"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 1 - 3
17. September bis 1. Oktober 1925


1

Weshalb Auslandsreisen? - An Bord des "Sorrento" - Berliner Rundfunk in Gibraltar - Mit Rucksack oder Schrankkoffer - Sprecht draußen deutsch! - "el coco desplumado" - Berlin als Fremdenstadt - Die entschiedenen Schulreformer für Abbau des Schamgefühls - Die Charell-Revue - Geldnot und Amusement

Alle Erkenntnis kommt aus dem Vergleichen.

Dieser Lehrsatz ist der große Freibrief für uns Deutsche, die wir erkenntnishungrig immer wieder ins Ausland reisen. Man kommt mit gesteigerter Achtung vor deutschem Schaffen, mit verstärkter Liebe zu seinem deutschen Volke zurück; und hat im Vergleichen doch auch die Gründe unserer Schwächen erkannt. Man hat Wunder herrliches gesehen, man war trunken in seinem Glücksempfinden; und ist doch dem ersten deutschen, sachlich-ernsten, ehrlichen, pflichtgetreuen Beamten an der heimischen Grenze dann vor Freuden fast um den Hals gefallen.

Meine diesjährige Fahrt ist dank der Einladung auf ein blitzsauberes Motorschiff der Sloman-Linie recht weit in die Länder voll Sonnengold und Meeresbläue gegangen. Wenn man abends nach großen Landausflügen zurück an Bord kam, war man geborgen, hatte man sein Deutschland wieder bei sich. Das ist das tiefe Aufatmen. Man sitzt wieder am Tische des biederen deutschen Hausvaters, des Kapitäns, man tauscht seine unvergeßlichen Eindrücke mit dem knappen Dutzend der Mitreisenden aus, mit denen man durch das wochenlange Beieinander herzlich-familiär geworden ist. Hier gibt es kein falsches Geld, keine betrügerischen Kellner, Kutscher, Schaffner, Wechsler, Händler. Hier kommt einem nichts abhanden. Man hat sein Heim, sein wirkliches Heim. Solch ein großes Frachtschiff mit wenigen Passagierkabinen hat nicht das Hotelmäßige der großen Vergnügungsdampfer, hat nicht ihren Trubel und ihre Unruhe. Wer will, der kann sich mit seinem Liegestuhl ganz absondern und braucht gar keine Konversation zu machen. Der Medizinalrat aus Waldenburg in Schlesien betreibt ungestört seine Liebhaberei des Planktonfischens und zeigt einem dann unter dem Mikroskop die entzückendsten Radiolarien, nachdem man das Gegenbild dieser winzigen Lebewesen, eine Herde riesiger Walfische, vielleicht am Tage das Schiff hat umspielen sehen. Und die Oberschwester aus Hamburg-Eppendorf neckt sich mit den beiden Studenten aus Köln und Charlottenburg oder dem jungen spanischen Konsulatssekretär, Don José Egea, dem einzigen Fremden an Bord; und der Staatsanwalt aus Oldenburg sinniert über Gautama Buddha und die Seelenwanderung. Dann ist noch der und jener, die und jene da, lauter nette und gebildete Leute. Die bekannten Familien Neureich und Knallprotz fahren ja nicht mit der Sloman-Linie.

Abends im Rauchzimmerchen wird auch wohl mal Verbindung mit der Heimat hergestellt. Auf hoher See quäken manchmal die Rufzeichen nach irgendwelchen Schiffen, die eine Depesche bekommen sollen, arg dazwischen, wenn man im Radio auf Lissabon oder Newyork oder Edinburgh hinhört. Aber wenn wir Deutschland abtasten, haben wir häufig ganz klare Laute. Mitten auf der Biscaya lassen wir uns von dem Funkorchester einer westdeutschen Großstadt den Hohenfriedberger vorspielen. Angesichts von Gibraltar fiedelt und singt das unentrinnbare Berlin uns Jazzmusik zu:

Was ist mit unserer Katze los ?
Wo hat sie ihr Wehwehchen bloß ?
Miau! Miau!

Den ersten leibhaftigen Berliner habe ich in diesen sechs Wochen in einem kleinen spanischen Hafen getroffen. Einen jungen Straßenhändler,von dem ich mir schon häufig irgendeine Zeitung gekauft habe. Mit einer verblüffend kleinen Barschaft wanderte er fröhlich durch das ganze Land. Brot ist billig. Ob der junge Mann die Weintrauben dazu, die überreich und zaunlos überall in die Landstraße hängen, immer bezahlt hat, wird wohl nie untersucht werden. In Pompeji stieß ich auf frische, saubere, deutsche Wandervögel, die nach Sizilien "hinuntermachten" und in anderthalb Monaten für Reise und Verpflegung nur 140 Mark verausgabten; und diese Gymnasiasten unter Führung eines Studenten der Medizin zahlten sicherlich alles bar. Es ist eben ein Unterschied, ob man mit Rucksack oder mit Schrankkoffern in die Welt reist. Auch Deutsche in großer Aufmachung, nicht nur kleinbürgerliche Rompilger aus Kattowitz und Freilassing, sind mir überall begegnet. Zumeist natürlich solche aus Berlin. Man kann auch ruhig Frankfurt am Main sagen. Es ist ein Gattungsbegriff. Im Gegensatz zu manchen anderen kritischen Beurteilern, die über das ewige Thema der Unbeliebtheit der Deutschen im Auslande schreiben, habe ich auf meinen vielen Reisen nicht feststellen können, daß der Deutsche sich besonders laut benimmt, es sei denn, daß er in einer gemeinsamen Horde ans Bier gelassen wird. Auch Angehörige anderer Nationen gackern. Südländer und Nordländer, alle zusammen, abgesehen einzig und allein vielleicht nur von den Engländern, die auf gemessenes Wesen und ein Nichtverraten aller Gefühle großen Wert legen. Außerdem gibt sich der Deutsche nicht immer zu erkennen. Ich meine, wenn er gut gekleidet ist, gute Manieren hat, gute Trinkgelder gibt, sollte er im Auslande grundsätzlich nur deutsch sprechen. Auch der Engländer verlangt es ja, überall verstanden zu werden, und wird überall verstanden. Mit einem Fischer in Sestri Levante muß ich natürlich italienisch sprechen, wenn ich von ihm etwas wissen will. Aber in allen Hotels, versuchsweise auch an allen Dienstschaltern: nur deutsch!

