"Rumpelstilzchen"

Ja, hätt'ste . . .
(Jahrgangsband 1928/29)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1929

Glossen 40 - 42
20. Juni bis 4. Juli 1929


40

Peter ist tot - Wie alt ist die Massary ? - Die Tagung der Frauenrechtlerinnen - Unter der Pax-Fahne - In der Aschinger-Zentrale - Mechanische Arbeit.

Peter ist tot. Ich war sehr befreundet mit ihm. So könne man nur jemand gern haben, der einem als Spätling von einer geliebten Frau geboren sei, meinten Spötter. Trotzdem habe ich einen Bravo gedungen, der gegen eine Gebühr von anderthalb Mark Peter vergiftet hat. Im Tierschutzverein. Peter war nämlich unser Kater. Wenn niemand ihn entdecken konnte, so brauchte ich nur "Peter!" zu sagen, dann saß er auch schon, wie aus dem Nichts hervorgezaubert, auf meinen Knien. Dieser junge Tiger war in seiner Fellzeichnung und in seiner Sprungleichtigkeit ein ästhetisches Wohlbehagen für mich. Im übrigen aber ein Entsetzen für die Familie, die immer auf der Suche nach ihm war, ob er nicht irgendwo irgendwas anrichte, etwa Ledermöbel aufkratze. Nachts balancierte er an irgendeinem Hausgesims entlang und sprang plötzlich in ein Schlafzimmer herein. "Er oder ich!", hatte schon einmal unser Dienstmädchen erklärt. Na Peter ? Immer noch hielt ich meine schützende Hand über ihn. Aber in den letzten vierzehn Tagen wurde bei uns renoviert, wurden Decken, Böden, Fenster, Türen verschiedener Zimmer "gemalen", wie der Seemann sagt, weil nur so der breite Pinselstrich onomatopoetisch wiedergegeben wird, "gemalt" zu pointillistisch klingt. Und sowie etwas frisch lackiert war, machte es Peter diebischen Spaß, mit allen Vieren daraufzuspringen. Es kostete immer wieder Farbe und Trinkgelder, um diese Spuren zu tilgen, und der Maler wurde nicht fertig. "Er oder ich!", schien auch er drohen zu wollen. Also es half nichts. Nun ist Peter tot. Es war der einzige Ausweg, denn geschenkt wollte ihn niemand haben, da ein Überangebot besteht. Wir werden irgendwann einmal wieder mit einem ganz kleinen Kätzchen anfangen. Die Feuerbohnen auf dem Balkon und solch ein Tier in der Küche, das ist schließlich doch noch die einzige Verbindung mit der Natur, die wir großstädtischen Etagenbewohner haben. Selbst die Spatzen auf der Straße werden immer mehr zu einer Seltenheit. Dem natürlichen Leben sind wir ja so entfremdet, daß wir kaum noch, es sei denn im Tanzsaal, den Gebrauch unserer Beine kennen. Jedermann fährt zur Arbeit und wieder nach Hause. Und wenn unsereins wirklich einmal jeden dritten oder vierten Sonntag ins Freie kommt, dann ist es noch so: man sitzt spazieren. Aber da hatte ich den Peter. Der war für mich eine Erinnerung an verlorene Paradiese. Und eine Verheißung auf kommende Paradiese, wenn man ganz alt ist, in einem winzigen Häuschen lebt, ganz draußen, wo der Kater im Freien herumstrolchen kann. Wo auch nicht gleich die ganze Natur zerstört ist, wenn er mal in die Bohnen springt.

Was geht eigentlich der Peter die Leser im Reiche an ? Je nun, ich erzähle doch meist "typische" Geschichten. Und Peter ist nun mal typisch für Berlin. Ich spotte auch nie über alte Stadtdamen, die eine Katze haben. Brauchen sie wirklich keine gegen die Mäuse ? Mag sein. Aber sie retten sich dadurch ein Stückchen Naturverbundenheit und können mit einem Minimum an Aufwand einem Geschöpfchen Liebe erweisen. Für mich ist jede Bohnenranke auf dem Balkon ein mir anvertrauter Pflegling. Auf dem Balkon lerne ich jene Behutsamkeit, die im Verkehr mit eigenwilligen Frauen als verständnisvolle Ritterlichkeit empfunden wird.

Nur in der Schätzung oder Festlegung des Alters einer Dame sind wir Männer meist sachlich zupackend und von einer schonungslosen Objektivität, die aber durchaus nicht aus einem ungütigen Herzen zu kommen braucht. Die zweimal operativ verjüngte Massary, die Operettendiva, die Gattin Pallenbergs, wird in ihrem Alter angeblich überschätzt. Einem ihm sogar rasse- und artverwandten Kritiker hat Pallenberg deshalb schon Ohrfeigen angeboten. Und nun wird die Familie Pallenberg-Massary blaurot vor Zorn, denn sogar im neuen Großen Meyer, dem Konversationslexikon, steht, daß Fritzi Massary "am 21. März 1874 in Böhmen geboren" sei. Lügem schuftige Lüge! ruft die Künstlerin und rast mit einer Klage zum Rechtsanwalt. Erst 1882 sei sie geboren, und zwar in Wien! Auf den Prozeß freut sich schon ganz Berlin W, meint aber, die Massary hätte doch damit zufrieden sein können, überhaupt ins Konversationslexikon gekommen zu sein, was manchem hochverdienten Gelehrten nicht gelinge. Das denke ich auch. Vor allem wird der Erfolg, wenn die Klägerin die nötigen Dokumente wirklich vorweist und Recht bekommt, ihr kaum gefallen. Heute kann man noch sagen, wenn man höflich ist: "Dafür, daß diese Frau 55 Jahre alt ist, sieht sie eigentlich noch sehr jung aus!", während man, wenn sie den Prozeß gewonnen hat, nur erklären kann: "Die Massary ist also wirklich erst 47 Jahre alt, sieht aber doch viel älter aus!" Man weiß nicht recht, welche Lesart vorzuziehen ist; die Massary ist - und das hat mit ihren Lebensjahren nichts zu tun - eine große Künstlerin, das bestätigt ihr seit Jahrzehnten einhellig die gesamte Kritik, nur findet die Kritik - und nicht zuletzt die der weiblichen Verehrer der Kunst - die Zeitgrenze für die Darstellung jugendlicher Operetten-Liebhaberinnen durch die Massary schon weit überschritten. Sie sollte, wie andere Schauspielerinnen es doch auch tun, das Fach wechseln. Es hat nicht zum Ruhme Sarah Bernhards beigetragen, daß sie als Urgroßmutter noch den Aiglon spielte. Man begeisterte sich nicht mehr. Man lächelte.

