"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 31 - 33
15. bis 29. April 1926


31

Besuch vom Regimentsabend - Im Geiste von Walter Flex - Berliner Geschichten von der Alten Armee - Demokratie und Strammstehen - Das Reichsbannertaschentuch - Berlin als Messestadt - Gefühlszentrum, Willenszentrum, Geschäftszentrum - Wie man aussieht

Der Herr General! Wahrhaftig, da steht er an meinem Bett, mein alter Kommandeur. Dieses Berlin ist einem oft so leid geworden, aber einen Vorteil hat es doch, es ist der große Sammelpunkt. Wer dauernd hier wohnt, der hat die Aussicht, daß bei irgendeiner Gelegenheit - einem Kongreß, einer Beratung, einem Kursus, einem Appell, einer Generalversammlung - die lieben Leute aus dem Reiche bei ihm eintreffen. Unsereins kann nicht Rundreisen nach Ballenstedt, Eilenburg, Lahr, Itzehoe, Marienwerder, Offenbach, Glauchau, Niesky, Gera machen. Aber von überall daher kommt einer mal nach Berlin. Da ist jetzt in der Woche nach Ostern der Regimentsabend gewesen. Tags zuvor ist der General bei mir. "Und dann die Herren Leutnants." Die Überlebenden. Drei Mann hoch. Den einen habe ich mal auf drei Tage eingesperrt, als er übermütig geworden war; das sollten meine Leute wissen, daß ich keinen Unterschied machte, sondern oben wie unten genau so bestrafte, nicht etwa den Leutnant milde "angeheitert" und den Soldaten hart "besoffen" nannte. Dem anderen haben sie an der Westfront, als die ganze Division aufgerieben wurde, übel mitgespielt, er hat einen künstlichen Unterkiefer, ein künstliches Auge. Der dritte ist eben aus Mexiko heimgekehrt, wo er sich eine neue Existenz zu gründen versucht hatte, sieht ein bißchen schmal und gelb und exotisch aus. Was spricht man heute mit den Kameraden ? Der General ist natürlich die lebendige Kriegsgeschichte, da tauchen Schlachten, Gefechte, taktische Situationen auf, da werden Befehle rezitiert, da marschieren Zahlen auf. Für die jüngeren Herren aber, die nicht nur noch von Ruhegehalt und Erinnerung leben, ist das in den ersten Jahren erledigt. Man steht im bürgerlichen Dasein, man fragt nach dem gegenseitigen Ergehen; dem einen ist ein Kind geboren, dem anderen die Frau gestorben, der dritte hat eine Gutspacht aufgeben müssen, der vierte hat sich ein Häuschen gebaut. So geht es allmählich wohl in den meisten Regimentsvereinen. Man "simpelt Familei".

Aber mitten unter den philiströs Gewordenen wachsen doch auch die bewußten Führer des kommenden Geschlechts heran. Bisher, bald acht Jahre lang, hat das typische "Etappenschwein" unser öffentliches Leben bestimmt, aber der Frontsoldat rüstet sich nun zur Ablösung. Der verschüttete Schützengrabengeist ringt sich frei. Auch das kann man auf allerlei Tagungen, von denen nicht viel Wesens gemacht wird, am besten in Berlin kennenlernen. Der Leutnant Jünger, der als einfacher kleiner Infanterist in Stahlgewittern sich den Pour le Mérite errang, gehört zu dieser neuen Generation. Zum großen Teil zehrt sie geistig von dem köstlichen Erbe, das der auf Oesel gefallene Walter Flex uns hinterlassen hat. Der ist auch als reifer Mann, als "fertig Studierter", Kriegsfreiwilliger geworden, hat aber nicht - wie so viele andere - bei Dielenschrubben und sonstiger Drecksarbeit während der Ausbildung sich geschüttelt, sondern das alles war ihm Königsdienst, Gottesdienst:

"Wer auf die preußische Fahne schwört,
Hat nichts mehr, was ihm selber gehört!"

so bricht es in erschütterndem Stolze aus ihm heraus, während er, der 27jährige Doktor der Philosophie, der Erzieher des ältesten Bismarck-Enkels, der auf Schlössern gehaust hat, in dem ungewohnten Kasernendrill sich ganz den neuen Pflichten hingibt. Er und ich haben in Berlin eine gemeinsame Freundin, Frau Fine Hüls, die jetzt schon weiße Haare hat und deren Tochter gerade eben den Doktor der Staatswissenschaften baut. Frau Hüls hat in der Perthesschen Sammlung von "Volksabenden" den einen, der Walter Flex geweiht ist, zusammengestellt; aus diesem Leitfaden für ein Gedenkfest kann man besser als aus dickleibigen Biographien erkennen, was die Auferstehung Flexschen Geistes für uns in den nächsten Jahren bedeuten kann.

Er hat sein Golgatha hinter sich; und er hat ein schweres Ringen für seine Gemeinschaft vor sich, er hat ein Volk zu erlösen und zu einen. Das macht ernst. Wir werden so bald nicht die Leichtlebigkeit unseres fröhlichen "Militarismus" der Vorkriegszeit wiederbekommen. Wer noch vorher gedient hat, und sei es der roteste Sozialdemokrat, der schmunzelt doch heute in der Erinnerung an den und jenen Feldwebel, den und jenen Leutnant. Was die ersten Studiensemester für den Akademiker, das waren für die Masse des Volkes die Militärjahre: die sorgloseste Zeit zwischen Jüngling und Mann. Gut, man schimpfte über dies und das. Schimpfen ist unveräußerliches Menschenrecht. Aber man freute sich doch, wenn die Offiziere in Berlin - Unter den Linden nur im Helm - von jedem Ausländer ehrfürchtig angestarrt wurden, und man war fast ein bißchen stolz sogar auf das ständige Veralbern in den Witzblättern. Gleichgültige Leute reizen den Zeichner nicht. Heute ist der Leutnant als Witzblattfigur ausgestorben, kein Schlittgen, kein Thöny rühren für ihn noch den Bleistift an. Aber nicht nur in nationalen Klubs, wo pensionierte Exzellenzen sitzen, sondern auch in mancher Arbeiterkneipe wird noch heute mit Begeisterung erzählt, was für "schneidige Kerls" es in den ganz alten Zeiten unter den jungen Offizieren gab. Kennt ihr die Geschichte von dem Grafen Wartensleben, dem Leibgardehusar, hä ? Der hatte gewettet, er werde am lichten Tage splitterfasernackt Unter den Linden in Berlin vom Denkmal des Alten Fritz bis zum Pariser Platz reiten und nicht einmal angehalten werden. Er gewann die Wette. Er sprang am Denkmal aus der geschlossenen Droschke und aufs bereitstehende Pferd, jagte in gestrecktem Galopp bis zum Pariser Platz, wo er die Zügel einem zweiten Burschen zuwarf und wieder in einer Droschke verschwand; die Leibgardehusarenuniform, roten Attila, blaue Reithosen mit Goldborte, schwarze Stiefel, hatte er sich auf den nackten Leib - malen lassen. Oder wißt ihr die Geschichte von dem Kommandierenden des Gardekorps, Exzellenz von Loewenfeld, und dem Elisabether-Fähnrich, hä ? Also Exzellenz inspiziert die Kaserne des Regiments und kommt auf die Fähnrichsstube. "Achtung!" Wie Bildsäulen stehen die Fähnriche, jeder an seinem Waschtisch, Front nach der Mitte der Stube. Ein Waschtisch fällt durch eine Fülle von Büchschen, Döschen, Fläschchen auf. Der Kommandierende zeigt auf ein paar Flaschen und fragt:

