"Rumpelstilzchen"

Haste Worte?
(Jahrgangsband 1924/25)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1925

Glossen 28 - 30
26. März bis 8. April 1925


28

Auf dem Trockenboden - In der Münzstraße - Goldenes Zeitalter für Diebe - Alt-Berlin - Der Krögel - "Mein Milljöh" - Römische, Londoner, Berliner Gesellschaft - Der Oli-Korso - Beim Winterfest des Gymnasialruderklubs

Unser Portier, an sich nur so eine halbe Portion von Mann, der noch kleiner aussieht, wenn er ein böses Gewissen hat - und das hat er fast immer -, ist mir zum Trockenboden nachgegangen. Was wir da machen ließen, fragt er. Nun, wir lassen einen neuen Riegel einmauern, und daran kommt unser eigenes Sicherheitsschloß. Warum denn ? Da fixiere ich ihn scharf: weil uns Wäsche weggekommen ist, 11 Hemden und etliche Tisch- und Bettwäsche, ausgesucht die besten Stücke. Das glaube er nicht, sagt er mit einem leichten Flackern der Stimme. Na, Sie müssen es ja wissen, erwidere ich. Da ist er eine Weile still und wird noch kleiner. ich weiß schon, was er denkt. Er denkt: "Verfluchter Bourgeois!" Da ich unter den acht Vorderhausmietern der einzige nicht wohlhabende bin und trotzdem am Monatsersten und zu Weihnachhten nicht knausere, stand ich bei Portiers bisher in einiger Achtung. Nun haben wir aber vor etlichen Wochen - das ist seit 1914 die erste größere Auffrischung - zwölf Speisezimmerstühle neu beledern lassen, gelten seitdem bei Portiers als Kapitalisten und infolgedessen als bestehlenswert. Das betrachtet man als gutes Recht. Die Güter der Welt sind ja so falsch verteilt, da muß nachgeholfen werden. Das Sicherheitsschloß ist dabei störend. Also der Portier denkt nach. Schließlich sagt er: "Aber der Wirt bezahlt das nicht!" Weiß ich, weiß ich. "Hat der Wirt überhaupt das neue Schloß erlaubt ?" fragt nun der fette kleine Rollmops. Das wird mir denn doch zu arg. Ich erkundige mich mit Betonung, wer denn dem "Bräutigam" der sechzehnjährigen Portierstochter den Schlüssel zum Trockenboden gegeben habe. Da wird der Steppke einsilbig und trollt sich brummend. Ähnliche Unterredungen - ohne Pointe - gibt es seit 1918 häufig in Berlin. Gewöhnlich läßt man nur durchblicken, daß man einander kenne. Mehr lohnt nicht.

Man kann natürlich zur Krimninalpolizei gehen. Dort wird man aber nur mitleidig belächelt. Bloß ein bißchen Wäsche ? Wenn es nicht ein anständiger Mord ist oder wenn nicht sieben Perserteppiche und eine Silberkiste weggekommen sind, soll man die Behörde nicht bemühen. Man will trotzdem ? Nun gut, dann kann es ja notiert werden; und das ganze Haus wird zur Vernehmung vorgeladen. Wiederkommen tut dadurch vom Gestohlenen aber doch nichts.

Man kann auch in die Münzstraße gehen. Das ist die leicht östlich angehauchte Gegend, in der alles Gestohlene "verschärft" wird. Hat man Glück, so kann man da aus erster Hand sein Eigentum billig wiederkaufen, ehe es in den Trödelläden von Hamburg oder München oder Elberfeld steckt und unauffindbar geworden ist. Also da sitze ich in einem "Café" der Münzstraße, das eine Art Zentrale für solche Sucher ist. Gleich fragt mich einer, ob ich Brillantringe kaufen wolle; oder Silber für 24 Personen; oder ein paar schöne Bucharas. Nein, ich suchte nur unsere 11 Hemden und die drei Tischtücher und Bettlaken, sage ich, worauf ich die etwas schroffe und lieblose Antwort erhalte:

"Denn steckense Ihre Jurke andeswo rin, hier brauchen wa keene Illumination!"