Das leuchtet den Berlinern oder Frankfurtern nicht ein.

Am liebsten möchten sie, was ihnen nie gelingt, den Eindruck erwecken, daß sie Franzosen seien; oder wenigstens undefinierbare Weltbürger. Also holen sie aus den rauchenden Trümmern ihres Schulfranzösisch einige Brocken hervor und schmettern sie hin. Im Grand Hotel des Bains am Lido kommt ein junges Berliner Ehepaar an den Frühstückstisch und schnarrt seine Zimmernummer:

"Katter ßang ßeng!"

"Jawohl, vier'undertfünf, die 'errschaften wünschen ?", sagt der Kellner und lächelt diskret.

"Kaffee kongpleh!"

So etwas kann man immer wieder beobachten. Auch der Stiefelputzer auf der Straße in Cartagena oder der Schaffner auf der Seilbahn zum Montserrat, dem Gralsberg, wird zu seinem Erstaunen von Deutschen französisch angeredet. Das vermehrt nicht die Achtung vor uns. Sowieso wird keine Deutsche jemals für eine Französin gehalten werden, denn erstens hat sie Gott sei Dank nicht deren Kassandragesicht und zweitens leider nicht deren unleugbaren Schick. Allenfalls ähnelt der männliche Deutsche aus Kleinbürgerstand dem auch etwas saloppen französischen Spießer. Höchstens bemitleidet der Fremde solche Deutsche, die ihre Nation verleugnen; und wenn sie doch, aber natürlich französisch, fragen, wo das deutsche Konsulat sei, so weist der spanische Kaufmann mit dem Daumen über die Schulter und sagt, gleich um die Ecke, da in dem Hause, an dem "el coco desplumado", der gerupfte Kuckuck, angebracht sei. Sie können diesen leise bedauernden Spott sich leisten. Denn das Gesetz zum Schutze der deutschen Republik gilt für sie nicht. Sie glauben auch fast allesamt, daß die Monarchie bei uns wiederkehren werde; und die "Hindenburg-Frisur" ist bei vielen ihrer jungen Leute immer noch bewußte Mode, obwohl sie manchen Berliner mit angeklatschtem Langhaar sehen.

Man ist über Venedig, das geradezu schon ein deutscher Vorort genannt werden kann, und über die Kärntner Berge, auf denen ungezählte Bayern kraxeln, allmählich der Heimat näher gekommen. Man liest wieder die ersten Berliner Zeitungen und findet da die Umfrage, was sich tun lasse, um auch Berlin zu einem Fremdenort ersten Ranges zu machen. Es sei von Ausländern in diesem Sommer nur wenig besucht gewesen. Das dringendste sei wohl, daß man die Polizeistunde bis 3 Uhr morgens verlängere und das Tanzverbot für Montag, Mittwoch, Freitag aufhebe.

"Das sowieso!", pflegt in solchen Fällen der richtige Berliner zu sagen. Die Tanzeinschränkung war eine behördlich erzwungene sogenannte Trauerkundgebung wegen der Besetzung des Ruhrgebietes, ist also etwas antiquiert und wird überdies nicht eingehalten; und unsere für eine Großstadt lächerlich frühe Polizeistunde hat nur bewirkt, daß die geheimen Nacht- und Nepplokale emporblühten, hat also - zur Entsittlichung beigetragen. Aber das sind Dinge, die doch nur ganz wenige reisende Ausländer abstoßen oder locken. Wer nur solches Vergnügen sucht, findet es anderswo eleganter; auch wird Berlin hoffentlich nie so raffiniert werden wie Paris, das nach wie vor als Baalsdirne der ganzen Welt abgestempelt bleibt. Der Berliner muß sich nun einmal bescheiden. Er hat nicht die Sonne der Mittelmeerländer, er hat kaum Historie, er hat Monumentalität weder in Bauten (abgesehen nur vom Brandenburger Tor) noch in Festen, er hat in seiner flachen Metropole mit ihren Wohn- und Bureaukasernen keine Perspektive, es fehlt die barocke Schalkhaftigkeit Süddeutschlands und der Hintergrund der Berge, es fehlt das weinfrohe Ufer des Rheins oder der Mastenwald der Hansastädte. Nur ein Despot aus Renaissancezeit, einer mit unerschöpflichen Mitteln, könnte hier etwas schaffen, wenn er die Havelberge zum neuen Mittelpunkte machte. Aber auch das Stadtbild allein zöge doch keine Scharen her.

Nein. Wer heute nicht in Geschäften nach Berlin kommt, der will nach Potsdam. Übereinstimmend haben Globetrotter in Barcelona und in Neapel mir gesagt, das einzig Anziehende, geradezu rührend Anziehende an Berlin sei Potsdam. Früher mochte einen ja noch etwas anderes locken. Wer von Berlin ins Ausland zurückkehrte, wurde daheim stets gefragt: "Avez-vous vu le Kaiser ?" Die Wachtparade mußte man, bädekergetreu, mindestens gesehen und auch sonst einen Einblick in den grandiosen Machtaufbau dieses Preußen-Deutschland bekommen haben. Das ist dahin. Nicht einmal einen Fliegende-Blätter-Leutnant kann man in geheimem Erschauern von der Kranzlerecke aus eräugen; und weder im Opernhause noch sonstwo glänzt noch ein kaiserlicher Hof.