"Sagen Sie mal, Fennrich, was ist denn das da in den beiden Flaschen auf dem Waschtisch ?"

"Parfum, Euer Exzellenz."

"So, so, also Parfuhm. Sagen Sie mal, Fennrich, haben Sie auch eine Sitzbadewanne ?"

"N-n-nein, Euer Exzellenz."

"Schade, Fennrich; wenn Sie täglich ein Sitzbad nähmen, brauchten Sie nämlich kein Parfuhm!"

Man wird es einst nicht verstehen, weshalb unsere Demokraten und Sozialisten diesen Militarismus so sehr verdammt haben. Seinen Humor haben sie freilich gründlich totgeschlagen, der hat in der Reichswehr nicht mehr den alten Nährboden, aber sonst haben doch Demokraten und Sozialisten möglichst viel von dem Verketzerten übernommen. Das Schnauzen hat nicht aufgehört. Das Verlangen nach Strammstehen auch nicht. Es geht unseren Republikanern so wie weiland Herrn Ferdinand Lassalle, der nach Bismarcks Urteil durchaus für den monarchischen Gedanken einzutreten gewillt war, wofern nur an Stelle der Hohenzollern die Familie Lassalle mit der Würde belehnt würde. Die Diener im preußischen Abgeordnetenhause empfinden es bitter, daß die neuen "proletarischen" Minister die alten an Aufgeblasenheit weit übertreffen. Der demokratische Regierungspräsident von Magdeburg, Pohlmann, der sicherlich früher sich darüber aufgehalten hat, daß der deutsche Militarismus "hündische Gesinnung" verlange, verlangt jetzt selber in einem Ukas das Folgende:

"Die Insassen meines Kraftwagens sind, falls die Dienstflagge geführt wird, von den Außenbeamten des Vollzugsdienstes zu grüßen, auch wenn der betr. Beamte mich nicht erkennt. Die Außenbeamten des Vollzugsdienstes sind selbstverständlich verpflichtet, mich auch zu grüßen, sobald der Kraftwagen die Dienstflagge nicht führt, die Beamten mich aber erkennen."

Das ist ja fast wie bei Majestätens. Der Provinzler, der in Berlin ans Brandenburger Tor spazierte, wußte früher auch nie, wie es kam, daß der Posten stets rechtzeitig die Wache alarmierte, wenn jemand aus dem Königlichen Hause heranrollte. Ja, da gab es natürlich auch Instruktionen über die Hofwagen. "Wenn der Kutscher ein doppeltes Adlerband um den Zylinder hat und die Peitsche hochhält, denn sitzt wer im Wagen, den wo man mit Rausrufen der Wache salutieren muß", pflegte der Unteroffizier Müller zu unterrichten. Aber die Regierungspräsidenten gaben damals jedenfalls noch keine Ordres aus, wie man mit Augen rechts und Handanlegen an die Mütze vor ihnen oder ihrem Auto strammzustehen habe.

Wie man sieht, die Republik macht sich allmählich. Es fehlen bloß noch die Orden, die aber ganz bestimmt noch kommen. Wir hätten nie eine Revolution gehabt, wenn schon vor dem Kriege die Altkleiderhändler hätten Leutnant werden können und wenn man den Viehkommissionären die Hoffähigkeit verliehen hätte oder den Börsenmaklern durchweg den Roten Adlerorden zweiter Klasse. Derartige Leute spielen jetzt Offizier in dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, der - nach ihrem Gruße - sogenanten "Frei-Heils-Armee". Mit Militärlieferungen für diese Armee läßt sich ein schönes Stück Geld machen, auch mit Liebhaberartikeln, wie es früher beispielsweise die Tabakspfeifen mit Reseve-Troddeln waren. Wir sind einst mit Recht verspottet worden, weil in Deutschland Taschentücher mit dem Hindenburg-Bild in der Ecke auf den Markt kamen. Jetzt aber hat ein Dr.jur. Ludwig Oppenheimer den Gebrauchsmusterschutz für ein "Reichsbannertaschentuch" nachgesucht und erhalten, das unseren Republikanern ermöglichen soll, sich in eine schwarzrotgoldene Ecke patriotisch zu schneuzen. Das wäre nun bloß wieder eine der zahlreichen Geschmacklosigkeiten, wie wir sie immer begangen haben, bis zu der zuletzt unerträglichen Ausnutzung der Eisernen-Kreuz-Form zu Gebrauchsgegenständen des Alltages. Aber unser Herr Oppenheimer steht doch berghoch über seinen Vorgängern. Er ahnt Entwicklungen, an die gesinnungstreue derzeitige Republikaner noch gar nicht denken dürfen, und so erfindet er denn den En-tout-cas auf dem Gebiet der Taschentuchproduktion, indem er in seinem Gesuche ausdrücklich erklärt:

"Zu meinem Antrag auf Gebrauchsmustererteilung für ein Reichsbannertaschentuch bitte ich den Vorbehalt aufzunehmen, daß, wenn die jetzigen Reichsbannerfarben Schwarzrotgold sich ändern sollten, der Schutz sich auf die neuen Farben erstreckt."