Dieses impertinente Männerlächeln kann man in Berlin in diesen Tagen häufig dort sehen, wo die Damen von dem internationalen Kongreß der Frauenrechtlerinnen sich in der Öffentlichkeit zeigen. Die "Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt," ist eine alte Forderung der Linken in sämtlichen Staaten der Welt. Die Parole hat der Linken viel Zulauf gebracht, ihr aber dort, wo man im Kampfe gegen die Überflutung durch Farbige steht, auch oft geschadet. Sofern es sich um die Gleichstellung der Geschlechter handelt, nicht der Rassen, hat auch die Rechte sich freilich nicht als fortschrittsfeindlich gezeigt. Für die vermögensrechtliche Gleichstellung von Mann und Frau hat schon der Freiherr v.Stumm im Reichstage der Kaiserzeit stets gekämpft; und neuerdings in der Türkei hat die Frau ihre Emanzipation dem überzeugten Nationalisten Kemal Pascha zu verdanken. Unleugbare Tatsache aber ist, daß zwei Dinge in kurzer Zeit die "Befreiung" des weiblichen Geschlechts mehr gefördert haben als das halbe Jahrhundert der Frauenrechtlerei: Krieg und Mode. Im Kriege hat die Frau, wie man wirklich sagen kann, "ihren Mann gestanden", hat sie ihre Berufstüchtigkeit auf hundert ihr bis dahin verschlossenen Gebieten erwiesen. Nicht durch Reden und Versammlungsbeschlüsse, sondern durch Tat und Leistung. Von den vielen Nachteilen der veränderten Stellung will ich hier nicht sprechen, vielleicht war im ganzen die Haustochter früher doch glücklicher als heute das berufstätige Mädchen von der Kontoristin bis zur Ministerialrätin. Das zweite aber ist die Mode: seit die Frau im kurzen Rock frei ausschreiten kann, ist sie erst ein selbständiges Wesen geworden, während früher sogar die wildeste Suffragette gezwungen war, im Gewühl eines Straßenübergangs oder beim Aus- und Einsteigen in Droschke, Eisenbahnwagen, Karussell die helfende Männerhand anzunehmen, und ohne den Männerarm nicht einmal über die paar Steine im Gebirgsbach hinwegkommen konnte. Das Korsett war ein stärkerer Gegner der Frau als der freiheitfeindlichste Mann. Heute ist es nur noch der hohe Stöckelschuh und das Schönheitsköfferchen; erst mit dem niedrigen Absatz und den Taschen am Anzug selbst ist das Werk vollendet. Solange die Frau noch stelzt, statt zu gehen, solange sie noch Spiegel, Kamm, Puderquaste, Lippenstift tagsüber nicht entbehren kann, solange sie noch das Taschentuch aus dem beauty safe oder aus dem Ärmel, aus dem Busenausschnitt oder aus dem Schlüpfer angeln muß, bleibt sie unfrei. Von dem politischen Wahlrecht der Frau ist viel zu viel Wesens gemacht worden. Nirgends hat seine Einführung irgendeine merkbare Veränderung der Gesetzgebung, der Politik, der Gesellschaftsmoral hervorgebracht. Nur die Stimmenzahl hat sich vermehrt. In den Parlamenten nehmen die Frauen alsbald, da sie selbst keine neue Note hereinbringen können, Art und Unart der Männer an, sind genau so gehässig, genau so geschwätzig, genau so tatenlos, genau so Massenmensch. Wo sich eine wirkliche Führerin unter ihnen befindet, da wirkt sie besser draußen im Leben. Bei sogenannten Demonstrationen sind die Frauen noch lächerlicher als die Männer. Reporter pflegen Demonstrationen immer "machtvoll" zu nennen, obwohl Demonstrationen doch meist nur Entrüstungen der Machtlosigkeit sind. In Berlin haben die weiblichen Internationalen jetzt Umzüge veranstaltet, die jedem Schutzmann ein respektloses Schmunzeln entlockten. Eine Reihe von Droschken hintereinander, in jeder Droschke eine wehende blaue Fahne mit der Aufschrift: "Pax". Pax heißt Friede. Mit hochroten, wichtigen Gesichtern saßen die Damen an ihren Fahnen und glaubten, wunder was für den Weltfrieden getan zu haben. Verständnislos starrten die Berliner auf das Wort Pax. "Wahrscheinlich ein neues Waschmittel!", sagten sie und gingen weiter.

Nicht nur an ihrem Tagungsort in Krolls Festsälen kann man die internationalen Damen sehen, sondern auch überall in der Berliner Gesellschaft tauchen sie gruppenweise auf. Einmal bei Frau v.Kardorff-Oheimb, einmal bei Frau Waldeck-Manasse. Einmal im Reichstag, einmal im Rathaus. Eine dunkelhäutige Inderin mit edlem Gesichtsschnitt, in ihren heimischen Gewändern. Ein paar Engländerinnen in "unmöglicher" Kleidung aus dem vorigen Jahrhundert, ein paar andere in Uniform als Polizeileutnants mit Röhrenstiefeln. Eine Belgierin nach dem letzten Schrei der Mode, herausfordernd auch für Männerblicke. Eine Chinesin in den "besten" Jahren mit sanften Mandelaugen. Damen in allen Lebensaltern aus sämtlichen Staaten Europas und beider amrikanischen Erdteile. Sie bekommen viel in Berlin zu sehen, am allerwenigsten freilich von dem Berlin der Not seit Versailles- und Dawes-Diktat. "Von Thema darf nicht gesprochen werden!"