Geblieben ist das alte, tüchtig arbeitende Berlin, und das findet natürlich erneut seine Bewunderer. Aber das sind Fachleute, nicht Erholungsreisende. Außerdem ist es heute ein Dawes-Berlin in Ketten, die tief ins Fleisch schneiden. Der Reichsbankpräsident Schacht versucht mit heller Stimme das Stöhnen zu übertäuben. Er sagt, selbstverständlich könnten wir den Dawas-Pakt glatt erfüllen. Natürlich. "Die Operation ist glänzend gelungen; der Patient starb allerdings." Schon erzählt der neueste Reichsbankbericht von einem deutschen Defizit im Monat August im Betrage von über 65 Millionen Mark, und das noch vor Inkrafttreten der Steuerermäßigungen und anderer gesetzlich beschlossener Einnahmeminderung, auch noch vor dem ganz festen Anziehen der Dawes-Ketten.

Aber es gibt offenbar wichtigere Dinge, als die kommende Not. Die fast durchweg roten "Entschiedenen Schulreformer" attackieren nicht nur den Referentenentwurf, der uns eine Sicherung gegenüber der religionslosen Schule verheißt, sondern versuchen auch sonst darauf los zu reformieren. "Erscheint in Massen", heißt es wieder einmal an den Berliner Anschlagsäulen. Entweder Herr Österreich oder Fräulein Feuerstein halten Vorträge über sexuelle und Ehereform. Das zieht noch. Vom Lustgreis bis zum Wandervogel sitzt alles mit offenen Mäulern da. Und man hört den ehernen Satz: "Die Ehe ist eine blöde, für uns längst abgetane Einrichtung, durch die der Staat seine Verpflichtung, die Kinder zu erziehen, auf die Eltern abwälzt!" Und andere mehr oder weniger östliche Vortragende ereifern sich darüber, daß die Nacktkultur verketzert werde. "Wenn auch wirklich was bei passiert, so können wir uns doch nur freuen", sagt ein Redner.

Und immer wieder das Schlagwort: Abbau des Schamgefühls!

Deswegen braucht man doch niemand mehr auf die Schanzen zu rufen. Ausgerechnet in Berlin. Ich weiß nicht, mit wieviel Revuen in diesem Jahre die Saison eröffnet worden ist, obwohl man doch annehmen sollte, daß die Berliner allmählich schenkelsatt geworden sind. Ich gehe diesmal auch bestimmt nicht in alle hin. Die Charell-Revue "Für Dich!" in Reinhardts Großem Schauspielhause ist wenigstens noch mit etwas dekorativer Künstlerfreude aufgezogen, nicht Schenkelparade und Lichteffekt allein. Also für dich, mein Sohn, diese sechzig enthüllten Mädchen, für dich die drei algerischen Bauchtänzerinnen, die chinesischen Jongleure und Gaukler, die englischen Springer und alles übrige. Geschmeichelt geht der Berliner junge Mann hin: "Für Dich!" ist ein infam zugkräftiger Titel, den der kleine Pascha sich baß gefallen läßt.

Wie ich höre, wird aber schon jetzt, zu Beginn der Spielzeit, an den meisten Theatern geschleudert. Hie und da gibt es Eintrittskarten zu einem Viertel des festgesetzten Preises.

Auch das neue Arbeitsjahr, das neue Spieljahr steht unter dem Zeichen der allgemeinen Geldknappheit.

In den Geschäftshäusern wie in den Familien wird einem versichert, es sei so knapp, daß nur äußerste Sparsamkeit überhaupt ein Durchkommen ermögliche. Aber man traut seinen Augen kaum: trotzdem sieht man kaum bekümmerte Mienen, sondern erwartungsfroh mustert alles das tägliche Vergnügungsprogramm. Natürlich wird es mal anders kommen, sagt mir augenzwinkernd ein guter Bekannter, aber

"Heute wird noch mal gesumpft,
Morgen kommt der Wendepumft!"

17. September 1925 (Donnerstag)


2

Moderne Bildungsangebote - Herr Bornkäs - Dachstuhlbrände - Hysterische Kinder - Der Gesundheitszustand der Großstadtjugend - Zilles "Verrufene" im Film - Meine G.m.b.H.

"Adeliger Akademiker,
(32 Jahre), Kunsthistoriker, gibt
Unterricht und Anleitung in allen Zweigen
allgemeiner und gesellschaftlicher Bildung.
Geschichte, Kunstgesch., Literatur, Theater usw. Heran-
bildung in Konversation u. Umgangsformen der gut.
Gesellschaft. Vorbereitung zu gebild. Reisen. Anfrage
schriftlich R.580 an die Exp. d. Bl."

Also Herr Bornkäs war sehr erfreut und dankbar, als ich ihm vor mehreren Monaten diese Anzeige wies. Eigentlich heißt er nicht ganz genau so, aber an dem buchstabengetreuen Namen liegt ja nichts. Herr Bornkäs hatte vor 1914 einen Landbrot- und Milchladen in unserer Nähe. Später verlegte er sich, angeregt durch einen windigen Tausendsassa in seinem Kegelklub, auf das Kriegsgewinnlern. Als ich 1915 zu erstem Urlaub von der Front heimkam, hatte er gerade der rumänischen Regierung, die damals noch neutral war, zwei Waggons voll Hufstollen für ihre Kavallerie verkauft. Es gab nichts, womit Herr Bornkäs nicht Geschäfte machte. Natürlich besaß er im Jahre 1919 Auto und Villa. Aber alles zerrann danach; heute hat er wieder einen Landbrot- und Milchladen.

Wenn seine während des Krieges mit Unter-der-Hand-Butter und Schiebe-Schokolade gepäppelten Kinder schlechte Zensuren brachten, lachte er breit und behäbig.

"Kinner, lernt nischt, sonst müßter nacher arbeeten!"

