Tempo, Tempo! Ist es nicht erst so wie gestern oder vorgestern, daß die "Belemüha" sich auftat, das Unternehmen, das Fremdenführungen durch Damen der Gesellschaft einzubürgern versuchte ? Ihrer 60 waren es, als ich im Frühling das Institut erprobte. Ihrer 100 waren es, als etliche Wochen später ein Berliner demokratisches Montagsblatt schrieb, für den Unternehmer sei es sehr lukrativ, immer mehr Damen zu Führerinnen auszubilden, Preis 25 Mark für den Lehrgang, und dann keine Arbeit für sie zu haben. So etwas lesen doch alle Hotelportiers. Also sei die "Belemüha" ein Schwindelunternehmen ? Jedenfalls fand sie alsbald eisige Mienen und verschlossene Türen, das Fremdenverkehrsamt der Stadt Berlin, eine der hilflosesten Behörden, sah auch scheel zu der privaten Konkurrenz, und heute hat der Mann mit der guten Idee, Herr Rose , sein hineingestecktes Geld verloren und kann den teuren Laden in der Mittelstraße, zu 500 Mark Miete monatlich, nicht mehr unterhalten. Was er macht ? Was Ungezählte machen: er prozessiert und wartet auf bessere Zeiten, während die beschäftigungslosen Damen der "Belemüha" trauern oder schimpfen und ihrer nur noch ein gutes Dutzend der Sache treugeblieben ist und nach telephonischer Bestellung binner einer halben Stunde anschwirrt. Man muß in einem Zigarrengeschäft in der Prager Straße 17 anklingeln, Bavaria 2107. Es ist wahrhaftig nicht nötig, in Wald und Feld zu streifen, um das Gesetz vom Werden und Vergehen zu begreifen. In einem kleinen Korridorlädchen in der Königgrätzer Straße habe ich es schon innerhalb weniger Monate begriffen. Eine Bücherstube der nationalen Jugend, ein Räucherfischgeschäft, ein Laden mit Föns und Radioapparaten, eine Obst- und Südfruchthandlung haben sich da abgelöst; immer verlor der eine verzweifelt sein letztes Geld, steckte alsbald der andere es hoffnungsfreudig wieder hinein. Das Tempo wird immer fiebriger. Das Berliner Geschäftsleben hat flackernde Augen.
In diesem kranken deutschen Mitteleuropa stets wieder die Idee, daß der Fremde es bringen müsse; an ihm will man sich, um die bekannte Redensart zu benutzen, "wieder gesund machen". Aber die Berliner Fremdenführerinnen schafften es nicht. Wieviel weniger ist Wien der geeignete Platz! Trotzdem hat der junge Franz v.Hofmannsthal auch mit einem Fremdenverkehrsunternehmen dort, in der nicht mehr nur kranken, sondern toten ehemaligen Hauptstadt, sein sogenanntes Glück machen wollen. Nachdem er es schon in Paris, Hollywood, Berlin versucht hatte; hier als kleiner Sekretär, als Volontär beim Empfangschef zuesrt im Hotel Continental, dann im Hotel Adlon, die dem Sohn des berühmten Dichters gern die Wege ebneten. Was er könne, wird solch ein junger Mann wohl mal gefragt, wenn er erstaunlicherweise nach einem Beruf sich umsieht, was man dem Elegant gar nicht zugetraut hat. Und dann sagt er: "Ich hab' mein' Matura gemacht, ich kann Auto fahren, ich spreche französisch und englisch!" Das Französische hat er in Paris gelernt, wo er Banklehrling war und später im Hotel Scribe volontierte, das Englische in Hollywood, wo sein Bruder Raimund Regieassistent bei einer Filmgesellschaft ist. Zwei schöne Burschen, die nicht einmal ihre Rassemerkmale aufweisen, obwohl der Vater, Hugo v.Hofmannsthal , durchaus nicht arischer Abkunft ist, wohl aber die Mutter, obwohl sie eine geborene Schlesinger ist. Zwei schöne