Eine junge Skandinavierin traf ich, die ein Festessen abgesagt hatte, um stattdessen in einer Aschinger-Bierquelle zwischen hundert kleinen Angestellten aus der Berliner City Löffelerbsen mit Speck zu essen. Sie ruhte denn auch nicht eher, bis sie zu einer Besichtigung der Aschinger-Zentrale draußen in der Saarbrücker Straße am Prenzlauer Berg Zutritt erhalten hatte. Da staunte sie über deutsche organisatorische Arbeit. Da sagte sie: "Diese Deutschen können nicht untergehen!" Im Jahre 1892 kamen zwei junge Leute aus Württemberg, die dort "Koch gelernt" hatten, August und Karl Aschinger, nach Berlin und gründeten in der Neuen Roßstraße, mitten im alten Zentrum, ihre erste Bierquelle, kenntlich an der weißblauen Beschilderung, die der Kommerzienrat Hans Lohnert, damals Fabrikant in Fürth in Bayern, heute Aschinger-Generaldirektor in Berlin, ihnen lieferte; diese Beschilderung ließ die Legende aufkommen, daß die Brüder Aschinger Bayern seien. Unsere alte Hausschneiderin allerdings sagte: "Ich habe sie noch gekannt, aus Bingen stammten sie, bestimt aus Bingen am Rhein!" Jedenfalls waren sie Deutsche, gute nationale Deutsche . Was sie an Speise und Trank den Gästen boten, das war überraschend billig und überraschend gut; und das Neue für Berlin war, daß sie nicht "ein" Bier führten, sondern verschiedene, sehr bald bis zu sechs Sorten. Heute sind sie der größte gastronomische und Hotel-Konzern ganz Europas. Heute gehören ihnen - und sie beschränken sich auf Berlin - hier 52 Bierquellen und Konditoreien, das Weinhaus Rheingold, das Konzerthaus Zillertal, zwei Bierrestaurants, eine Likörstube, das Palast-Hotel, das Hotel Fürstenhof, das Grand Hotel am Knie; ferner sind sie mit 80 Prozent beteiligt am Hotel Bristol, Kaiserhof, Centralhotel, Hotel Baltic, Café Bauer, Café Kranzler, Variété Wintergarten. Und sind dabei gut schwarzweißrot geblieben. In der Vorhalle ihrer Zentrale gedenkt eine mächtige Bronzetafel ihrer 70 Gefallenen aus dem Weltkriege. Links und rechts die beiden großen Zahlen 1914 und 1918, unter der 1914 ein Eichenzweig, unter der 1918 ein Dornengeflecht: noch nie sah ich mit einfachsten Mitteln solche erschütternde Symbolik. Und nun hinein in den Betrieb, der heute über 6000 Angestellte hat! Hinauf mit einem der Riesenfahrstühle in den 5. Stock, wo täglich 240 Zentner Kartoffeln gewaschen und geschält werden. Hinauf, hinunter, treppauf, treppab. Vorbei an einer Maschine, die in der Minute, jawohl, in der Minute, rund 200 Bockwürstchen macht. Durch die Bäckerei, die 14 000 Weißbrötchen in der Stunde liefert, die genau so schön frisch und knusprig in die Bierquellen der Arbeiterviertel wie in die feinsten Hotels kommen. Im Jahre werden hier 13 800 000 Pfund Mehl verarbeitet. Dazu, um noch einige Zahlen zu nennen, 375 000 Liter Sahne, 220 000 Pfund Kaffee, 8 000 000 Pfund Fleisch. Der Pökelkeller, wo in Riesenbottichen Rinderzungen liegen, ist eine Stadt für sich. Vor einer einzigen Brauerei in Berlin, dem Kindl, werden alljährlich über 60 000 Hektoliter Bier bezogen, weitere Unmengen von Patzenhofer-Schultheiß, ferner aus München, Kulmbach, Nürnberg, Dortmund, Pilsen. Ich gehe an einer Korporalschaft von Frauen vorbei, die nur Fischklöße macht, an einer anderen, die Zwiebeln schält, an einer ganzen Kompagnie von Männern und Frauen, die in der Wäscherei beschäftigt sind. Nebenbei werden von 15 elektrisch betriebenen Nähmaschinen Mundtücher gesäumt. Anderswo werden Berge von Sahnekännchen neuversilbert. Nahezu jegliches Handwerk ist hier vertreten, neben 100 Maurern sind so und so viele Stellmacher, Tischler, Autoschlosser, Klempner, Maler, Elektriker, Bürstenmacher, Tapezierer, Fleischer, Konditoren angestellt. Man braucht wahrhaftig nicht erst nach Amerika zu gehen, um Riesenbetriebe zu studieren; und alles hier atmet und duftet von Sauberkeit. Nahrungsmittelchemiker wachen überall und prüfen, alles ist hygienisch so einwandfrei, wie es der kleine Einzelgastwirt wirklich nicht machen kann. Es ist ja richtig, daß manche Wirtschaft, die ehedem ihren Mann nährte, heute schließen muß, wenn eine neue weißblaue Bierquelle in der Nähe entsteht. Aber das hat nicht "das Großkapital" zuwege gebracht; das waren doch ursprünglich auch nur zwei ganz kleine schwäbische Anfänger, nur daß sie eben einen ausnehmend hellen Kopf, mutiges Wagen und unermüdliche Arbeitskraft hatten. In London gibt es ähnliche Betriebe, Lyons und ABC und Expreß Dairy, auch mit zahlreichen Filialen, aber sie sind nicht so groß und im Vergleich zu Aschinger - ich spreche aus Erfahrung - mitunter unsauber. Die Londoner sagen allerdings. Lyons übertreffe Aschinger. Lyons mit mehreren hundert Filialen, Lyons mit Strandhotel, Trocadero, Regent Palace Hotel, Popular und den vielen Produktionsstätten sei der wirklich größte derartige Betrieb in Europa. Ich habe leider aber keine statistischen Zahlen darüber aus London. Für Berlin ist "Aschinger" längst ein Begriff geworden. Und eine Legende. Aschinger: das war der Ort irgendwo in der Stadt, wo der Student um den 20. jeden Monats herum eine Bockwurst aß und dazu mindestens 7 Weißbrötchen "unberechnet" vertilgte, um den 25. herum aber sich einfach neben ein Glas Bier mit einer Bierneige hinstellte, das ein anderer Gast soeben hatte stehen lassen, und nun, durch den Rest legitimiert, ebenfalls 7 Weißbrötchen zu sich nahm, ohne überhaupt etwas zu bezahlen. Die Aschingers konnten dazu lächeln. Alles einkalkuliert; selbstverständlich alles einkalkuliert. Es ruhte Segen auf ihrer Großzügigkeit. Und wer heute von lautlosen Kellnern auf schwellenden Teppichen in großen Berliner Hotels bedient wird, kann sich kaum mehr vorstellen, daß auch dies einfach "Aschinger" ist.

Die maschinelle Rationalisierung und das laufende Band machen auf unsereins allerdings den Eindruck, als schüfen sie auch den Menschen zur Maschine um. Da sehe ich einem blitzsauberen Mädchen zu, das alle 6 Sekunden zwei heranrollende wohlgefornte Teigklumpen, die Brotlaibe werden sollen, packt, nimmt und mit einer Kehrtwendung auf eine andere Maschinerie legt. Und das 8 Stunden lang. Ich würde dabei verrückt werden, sage ich mir. Aber das Mädchen lacht fröhlich und hält mich für sehr dumm. Ich komme in einer kurzes Gespräch mit dem Ding. Und da sagt das Mädchen: "Ich gehe doch bloß mit den Händen spazieren. Wenn Sie in Ihr Geschäft gehen, bewegen Sie Ihre Beine doch auch ganz mechanisch. Sie werden nicht verrückt dabei, Sie finden die Bewegung sogar sehr gesund. Sie haben dabei auch Zeit, an allerlei Schönes zu denken. Ich denke an Feierabend und an meine neues Kleid und an Tanzen und an mein Sparkassenbuch. Manchmal auch an einen Film oder an eine Geschichte. Ich stehe doch lieber hier, als daß ich gebückt am Schreibtisch säße wie Sie. Natürlich möchte ich kürzere Arbeit haben und noch mehr Lohn. Aber von wegen geisttötende Maschine, das ist ja lauter Quatsch."