Nun hat sich seine Anschauung wieder völlig gewandelt; er glaubt, daß nur Bildung den Menschen wirklich vorwärts bringe. Er hat sich den kleinen Brockhaus gekauft. Er hat einen Kursus im Recht- und Schönschreiben mitgemacht. Und wenn er auf eine Anzeige wie die bekannte "Werden Sie Redner! Lernen Sie groß und frei reden!" stößt, dann schreibt er sofort hin. Er spricht bereits gut hochdeutsch; nur seine Frau berlinert noch.

Da kann man es sich schon vorstellen, wie er auf den adligen Akademiker anbiß, der zu gebildetem Reisen vorbereitet. Bornkäs und Frau wollten zum erstenmal in ihrem Leben auf vier Wochen nach Italien. Im an sich schon sehr stillen Ferienmonat könnte die Älteste den Laden derweil besorgen. Im Reiseführer wurden die mit Kreuzchen markierten Bilder, Gebäude, Plastiken in Florenz, Ferrara, Bologna usw. noch eigens rot angestrichen, der kleine Brockhaus kam abends wochenlang nicht mehr vom Tisch; ob Bornkäses auch noch genügend Privatstunden bei dem 32jährigen Kunsthistoriker belegt haben oder nicht, weiß ich nicht, aber jedenfalls gingen sie wohlvorbereitet zu gebildetem Reisen endlich auf die Walze.

Nun treffe ich ihn zufällig. "Italien", schreit er mir schon von weitem entgegen und strahlt. "Italien, tjawoll, vastehste!" Vor freudiger Erregung kommt er ins Berlinern.

Was ihm denn am meisten gefallen habe, frage ich.

"Wissense, jroßartig, uffn Dom in Mailand. Ejal weißer Marmor un lauter Heilige. Mitten mang, uffn Dach, 'n kleenet Café. Da ham wa Tschelati jelöffelt. Ooch een Priweh mit Wasserspülung is da. Echt italienisch, bloß een Loch uffn Boden, davor aba zwee marmorne Stiebeldoppelsohlen zum Druffstellen. Jroßartig, sowat, nich ?"

Schade, daß ich es eilig habe. Schade, daß aufgespeicherte Arbeit in Berlin mich wie ein gewappneter Mann überfallen hat. Sonst müßte Herr Bornkäs mir stundenlang erzählen - und ich würde danach, statt des Bädekers für Italien, der einen unter geheuchelten Hymnen in die sixtinische Kunstscheune in Rom und sonstwohin verlockt, einen Bornkäs für Italien zusammenstellen. Der fehlt uns. Die "Familie Buchholz" ist ja gänzlich veraltet und war schon bei Erscheinen auf dem Büchermarkt nicht ganz berlinisch echt, sondern sehr maniriert, ausgedacht am grünen Tisch. Aber Bornkäs ist echt. Und es hat in diesem Sommer ungezählte Hunderte von Bornkäses gegeben.

Nun sind sie alle wieder zu Hause, die letzten noch nicht ganz trocken von Gastein her, einer der typischen Dachtraufen Europas. Mit blanken Augen stiefeln sie durch die Reichshauptstadt, freuen sich an der Ordnung und an den blendenden Schaufensterauslagen und fragen, was denn inzwischen losgewesen sei.

Nichts. Oder doch, ja, Teuerung. Und Dachstuhlbrände.

Das ist eine Epidemie, die alle zwanzig Jahre einmal wiederkehrt und meist sehr bald wieder erlischt. Aber die Phantasie der Kinder wird stark dadurch angeregt. Sie spielen überall, namentlich in aufgebuddelten Straßen, Feuerwehr und Polizei. Das gibt ein wildes Jagen. Stramm salutierend meldet ein Dreikäsehoch dem kaum größeren Spielleiter, der als "Kriminal" bei der Sache mitwirkt:

"Wir haben den Brandstifter nicht entdeckt. Er hat sich als Publikum verkleidet."

Neben dem fröhlichen Spiel kommt aber auch die Hysterie zum Durchbruch. In einer Mädchen-Volksschule in NO hört man das Klingeln der vorüberrasselnden Feuerwehr. Mehrere Kinder stürzen, ehe die Lehrerin es hindern kann, mitten während des Unterrichts ans Fenster, reißen es auf und schreien auf die Straße hinunter: "Wo brennt's ? Wo brennt's ?" Andere Kinder stehen in der Klasse und fangen an zu heulen. "Am Ende is et bei uns!", bangt die eine. "Ojottojottojott, wenn's nu Ecke Seestraße is, da jeht meine Mutter uff Arbeet!", brüllt die andere. Es hält schwer, die Kinder zu beruhigen.

Dieses Schreckhafte ist ein Erbteil aus den bösen hinter uns liegenden Jahren, zuerst des Krieges, wo man an Unterernährung litt, dann der Revolution, wo es überall knallte. Noch heute muß in Berlin jedes fünfte Kind, das das schulpflichtige Alter erreicht, auf ein Jahr vom Unterricht zurückgestellt werden. Aber im allgemeinen hat sich der körperliche Zustand der Kleinen seit 1923 wesentlich gebessert. Wir kommen vielfach schon ins andere Extrem. Es gibt keine "Verfressenheit" mehr, aber dafür Appetitlosigkeit, Verweichlichung, nervöse Empfindlichkeit, und vor allem nimmt nach den amtlichen Berichten der Schulärzte die Karies der Zähne, die in den bösen Jahren fast verschwunden war, bei den Kindern rapide zu, weil sie von unvernünftigen Müttern jetzt so mit Weißbrot, Kuchen und Süßigkeiten gefüttert werden. Die Folge der Kriegs- und Nachkriegsschäden zeigt sich bei den größeren Kindern besonders in ihrer Unentwickeltheit und in der stark verbreiteten "englischen Krankheit", der Rachitis, doch vom 14. Lebensjahre an haben die meisten es verwunden. Die Bekleidung ist wieder normal wie in guter Zeit. Die "Klotzen", die Stiefel mit Holzsohlen, sind ganz verschwunden. Während kurz nach dem Kriege nach einer damaligen Statistik rund 34 000 Berliner Kinder auch im Winter barfuß zur Schule laufen mußten, kommt dies heute überhaupt nicht mehr vor, und während noch 1923 Tausende - vereinzelt auch in höheren Schulen - kein Hemd auf dem Leibe unter der Jacke hatten, hat jetzt der Schularzt eines nördlichen Bezirks bei einer unangemeldeten Untersuchung unter 4000 Schulkindern nur drei wäschelose gefunden. Vielfach findet man schon richtig "herausgeputzte" Kinder, wo man noch das Gefühl hat, es täte ihnen eher eine bessere Ernährung not. Die Eltern haben den Ehrgeiz, besonders ihre kleinen Mädchen gegen die anderen in der Klasse nicht abstechen zu lassen. Sauber sind sie wieder fast alle; ganz anders, als die Kinder in verschiedenen europäischen "Siegerstaaten". Bei uns lag es nämlich nicht am Schlendrian, sondern nur am Seifenmangel. Mit der Kriegsseife wurde man auch der Krätze nicht Herr, die jetzt wie alle Schmutzkrankheiten in Berlin unter den Schulkindern am Verschwinden ist.