Wie dieser Gebrauchsmusterschutz Nr. 944 354 vom 29. März 1926 sich weiter entwickeln wird, sollte man im Auge behalten. Eine Großindustrie wird sich freilich kaum darauf aufbauen. Man wird auch keinen Messepalast vor dem staunenden Auslande mit Reichsbannertaschentüchern füllen. Berlin ist eben für dergleichen noch nicht ganz reif. Immerhin halten alle Zuständigen schon fleißig Umschau nach Attarktionen, denn man will unter allen Umständen die Reichshauptstadt, in der heute weder "the Kaiser" noch das Aufziehen der Schloßwache mehr zu sehen ist, zu einem Anziehungspunkt für die Fremden machen. Im Sommer 1923, mitten während der Inflationsnöte und des Ausländertaumels, faßte man den Plan, mit Leipzig in Wettbewerb zu treten, deutsche Messezentrale zu werden. Damals war sowieso auf allen Straßen Jahrmarkt, den ganzen Bürgersteig entlang ein Hausierer neben dem anderen, von Hosenträgern bis Kokain alles zu haben; dazwischen auch gute und billige Bücher, so sauber eingebundene französische Historien aus der Bibliothek einer Prinzessin Radziwill. Nun wollte man also den Betrieb für den wirklichen Großhandel lokalisieren. Zunächst wurde die Reithalle des 1.Gardedragonerregiments - im Volksmunde einst wegen seiner Einjährigen "Regiment König David" genannt - im Sommer 1923 dazu eingerichtet. Mitten in der Stadt, Ecke Ritter- und Alte-Jakob-Straße. Das war der erste Hereinfall. Heute ist ein Bureauhaus daraus geworden, in dessen Oberstock die Reichsschuldenverwaltung haust. Dann kaufte man am äußersten Ende von Charlottenburg, am Bahnhof Witzleben, der Autoindustrie ihren Ausstellungspalast ab, zwei andere erstanden daneben, verschiedene Fachmessen etablierten sich da mit mehr oder minder - meist minder - Erfolg, große Schaustellungen versuchten ihr Heil, das meist ein Unheil wurde, kurz, die Geschichte ist in bestem Gange. Augenblicklich hat in der einen Riesenhalle das zweite Sechstagerennen dieser Saison um ein Haar Pleite gemacht, weil so weit hinaus das nötige vieltausendköpfige Publikum nicht zu bringen ist. Steuerbeamte installierten sich schon am dritten Tage an den Kassen, und für die Tagegelder der Radfahrer mußten außenstehende Instanzen einspringen. Trotzdem: die Berliner sind zähe und werden es eines Tages schon schaffen, wenn erst der geplante Vergnügungspark und Riesenrummel auf dem Ausstellungsgelände ersteht, so daß es im Sommer einen Zustrom gibt wie - in Coney Island bei Newyork; so hoffen die ganz Verwegenen. Als Kernstück ist schon der Funkturm da, der allnächtlich mit Scheinwerferstrahlen angelt. Am 1. September werden seine beiden Aussichtsrestaurants, das eine in 50, das andere in 130 Metern Höhe eröffnet, dann hat man also endlich die "great attraction", und jeder Besucher Berlins "muß" von der oberen Terrasse aus die Viermillionenstadt auf der einen und die Grunewald- und Havellandschaft auf der anderen Seite sich ansehen. Koste es, was es wolle, Berlin soll der große Magnet werden. Wir haben, mit Weimar und Eisenach angefangen, verschiedene Gefühlszentren in Deutschland, von denen gelegentlich sogenannte Bewegungen ausgehen, wir haben ferner, so in Hamburg oder in dem Städtekonglomerat an der Ruhr, deutsche Willenszentren, die häufig sogar gegen den Wasserkopf Berlin ihren Weg ertrotzen, aber mit Hilfe der umfangreichen einheimischen Exportindustrie - führend vorerst in Möbeln und Konfektion - hofft die Reichshauptstadt noch einmal Geschäftszentrum zu werden. Sammelpunkt für allerhand Kongreßler ist sie ja, wie gesagt, schon heute. Einst sagte man:

"Sehen wir uns nicht in dieser Welt,
So treffen wir uns in Bitterfeld",

weil dies die letzte große Station vor der Leipziger Messe war, auf der von Norden, Osten, Westen her alle Planwagen der Messebeschicker zusammenfuhren, aber nun rüstet man sich allen Ernstes, nach vielleicht fünf oder sechs oder zehn Jahren den Leipzigern den Rang abzulaufen. Hegemonien wechseln, sagt der Berliner Prominente. Einst war Düsseldorf die führende Kunststadt und wurde dann doch von München abgelöst, - warum solle Berlin nicht Leipzig überflügeln können ?

Ich denke, ich werde den Ausgang dieses Wettbewerbs noch erleben; ich werde schon ganz unbändig und verlasse nach einigen Tagen voll strotzender Frische das Krankenhaus. Etliche Besucher sagen schon, ich sähe ja glänzend aus. Das ist freilich bestimmt nicht wahr. Andere freundliche Mitteleuropäer erklären, ich hätte ein ganz kleines und altes Gesicht bekommen. Richtig: ich habe mir eigens die passende Gelegenheit zu diesem längst schon überfälligen Wechsel ausgesucht. Nur, meine Lieben, wenn ihr diese Tage hinter euch hättet: Ihr hättet überhaupt kein Gesicht mehr, sondern wäret nur noch Kerbe. Das ist eben der Unterschied zwischen uns. Ich lache und freue mich schon auf den ersten Pfropfenknall, hoffentlich an diesem Sonntag. Ich selber äußere mich übrigens nir über das Aussehen anderer Menschen, denn man macht es doch immer falsch. Im Notfall rette ich mich durch einen Seitensprung. Wenn ein Neuverlobter mir strahlend das Bild seiner Braut zeigt, sage ich nie, sie sei entzückend, auch nie, sie sei mieß, sondern ich haue ihn einfach auf die Schulter und rufe: "Bist du ein Kerl!"
15. April 1926 (Donnerstag)


32

Im Prozeß Kutisker - Herr Schlaume Taubin - Wir liegen schief - Gelegenheitskäufe - Die Hygienemesse - "Ertüchtigung" - Die Augen auf - Etwas vom Glück

Aus dem großen Schwurgerichtssaal in Moabit sind die schönen alten Königsgemälde entfernt, obwohl unsere ministeriell-republikanischen Bilderstürmer einmal amtlich erklärt haben, alles, was an die Zeit vor 1870 erinnere, könne als rein historisch und ungefährlich angesehen werden und daher bleiben. Unter Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. wäre so etwas, wie es da jetzt seine gerichtliche Sühne finden soll, auch wohl undenkbar gewesen: daß die preußische Staatsbank von einem sicheren Herrn Kutisker um ihr gesamtes Vermögen beschummelt wurde. Zu einem Lande derart unbegrenzter Möglichkeiten sind wir erst nach dem November 1918 gediehen, als der rote Severing trotz wiederholten Einspruchs des Reichsministeriums des Innern die Tore für die östliche Einwanderung weit aufmachte.