Da bin ich geradezu enttäuscht. Hier hatte ich mich so schön auf soziales Mitgefühl eingestellt. Spürte sentimentale Regungen. Wollte sagen, daß ich nun vieles endlich begriffe.

Solche mechanische Arbeit sei ja zum Verzweifeln, zum Revoltieren.

Und da lacht das gesunde junge Mädchen mich einfach nur aus.
20. Juni 1929 (Donnerstag)


41

Unser Landstreicher am Familientisch - Aufruhr im Schuhgeschäft - Großstädtische Entfettungsbäder - Der 28. Juni - Die Professoren dürfen darüber nicht reden - Von der Abschaffung der Titel.

Auf unserem Tisch duftet der Sonntagsbraten. Neben mir sitzt ein veritabler Landstreicher.

Wenigstens sieht er so aus. Der ehedem dunkle Anzug hat eine grünliche Patina bekommen, die von monatelanger Wanderung auf bayrischen, thüringischen, preußischen Chausseen erzählt, und die Stiefel sind so zerrissen, daß stellenweise der Strumpf, stellenweise sogar der (übrigens erfreulich saubere) Fuß hervorlugt. Einen Huit hat der hochgewachsene, hagere, 51jährige Mensch nicht. Die Stirn mit ihren Fältchen ist in Sonne und Wind mumienbraun geworden. Einige Zähne fehlen dem Mann auch. Sie mögen in Australien, wo er artesische Brunnen gebohrt hat, oder in Holländisch-Indien, wo er als Meister bei einem Hafenbau tätig gewesen ist, oder in China, wo er seinen eigentlichen Beruf als Maschinenmonteur ausgeübt hat, verlorengegangen sein. An den Wochentagen sitzt unsere Hausschneiderin, die alljährlich vor der Sommerreise meine Frau etwas zu modernisieren hat, auf der anderen Seite neben ihm. Sie schüttelt sich. "Sag' mir, mit wem du umgehst", denkt sie sich und hält nun auch mich für einen Proleten. Das ist mir gleichgültig. Ich habe unseren Gast nicht nach Partei oder Religion gefragt, nicht nach Herkunft - er ist als Sohn eines kleinen Gemeindebeamten in einem Taunusörtchen geboren - oder nach Bildung. Es genügt, daß er ein guter Deutscher und ein alter Soldat ist. Hat von 1898 bis 1901 bei der Kaiserlichen Marine gedient, war Barkassenführer auf der westafrikanischen Station. Solche absonderlichen Käuze in dem Berliner Trubel zu finden, habe ich immer das Glück. Dieser mußte nach Berlin, um vor dem Auswärtigen Amt seinen Entschädigungsanspruch gegen Sowjetrußland zu verfechten. Er ist nämlich, als in China infolge der Revolution der Verdienst knapp wurde, in die Mandschurei, dann nach Sibirien gegangen, wurde dort nach einer Weile - das ist so des Landes Brauch - wegen angeblicher Spionage festgenommen und anderthalb Jahre lang durch alle Gefängnisse, wahre Folterkammern, geschleppt. Es ließ sich aber nichts nachweisen. Da setzte man den trotz seiner Zähigkeit und seines Humors schließlich fast zerbrochenen Monteur endlich in Freiheit und ohne alle Mittel auf ein Schiff, das von Petersburg nach Stettin fuhr. In der Heimat hatte keine Behörde eine Unterstützung für ihn übrig. Was, Unterstützung ? Für einen Menschen, der nicht einmal Marken in eine Versicherungskarte geklebt hat ? Der jahrelang in drei fremden Erdteilen sich herumgetrieben hat ? Deutsches Schicksal.

Nun ist der vom Schicksal Zerzauste durch meine Vermittelung für ein paar Wochen zu einem Bekannten aufs Land eingeladen. Da soll er sich zuerst hochfüttern. Dann kann er, wenn er will, an Motorpflügen und sonstigen Maschinen wieder seine Kunst erproben. Er ist, wie alle in exotischen Ländern handwerklich Beschäftigten, ein Tausendsassa, der sozusagen alles kann. Bei uns zu Hause hat er, um sich erkenntlich zu zeigen, in diesen Tagen alles geflickt, was dessen bedürftig war, von der zerbrochenen Marmorplatte bis zur klemmenden Schranktür, vom Büfettschloß bis zum Rundfunkapparat. So hoffe ich, daß ihn nach den paar Wochen Erholung vielleicht irgend ein Leser, der eine Maschinenfabrik hat, als Monteur anstellen kann; ursprünglich war unser Tischgast dies bei der großen Firma Sulzer in Winterthur und Mannheim, war auch einmal Techniker für alles in einem großen Warenhause in Hamburg, später im Auslande in der Bauhütte von Philipp Holzmann & Co. Wer mit der Hand geschickt ist, den kann man schon mal unterbringen. Viel schwerer ist es bei Kopfarbeitern. Ich bekomme mitunter bis zu 100 Briefen monatlich mit der Bitte, mich bei "reichen Leuten" - ich kenne keine oder habe es mit ihnen verschüttet - für diesen oder jenen Begabten zu verwenden; ich kann den größten Teil solcher Briefe nicht einmal mehr beantworten.

Aber die Fassade unseres Landstreichers mußte zunächst neu verputzt werden. Wer heruntergekommen aussieht, der kommt kaum wieder hoch. Nur wer schon so viel Elend vor sich treten sah, wie etwa der Konsul Richter im Auswärtigen Amt, der die Ansprüche der in Sowjetrußland Vergewaltigten zu bearbeiten hat, stößt sich daran nicht mehr. Mit Hilfe eines weichherzigen Freundes haben wir also den Mann "neu eingekluftet". In einem Haus für getragene Monatsgarderobe. Ich trat ein, sagte, daß ich für einen alten Soldaten, dem es zur Zeit schlecht geht, einen Anzug kaufen wolle, und wurde alsbald mit allem Respekt bedient. Etwas schwerer hatte es meine Frau nachher mit unserem Schützling in einem Schuhgeschäft. Als das ungleiche Paar eintrat, drückte die Direktrice sofort auf den elektrischen Knopf, winkte mit Fingern und Augen, und "unauffällig" postierte sich jemand neben unseren hageren Freund, damit er nicht am Ende mit ein paar errafften Stiefeln davonrenne. So etwas, so unauffällig es auch sein mag, merkt natürlich ein armer Teufel. "Ist das nicht entsetzlich ?", frage ich ihn nachher. Er lacht nur. Er ist längst jenseits aller falschen Scham. Nur die echte hat er sich bewahrt. Er würde sich schämen, etwas Schlechtes zu tun; und er würde sich schämen, sich in die politische rote Front einzureihen und schlecht über das verlorene alte Vaterland zu sprechen. Im Laden zieht er gleichmütig seine Stiefelfetzen aus. Darunter offenbart sich ein Strumpf, löcherig wie Schweizerkäse und dazu - daher hüstelt der Mann auch so - regennaß, aber der Fuß ist blüteweiß und rein. Unter den Käufern im Geschäft gibt es einen kleinen Aufruhr. Alles beäugt meine Frau. Eine Dame geht an ihr vorüber und meint spitz: "Tja, wo die Liebe nich alles hinfällt!"