Der Deutsche braucht ja nur ehrliche Arbeit und Verdienst, um ein sauberer Kulturmensch zu sein. Proletarier im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es bei uns doch kaum, es sei denn im "fünften Stande" rund um das Obdachlosenasyl herum. Natürlich kann jemand in diesen Stand hineinrutschen, wenn auch nur selten ohne eigene Schuld. In einem nach Zille-Motiven zusammengestellten Film, "Die Verrufenen", sitzt neben mir ein den sogenannten besseren Ständen angehörender Herr und schnauft vor Rührung und Mitgefühl. Ich gehe, wenn's hoch kommt, dreimal im Jahr ins Kino. Ich mag es eigentlich nicht, weil neunzig Prozent davon doch nur eine andere Ausdrucksform für die frühere greuliche Kolportageliteratur ist, auf die Bedürfnisse von Dienstmädchen zugeschnitten, Mischung von Glanz und Verworfenheit mit einem starken Schuß Sentimentalität.

Aber die "Verrufenen" sind - ich hörte es und staunte - sogar unseren Gymnasiasten von den Lehrern empfohlen worden. Also da mußte ich hin, um vorzukosten und zu prüfen.

Mein Gott, wie blöde ist unser Geschmack geworden!

Natürlich wird man stellenweise von der Handlung ergriffen, besonders von dem Elend der Arbeitslosigkeit, von dem vergeblichen Rennen des Helden, der wieder "ehrlich" werden will. Es sind die üblichen Typen der Vorstadt-Melodramatik. Der aus dem Zuchthaus heimkehrende ehemalige Ingenieur, der aus angeblich ehrenhaften Gründen einen Meineid geschworen hat. Der altmodisch zugeknöpfte Vater, der dem Sohn die Türe weist. Die frühere Braut, die inzwischen einen reichen Mann geheiratet hat. Die erbarmungslose Gesellschaft, die für den Vorbestraften keine Arbeit hat. Schließlich rettet ihn vor dem Selbstmord, vor dem Sprung in die nächtliche Flut des Landwehrkanals, eine vorübergehende Straßendirne. Sie füttert den Halbverhungerten, sie nimmt ihn neben ihrem alltäglichen Zuhälter in ihre Bude auf. "Ick kann for zwee vadienen!" Wir tun einen Blick in die Hefe der Bevölkerung, eben den fünften Stand, die Verbrecherwelt, wir sehen schließlich - denn gut und zum Heulen romantisch muß es ausgehen - den Helden wieder im Aufstieg. Er ist in einer Fabrik als Arbeiter eingestellt worden, wo an einer neuen Maschine, die den Dienst versagt und die er allein wieder in Gang bringt, seine Ingenieurtalente entdeckt werden. Er heiratet die Schwester des Fabrikherrn, während die Dirne, poesieumflossen wie die Kameliendame, rechtzeitig stirbt.

Mit einem Wort: es ist scheußlicher Kitsch.

Er gibt sich sehr moralisch, aber ich glaube kaum, daß er moralische Wirkungen auslöst. Das Publikum lacht über das Rotwelsch der Verbrecher. Es grault sich angenehm, wenn ein wohlhabender Spießer, der mit der Dirne mitgeht, von ihren Komplizen ermordet wird. Die hartherzigen Väter werden durch das Stück nicht milder, die Fabrikportiers den Arbeitsuchenden gegenüber nicht freundlicher, die Verrufenen nicht zu ehrlichen Arbeitsbienen werden.

Die allgemeinen sentimentalen Anklagen gegen die Gesellschaft und den Zustand der Dinge bei uns, die weichen Seelen wie Maxim Gorkij oder Heinrich Zille so sehr liegen, bessern nichts. Ein einziges Bibelwort ist mehr wert: "Die Sünde ist der Leute Verderben." Und ein Lutherwort sollte man daneben halten: "Ein jeder lerne sein' Lektion, dann wird es wohl im Hause stohn!" Packe jeder zu, wo er's fasse; zuerst bei sich selbst. Dann in der nächsten Umgebung. Besser als fürstliche Vereinsbeiträge oder gar nur literarische Weltverbesserung ist rechtzeitige Hilfe im Einzelfalle. Ich habe gerade solch einen Fall für brave Leser. Vor vier Jahren habe ich selber einen armen Jungen, dessen Vater von Kommunisten ermordet war, ins Haus genommen, als wäre er einer von meinen eigenen sechs; er ist der eine von meinen beiden oftgenannten Jüngsten, den Primanern. Mehr kann ich nicht. Und doch tät ich es am liebsten noch einmal und nähme noch einmal um Gottes Lohn ein Kind ins Haus. Es ist ein bildhübscher, anstelliger, begabter elfjähriger Junge, den ich in Neapel traf. Die verwitwete Mutter, eine hochgebildete Dame, kann dort unten, wo man keine Kohlen zum Heizen und kaum Kleider braucht, gerade zur Not das nackte Leben für sich und den Sohn schaffen, und sehnt sich doch so danach, daß er deutsch bliebe und deutsche Schulbildung erhielte, ein rechter nationaler Deutscher werde,

Keiner will den Jungen haben, sovíel ich auch herumfrage. Adoptieren, ja! Aber nicht umsonst erziehen und ihn dann der Mutter wieder abtreten.