Burschen, gute Tänzer, amüsante Erzähler, angehende Lebemänner, sehr pschütt. Es ist Unsinn, wenn die Zeitungen schreiben, Franz habe deshalb zur Pistole gegriffen, weil er es nicht ertragen konnte, immer noch vom Vater abhängig zu sein, sich nicht selbst sein Brot verdienen zu können. In Berlin hat man ihm jedenfalls von so ehrlicher Sentimentalität nichts angemerkt, sondern höchstens gelegentliches Unbehagen darüber, im Berufsleben stehen zu müssen, während ihm doch nur an einer Rolle in der Gesellschaft lag. Er hat nie das Geld des Vaters als traurig und bitter empfunden, auch nicht, wenn er von Hollywood aus immer wieder in kurzen Abständen danach telegraphierte, woraufhin der Vater, und das war für diesen traurig und bitter, für armselige österreichische Kronen Dollars kaufen mußte. Der junge Franz, stets von den ersten Schneidern gekleidet, ein lebendes Modejournal vom Frackanzug bis zum Tennisdreß, war elegant und dekadent und - das versteht sich am Rande - fast schon Antisemit. Er selber war ja schon, wie die Wiener zu sagen pflegen, im Liegen getauft, nicht im Stehen, nämlich als kleines Kind, und war, wie er versicherte, trotz aller Lebensleichtigkeit gläubiger Katholik. Man hatte da so seine Beziehungen. Ein Onkel Schlesinger, Bruder der Mutter, ist ja sogar Geistlicher Rat beim Vatikan in Rom. Für die Ungetauften in Wien und Berlin und Paris und Hollywood ist das nicht störend, sie haben trotzdem ihr Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Familie von Hofmannsthal - es ist übrigens österreichischer Beamtenadel, selbstverständlich kein Uradel - niemals verloren, und als jetzt Franz sich erschoß, Hugo vom Schlage gerührt starb, da war dies infolgedessen eine europäische Angelegenheit, der Rundfunk veranstaltete sofort eine improvisierte Trauerfeier mit Musik für die Millionen deutscher Hörer und in den Zeitungen standen dithyrambische Nachrufe.
Er ist wirklich ein außerordentliches Talent gewesen, dieser Hugo v.Hofmannsthal, wenn auch im wesentlichen nur Nachempfinder, und war schon im Alter von 18 Jahren formvollendet, ein hundertfach blitzender, geschliffener Diamant. Im Vergleich dazu kommen einem die Verse des achtzehnjährigen Goethe geradezu linkisch vor. Die Virtuosität und Musikalität Hofmannsthals ist etwas für ästhetische Genießer oder für gern sich berauschende Jugend, aber nicht für den großen Büchermarkt. Geld verdient hat er eigentlich nur als Librettist für Richard Strauß und Max Reinhardt , während die Gedichte mit ihrer süßen Schwermut, ihrer steten heimlichen Todesangst, ihrem Nichtverstehen der Lebenssphinx mehr verliehen als verkauft wurden. Aus der Jugendzeit des Frühreifen werden manche Wunderwerke tönender Verskunst ihn überdauern. Die Dramen aber kaum so lange. In seiner "Elektra" findet sich nicht eine Spur des antiken Pathos. Hofmannsthal hat von Sophokles über Shakespeare und Grillparzer bis zu Maeterlinck und d'Annunzio jeglichem Dichter nachgedichtet, ist aber doch nie über das formale Talent hinausgekommen. Seine "Elektra" ist eine quälende pathologische Studie, eine gedichtete Freud sche Analyse. Aber keiner hat doch so wie er Schönheit und Glanz und Rhythmus empfunden und zum Erklingen gebracht; und so wurde er in einem Jahrhundert, das nicht nach Tiefe verlangt und nicht nach Erschütterung, der Musikant und Vortragsmeister ganz Europas.