Es ist der erste der großen neudeutschen Schwindelprozesse, der hier endlich zur Verhandlung kommt, nachdem alles nur Denkbare versucht worden ist, den ganzen Rattenkönig von Korruptionsskandalen in der Versenkung verschwinden zu lassen. Zuletzt mit dem verzweifelten Mittel, die - Staatsanwälte anzuklagen, die die Skandale aufgedeckt haben. Fast schien die schwierige Aufgabe zu gelingen. Schon hat hat man es wagen können, den Geschäftsfreund der Schwindler, den sozialdemokratischen Reichskanzler a.D. Gustav Bauer, zur Wiederaufnahme in die Partei zu empfehlen, weil jetzt seine Verfehlungen "in weniger belastendem Lichte" erschienen. Dieses scheußliche Amtsdeutsch ist bezeichnend. Die Entdeckung, daß Licht belasten könnte, ist eigenartig. Aber das Rehabilitierungsverfahren ist wohl übereilt. Noch ist der Kutiskerprozeß, der erste, nicht über die Vernehmung der Angeklagten hinausgediehen, das Interessanteste kommt erst, wenn die Zeugen aufmarschieren, und dann wird - im Zusammenhang mit der Geschichte des Hanauer Pionierlagers - auch wohl noch über den sozialdemokratischen Reichsminister a.D. Robert Schmidt allerlei Unliebsames zu hören sein. Schon jetzt ist aber die Szene in Moabit fesselnder als manche Première im Theater. Nur muß mn wohl Fachmann sein, um den vollen Genuß davon zu haben. Mir wenigstens schwirrt der Kopf, wenn ich da höre, wie der Vorsitzende des Gerichtshofes und die Angeklagten und ihre Anwälte mit Bilanzen, Millionen, Debetsaldos, Gefälligkeitsakzepten, und Kutiskerschen Wucherzinsen bis zu 2950 Prozent gleichmütig jonglieren und allmählich die Praxis der verschachtelsten Schachtelgesellschaften klären. Iwan Baruch Kutisker selbst, sicher ein Mensch von fabelhafter Intelligenz auf seinem Gebiet, ist oft der Einzige, der die schwierigsten Sachen mit ein paar Worten entwirren kann. Er sitzt da mit seiner beglaubigten Herzmuskelentzündung und Arterienverkalkung wie ein Modell der Hinfälligkeit, seine beiden Leibärzte neben ihm greifen immer wieder - fast ein wenig theatralisch, scheint mir - besorgt nach seinem Puls, und er drückt manchmal mit unendlicher Leidensmiene die Hand sich aufs Haupt, wobei dann ein paar Haarsträhnen sozusagen unabsichtlich in die Stirn gestrichen werden und , wie schweißverklebt hängend, den Eindruck des Zerstörten verstärken. Aber wenn er spricht, wird er ganz lebendig. Wird er sehr lebendig, so kann man ihm kaum folgen, besonders, da sein Deutsch so fremdländisch klingt: er sagt nicht Börse, sondern "Berrse", er sagt nicht mechanische, sondern "machanisse" Treibriemenfabrik. Dieser kleine Kerl mit der hängenden Nase ist das typische Bild des Mannes aus Hinterlitauen in der Klemme. Er weiß, daß er in der Klemme sitzt, wie der Fuchs im Eisen, aber er weiß auch, daß er, schlimmstenfalls unter Verlust eines Laufes oder der Rute, herauskommen wird, denn, mag man ihm auch noch so viele Jahre Zuchthaus aufbrummen, haftfähig wird er doch nicht, also das Kittchen bleibt ihm erspart und die Luxuswohnung in Berlin W erhalten. Er gibt alles Unleugbare daher auch zu. Nur seine Söhne - das sind schon ganz patente Kurfürstendamm-Jüngelchen, die gut Deutsch sprechen und blitzschnell ihre schwarzen Mäuschen-Augen in die Runde laufen lassen und dabei doch scheinbar uninteressiert an den Nägeln kauen - nur seine Söhne deckt er; wenn von einem von ihnen, der schon mit 18 Jahren "Direktor" mit Privatauto und sonstigem Behang war, irgendeine belastende Unterschrift erwähnt wird, sagt der Alte sofort, er habe das einfach befohlen, und was der Vater befehle, werde doch "unbesehen" gemacht.

Auch die Damen aus dieser neudeutschen Welt sind natürlich da.Fein, sehr fein, hochfein, prima. Frau Kutisker noch am unauffälligsten. Zwei andere, mit denen Holzmann in den Pausen - sicherheitshalber russisch - spricht, auffallend elegant. Dieser Holzmann, der sich mit Kutisker verkrachte, ist schon ganz europäisiert. Ohne den Krach wäre vielleicht überhaupt nichts herausgekommen. Nicht alle, die eine Rolle in dem Prozeß spielen, sind anwesend. Herr Schlaume Taubin aus Odessa, der dann als Signor Tobini Italiener wurde, heißt jetzt als rumänischer Staatsangehöriger Tovbinu und kommt nicht aus Bukarest heraus. Zwischen Konstantinopel und Amsterdam, zwischen Lissabon und Libau haben die Geschäfte sich abgespielt. Millionen, Milliarden, Billionen. Leute aus dem Nichts kommen zu Riesenvermögen im Handumdrehen, im nachnovemberlichen Deutschland finden sie offene Arme bei allen Behörden, ebenso im Handumdrehen kommt es zu Riesenpleiten, der deutsche Geschäftsmann und Steuerzahler wird abgegrast - und in der zweiten Generation sind die Einwanderer gemachte Großfinanziers.