Irgend eine andere Erklärung haben diese Damen für den sonderbaren Vorgang natürlich nicht. In kleinen Landstädtchen, wo häufiger jemand zu sehen ist, der sich "auf der Walze" befindet, würde man das schon eher begreifen. Aber in Berlin sind abgerissene Erscheinungen selten; sie gleiten höchstens nachts in Nebenstraßen lautlos an der Häuserfront vorüber, und wer sie mit flüchtigem Blick erhascht, der sagt sich: "Aha, ein Verbrecher!" Der sogenannte anständige Mensch ist doch immer gut gekleidet, nicht wahr ? Und hat nur eine einzige Angst: nicht dick zu werden. Jetzt kommen schon Bekannte von Kissingen zurück. "Ich habe im Sanatorium Dr. Uibeleisen, ohne zu hungern, bei guter Verpflegung, zehn Pfund verloren!", triumphiert einer. Ruhig, nur ruhig; im Winter wird er sich die zehn Pfund wieder holen, und dann ist Kissingen erneut fällig. Und wer sich das nicht leisten kann, der entfettet sich einfach in Berlin. Er trinkt morgens im Zoo oder im Schöneberger Stadtpark oder sonstwo seinen Rakoczy-Brunnen und geht nachher ins Excelsior-Bad; auch so kann man seinen Urlaub nützlich - und billig - verbringen. Ins Bad habe ich neulich drei bekannte Damen eingeladen, um zu erfahren, wie es in ihrer Abteilung zuginge; in der Herrenabteilung konnte ich ja selber alles erproben. Wir teilten uns ein. Ich nahm eine Paraffinpackung, die Damen Fango, Kohlensäure, Sauerstoff. Dazu Heißluftraum, zuerst in dem einen, der 45 bis 50 Grad, dann den anderen, der 65 bis 70 Grad Wärme hat; da rieselt man alsbald. Dazu Dampfspritze, dazu ein paar Schwimmstöße in den verschiedenen kleinen Becken, bei 42 Grad, bei 28 Grad, bei 16 Grad, dazu Dusche, dazu Massage, dazu elektrischer Zittergürtel. Jeder von uns hat gut zwei Pfund ausgeschwitzt. Nachher treffen wir uns in der Halle und löffeln mit Wohlbehagen Erdbeeren und kalte Milch und erzählen uns begeistert von der Marmorpracht und dem Mosaikglitzern und dem Wäschereichtum - man braucht nichts mitzunehmen, man kriegt Schürzen, leinene Bademäntel, Laken immer wieder frisch - und der sorgsamen Behandlung. Nur in Ofenpest kenne ich noch luxuriösere Bäder. Es gibt Damen, die, man höre und staune, auf den Konditoreibesuch mit Freundinnen verzichten, dafür aber das ganze Jahr hindurch allwöchentlich zweimal hierher ins Excelsior-Hotel gehen und bis zu sieben Stunden verweilen. Davon zwei oder drei Stunden liegend im Ruheraum, um sich nicht zu überanstrengen. "Bringen Sie mir bitte, wie immer, eine Tasse Fleischbrühe und zwei Schinkenbrötchen, den Speck weggeschnitten!" Dazu ißt die Frau noch einen mitgebrachten Apfel und verzichtet dafür auf das Mittagessen daheim. "Und dann, bitte, ein Buch aus der Hotelbibliothek, aber eins, das sich gefällig liest!" Also man liest etwas, man raucht etwas. Dann denkt man etwas nach. Die Atemzüge werden immer ruhiger. Sollte es möglich sein ? Hat man wirklich anderthalb Stunden geschlafen ? Besonders die moderne Paraffinpackung macht so wohlig müde. Wenn man mit dem 52 Grad heißen, gerade noch flüssigen Paraffin bestrichen ist, das dann gerinnt, so daß man eine halbe Stunde wie ein mächtiges Kirchenlicht in seiner Kabine liegt, hat der Körper doch was hergegeben.

Ganz junges Volk sieht man in solchen Bädern natürlich selten, es sei denn, daß einer einmal einen Hexenschuß loswerden soll. Junges Volk geht lieber ins Freie schwimmen. Recht hat es! Oder es geht auf den Sportplatz oder, meinetwegen, auf die Tanzdiele. Ganz unbewußt sucht es sich Ersatz für das, was früher die militärische Dienstzeit gab. Nun ist es zehn Jahre her, daß sie uns durch die Übermächtigen verboten wurde. Zehn Jahre seit Versailles! Ich bin kein Freund von Demonstrationen und Kundgebungen, weil sie einen nur belügen; sie gaukeln uns vor, daß die "Nieder!" oder "Hört! Hört!" oder "Pfui!" rufende Masse Mensch eine Macht sei. Aber etwas anderes ist es um solche Veranstaltungen, die nur dazu da sind, im heranwachsenden Geschlecht die Erinnerung an ungesühnte Schmach wach zu erhalten. Das Land Thüringen flaggt am 28. Juni überall halbstocks. Aber das rote Preußisch-Berlin tut alles, was es kann, um die Erinnerung zu dämpfen. Nur nichts von Versailles! Nur nichts über die Schuldlüge! Denn sonst käme das innerpolitische Gebäude am Ende ins Wanken. Poincaré darf uns allsonntäglich in Denkmalsreden nach wie vor als Kriegsverbrecher und als Abschaum der Menschheit bezeichnen, das macht nichts. Natürlich, das Kaiserreich, das fluchwürdige, war an dem Kriege schuld, sagen unsere Revolutionsmacher; denn sonst wäre die Revolution ja auch nicht gerechtfertigt, sondern ein Verbrechen. Nur einmal, am 22. Juni vor zehn Jahren in der Weimarer Nationalversammlung, hat der Genosse Löbe scheu die Wahrheit bekannt, als die Seifenblase zerplatzt war, daß die Entente die Welt nur von diesem militaristischen Kaiserreich habe befreien wollen, der deutschen Demokratie aber die Bruderhand reichen werde. Und da sagte Löbe:

"Deutschland ist den fremden Mächten stets als das Ursprungs- und Zukunftsland des Sozialismus verhaßt gewesen!"