Es ist gut für ihn, daß er nicht alt geworden ist, sondern im Gedächtnis als der junge Modische fortlebt, ein zweiter Oscar Wilde , der nur in die Saiten zu greifen brauchte, um kostbare Perlen herabrieseln zu lassen. Mit seinen 55 Jahren galt er immer noch als junger Mann. Wir wissen ja überhaupt kaum mehr, und das ist ein Glück in dieser Zeit, wann das Alter anfängt. Unser Sprachgebrauch, für Ausländer ein schier unlösbares Rätsel, tut ein übriges, um die Grenzen zu verwischen. Man spricht von einem "alten" Herrn von 70 Jahren, aber von einem "älteren" Herrn von 60; ein Zwanzigjähriger ist ein junger, ein Dreißigjähriger aber ein jüngerer Herr. Von da bis zur "besseren" Familie und der "selten guten Hausfrau" - der Teufel hole sie, wenn sie nur selten, nicht immer gut ist - ist es nur ein kleiner Schritt in der babylonischen Sprachverwirrung, die aus dem Anzeigenteil der Berliner Zeitungen sich emporgerankt hat. Wer wagt einen alten Jammerkasten von Klavier als "gut" zum Ankauf zu empfehlen ? Er nennt es vorsichtig ein "besseres" und meint dabei: besser als spottschlecht, besser als unter aller Kanone, besser als etwa eine Mundharmonika mit ausgebrochenen Zähnen. Wir bekommen demnächst einen flämischen Jungen, einen Ostender aus guter (nicht "besserer") Familie, auf einen Monat zu uns ins Haus, damit er bei uns richtiges Hochdeutsch lerne. Mir graut schon vor den vielen unbeantwortbaren Fragen, wenn der junge Mensch irgendwo eine der Berliner Sprachbummeleien aufgreift. Sie kommen von Halbgebildeten und auch Hochgebildeten. Im "Volk" hat man zwar kein Hochdeutsch, sondern Mundart, aber das ist keine Unart. Trotz ick und det hat auch der Berliner Mann aus dem Volke wie der Hamburger oder Münchner oder Stralsunder oder Görlitzer oder Elberfelder viel mehr natürliches Sprachgefühl; seine Sprache ist derb und bilderreich, aber die Bilder sind nie falsch. Die Reden unserer Reichstagsabgeordneten dagegen sind reich an schiefen Gleichnissen und komischen Stilblüten. Die ganz Großen in unserer Sprache, Luther und Bismarck , sind völlig frei davon.
Sie hatten es freilich leichter als wir, denn zu ihrer Zeit gab es noch kein Sportdeutsch, das heute alles bei uns verschandelt. Von Fritz Müller-Partenkirchen , dem prächtigen, lustigen Erzähler, ist jetzt ein neues Bändchen Kurzgeschichten unter dem Titel "Halbkatz überzwerch" erschienen. Was heißt das ? Ja, das muß man in der einen Geschichte nachlesen, dann lacht man Tränen. "Halbkatz überzwerch" ist eine grandiose Verhöhnung der Fußballsprache. Jeder Sport hat die seinige. Heute, im Zeitalter der Mototren, tragen auch die viel dazu bei. "Da gebe ich sofort Gas!", sagt einer, der was mitmachen will. "Ich gehe nicht auf Touren!", sagt der andere, der keine Lust hat. Als ich Kind war, da hatten wir noch nicht alles übersetzt, da galt beim Sport, vor allem beim Tennis, nur das reine Englisch. Fifteen, thirty, out, fault, deuce, advantage, rief der "umpire" von seinem hohen Richterstuhl herab. Jetzt sind wir selbstbewußter geworden, jetzt sprechen wir deutsch; auch bei einem Turnier mit Fremden, wie dieser Tage beim Wettkampf zwischen Deutschen und Angelsachsen. Nur das Mützenband der Klubjungen erregt noch die Heiterkeit der Engländer. Auf dem Bande ist nämlich eingestickt: Lawn Tennis Turnier Klub. "Lawn" heißt aber doch "Rasen", und wir haben keine Rasenspielplätze, sondern festgestampfte aus Sand und Tonerde. Einer der schönsten, der des Rot-Weiß-Klubs draußen im Grunewald. Tief eingekesselt, wie in einer Schlucht, also windgeschützt. An drei Seiten steigen steil die natürlichen Terrassen für die Zuschauer empor, mit ihren Bänken und Rohrsesseln, an der vierten lugt der Hundekehlensee herein. Der Weg da hinaus führt zwischen einer Flucht von Villenpalästen und Parkgärten entlang. Überbleibseln aus der reichen Kaiserzeit; heute sind viele von ihnen verkäuflich. Auf dem Platze selbst an die 6000 Zuschauer, ein ganz