Man kann wirklich sehr ruhig und öffentlich über alle diese Dinge sprechen, denn infamierend war Diebstahl eigentlich nur unter dem Obrigkeitsstaat. Heute habe wir Demokratie, vastehste. Heute wird laut genauer Statistik - das ist das einzig genaue, das uns geblieben ist - nur jeder 69. Dieb gefaßt. Und zwar von angezeigten Diebstählen. Ein großer Teil wird gar nicht gemeldet. Man kann also ruhig sagen: etwa jeder 120. Dieb kommt vor Gericht. Aber beileibe nicht ins Gefängnis, denn jährlich wurden unter dem Regime Eberts über 130 000 Straffällige begnadigt, außerdem haben wir ja die "Bewährungsfrist" für erstmalig Geklappte. "Erst klau' ick feste un denn bewähr' ick mir!", sagt schmunzelnd der Koffer-Ede. Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung kann er also 119mal unentdeckt stehlen, dann, wenn er abgefaßt wird, Strafaufschub erhalten, und kann nun noch etwa 119mal ein Ding drehen, bis er endlich ins Kittchen kommt. Es ist fabelhaft, wie menschlich die Justiz geworden ist. Wenn du ein beleidigendes Wort gegen einen republikanischen Minister sagst, wirst du unter Umständen in Ketten nach Leipzig transportiert. Aber Stehlen und Betrügen - der selige Riccaut de la Marlinière wird noch im Jenseits über die Neuorientierung Deutschlands schmunzeln - ist dafür sehr erleichtert worden.

Münzstraße und Grenadierstraße und Umgegend habe ihren Ruf erst seit 1919 oder gar erst seit 1920, wo der sozialdemokratische preußische Innenminister Severing, obwohl die Reichsminister davor warnten, unsere Grenzen den Ostjuden so zuvorkommend geöffnet hat. Die und das heimische Berliner Verbrechertum sind seither in dieser Gegend vefilzt, die früher ganz kleinbürgerlich-wohlanständig war. Richtige Slums wie in London, Elends- und Gaunerviertel, haben wir ja überhaupt nicht in Berlin. Auch kaum irgendwo ein lichtloses altes Häusergewirr oder auch nur mittelalterlich historische Straßen. Die Berliner Geschichte ist in Museen und Mausoleen zur Besichtigung durch das Publikum eingesargt. Und diese Geschichte ist verhältnismäßig jung. Sogar das ganz junge Potsdam macht einen viel altertümlicheren Eindruck. In Berlin wird das Alte immer wieder amerikanisch wegrasiert, um Größerem und Praktischerem Platz zu machen. Wir verändern uns "laufend" wie nur irgendeine Präriestadt. Noch vor 80 Jahren - Lagarde erzählt das sehr anschaulich - war unsere heutige City eine Gartenstadt, in der (sogar in der Friedrichstraße) die Äpfel und Birnen und Trauben über die Zäune hingen und dahinter die Kinder Wiesel jagten. Eine Puttkamer-, Bessel-, Anhaltstraße gab es noch nicht. Am heitigen Nollendorfplatz standen Weiden an einem sandigen Landweg. In der stillen Königgrätzer Straße, an der der Schafgraben gerade zugeschüttet war, quakten an lauen Abenden laut die Frösche. Nur am Mühlendamm, wo die Spree mit Schleppdampfern und Lastkähnen in zwei Armen ein wenig Hamburg zu imitieren versucht, gibt es noch heute einige "Gänge" mit verwahrlosten alten Häusern. Darunter den mit Unrecht berühmten gänzlich reizlosen "Krögel", der fast nur noch Speicher hat. Ich wollte heute die Krögel-Hökersch besuchen, die 94jährige Alte, die einem dort zu erzählen pflegte, was sie noch aus der Zeit Friedrich Wilhelms IV. wußte, aber die ist kürzlich gestorben. Neue Menschen, die nicht einmal berlinern, sitzen da, - vor einer Kistenfabrik, vor einem Südfruchtlager oser sonst einem "Unternehmen". Ein wenig urwüchsiger ist noch ein Gang an der Fischbrücke, wo Privatleute wohnen, kleine Handwerker, Straßenhändler, Stickerinnen. Alte morsche Holztüren mit verrostetem Eisenbeschlag führen auf steile dunkle Stiegen; auch eine Schusterkugel brächte keine Hellgkeit hier herein. Aber über der Gasse baumelt eine Hochantenne, und an einer Tür steckt die Bekanntmachung:

Achtung!
Zwecks Filmaufnahme ist die Erlaubnis
bei der Hausverwaltung Fischerbrücke 5
einzuholen.

Wird Alt-Berlin gefilmt, dann muß man es erst schmüsken; dann werden ein paar geblähte Flanellunterhosen zum Fenster herausgehängt und so. Von der Poesie etwa des Schwertfeger- oder Rapunzelgäßchens in Frankfurt a.M. keine Spur. Hier ist nur Verfall, keine Architektonik, kein Durchblick. Auch die Flanellwäsche ist sicherlich nur noch Theater-Requisite oder Maler-Utensil. Es gibt Leute, die danach suchen, beispielsweise Meister Zille, ein Aristide Bruant dex Zeichenstifts, der selber aus traurigsten Verhältnissen stammt und sich seither die leise Wehmut für dieses "sein Milljöh" bewahrt hat, ein Mann mit gütigem weichen Herzen, auf den - die Sozialdemokratie stolz ist, weil er ihr eingeschriebenes Mitglied ist. Er ist aber nichts weniger als Politiker. Er zeichnet nur das junge Proletariat in seiner rotznasigen Frechheit. Ihm zu Ehren hat man dieser Tage sogar einen Kostümball mit einem Sketch "Mein Milljöh" davor gegeben. Im Großen Schauspielhaus natürlich.