Da kommt mir ein Gedanke. Ich mache Eine G.m.b.H. auf den Jungen. Wer unter den Lesern verpflichtet sich, ein paar Jahre lang regelmäßig 5 Mark monatlich für ihn zu zahlen ? Ich denke, so rettet man diesen Einen für Volk und Vaterland, wenn genügend Teilhaber an ihm sich melden. Vielleicht wird er dann einmal, wenn er erwachsen wird, unser Retter. Wer tritt unserer G.m.b.H. nun bei ?

Ich bin gespannt darauf, wie viele Zuschriften über meine Deckadresse, den Verlag, hinweg an mich gelangen werden. Gespannt darauf, ob ich mit meinem Glauben an das gebildete Deutschland recht habe - oder ob der Zille-Film recht hat, nach dem die Barmherzigkeit zu den Straßendirnen geflohen ist.
24. September 1925 (Donnerstag)


3

Markt und Dult und Messe - Die Berliner Kipho - Fast 3000 schöne Damen - Filmprüfung - Verarmte Thronerben - Beim Fürsten Sizzo zu Schwarzburg - Der Prozeß - Auf dem Witwenball - Annas Tante Agathe

Markt und Dult haben ihre alte Berechtigung; dakaufen sich die Leute ihre Kaffeetassen, Kattunschürzen, Nußknacker und amüsieren sich im übrigen wie die Schneekönige. Aber Messe und Ausstellung, in der Großstadt ins Große verzerrt, müssen um ihre Volkstümlichkeit erst ringen. Wo gibt es noch einen Verkehrsknotenpunkt in Deutschland, der nicht sein Messegelände besitzt und seine ständigen Riesenhallen ? Dann wird Reklame gemacht, man lockt die Aussteller, man lädt Kongresse ein, man stellt einen Pressechef an - und in neun von zehn Fällen mopst sich nachher das Publikum; es kommen zwar Zehntausende, aber fast immer ein Zehntausend zu wenig, um das Defizit auszugleichen, und die Zehntausende, die da waren, sagen nachher: man rennt sich stundenlang müde und sieht doch nicht mehr, als an Schaufenstern oder in Fabriken. Dazu hat man noch den Ärger, daß eine Sportausstellung häufig nur eine Ausstellung für Sportkleidung ist; oder daß man auf einer Trachtenausstellung im wesentlichen Pyramiden von Cognacflaschen zu Gesichte bekommt.

Nur das stärkste Tamtamschlagen vermag noch leidlich viel Volks in die Berliner Messen draußen am Kaiserdamm in die drei Hallen zu bringen.. Die Ausstellungen jagen sich, die Käufer drücken sich, das Publikum geht lieber ins Kino. Wenn aber die Ausstellug selber dem Kino gewidmet ist ? Das ist allerdings etwas anderes; einmal hat man jetzt diesen Versuch gemacht, und es scheint, daß er gelingt.

Man hat sich in der Kipho, der Kino- und Photomesse, aber auch nicht darauf beschränkt, etwa nur die Objektive und Kameras von Zeiß, Görz, Schütz, Ernemann usw. reihenweise aufzustellen, dazu Starbilder und Starkostüme und den ganzen maschinellen Kram, sondern - man läßt das Volk hinter die Kulissen gucken. Das zieht. Schon der Originaldrache aus den "Nibelungen" Thea v.Harbous und Fritz Langs neben dem Ufa-Kiosk findet seine ehrfürchtigen Bewunderer. Gleich dahinter kommt man in dem "Raritätenkabinett" der Filmwoche in fröhliche Laune, allwo u.a. ein Glasgefäß echte Tränen der Frau Mary Carr enthält, während der Aufnahme ihrer drei letzten Mutterfilme gesammelt, garantiert glyzerinfrei und täglich frisch. Man sieht im Kleinen die Neubabelsberger Filmstadt der Ufa, das zweitgrößte Filmgelände der Welt. Man liest die Zeitungsnotizen über den allerältesten Film, das Anfang November 1895 im Wintergarten vorgeführte "Bioskop" eines Berliner Erfinders, und in einem Zelt wird auch jener Urfilm - mit den damals üblichen ulkigen Erklärungen - ein wenig zittrig abgerollt. Und vor allem: man kann nicht nur echte Teilaufnahmen von Filmen erleben, die erst demnächst zur Uraufführung kommen sollen, mit Filmregisseuren und Flimmersternen erster Größe mitten in der Arbeit, sodnern - man kann auch selber mittun. Der Wettbewerb des Publikums ist frei, man kann sich hier als Filmschönheit oder als Filmschauspieler der Zukunft sozusagen amtlich beglaubigen lassen.

Nicht weniger als 2930 Berliner, meist weiblichen Geschlechts, haben sich zur Schönheitsprüfung gemeldet. Davon wurden 300 nach mühevoller Vorprüfung berufen, sollen 30 schließlich auserwählt werden. Nahezu ebenso stark ist der Andrang zur Spielprobe, der man sich allabendlich paarweise unterziehen kann.