anderes Publikum als das der Radrennen und Boxkämpfe. Ein Publikum, das nicht pfeift oder "He, he, he" schreit, sondern in atemloser Stille zuschaut, aber in warmen Beifall ausbricht, wenn eine Bravourleistung dazu den Anreiz gibt. Ganz gleich, welcher Nation der Brave angehört; daß der Beifall ein wenig stärker rauscht, wenn ein Deutscher siegt, ist verständlich, aber man ist voll Achtung auch gegen den Unterlegenen, der sein Bestes hergab. Daß die Deutschen so "fair" seien, wird jetzt in der gesamten englischen Presse hervorgehoben. Sie erkennt auch den verdienten deutschen Sieg an, schreibt ihn nicht etwa dem "unglücklichen Zufall" zu, daß der englische Vertreter Austin Wadenkrampf bekam und zuletzt auf dem Platze zusammenbrach, wie man es sonst nur bei Niederschlag im Boxring sieht, denn daß es soweit kam, das liegt doch schließlich an der Taktik des deutschen Vertreters Prenn , der mit langen und kurzen Bällen den Gegner systematisch müde hetzte und selber trotz ebenfalls schwerster Beanspruchung bis zur letzten Sekunde Herr seiner Muskeln und Nerven blieb. Er war durch seine mehr als 40 Pfund Übergewicht im Vergleich zu dem knabenschlanken Engländer benachteiligt, war aber dafür, wie der Sportdeutsche sagt, "der größere Steher", der denn auch die dreistündige Riesenanstrengung des Umherrennens und Ballschlagens in Sonnenglut "besser durchstehen konnte". So diszípliniert wie das Publikum war in diesen Tagen überhaupt alles auf dem Turnierplatz. Auch keinen Balljungen sah ich jemals herumstehen oder schlendern. Sie hockten zu beiden Seiten des hohen Schiedsrichtergerüstes in der Startstellung von Läufern, die gespreizten Finger vorn auf dem Sand, und schnellten dann gleichmäßig wie Pfeile vom Boden, sobald sie wieder einmal Bälle zu sammeln hatten. Augen und Ohren wie die Jagdhunde. Dabei in der rotweißen Uniform putzig wie kleine Kadetten. Durch den Sieg 3:2 über die Engländer, nach vielen Vorkämpfen mit anderen, sind die Deutschen im Tennis jetzt unter 24 europäischen Nationen in die erste Reihe gerückt und treten nunmehr gegen die Nordamerikaner an, die ihrerseits "drüben" alle anderen niedergekämpft haben. Aber wir haben da kaum Aussicht.
Wer auf dem Tennisplatz in den Korbsesseln von Frau Stresemann an, deren Gatte doch schon längst in Baden-Baden ist, bis zu den Finanz- und Filmgrößen sozusagen "Tuh Berläng" vor sich sah, der konnte es kaum fassen, daß schon 561 000 Berliner in die Ferien gereist sein sollen. Das mag schon stimmen. Aber dafür sind andere wieder zurückgekehrt. Darunter Frau Reichstagspräsident Löbe von ihrer großen Reise Amsterdam, London, Algier, Genua, Venedig. Überall wurde sie, wie es sich bei einer so hohen Frau ziemt, von den Vertretern der deutschen Konsulate abgeholt und bedolmetscht und betreut. Sie mußten sich, in Southampton und anderswo, schon an Bord des Schiffes melden, mit dem sie fuhr, eines großen holländischen Dampfers. Wie fand man sie aber nur gleich heraus ? Vorsorglich hatten die Heimatbehörden das schon geregelt. Erkennungszeichen: B.Z. am Mittag. Die Frau, die außer Schlesisch keine europäische Sprache spricht, war, sobald sie das Ullstein blatt vor sich hielt, entdeckt und geborgen.
18. Juli 1929 (Donnerstag)
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Am Ende des Arbeitsjahres - Hinauf in die Lüfte! - Zu Besuch bei Mackensen - "Der Kaiser hat immer Widerspruch vertragen" - Ich als Aushilfskellner - Das finanzielle Ergebnis - Cilly Feindt schwitzt auch.
Ein Arbeitsjahr neigt sich wieder zum Ende. Nach zwei Tagen gehen wir in die weite Welt. In - die - Fe - ri - en! Aber nicht mit der Eisenbahn. I wo werden wir denn! Wir fliegen, hui, von Berlin nach Wien, von Wien nach Venedig. Und dann zu Schiff so weit und so lange, als die Sparbüchse halt noch klappert. Wie weit, wissen wir noch heute nicht.
"Also fliegen ? Also abstürzen ?", sagt mit zuckenden Lippen meine bessere, aber ängstlichere Hälfte.