Wir vergessen sehr schnell, aber gerade so etwas müssen wir uns merken. Unsere verehrlichen Behörden freilich wünschen, daß wir nichts hören und erfahren, was vor Versailles oder vor der Revolution war; erst damit soll deutsche Geschichte beginnen. Sogar die akademische Feier der Berliner Hochschulen am 28. Juni, auf der über Versailles der bekannte Historiker Delbrück, ein sonst in der Republik sehr wohlgelittener Mann, vortragen sollte, ist verboten worden; wie es heißt, auf das Betreiben des preußischen Ministerpräsidenten Braun hin. Vergeblich interpellierte der Universitätsrektor His beim Kultusminister Becker. Dabei handelt es sich um eine Trauerfeier, um eine Erinnerungsfeier der Hochschulen als Körperschaften, als wissenschaftliche Institute, nicht etwa um eine Kundgebung "aufrührerischer" Studenten. Solange die Studentenschaft, dank Becker, keine anerkannte Vertretung ist, kann sie sowieso keine gemeinsame Kundgebung mit der Professorenschaft veranstalten; sie hat ihren eigenen Aufmarsch draußen im Stadion. Also in der neuen Aula der Universität wäre es sehr akademisch-professoral zugegangen. Daß das preußische Ministerium trotzdem mit seinem Verbot eingreift, zeigt, wie es die gewährleistete akademische Lehrfreiheit mißachtet und wie es eine Stellungnahme zur Schuldlüge - fürchtet. Die Professoren ? Pah! Die müssen einschwenken wie die Unteroffiziere. (Daher der Name: der freieste Staat der Welt.)

Auch das Reich, gestoßen von Preußen, macht sich "beliebt", indem es verbietet oder, wo dies nicht angeht, Verbote erwirkt. Hauptsache: man muß den Leuten ihren Spaß verderben. Jetzt soll der Staatsgerichtshof den Bayern verbieten, Titel zu verleihen, da dies der Verfassung widerspreche. Bayern antwortet, es handle verfassungsgemäß, denn Titel, die eine Tätigkeit bezeichnen, beispielsweise Oberbaurat oder Studiendirektor oder Kreissekretär, seien alleweil in ganz Deutschland üblich. Im Vertrauen gesagt: noch mehr. So erhielten beispielsweise der Variétékünstler Schlesinger und der Chefredakteur Bernhard den Titel Professor. Daß die Bayern andere Titel, übrigens auch an Handwerker und Arbeiter verleihen, das ist ihre Sache. Manchmal ist das natürlich für uns Norddeutsche etwas absonderlich. Ich weiß einen alten Metzgermeister in einer fränkischen Stadt, den man zum Geheimen Landesgewerberat ernannt hat. Also gehe ich in den Laden hinein und sage: "Bittäh, Herr G'heimrat, a paar Weißwürscht!" Auf dem Markt der Eitelkeiten ist es ja überhaupt oft komisch genug. Nur sollen die Großsiegelbewahrer der Weimarer Verfassung der Welt nicht einreden, daß sie selber von catonischer Sittenstrenge und republikanischer Enthaltsamkeit in diesen Dingen seien.

Im ersten Hotel in Ragusa sitzt kürzlich eine Dame, die durch ihren berlinisch-galizischen Dialekt auffällt. Sie ist sehr laut. Sie mäkelt an allem. So, wie es sonst nur Neureiche zu tun pflegen, woran man sie immer erkennt. Der Oberkellner bemüht sich um sie. "Aber, gnädige Frau . . ." Da fährt sie auf und ruft: "Sagen Sie doch nicht immer gnädige Frau! Ich bin Exzellenz!"

Alles reckt die Hälse. Was ist sie ? Je nun, die Witwe des weiland Innenministers der Revolution, der Dr. Preuß, des Schöpfers der Weimarer Verfassung, durch die die Titel abgeschafft sind.
27. Juni 1929 (Donnerstag)


42

Vorbereitung zur Verfassungsfeier - Kein Republikschutzgesetz mehr - Im Kastanienwäldchen hinter der Universität - Der Völkerbund in Tempelhof - Bei der Stellenvermittlerin für Hauspersonal - Der feste Herr.

Nun ist es heraus. Deutschland kann aufatmen. Nämlich am 11. August wird bei Verfassungsfeiern, selbst wenn sie mit Musik und Tanz und Tombola verbunden sind, keine Lustbarkeitssteuer erhoben.

Die Verfassungsfeier ist keine Lustbarkeit. Die Verfassungsfeier ist eine Kontrollversammlung.

Jeder Abhängige hat sich, auch wenn er sie nicht hat, mit der vorschriftsmäßigen republikanischen Gesinnung zu melden. Über die Beteiligung der Beamten werden Listen geführt. Die Schüler müssen in geschlossenem Zuge heran, Aufsicht vorne und Aufsicht hinten, daß keiner ausbricht. In Wohnhäusern, an denen die Gemeinden durch Bauzuschuß beteiligt sind, sollen fortan nur solche Verträge abgeschlossen werden, die sofortige Kündigung ermöglichen, falls ein Mieter keine schwarzrotgelbe Flagge heraushängt. Am 28. Juni durfte der greise Professor Delbrück in der Berliner Universitätsaula den angekündigten Vortrag über Versailles nicht halten, weil das preußische Staatsministerium es verbot. In der Verfassung ist freilich Meinungsfreiheit und Lehrfreiheit gewährleistet; trotzdem bricht man sie alle Tage. Aber am 11. August soll die Verfassung gefeiert werden wie noch nie zuvor, sozusagen in amerikanischem Ausmaß. Die Amerikaner haben ihre Flagge nicht gewechselt. Aber bei uns sollen mit Zureden und Zwang, mit viel Geld und guten Worten, mit Befehl und Feiern die neuen Reichsfarben "eingebürgert" werden. Nicht weniger als 11 000 kleine Berliner Schulmädchen sollen sie in einer Massenaufstellung im Stadion verkörpern. Je ein Drittel der Kinder bekommt kostenfrei ein schwarzes oder ein rotes oder ein gelbes Kleid geliefert und darf es behalten. Wie man sieht, kostet auch der republikanische Militarismus, also Kontrollversammlung nebst Parade, eine erkleckliche Stange Gold. Der Erfolg aber ist mehr als fraglich.

Die Verbissenheit, mit der jetzt alles in die Verfassungsfeier hineingepeitscht wird, müßte eigentlich Verwunderung erregen. Denn es ist doch gerade erst acht Tage her, da kriegten die Einpeitscher des neuen Systems geradezu Wutanfälle, als die Verfassung in einem wichtigen Punkt - wiederhergestellt wurde. Es fand sich nämlich keine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Reichstage für die Verlängerung des Republikschutzgesetzes. Des berüchtigten Schikanegesetzes, demzufolge es schon ein strafbares Vergehen gegen die Republik war, von dem preußischen Ministerpräsidenten Braun zu erzählen, er handle unwaidmännisch, wenn er in der Schonzeit eine Ricke schieße. In der hellen Wut über die Wiederherstellung der Verfassung durch Fall des Ausnahmegesetzes haben unsere Großsiegelbewahrer sich ja sogar zu der Drohung mit einer roten Diktatur verstiegen; aber am 11. August sollen wir ihnen ergriffen lauschen, wenn sie da das "große Werk von Weimar" in öffentlichen Feiern preisen.