Wenn man da so am Pressetisch im Gerichtssaal sitzt, läßt man seine Augen wohl auch in den Zuschauerraum wandern. Das Gros der Leute besteht aus den üblichen Kriminalstudenten, die jeden Tag bei Prozessen jeglicher Art hier zubringen, aber der Einschlag von Damen aus dem Berliner Westen ist diesmal doch stärker als sonst. Es ist eine Art Heldenverehrung, die sie hertreibt. Sie wollen den großen Erfolgreichen sehen, gerade jetzt sehen, wo die Zeiten so schlecht sind; vielleicht können sie den eigenen Mann dann doch überreden, daß er nach Paris geht, dem nunmehrigen Dorado aller Skrupellosen. Was ist denn in Berlin überhaupt nur noch zu hören ? "Wir liegen schief."   "Wir treten weich."   "Wir sitzen hart."   "Wir stehn verkehrt." Die kleine Effektenhausse der letzten Wochen hat nicht viel abgeworfen, die Ermäßigung des Bankdiskonts das Geschäft auch nicht sehr belebt.

In einer alten Konfektions- und Modellfirma des Westens werden mir über die Lage die Augen geöffnet. Der Inhaber wohnt einen Stock höher in einer sehr gediegen eingerichteten Wohnung, die noch von Wohlhabenheit aus guter Zeit zeugt, scheint aber seine Einrichtung ausverkaufen zu wollen, hat Musikinstrumente und allerlei sonst noch ausgeboten. Was mich lockte, war ein Zimmer-Ruderapparat. Diesen langjährigen Wunsch kann ich mir endlich erfüllen, da das Ding, ganz neu, hier billig zu haben ist; die Zeit, im Renn-Einer über das Wasser zu flitzen oder im "Doppelzweier ohne" - aber natürlich "mit", nämlich mit einer Sozia - weltvergessen einherzuschlürfen, habe ich schon lange nicht mehr, aber die 20 Minuten Morgentraining tun doch gut. Nun sagt mir der Mann, ich könne häufig bei ihm Gelegenheitskäufe machen. Wie, was, wieso ? Ich denke, es gibt eigentlich bei ihm nur Abendkleider, Ensembles usw. ? Ach, ja, seufzt er. Das gibts. Aber nicht immer Bezahlung. Und dann bringen die Damen aus Berlin W eben einen Vierröhrenapparat oder eine kleine Bronze oder einige Kupferstiche oder einen Staubsauger oder einen alten Goldschmuck her; tauschen in besonderen Fällen auch wohl eine echte Perlenkette gegen eine falsche und mehrere Kostüme und Seidenmäntel ein. Der Frühling ist ja sehr angenehm. Aber auch sehr teuer. Und zur Welt, die sich langweilt, will man trotz Geldknappheit auf keinen fall herabsinken.

Es hat auch nicht jeder Ehemann die Energie, wie der mir bekannte Großindustrielle, mit dessen Frau ich noch im vorigen Winter fleißig getanzt habe. Der sagt, in diesem Winter habe seine Frau überhaupt nicht getanzt. Aber schöne Vorträge gehört, über die Ausgrabungen in Kleinasien und so, da sei er Vereinsmitglied, das koste nichts. Und jetzt gehe sie zur Hygienemesse, das sei doch ungeheuer lehrreich. Schön, ich gehe mit. Nicht ohne einiges Mißtrauen, denn schon das Wort von der "Ertüchtigung" der Jugend, das uns von allen Anschlagsäulen entgegenschreit, ärgert mich; nächstens wird unserer Sprache auch noch die Gewalt angetan, daß man die Erfriedlichung der Kommunisten oder die Erlieblichung der Damenwelt oder die Erschneidigung der Reformburschenschafter zum Programm erhebt. Aber gehen wir immerhin zur Hygienemesse, die "im Rahmen der Reichsgesundheitswoche" draußen am Kaiserdamm aufgebaut ist. Als Sachverständige kommt eine Ärztin mit, ist aber schwer enttäuscht: was man da in der Riesenhalle sehe, das könne man auch im Schaufenster eines medizinischen Warenhauses oder bei Wertheim sehen. Betten, Gummischwämme, Staubsauger, Operationsstühle, Seife, Stiefel, Massagerollen, Babyartikel, Grahambrot, Biomalz, Zimmerklosetts, Zahnpasta und tausend andere Dinge bis zu den - Radiumbinden gegen Krebserkrankung; auch diese Mittelchen von der Grenzscheide zwischen Medizin und Kurpfuscherei fehlen nicht. Ganze Heerden von Schulkindern werden zu ihrer "Ertüchtigung" hier durchgeführt, starren mit glanzlosen Augen über die Warenlager und ihre Kommis und sammeln die überall angebotenen Prospekte bis zu dem "Sicheren Schutz gegen alle Geschlechtskrankheiten". Auf den Galerien der großen Funkhalle, in der die Messe stattfindet, ist es wenigstens etwas fesselnder, da stehen Bilder und Modelle aus dem Gebiete der sozialen Fürsorge, der Kranken- und Krüppelbehandlung, des ungesunden und des gesunden Wohnungsinneren, des Kampfes gegen Rauschgifte u.a.m. Darunter ein großes Bild Goethes mit dem Goethewort darunter: "Rauchen macht dumm." Man sollte wirklich die Neigungen und Abneigungen berühmter Männer nicht so "fruktifizieren". Danach müßte ich völlig verblödet sein. Übrigens hätten auch Schiller, Moltke, Bismarck und andere dieses Schicksal geteilt. Aufatmend verlassen wir die Messe, finden draußen den Anschlag eines Kommunistenblattes mit dem Bilde einer Zahnbürste und der Unterschrift, daß die gegen Arbeitslosigkeit und Not nichts helfe, und kommen an einer Schule vorbei, in der es gerade zur Pause geläutet hat. Natürlich bleibe ich stehen. Wenn da das Jungvolk in Knäueln herausquillt, sich balgt und überkugelt, davonrennt und sich jagt, lacht mir immer das Herz im Leibe. Aber was sehe ich da ? Mehr als 300 Schüler wandeln gesittet wie ein Mädchenpensionat im Weimarer Schloßgarten daher, zu zweit oder zu dritt, im Zeremonialschritt, und wer den Nachbar etwa knufft, der wird aufgeschrieben und bekommt Arrest. Das ist wohl die Ertüchtigung im Geiste der Völkerversöhnung, wie die Verfassung sie vorschreibt. Da waren wir Jungens doch ganz andere Kerle. Der Sache muß ich auf den Grund gehen. Ich erkundige mich also. Und, wahrhaftig, es ist so, es regnet Arrest, und verboten ist auch schon das bloße Berühren der Turngeräte auf dem Gymnasialhof während der Pausen. Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, kein Junge schwingt mehr Arm und Bein.