Es ist die alte Geschichte, die wir schon aus Andromaches Munde beim Abschied von Hektor kennen: "Wer wird künftig deinen Kleinen lehren Speere werfen und die Götter ehren ?" Ach was! Unser Kleiner ist schon ausgebildeter Soldat. Außerdem: warum denn abstürzen ? Im Frieden und im Kriege habe ich wahrhaftig häufig genug jedes Luftvehikel benutzt, Freiballon, Fesselballon, Luftschiff, Flugzeug, und habe mir nur einmal bei einer harten Landung, 1914, den rechten Fuß gebrochen, und nur einmal bei einer Meinungsverschiedenheit mit einem Maschinengewehr, 1917, den linken Unterarm beschädigt. Das ist alles gut vernarbt. Ich finde das Eisenbahnreisen viel gefährlicher, denn in der Luft entgleist man kaum, auf den Schienen aber häufig.
Außerdem ist solch eine Bahnfahrt bei 36 Grad Wärme draußen im Schatten, 44 Grad drinnen im Abteil kein Hochgenuß. Am letzten Sonntag, Berlin-Stettin, habe ich das wieder erproben können. Vor den Preis haben die Götter immer den Schweiß gesetzt, reimten schon die alten Griechen. Diesmal war der Preis ein Besuch bei dem Generalfeldmarschall v.Mackensen in Falkenwalde bei Stettin. Ein kleiner Privatweg führt vom Dorfe seitwärts in den Wald. Da steht in 7½ Morgen Kiefern das schlichte Haus, in dem der nächst Hindenburg älteste Offizier des ruhmreichen alten Heeres seinen Lebensabend verbringt. Den Ältesten sieht man ihm freilich nicht an. Unter den buschigen weißen Brauen lohen Jünglingsaugen; und die straffe schlanke Gestalt läßt auch nicht ahnen, daß der Generalfeldmarschall am 6. Dezember schon 80 Jahre alt wird. Ich habe das Glück gehabt, daß ich noch im Hause von Haeseler und Goltz verkehren durfte, mit Hindenburg ein paar Mal gesprochen habe, aber Mackensen hatte ich bisher nur von weitem gesehen, einmal in Bukarest, einmal in Berlin. Und habe mich doch schon seit Jahren nach der Herzstärkung gesehnt, diesem Treuesten der Treuen, diesem wirklich unwandelbaren Monarchisten einmal gegenübersitzen zu dürfen. Nun vergehen die anderthalb Stunden wie im Fluge. Was hatte ich doch alles fragen wollen ? Alles vergessen. Nur das freut mich, daß im Gespräch das Wort einmal auf die "Legende Mackensen" gekommen ist. Die eine steht im Großen Meyer, daß er des Kaisers Kriegsgeschichtslehrer gewesen sei, die andere geht im Volke um, das ihn als begönnerten Jugendfreund des Kaisers hinstellt. Ich hatte vor der Fahrt natürlich noch schnell mal im Großen Meyer nachgesehen, um wenigstens ein paar Jahreszahlen aus dem langen Leben des Generlfeldmarschalls mir einzuprägen. Dieses absonderlichen Feldmarschalls, der als Einjähriger seine Laufbahn begonnen hat, dann der übliche Sommerleutnant geworden ist, um zwei Jahre später, denn er war Soldat mit Leib und Seele, aktiviert und bald darauf, ohne daß er je die Kriegsakademie besucht hätte, in den Großen Generalstab berufen zu werden. Er gehörte ihm schon jahrelang an, er war schon Major und Adjutant des Grafen Schlieffen , als er vom Kaiser "bemerkt" wurde. Es war beim Kaisermanöver des 11. gegen das 4. Armeekorps, Gegend Gotha-Erfurt, als der Sonderzug mit dem obersten Kriegsherrn und der Manöverleitung den Bahnhof Langensalza passierte. "Was Langensalza ? Wo 1866 die Schlacht war ?", rief da der Kaiser. Jawohl. "Na, Wedell , Sie sind doch damals hannöverscher Offizier gewesen, können Sie nicht was von der Schlacht erzählen ?" "Majestät, ich bin durch einen Bach geritten und jenseits lag ich dann plötzlich verwundet neben meinem Pferde, vor einem preußischen Karree, mehr weiß ich von der Schlacht nicht!" Der Kaiser lacht. Nun, und von den anderen Herren, wer könne darüber einen Vortrag halten ? Der Kaiser schaut schnell in die Runde. Da, Major Mackensen verbeugt sich. Eine Haltestelle hinter Langensalza steigt man aus, man hat noch Zeit, bis hier die beiden Kavalleriedivisionen aufeinandertreffen, der Kaiser setzt sich an einen Strohschober auf dem Stoppelfeld, Mackensen legt los, - und so "lichtvoll", daß der Kaiser, der ihn bis dahin nur bei kurzen Meldungen gesehen hat, ihn nun wirklich "ins Auge faßt".