Zwei einander wildfremde Personen werden, wenn die Reihe an sie kommt, aufgerufen und gegenseitig bekanntgemacht. Es geht fix, ganz fix. "Also Fräulein Trollius, Sie sind Ihrem Bräutigam nicht ganz treu, Sie haben ein Rendezvous mit einem anderen jungen Mann gehabt; und Sie, Herr Bergmann, haben das erfahren, und treffen Ihr Fräulein Braut nun im Stadtpark. Sie machen ihr Vorwürfe, Fräulein Trollius bestreitet jede Schuld, das wird gefilmt, nun los!" Schon werden die beiden aufeinander gestoßen, wie katzbalgende Sextaner von den Klassenkameraden, schon surren die Jupiterlampen, schon wird gekurbelt, schon sind die Unseligen mit ihren ratlos verstörten Gesichtern auf 10 Meter Film verewigt, ehe sie erwachen. Dann schlenkern sie die Arme und rollen die Augen; das Publikum lacht sich schief - und Tante und Vetter und Freundin im Publikum protestieren erregt gegen dieses Maß von Unbildung, das die werdenden großen Künstler beeinträchtige.

Zum Film zu kommen, das ist doch einfach das Große Los. Davon träumt jede Berliner Portiersgöhre, die geradegewachsene Beine und ein Knutschfrätzchen hat. Man ist selig, wenn man mit 5 Mark Tagesgage zu der Statisterie der "Mädchen aus dem Volke" oder der "Sklavinnen des Pharao" oder der "Hofdamen Heinrichs VIII." kommt. Weiter kommt man freilich selten; und auch da bleibt man nur so lange, als die Jugend vorhält. Aber die Hoffnung, die Hoffnung, die große Hoffnung! Mit glänzenden Augen drängt sich alles um einen Kiosk, der nebeneinander den Ankleideraum einer Diva von 1910 und von 1925 zeigt. Dort armseliges Zigeunertum mit Bierneigen und zerbrochenen Stühlen, hier äußerster raffinierter Luxus mit hauchzarten Dessous und Pantöffelchen, mit dreigestirntem Hennessy und goldenem Manikurekasten.

Damals, 1910, träumte man auch noch nicht vom Film. Damals träumte man von dem Prinzen, der das Aschenbrödel einst heimführen würde. Damals starrte man nicht fette Filmdirektoren verzückt an, sodnern seufzte einem vorüberreitenden Gardeoffizier nach. Oder man rannte um vier Straßenecken, um eine Hofkutsche zu sehen.

Darin ist kein Geschäft mehr, sagt die altkluge kleine Berlinerin. In Wien hat ein echter Habsburger eine Hopfengroßhandlung aufgemacht. Und in Deutschland geht es manchem ehemaligen Thronerben wie einem Kleinrentner. Die neuen politischen Emporkömmlinge aber, die Revolutionsgewinnler, reizen nicht einmal die Portiersgöhre. Sie glaubt nicht an den Bestand der neuen Herrlichkeit.

In einem Eisenbahnwagen 3. Klasse habe ich einmal den präsumptiven Erben eines der ältesten und reichsten Fürstenhäuser Deutschlands gesehen, den Fürsten Sizzo zu Schwarzburg, den alten Breslauer Leibkürassier, einen Riesen von Gestalt, Bismarckformat. Seine Kürassierstiefel hat er freilich nicht mehr, die hat er einmal, als es gar zu knapp war, verkaufen müssen. An diesem Sonntag findet ein Husarentag statt, zu dem er - er wurde seinerzeit vom König von Sachsen à la asuite der 20. Husaren gestellt - eingeladen ist. Wo nimmt man aber nur gleich die Husarenstiefel her ? Die kosten ja heute fast 200 Mark! Und die alte treue Seele, der pensionierte Gendarm aus dem Nachbarorte, der dem Fürsten Sizzo jetzt in Großhartau (das Dorf liegt zwischen Dresden und Bautzen) die Bücher führt, rechnet und rechnet, bis ihm der Schweiß perlt. Ich habe mir am vorigen Sonntag das Dorf und das sogenannte Schloß - es ist ein einfacher Kasten von Gutshaus - angesehen, in Abwesenheit des Fürsten. Man läuft gut 15 Minuten vom Bahnhof bis dahin, und wenn es regnet, wird man bekanntlich naß. Auch der Fürst Sizzo muß laufen, denn er hat nicht Pferd und Wagen, geschweige denn ein Auto, und wenn der jetzt im 65. Lebensjahr stehende alte Herr sein Heim erreicht, muß er hinten herum und eine eiserne Nottreppe außen hinauf, denn die Familie wohnt nur oben; die Räume der unteren Etage samt Vorder- und Hintertür sind dauernd geschlossen, denn Heizung kostet Geld, und das bißchen Reisig, das Frau und Tochter fast täglich im Walde sammeln, schafft es nicht. Die älteste Tochter, Marie Antoinette, hat im Januar geheiratet, den Erbgrafen Solms-Wildenfels. Die Hochzeit fand, ganz schlicht, in Großhartau statt; die Beschaffung von zwei neuen Hosen für zwei dabei aufwartende Diener wuchs sich fast zu einer Katastrophe aus.

Mag sein, daß es den Herrschaften nicht angenehm ist, wenn ich solche Einzelheiten auf den großen Markt bringe. Aber sie gehören als Zeiterscheinung in eine kulturgeschichtliche Plauderei. Ich habe schon früher bei einer anderen Gelegenheit, als der zuletzt regierende Fürst von Schwarzburg, der vor kurzem heimgegangen ist, noch lebte, die Sache des Gesamthauses zur Sprache gebracht. [Siehe 5.Band/Glosse 29 - d.Herausg.] Es ist ein europäischer Skandal, wie unsere neuen Freistaaten, nachdem sie zunächst widerrechtlich alle fürstlichen Vermögen - bei den Schwarzburgern über 100 Millionen Mark - beschlagnahmt hatten, sich gegen eine Wiedergutmachung sperren. Preußen hat schon alle Prozesse gegen den Prinzen Friedrich Leopold verloren, hat aber mit dem König von Preußen die Auseinandersetzung noch bis heute verschleppt. Und Thüringen hat den Meiningern das ihrige bereits zurückgegeben und auch dem Herzog von Gotha seine 8 Oberförstereien wiedererstatten müssen, stellt sich aber dem Hause Schwarzburg gegenüber noch tot.