Um die Zeit fangen die Universitätsferien schon an. Die Berliner Studenten sind also über alle Berge. Man hat sie aber schon am 28. Juni begeistert. Sie demonstrierten innerhalb der Bannmeile. Da trieb man sie mit Gummiknütteln auseinander.

Heute erneute Kundgebung. Im Kastanienwäldchen hinter der Universität ist ein Siemens-Lautsprecherwagen aufgestellt, da heraus ertönt die Ansprache, die für Tausende verständlich ist. Davor an der Neuen Wache stehen ein paar Omnibusschaffner und unterhalten sich über den ungewohnten Anblick einer Volksversammlung Studierender. "Sollten lieber gehen, ihre Schularbeiten machen, die Lausejungs!", knurrt einer. Wer noch lernt, und wenn er auch schon längst volljährig ist, der gilt diesen Leuten immer als Lausejunge. Aber das "Volk" ist immer "mündig". Ach, man täuscht sich hüben wie drüben, wenn man in den vorbismärckischen Irrtum verfällt, daß mit Reden und Majoritätsbeschlüssen überhaupt Weltgeschichte gemacht werde. Viele Studenten freilich wissen es; sie hören still zu und entfernen sich still. Andere versuchen noch nach der Versammlung auf der Straße, die Stimmung sozusagen mit dem Blasebalg anzufachen. Man sieht Arme zum römischen Gruß gereckt, man hört im Chorus immer wieder das "Deutschland: erwache!" und "Judas: verrecke!" rufen, das neuerdings so Mode geworden ist. Ich bin leider, so sehr ich auch das Aufbegehren wider die Vergewaltigung der Universität billige, Zweifler in allem, was öffentliche Kundgebungen anlangt. Deutschland schläft weiter. Und Judas verreckt noch nicht.

Unter ihm leiden alle Nationen, nicht nur wir Deutschen. Er hat unzählige Masken. Zuweilen nennt er sich sogar Völkerbund. Unmittelbar vor den Toren der Innenstadt Berlin, draußen auf dem Tempelhofer Felde, tauchte er als angeblicher Philanthrop auf. Da leben - ich habe im Winter davon erzählt - rund 180 Emigranten unter seinem hohen Protektorat. Lüftet man die Maske der Berliner "Völkerbundsvertretung für Flüchtlingsangelegenheiten", so sieht man drei Herren ins Gesicht, Schlesinger, Schöne, Ehrengold. Als sozusagen Zwischenmeister dient ihnen der "Russische Wohltätigkeitsverein von 1916". Hinter dieser Maske die Herren: Rietenberg, Hessen, Mandel. Wobei man nicht erstaunt zu sein braucht, daß Herr Schlesinger Schwager des Herrn Rietenberg ist. Die 180 durch Not zermürbten, monarchisch gesinnten Staatenlosen haben bislang nicht die Kraft besessen, sich der doppelten Vormundschaft zu erwehren. Sie bezahlten für die menschenunwürdigen Spelunken - in ein einziges Zimmer, das größte allerdings, sind 11 Personen eingepfercht - ihre verhältnismäßig hohe Miete. Wer im Rückstand blieb, der wurde vom verschwägerten Völkerbund und Wohltätigkeitsverein rücksichtslos auf die Straße gesetzt, in wenigen Monaten sechs Mieter, die meist durch Krankheit erwerbslos geworden waren. Der Verein veranstaltete, um seinen Namen zu rechtfertigen, gelegentlich irgendwo in der Stadt Wohltätigkeitsfeste, von dem Ertrag hat aber kein Staatenloser etwas gemerkt, der Verein ist ja auch nur sich selbst verantwortlich, nicht ihnen. Und die Völkerbundvertretung - Schlesinger, Schöne, Ehrengold -, die den Verein zum Wächter über die verluderten Baracken, das sogenannte Nansenheim, gesetzt hat, bringt natürlich auch keine Mittel für die Ärmsten der Armen da draußen hinter der General-Pape-Straße auf, sondern verlangt, daß die deutschen Behörden, wenn die alten Baracken einmal abgerissen werden, ihr Geld zur Errichtung neuer geben. Dann brauchte man aber doch die Völkerbundvertretung mitsamt dem Schwagervereine nicht; da könnten die Deutschen selber bauen, und zwar für erheblich weniger Geld, als der Völkerbund Schlesinger-Schöne-Ehrengold dafür verlangt hat. Einstweilen hat der Wohltätigkeitsverein Rietenberg-Hessen-Mandel den 180 Flüchtlingen gekündigt, da in den nächsten Tagen die Baracken entfernt würden und die Tempelhofer Heimstättengesellschaft auf dem ihr gehörenden Gelände feste Häuser errichten wolle, und stellt es ihnen anheim, sich irgendwo in Berlin eine andere Bleibe zu suchen. Nun haben die Gehetzten denn doch rebelliert und jede weitere Vormundschaft abgelehnt, haben Behörden und Private für sich mobil zu machen versucht und wollen selber Verein spielen. Aber sie wissen nicht, wohin. Sie wissen nicht aus noch ein. Sie haben gefroren, sie haben gedarbt, das können sie, aber sie möchten nicht just auf der Straße sterben. Die Maskierten sind sie nun wenigstens los und an offene Deutsche gekommen, an den katholischen - sie selber sind zum Teil griechisch-orthodox, zum Teil evangelisch - Caritasverband, der sich ihrer annehmen will und das Geld für neue Notwohnungen aufzubringen hofft. Es verzinst und amortisiert sich aus der Miete. Die Deutsche Bank ist nicht abgeneigt, daraufhin eine Hypothek zu geben. Aber die Tage verrinnen, die Wochen verrinnen, und nachts packt die 180 die graue Verzweiflung, daß sie, ehe die Hilfe bereitsteht, nun doch mit ihrem bißchen Plunder auf die Straße gesetzt werden.

Das ist die Zeit, in der wir Glücklicheren unseren Erholungsurlaub antreten. Myriaden sind aus Berlin schon auf und davon. Die Saison für die Einbrecher beginnt. Und andere Myriaden, wenn auch nicht ganz so viele, kommen umgekehrt nach Berlin. Alle diese Tausende Herreisender gehen wortlos aneinander vorüber, schauen einander an, halten einander für Berliner. Dann erzählen einige, wenn sie nach Bautzen heimgekehrt sind, in Berlin kleide man sich doch recht provinzlerisch. Sie haben aber Leute aus Glauchau gesehen. Andererseits wird in Elster über die große Schnauze der Berliner Kurgäste geklagt. Diese Berliner Kurgäste aber sind vielleicht in Posen oder Ratibor geboren.