"Das alles müßtest Du doch mal aufschreiben!", sagt Frau v.Mackensen, während wir auf dem Rasenplatz vor dem Hause am Kaffeetisch sitzen. Der Feldmarschall wehrt ruhig ab. Er gehört nicht zu den Memoirenschreibern. Ja, über die Totenkopfhusarn, da hat er ein zweibändiges Geschichtswerk geschrieben. Aber über sich ? "Ich bin kein Causeur!", steht in einem Briefe, den ich einmal von ihm bekommen habe. Auch vor Wilhelm II., der doch geschickte Plauderer liebte, hat er nie dadurch brilliert. Aber auf etwas anderes konnte der Kaiser sich verlassen. "Ich werde Eure Majestät nie belügen!", hatte Mackensen einmal gesagt; und hielt auch bei Meinungsverschiedenheiten durch. Da kommen wir gleich auf eine andere Legende zu sprechen: daß der Kaiser Widerspruch nie vertragen hätte. So, wirklich ? Ein Mann wie der Marinemaler Saltzmann , der selber in einer Kellerwohnung am Berliner Schiffbauerdamm geboren war, konnte dem Kaiser alles sagen; nur tat er es natürlich in taktvoller Form. Auch Demokraten wie Siemens oder Mommsen lud der Kaiser häufig ein und hörte ihre so ganz anderen Meinungen mit gespanntester Aufmerksamkeit an. Wie er überhaupt unter vier Augen oder in kleinem Kreise jeden Einwand achtete. Nur das natürlich konnte er sich nicht gefallen lassen, daß etwa beim großen Zivildiner nach einem Kaisermanöver irgendein Mensch, der Männerstolz vor Königsthronen markieren wollte, taktlos laut und ausfallend wurde; dann ließ er solch einen Menschen einfach stehen und strafte ihn durch Schweigen.
Noch über dies und das wird am Kaffeetisch im Freien geplaudert. Ich will kein Eckermann ein, ich mache weiter keine Aufzeichnungen. Aber meine Herzstärkung habe ich eingeheimst. Es ist wundervoll, mit diesem Manne zu sprechen, der jeden Vormittag noch wie ein Zwanzigjähriger 3 Stunden durch Wald und Heide reitet, darnach aber wie ein Achtzigjähriger erzählen kann, der drei Kaisern gedient hat. In leidenschaftlicher Zuneigung; aber mit kristallklarem Verstande.
Und nun kopfüber hinein in die letzte Reisevorbereitung. In Wien bin ich seit Jahren nicht gewesen. Her mit dem gedruckten Führer! Wieder einmal wird man darüber belehrt, daß nicht nur der "Ober", sondern auch der Speisenzuträger und der Getränkekellner dort herkömmlichen Anspruch auf ein "Douceur" haben. Und wenn ich weiterdenke, so immer an den Küsten des östlichen Mittelmeeres entlang, dann ersteht vor mir ein Montblanc von Trinkgeldern, die ich geben muß.
Warum nur immer geben ? Warum nicht auch verdienen ?
Ha!