Es gibt Leute, die sehen so etwas einfach nicht, die gehen durch ihre Großstadt, ohne etwas zu bemerken, weil sie, wie ich immer sage, immer nur 20 Meter vorausblicken, drei oder vier Meter allenfalls dann, wenn ein hübsches Mädchen vor ihnen hergeht. So ist mein guter Medizinprofessor auch achtlos täglich an einer Gruppe spielender Kinder vorübergewandelt. Jetzt hat er zum ersten Male aufgepaßt und erzählt mir strahlend gleich eine Entdeckung. Diese Großstadtgören, die die alten deutschen Abzählverse kaum mehr kennen, hätten bloß gerufen:

"Wir machen keinen langen Mist,
Eins, zwei, drei, du bist!"

Die Welt ist überhaupt der vergnüglichen Wunder voll, sogar in Berlin, nur darf man eben nicht an ihnen vorbeieilen. Gelegentlich prüfe ich meine eigenen Hausgenossen daraufhin. Sie sind schon etliche tausendmal im Laufe der Jahre durch unsere lange Straße gewandert und wissen doch nicht, wo genau die zwei einzigen Bäume auf dieser Zweikilometerstrecke stehen. Und wir Großen gehen erst recht mit geschlossenen Augen durchs Leben, weil jeder nur sein eigenes lastendes Kreuz spürt und das harmlose Umherschauen und Umherspringen verlernt hat. Vielleicht eröffne ich demnächst, um einem dringenden Bedürfnis abzuhelfen, einen Kursus über die Kunst, verheiratet und doch glücklich zu sein. Ein alter guter Bekannter von mir nimmt abends am Stammtisch - ich selber gehe zu keinem Stammtisch - immer eine Natronpille. Wenn er nachher seine Frau sähe, sagt er, kriege er sonst sofort Sodbrennen. Ja, das sei eine Frau, sagt er: "Wenn sie denkt, ich denke, sie will, dann will sie nicht; und wenn sie denkt, ich denke, sie will nicht, dann will sie." Glück muß der Mensch haben, lautet ein Sprichwort in fast allen Sprachen der Welt. Die wenigsten wissen es zu packen, obwohl es sich jedem Fröhlichen bietet, und manche versuchen allerhand abergläubisches Zeug, um es zu erhaschen. Eben sind wieder "Glücksbriefe" in der erleuchteten Reichshauptstadt im Verkehr. Der Empfänger eines solchen Schreibens muß es binnen 24 Stunden neunmal abschreiben und an neun Bekannte, denen er wohlwill, weitersenden, dann trifft ihn am neunten Tage ein unerhörtes Glück; außerdem ist noch die Bedingung dabei, daß die Briefe die ganze Welt umkreisen. Ein lächelnder lieber Leser aus Hamburg hat mir den Mumpitz eben geschickt. Vor Monaten hat ein amerikanischer Seeoffizier, Commander Earmolin, den Glücksbrief in Fahrt gesetzt, japanische Admirale, schwedische Konsuln, englische Großkaufleute haben sich beeilt, ihn jeweils zu verneunfachen, Harald Lloyd steht mit in der Reihe und etliche bekannte Deutsche, und niemand hat bisher gewagt, "die Kette zu brechen", weil dies dem Störer gräßliches Unglück bringe. Ich bin der Hundertelfte. Ich denke nicht daran, neunmal den Quatsch abzuschreiben. Und am neunten Tage leere ich einen Humpen auf das Wohl unserer närrischen Welt.
22. April 1926 (Donnerstag)


33

Rademacher bei Hindenburg - Die Kniebeugen auf der "Hohenzollern" - Eine 72jährige Berliner Schwimmerin - Tanzsport - Die Europäisierung derer um Rathenau - Werkstudenten - Freilichtmalerei und Ateliernot - Unsere Verarmung - Blühender Straßenhandel

So lebensgefährlich wie bei Dempseys Besuch war der Andrang auf dem Bahnhof nicht, als unser Rekordschwimmer Rademacher von seinem amerikanischen Triumphzug heimgekehrt war, denn erstens ist er ja nur ein Deutscher und zweitens haut er nicht anderen Leuten in die Backzähne. Auch wird die Berliner Nationalgalerie, die in ihrer nachnovemberlichen Gottverlassenheit Jack Dempseys Büste erworben hat, Herrn Rademacher kaum dieselben Heroenrechte einräumen. Aber dafür hat Hindenburg ihn zu sich eingeladen; und das wird dem jungen Wellensieger vielleicht eine noch stolzere Erinnerung sein. Bei der Gelegenheit wird wieder allerlei über den "völkerverbindenden" Sport gefaselt, als ob wir nur die Houben, Rademacher, Prinz Sigismund, Froitzheim, Breitensträter herumzuschicken brauchten, um alsbald auf dem Erdenrund von lauter guten Freunden umgeben zu sein. Das ist natürlich Unsinn. Sport ist Kampf, und Kampf entzweit, aber allerdings erzwingen Siege Achtung; die große Masse in Westeuropa, Australien, Südafrika, Amerika wüßte vielleicht überhaupt nichts von Finnland, wenn Finnland nicht die besten Läufer der Welt hätte. So hat auch Rademacher der Masse Mensch die Ehre des deutschen Namens zu Gemüte geführt und verdient daher seinerseits die Ehrung durch Hindenburg, obwohl es sich bei dieser Gelegenheit mehr um eine Art landsmannschaftlicher Beziehung handelte. Der alte Feldmarschall, der während seiner aktiven Zeit zuletzt Kommandierender General in Magdeburg war, hat mit dem jungen Magdeburger eine halbe Stunde lang über Magdeburg geplaudert. Irgendein besonderes persönliches Interesse für Sport, abgesehen von der Jagd, der er gern in voller Rüstigkeit obliegt, hat Hindenburg nicht, aber er übernimmt die Tradition aus der Kaiserzeit, guten Sport zu protegieren. Nicht nur auf der alljährlichen Kieler Woche förderte Wilhelm II. den "friedlichen Wettkampf der Nationen", sondern er war überhaupt der Anreger jeglichen Wassersports und tat auch alles, was er konnte, um nach dem von uns sehr mäßig bestrittenen Reitturnier in Turin unser Geländespringen zu heben, und ist auch als Tennisspieler seiner Generation, der die Bewegung noch vielfach shocking war, mit gutem Beispiel vorangegangen; auch hat manche alte Exzellenz und mancher alte Professor ihm die täglichen gemeinsamen Freiübungen an Bord der "Hohenzollern" auf der alljährlichen Norwegenfahrt nach der dreißigsten Kniebeuge recht verübelt. Und doch ist das alles ein so schönes Mittel geggen das Altern und Verknöchern. Allmählich kapieren wir es alle. Auch unsere alten - nein, unsere "älteren" - Damen kleiden sich nicht nur jung oder gar malen sich nur jung, sondern treiben wirklich Sport, auch nicht nur im Tanzsaal oder morgens bei den Freiübungen auf Kommando aus dem Rundfunk-Lautsprecher. Zwar kann nur ein wirklich Junger wie Rademacher Rekorde brechen, aber das tägliche Schwimmbad leisten sich immer mehr und mehr auch weißhaarige Berlinerinnen, auch Berlinerinnen "aus dem Volke", nicht nur aus den oberen Zehntausend mit viel überflüssiger Zeit. Da ist die Frau Mathes, 72 Jahr alt, die noch täglich an der Schillingsbrücke mit Kopfsprung sich ins Wasser stürzt, sprudelnd lustig auftaucht und mit kräftigen Armen davonschwimmt; und ein Herr von 74 Jahren tut dasselbe.