Wohl dem, der in diesem Reisedurcheinander eine treue Seele daheim hat, die ihm das Seinige verwahrt. Ein braves Dienstmädchen ist mehr wert als die höchste Einbruchsversicherung. Das sind die dümmsten Herrschaften, die, um Lohn und Kost für einen Monat zu sparen, Hauspersonal entlassen, wenn sie zur Sommerreise rüsten, und nachher neues einstellen. Gelegentlich gehe ich zur alten Stellenvermittlerin in unserer Nähe, um ihr, auch in bar, freiwillig dafür zu danken, daß sie uns immer Mädchen besorgt, die jahrelang, oft bis zur Verheiratung, bei uns in Ehren ihre Arbeit tun. "Ja, bei Ihnen!", sagt dann die Vermittlerin. Das soll heißen: bei Ihnen, wo die Hausfrau selber was kann und wo niemand die Mädchen verrückt macht. Ach was! Es liegt nicht immer an der Familie. Ich sehe, was da so im Mietbureau herumsitzt: lauter Flittchen. Zum Teil, das ist ein Vorzug, "frisch aus der Provinz", aber doch schon mit dem Vorsatz, möglichst wenig zu arbeiten, aber möglichst viel Lohn zu nehmen. Da ist ein an sich nettes, sauberes Mädchen aus Ostpommern, das einen sehr guten Eindruck macht, ihn aber wieder dadurch verdirbt, daß es Berlin offenbar für eine Goldstadt hält und sofort lossprudelt: "Also 60 Mark monatlich muß ich haben und wie ist es mit dem Urlaub und was kriege ich zu Weihnachten ?" So etwas stößt sich freilich bald die Hörner ab. In der Ecke eine ruhige, sanfte Beschwörung durch die alte Stellenvermittlerin, dann sieht das Kind alles ein und ist zufrieden. Im Mietbureau kann man sich schon Menschenkenntnis erwerben. Unsere gute Frau, der in 23 Jahren schon mehr als zehntausend Hausgehilfinnen durch die Hände gegangen sind, täuscht sich fast nie. Sie sagt auch, daß das Menschenmaterial in den letzten Jahren im allgemeinen schlechter geworden sei, aber das habe eben allgemeine Gründe, und es gäbe immer noch, so wie in alter Zeit, ganz vortreffliche brave Dienstmädchen, die man mit sicherem Blick sofort herauskenne und seinen besten Kunden zuschicke, von denen man wisse, daß das Mädchen bei ihnen wohlaufgehoben sei, an Leib und Seele nicht Schaden nehme, gesund und munter bleibe und geachtet werde. Schade, daß im nächsten Jahre das Gewerbe der privaten Stellenvermittlerinnen, zu denen man fast immer volles Vertrauen haben kann, sozialisiert werden soll. Sie bekommen eine Entschädigung, die Stadt Berlin übernimmt den Betrieb. Vorher werden sie aber noch nach Möglichkeit kujoniert, wobei, wenn Anzeigen über Anzeigen gegen sie gemacht werden, die Stadt auch den Vorteil einheimsen kann, daß ihnen, ohne daß die Entschädigung fällig wird, die Konzession einfach entzogen werden kann. Der selbständige gewerbliche Mittelstand soll zerstört werden, so gehört es sich nach dem roten Kommunalprogramm. Aller Augenblicke kommt wieder irgendein junger Schnösel vom Arbeitsamt und revidiert und sucht nach Material zur Beanstandung des Betriebes. Dabei kann man reichlich nervös werden und es auch einmal übersehen, daß einem eine "Blüte" des Dienstmädchenberufes unter die Finger gerät, die aus dem Nichtstun ein Gewerbe macht. Da ist eine, die läßt sich anmustern, erweist sich aber schon am ersten Tage als unmöglich. Die Betten werden nicht gemacht, das Essen ist schauerlich versalzen, am Abend das Geschirr noch nicht gespült, beim Einholen vom Bäcker um die Ecke bleibt sie eine Stunde weg, die Türen läßt sie offen, mit der Morgenzeitung wischt sie den Fußboden, in der Gemüseschüssel wäscht sie sich die Hände. Am nächsten Tage noch toller. Dazu nicht faßbare, passive Resistenz. Die Hausfrau sagt, man müsse sich wieder trennen. "Jawohl, gnädige Frau, dann gehe ich also, aber nicht ohne Lohn und Kostgeld für 4 Wochen!" Der Fall wird dem Herrn des Hauses vorgetragen. Es gibt eine erregte Szene, schließlich werden dem Mädchen zu den 5 Mark Handgeld, die sie bekommen, noch 3 Mark zugelegt, nun solle sie aber packen und gehen. Sie heult und schreit: "Nein, erst Lohn und Kostgeld für 4 Wochen!" Es wird ärger und ärger, man drängt sie schließlich zur Tür hinaus. Da haut sie mit den Fäusten an die Tür, wirft sich mit dem Körper dagegen, brüllt auf den Hof hinaus: "Ich werde geschlagen, man hat mich vergewaltigt!", das ganze Haus läuft zusammen, Polizei muß den Skandal beenden. Das Mädchen, das einmal ein Jahr lang stramm gearbeitet hat und darüber ein gutes Zeugnis besitzt, verdient jetzt, dank ihrem Trick, der meist gelingt, in wenigen Monaten soviel, daß sie für den Rest des Jahres privatisieren kann.

Natürlich ist so etwas - wie auch die gewerbsmäßige Diebin - ein Ausnahmefall. Die Mädchen können nicht mehr so viel wie früher, weil die frühere hausmütterliche Erziehung daheim ihnen abgeht. Aber sie lernen doch meist gern und arbeiten sich schnell ein. Den häufigsten Konfliktsstoff gibt es nicht wegen mangelhafter Leistungen, sondern wegen nach alter Anschauung zu freien Lebens. Kaum ist die Donna eingezogen, so klingelt schon der Fernsprecher: eine Männerstimme verlangt Fräulein zu sprechen. Bitte sehr. Dann verschwindet Fräulein und kommt erst um Mitternacht heim. Am zweiten Tage wieder so. Da ist natürlich der Gedanke naheliegend, daß eines Nachts besagte Männerstimme auch wohl im Mädchenzimmer ertönen mag, woran sehr moderne Herrschaften, die in der Sommerfrische sehr belustigt Geschichten vom Fensterln lesen, nicht einmal immer Anstoß nehmen. Wie aber, wenn der zu dieser Stimme gehörige Mann dann eines Tages den Silberschrank ausräumte und den Perserteppich einrollte ? Also wird im Mietbureau vorsichtig danach gefragt, ob die neue Perle am Ende einen männlichen Freund habe.

"Denn, wissen Sie, ein fremder Mensch im Hause, das wollen wir denn doch nicht!"

Worauf die Perle ruhig erwidert:

"Ein fremder Mensch kommt jarnich in Frage; seit ein Jahr hab' ich ein festen Herrn!"
4. Juli 1929 (Donnerstag)



Glossen 37 - 39

Jahresinhalt

Glossen 43 - 45

© Karlheinz Everts