Ich muß mir das Lachen verkneifen, ich muß mich bemühen, ernst zu bleiben, als ich, mit dem neuesten schwarzen Jackettanzug und dem ältesten schwarzen Schlips angetan, gestern Nachmittag zum "Klaußner" in der Krausenstraße pilgere, um Aushilfskellner zu spielen. "Kateridee!", sagen die wenigen, die ich kurz vorher ins Vertrauen ziehe. Macht Spaß, sage ich. Schon stehe ich mit der Serviette unter dem Arm da, nachdem ich mir im Bureau die nötige Anzahl von Biermarken gekauft habe. Vier verschiedene Sorten. damit ich sie, wenn ich mir beim Zapfer die Gläser füllen lasse, nicht verwechsele, habe ich sie schön verteilt: großes Pils linke Jackentasche, kleines Pils rechte, großes Spezi linke Hosentasche, kleines Spezi rechte. Da klappern also die eckigen, runden, ovalen, verschieden gestanzten und gepreßten Blechmarken zu 75, 50, 43, 30 Pfennigen. Die zu 43 sind mir besonders verhaßt, da verheddert man sich so leicht bei der Abrechnung mit dem Gast. Schon winkt mir einer mit den Augenbrauen und sagt: "Kugel Haube!" Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur großes Pils, kleines Pils, großes Spezi, kleines Spezi. Aber ich flitze zum Zapfer und sage: "Kugel Haube!" Er echot gleichmütig: "Kugel Haube!" Doch es geschieht nichts. Ich flöte noch einmal: "Kugel Haube!" Und der Zapfer antwortet unwirsch: "Jawohl, Kugel Haube!" Schließlich habe ich es erfaßt. Man kriegt ein kugeliges Glas Pilsener mit einem mächtig hohen steifen Bierschaum darauf, und das nimmt Zeit. Fünf Holländer kommen. Ich stürze herzu, ihnen die Hüte abzunehmen, Sie wollen Bier und Rettich. Sehr wohl. Ich packe fünf volle Henkelgläser mit meiner rechten Pranke und verstehe jetzt, was es für eine Leistung ist, wenn die Kathi im Paulanerbräu in München mit beiden Pranken je acht vor sich herträgt. Aber ein Kollege bemerkt mißbilligend, das mache man hier nicht so, und schiebt mir ein Tablett zu; ich habe mir sowieso schon die Hose bekleckert. "Herr Ober, bitte Baisers!" Ich glaube mich verhört zu haben, aber die Dame, die eben einen halben Liter Thüringer Spezialbier genossen hat, will wirklich Baisers. Sie stehen auch auf der Speisekarte. Ich hätte sie streichen müssen, auf allen Speisekarten der sechs Tische in meinem Revier, denn an der Tafel beim Zapfer, wo man immer wieder hinblicken muß, waren sie gestrichen. Ausgezeichnet. "Bedaure sehr, gnädige Frau, die Schlagsahne ist gerade alle geworden, wird aus der Küche gemeldet. Vielleicht ein illustriertes Brot gefällig ?" Wahrhaftig, sie geht darauf ein, das wird ihrem Magen auch besser bekommen. Die beiden Herren ihrer Begleitung unterhalten sich über den letzten Burschenschaftertag. Ich fange interessante Gesprächsfetzen auf, während ich malerisch am Türpfosten lehne. Da werde ich von drei Tischen gleichzeitig alarmiert. Man hat still gewinkt, man hat sich leise geräuspert, nun ruft und kloft man. "Saubedienung!", sagt ein junger Mann. Ich fliege ja schon! Jetzt stehe ich schon immer bereit, wenn einer den letzten Zug aus dem Glase tut. Ich bin nicht mehr Würde, sondern nur noch Beschwingtheit. Jetzt hat auch mein gestärktes Hemd einen Spritzer weg; am liebsten möchte ich es gleich wechseln, es ist eigentlich schon unmöglich. Für einen dicken Herrn vorne links muß ich am meisten laufen. Er gießt ruhig und unauffällig ein Glas nach dem anderen herunter. Ich denke, ich mache es großartig. Ich habe ihm auch jedesmal Glas und Tisch eigens abgewischt und den Aschbecher geleert. Aber da sagt er: "Sie gehören wohl gar nicht hierher ? Sie sind wohl Caféhauskellner ? Immer fix, ohne Seele, Schema F ?" O du grundgütiger Vater, die Seele hatte ich ganz vergessen. Ich war zu sehr ernsthafte Maschine. Ich hatte nicht die wohlwollende Behaglichkeit im Gesicht, die die sitzfesten Herren verlangen, für die der "Klaußner" Familienersatz ist. Man will doch seine Wünsche mit dem Kellner besprechen. Dabei habe ich zum Glück nicht einmal das richtige Stammtischrevier, wo Berliner Großkaufleute sitzen, Trauer-Weber, Leineweber, Wittler-Brot oder die höheren Postbeamten am Tisch "Postalia"; auch der "Eiserne-Ritter-Stammtisch", der "$11-Stammtisch", der "Krakeeler-Stammtisch", der "Stammtisch ordentlicher Männer" - sie sind ganz besonders schwarzweißrot - gehört an diesem Tage anderen Kellnern. Da muß man Bescheid wissen! Da muß man die Vor- oder Spitznamen kennen, durch die Herr Schmidt I und Herr Schmidt II sich unterscheiden, da muß man wissen, daß Herr Oberregierungsrat Müller einen Schnaps nur aus seinem eigenen Privatgläschen, unter Verschluß im Wandschrank trinkt, weil die anderen nicht bakterienfrei seien. "Ober, zwei Gepflegte!" Was ist nun das schon wieder ? Ach so, zwei Korn. "Im Klaußner gibt es nur individuelle Bedienung, hier ist alles auf Persönlichkeit eingestellt!", sagt mir ein grauhaariger Kellner. Wer stellt sich aber auf meine Persönlichkeit ein ? Mir brennen die Füße. Um 11 Uhr habe ich den zweiten Kragen durchgeschwitzt. Um 12 Uhr bin ich kein Mensch mehr, sondern nur noch Berieselungsanlage. Um 1 Uhr, klidderadoms, rutscht mir ein Haufen Geschirr aus dem Arm und zerschellt am Boden. Ich bin müde und hungrig, möchte nun endlich auch selber etwas essen. Ein Herr hinter mir sagt laut und mißbilligend: "Na ?" Ich soll ihm aus dem Wege gehen, obwohl nebenbei noch Platz genug ist; ich stehe an einem Wandregal und esse stehend in Eile einen Happen Brot und eine kalte Schnitte Casseler Rippespeer. Eine Dame beschwert sich beim Geschäftsführer über mich. Sie hat zu einem kleinen Spezi drei Brötchen gegessen (fünf hatte ich ihr hingestellt, zwei waren nur noch da) und nun soll es bloß ein Brötchen gewesen sein. Noch einmal wird der Geschäftsführer zitiert. Ein martialischer Weißkopf, gut aussehend, aber in etwas vertragenem Anzug, hat Gänsebraten bestellt; ich merke es noch heute an meinem linken Jackenärmel, die Jacke muß sofort zu Spindler . Der Herr hat mich leutselig eines Privatgesprächs gewürdigt, hat erzählt, daß er Amtsgerichtsrat a.D. und Hauptmann der Landwehr a.D. sei. Ich wundere mich, nicke aber voll Hochachtung. Jetzt ist er mit dem halben Gänsebraten fertig, nur der Schlegel liegt noch da, und erklärt auf einmal: "Die Gans ist alt und trocken! Kaum zu genießen! Rufen Sie mal den Geschäftsführer!" Ich sause zur Theke. Nicht da. Ins Bureau. Nicht da. Also oben in den ersten Stock. Da ist er. Ich hole ihn in mein Revier, aber - der Gast ist verschwunden, und den Schlegel hat er, in Papier eingewickelt, mitgenommen; das erfasse ich sofort mit der Sicherheit eines Sherlock Holmes, denn von dem eingespannten Exemplar des "Tag", das ich dem Gast vorher gebracht, ist die erste Seite abgerissen. Futsch. Tutto perdutto. Wieder mal umsonst gearbeitet. Und ich hatte mich schon so über die 60 Pfennige extra von den Holländern (außer den 10 Prozent Bedienungsgeld) und die 20 Pfennige von dem einen alten Herrn mit Knebelbart, der mich durchaus "schon irgendwo gesehen" haben wollte, gefreut. Alles futsch.
"Und die Kinder schreien nach Brot!"
Gegen 3 Uhr morgens hebt noch ein letztes strammes Trinken an. Eine halbe Stunde später kann ich, nach zehn Stunden Hetze, abrechnen. Ich habe 14 Mark 72 Pfennige verdient. Das steht im Haben. Im Soll aber: Fahrgeld 40 Pfennige, Wäsche 1,60 Mark, Anzug reinigen 7,50 Mark, Geschirr zertöppert 3 Mark, betrogen um 4,33 Mark, selber einem Gast zuviel herausgegeben 1 Mark, macht 17,83 Mark, bleibt mithin ein Minus von 3 Mark und 11 Pfennigen. Als ich draußen vor der Tür stehe, zittern mir die Beine.
Ich bin totmüde und kaum mehr eines Gedankens fähig. Wie eine Vision taucht plötzlich vor mir das Bild Cilly Feindts auf, der jungen Turnierreiterin und Filmdiva. Über ihre knospenhafte Erscheinung und mädchenhafte Bescheidenheit, ohne alle Star-Alluren, sind die Badefrauen begeistert. Sie nimmt nämlich den einen um den andern Tag russisch-römische Dampfbäder, um von 108 Pfund auf ihr Normalgewicht 104 Pfund zu kommen. Dazu braucht sie drei Wochen. Ich aber, das ist doch fabelhaft, habe in dieser Nacht 4 Pfund abgenommen.
25. Juli 1929 (Donnerstag)
Glossen 40 - 42 |
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