Draußen in dem Hindernispark und in der großen Schlucht bei "Onkel Toms Hütte" im Grunewald und an Dutzenden anderer Stellen in und um Berlin wird sehr fleißig für die nächste internationale Olympiade in Amsterdamm 1928 trainiert. Nur der neueste, der Tanzsport, hat auf der Olympiade noch keine Stätte, obwohl er nachgerade der volkstümlichste in allen Ländern geworden ist. Er ist freilich, wie seine eifrigsten Anhänger erklären, noch nicht ganz schlackenfrei. Es gäbe nämlich immer noch Ausnahmefälle, wo er beim Jungvolk, das sich "seines Ernstes nicht bewußt" sei, zu - Flirt oder gar Liebe und Ehe führt. Aber so etwas wird - Gott sei Dank, sagen diese Leute - doch immer seltener. In Berlin, wo es jetzt beinahe in jedem "Lokal" schon fest angestellte Tanzpartner beidelei Geschlechts gibt, so daß jeder einzelstehende Herr und jede dito Dame ihren Anschluß gegen Mokkagebühr garantiert bekommt, hat der Tanz noch eine besondere physiologische Aufgabe, nämlich die Gestalten kurzbeiniger fremder Rassen zu strecken und zu europäisieren. Die Umwandlung ist ganz auffallend. Man braucht weder als Philosemit noch als Antisemit sich anprangern zu lassen, wenn man ruhig und sachlich feststellt, daß die körperliche Emanzipation der Juden erstaunliche Fortschritte macht. Der Berliner Boxverein "Makkabi", der nur Juden aufnimmt, hat ganz hervorragende Kämpfer. Der kürzlich verstorbene Breitbart, der "Eisenkönig", war einer der stärksten Athleten der Welt, hat sein Gewerbe auch seinem anscheinend gleichwertigen Sohne glücklich vererbt. Und auf den Tanzdielen des Westens trifft man neben manchen immer noch komischen Gestalten doch auch schon schlanke, sportgestählte Erscheinungen, die in europäischem Sinne gute Figur machen. Deutsch sehen sie freilich trotzdem nicht aus. An dem unnatürlich heißen letzten Aprilsonntag dieses Jahres mit seinen 29 Grad im Schatten habe ich nachmittags den immer erträglichen Dachgarten des Edenhotels aufgesucht, auf dem jetzt selbstverständlich auch getanzt wird. Am Nebentisch saß eine Germania mit blondem Eton-Kopf und Monokel, eine Art geschorener Lucie Höflich, mit der ich sicher angebandelt hätte, weil sie in ihrem ganzen Wesen völlig aus dem Durchschnitt fiel, wenn ich nicht in Begleitung meiner eigenen Damen gekommen wäre, die den Rekonvaleszenten zu betreuen hatten. Von der gleichen Rasse waren wir und - die Kellner. Die paar hundert übrigen Besucher aber ausgesprochener Kurfürstendamm, so ausgesprochen, daß ein zufällig aus dem Hotel hierher verschlagenes spanisches Ehepaar - wir konnten über zwei Tische hinweg ein paar Bruchstücke der Unterhaltung auffangen - sich baß verwunderte, daß der "deutsche Typ" so ganz anders sei, als man ihn sich vorgestellt habe. Aber unter diesen Typen, an denen nur manchmal das gemachte Auffallenwollen störte, gab es doch manche von vollendet ebenmäßiger Figur und von vollendeter Anmut in der Bewegung beim Tanze. Am schonungslosesten hat nicht etwa irgendein Deutschvölkischer, sondern Rathenau in seinen einzigartigen "Reflexionen" sich über dieses sein Volk geäußert, das er die asiatische Horde auf märkischem Sande nannte, das eingeborene Furchtvolk unter unbekümmerten arischen Edelingen. Ich glaube, der Spott wird uns noch einmal ersterben. Wir sind zu sehr darauf abgestellt gewesen, in den Leuten nur die Raffer zu sehen, die das ganze Geschäftsleben an sich bringen und durch ihr überflüssiges Geld den immobilen Deutschen beherrschen, aber inzwischen haben sie sich auch - die Prozentziffern der Gymnasialreifen und der Studierenden beweisen es von Jahr zu Jahr mehr - der Bildung bemächtigt, und nun kommt mit Riesenschritten das letzte, bisher für umöglich Gehaltene, das körperliche Hinauswachsen über sich selbst. Bisher sagte man, die Juden seien die einzige Nation, die keinen Adel habe. Wir werden umlernen müssen. Wer die Zeichen der Zeit zu beobachten versteht und wirkliche Kulturgeschichte schreiben will, kann diese Entwicklung nicht leugnen.