Während die Scheidemann und Leinert und ähnliche Revolutionsgrößen 16 000 bis 22 000 Mark jährlich Pension erhalten, dazu noch rund 7000 Mark Diäten, also annähernd 25 000 bis 30 000 Mark, hat man dem Fürsten Sizzo zu Schwarzburg am 28. März dieses Jahres, wenn er auf alle weitergehenden Rentenansprüche verzichte, - 9000 Mark jährlich angeboten. Der Staat will ihm also 9000 Mark geben; aber Fürst Sizzo muß gleichzeitig 12 000 Mark Mietzinssteuer (!) für die Wohnung in Großhartau an den Staat entrichten!

Kompliziert wird die Angelegenheit noch dadurch, daß man den Fürsten zwingt, auf dem Prozeßwege seine Agnatenrechte, die längst von den beteiligten Fürstenhäusern festgelegt sind, noch einmal zu erweisen. Es handelt sich um einen alten Familienstreit, der in seinen Einzelheiten die Öffentlichkeit kaum interessiert, aber nun bis vor das Reichsgericht getrieben ist. Der Freistaat Thüringen sieht behäbig zu, denn Staaten haben ein längeres Leben, Prozeßgegner sterben weg, und wenn schließlich doch bezahlt werden muß, zahlt doch nicht "der Staat" oder gar ein Finanzminister persönlich, sondern nur das Volk, das Volk der Steuerzahler. Vielleicht wird bis dahin sogar der Kläger mürbe, weil er die Anwaltskosten nicht mehr aufbringt, die in diesem Falle besser situierte Verwandte - aus dem herzoglich-anhaltischen Haus Dessau - vorgeschossen haben.

Den fast 2 Meter langen birkenschlanken Erbprinzen und seine unverheiratete Schwester, die 26jährige Prinzeß Irene, habe ich auf meinem Erkundungsausflug - oben hinter der Hühnerleiter - kennen gelernt. Es sind liebe junge Leute. Aber um keinen Prinzentitel der Welt möchte ich mit ihrer Einsamkeit tauschen. Nichts sein dürfen, nicht dienen dürfen, verbannt sein - und im Gespräch am Familientisch, denke ich mir, zum Frühstück der Prozeß, zum Mittagessen der Prozeß, zum Abendbrot der Prozeß. Der Prozeß, der Prozeß, der Prozeß! Das ist für alte verbitterte Leute vielleicht eine erträgliche Atmosphäre. Für junge Menschen stelle ich sie mir so entsetzlich vor, daß viel innere Kraft dazu gehört, um dabei senkrecht an Leib und Seele zu bleiben.

Nein, unsere Berliner Portiersgöhren wissen schon, daß, das kein Geschäft mehr ist. Die Not macht vor ehemaligen Fürstenhöfen nicht Halt. Da hat es ja, mit ihren Bedürfnissen und deren Befriedigung, ein Berliner Dienstmädel besser. Heute wieder gutes Essen und nahezu üppige Kleidung, dazu zweimal wöchentlich der Bummel: Theater oder Kino oder Tanz.

Man soll nicht immer in die Barberina oder in das Prismakasino oder in ein anderes "mondänes" Lokal gehen, wenn man den Berliner kennenlernen will und die Berlinerin. Schon Kollege Goethe sagte bekanntlich schmunzelnd: "Die Hand, die samstags ihren Besen führt, wird sonntags dich am besten karessieren." Also auf in den Berliner Südosten zum Witwenball! So nennen sie sich fast alle, aber das soll nur ziehen; in wirklichkeit gibt es in ganz Berlin nicht so viel Witwen, als hier tanzen. Nicht auch am Dienstag, wie auf den Tanzdielen des Zentrums und des Westens, auch selten am Donnerstag, aber immer am Sonnabend und Sonntag. Da gehen unsere Dienstmädchen hin, allein oder, wenn sie reelle Absichten haben, mit einer älteren Verwandten als Gardedame. Natürlich ist auch Halbwelt da. Aber das gleitet ohne Berührung aneinander vorüber. Also nun bin ich in den "Festsälen" und steuere an den besetzten Tischen entlang, bekomme schließlich einen freien Stuhl zwischen einer größeren Gesellschaft. Eine sehr betuliche nette ältere Frau nickt mir gnädig zu. Ich stelle mich korrekt vor. Sie auch. Sie tut es mit den schlichten Worten:

"Ich bin die Tante Agathe von der Anna!"

Richtig, da drüben stept die Anna. Pikfein in Seide und Lackschuhen. Sie ist Zweitmädchen bei Dr. Levysohn in der Gräfestraße, erfahre ich. O, die kriege sicherlich bald einen Mann, sagt die Tante. "Sie hat schon viermal zum Überziehen!" Ich gestehe, daß ich nicht weiß, was das bedeutet. Na, Bettwäsche natürlich! Und Tante Agathe, die mich gefragt hat, ob ich Töchter hätte, sagt, ich solle sie mal herbringen. Hier kriegten sie auch sicher einen Mann. Besonders, wenn sie einen so soliden Vater hätten, sagt Tante Agathe und sieht bewundernd auf meinen gemauerten Schlips.

Es geht fabelhaft fein und gesittet hier zu. Kein dreister Witz. Die jungen Männer - der mit Anna tanzt, ist Bote bei der Gasfabrik - haben alle einen richtigen Tanzkursus mitgemacht. Der junge Mann will nachher mit Annas Freundin Ella tanzen. Er verbeugt sich elegant und sagt: "Mein Fräulein, darf ich Sie für den nächsten Tanz arrangieren ?"
1. Oktober 1925 (Donnerstag)



Jahresinhalt

Glossen 4 - 6

© Karlheinz Everts