Noch machen wir Verarmten die blutigsten Anstrengungen, um "beizubleiben", um Schritt zu halten. Da ist eine arme Witwe in einem Vorort Berlins, die rhythmisches Turnen lehrt, eine zahlreiche Klientel namentlich in der westlichen Damenwelt hat und zur äußersten Not so viel verdient, daß sie ihren Jungen durchs Gymnasium bringen konnte. Der ist jetzt Student - und tuberkulös zusammengebrochen. Jahrelang nicht genügend ernährt, sagen die Ärzte. Wir haben uns auf unser sogenanntes Werkstudententum, namentlich um 1923 herum während der Inflation, ungeheuer viel eingebildet. Es war aber Raubbau. Man kann nicht gleichzeitig von seiner Hände Arbeit leben und volle wissenschaftliche Durchbildung erreichen, es gehört nun einmal eine gewisse äußere Sorglosigkeit zum rechten Studium. Als vor zwei Jahren der "Peer Gynt" seine ersten Nordlandsfahrten machte, traf die Reisegesellschaft in Spitzbergen unter den dortigen ausländischen Bergarbeitern in der Mehrzahl deutsche Studenten. Das war schon keine Ferienarbeit mehr, sondern Semesterarbeit; und zwei Semester Handarbeit ermöglichten zwei Semester Kopfarbeit. In Berlin geschieht ja allerhand, wie auch in anderen Universitätsstädten, um durch große Hilfsorganisationen den Studenten beizuspringen. Draußen auf dem Kasernenhof des früheren 2. Garderegiments zu Fuß in der nördlichen Friedrichstraße stehen die Baracken der Studentenhilfe; da gibt es für 38 Pfennig ein ausreichendes Mittagessen mit Suppe, Fleisch und Gemüse, von dessen Güte und Schmackhaftigkeit ich mich selbst überzeugt habe, und für 10 Pfennig ein großes Glas Vollmilch dazu. Rund 1300 Musenjünger sind täglich mittags und abends hier und werden ohne Unterschied der Staats- und Religionszugehörigkeit gesättigt, Inländer und Ausländer, nicht einmal die Bedürftigkeit wird geprüft. Aber unser neuer Staat bringt das rechte Verständnis für die jungen Leute doch nicht auf. Am schwersten haben es die Studenten unserer Kunsthochschulen, die man jetzt allmorgendlich zu Hunderten beim Freilichtzeichnen im Zoologischen Garten sieht, meist vor den Gittern der Wiederkäuer, weil die so schön stillhalten, auch die Kamele. Die Mädels oft in billigem Dirndlkleid und geflickten oder zerrissenen Schuhen, die jungen Männer oft noch anspruchloser gekleidet. Das wäre ja noch nicht das schlimmste. Aber was macht man, wenn man weiter will, ohne Atelier ? Die Ateliernot in Berlin ist groß. Da ist nun der Vorschlag gemacht worden, das alte jetzt leerstehende Kunstgewerbehaus in der Prinz-Albrecht-Straße in Ateliers aufzuteilen, wofür dem Preußischen Staate insgesamt 80 000 Mark Jahresmiete garantiert wurden. Statt dessen hat er die Räume zu Geschäftszwecken für einen höheren Preis an den Kahn-Konzern vermietet. Und Herr Kahn ist ihm die Miete - schuldig geblieben.

Wenn ich an Berliner Beispielen immer wieder aufzeige, wie arm wir als Volk seit 1918 geworden sind, glaubt manch einer es vielleicht nicht, weil er selber noch wie ich und andere in leidlich behaglichen Verhältnissen lebt. Aber die Statistik bestätigt unsere Verarmung. In den 25 Jahren der Regierung Wilhelms Ii. von 1888 bis 1913 haben wir materiell einen ungeheuren Aufschwung genommen. Die Zunahme unseres Volksvermögens betrug so viel, daß alles, was jetzt unsere Roten den Hohenzollern von ihrem Privateigentum rauben möchten, noch nicht einmal die einjährigen Zinsen dieser Zunahme erreicht. Es gab kaum jemand im Volke, der nicht von sich sagen konnte: "Ich lebe besser, ich esse besser, ich rauche besser, ich wohne besser, ich kleide mich besser als früher mein Vater." Ist es nicht so ? Aber nun ist der Absturz da, und die Statistik beweist es uns. Im Jahre 1913 benutzten 54,2 Prozent aller Eisenbahnreisenden die 4. Klasse; im Jahre 1925 aber sind es 65,7 Prozent, und die "Abwanderung" nimmt immer noch zu. Die Kaufkraft will sich nicht recht erholen. Wo man früher nur zu locken brauchte, muß man heute schreien. Inventurwochen hat es immer gegeben. Nun kommt aber noch die Weiße Woche hinzu, dann die Billige Woche, dann die Resterwoche, dann die Werbewoche. Und wie die Warenhäuser, so die Straßenhändler. Man hat sie immer weiter in die Nebenstraßen gedrängt, das hauptstädtische Bild wird für die fremden Besucher allmählich sauberer, aber in diesen Nebenstraßen gedeiht das Anreißertum. Ich gehe in Gedanken meines Weges, da schreckt mich ein plötzlicher Zuruf: "Halt! Stolpern Sie nicht!" Ich pralle zurück, schaue nach unten. "Halt! Sie stolpern - über meine billigen Preise!" Der Mann hat Hosenträger zu verkaufen, schon hat er eine ganze Gruppe Amüsierter festgehalten, schon reicht er einem Jüngling welche. "Bitte ziehen Sie nach Leibeskräften daran!" Es geschieht, aber natürlich nicht aus Leibeskräften, sondern etwas geniert, etwas behutsam, weil man doch nicht Fetzen in der Hand behalten und bezahlen will. "Sehen Sie ? Die halten, die kann Ihr Fräulein Braut noch ihren Kindern vererben!" Alles starrt den unschlüssigen Jüngling an, alles interessiert sich für diese Angelei. Beißt er an ? Beißt er nicht an ? Er will nicht, er hat noch gute Hosenträger, aber die Blicke sind hypnotisch, er will sie los sein, er möchte entfliehen. Also - wirft er dem Händler das Geld hin und enteilt mit seinem Kauf, während schon der Nächste sich plötzlich im Mittelpunkt sieht. Unter den Berliner Straßenhändlern gibt es manche Genies. Unter den Berliner Jünglingen oft das Gegenteil davon. Das ist kein Wunder. Wir pflegten schon früher zu sagen: Lange Haare, kurzer Verstand.
29. April 1926 (Donnerstag)



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Glossen 34 - 36

© Karlheinz Everts