Hans Brennert hat das Stückchen verfaßt. Es ist gut beobachtet. Der Matrosen-Karl kommt nach zwei Jahren Kittchen wieder heraus, findet seine alte Liebe nicht mehr vor und kriegt von dem Hausverwalter eine neue, die Pyjama-Jule (Cläre Waldoff) empfohlen: "Alleene is nischt, du mußt doch eene haben, die dir bekocht und beflickt, un wennste besoffen bist, denn weeste doch, wo de hinjeheerst!" Es sind nicht gerade balsamische Düfte, die aus diesem Milieu kommen, die Gedankenlosen reizt es allenfalls zum Lachen, - nur in Zille, dem "Pinsel-Heinrich", steigt das große Mitleid mit der triebhaften armseligen Masse auf.

Weil es so reizlos - und man kann ruhig sagen: auch so geistlos - ist, wird dieses Berliner Milieu von Fremden nicht aufgesucht und auch nicht für sie hergerichtet, wie etwa der Montmartre in Paris. Wer nach Berlin kommt, sucht die deutsche Arbeit auf. Oder wollte früher deutsche Macht, deutsche Kaiserpracht sehen. In den allerletzten Jahren: deutsche Verlumpung. Das gesellschaftliche Leben zieht keinen Ausländer her, weil wir keine Gesellschaft haben. In London kann der Fremde während der dortigen Saison, Mai-Juni, im Hyde-Park in der Rotten-Row familien- und herdenweise den Hochadel und die Großkaufmannschaft reiten, die älteren Damen daneben fahren sehen; da hat es mitunter, wenigstens vor dem Kriege, dreißig, vierzig Viererzüge hintereinander gegeben, dazwischen eleganteste Cabs, Cabriolets, Kaleschen. Auch der Corso auf der Via Nazionale in Rom war alltäglich ein Ereignis, weil man da die ersten Geschlechter des Landes aneinander immer wieder vorüberrollen sah, junge Patrizier-Schönheiten, prachtvolle Pferde, glänzendes Geschirr, geschmackvolle Livreen. Auch da hat die neue Zeit freilich den Zauber genommen, seit das Auto zum ständigen Gefährt geworden ist: wenn man hingerissen auf einen Moment in ein paar feurige Augen über Sammetwangen gestarrt hat und sich gleich darauf die Nase vor den Auspuffgasen des Autos zuhalten muß, ist alle Poesie zum Teufel. In Berlin haben wir nicht - wie in Park Lane in London oder am Palazzo Borghese in Rom - die Stadthäuser des Landadels, bei uns sind die alten Familien in den vielen Kriegen seit dem Großen Kurfürsten verarmt und haben ihre vornehmen Absteigequartiere in der Behrenstraße und Unter den Linden längst zu Banken und Hotels werden sehen, und daher mißlang auch der Versuch des Kaisers, einen Korso bei uns einzuführen. Eine Zeit lang lenkte Graf Wedel "auf allerhöchsten Befehl" seinen Viererzug durch die Siegesallee, auch einige andere Begüterte zeigten schöne Pferde, schöne Wagen, schöne Frauen, aber dann preschte der Schlächtermeister Lehmann aus der Ackerstraße rücksichtslos mit seinem Harttraber dazwischen und der Rentier Schmudicke aus Treuenbrietzen rumpelte in einer Droschke zweiter Güte quer durch - kurz, wir hatten weder die Gesellschaft noch den Reichtum noch die auf beides stolzen bescheidenen Zuschauer dazu, wie man sie in anderen Ländern trifft.

Und doch haben wir etwas ähnliches, nur zu Fuß. Da ist erstens der Tauntzien-Bummel der Berliner Demivierges. Und da ist vor allem - der Oli-Korso. Nämlich auf dem Olivaer Platz in der Nähe des oberen Kurfürstendamms. Da regnet es Kinder aus dem ganzen feinen Westen. Die ganz Kleinen in luxuriösen Wägelchen, von "echt englischen" Nurses betreut. Die etwas größeren gruppenweise unter Kindergarten-Schwestern im Ringelreihen vereinigt. Allmittäglich hört man da "Dornröschen war ein Königskind, Königskind, Königskind" und die anderen bekannten deutschen Liedchen. Da kauert ein vierjähriges schwarzgelocktes Dornröschen, jeder Zoll eine Salome, in echter Chinchilla-Jacke. Da küßt sie ein fünfjähriger Prinz in Nappa-Leder, der vielleicht einmal ein kleiner Einstein oder ein großer Barmat wird. Für den Reiz der Kontraste hat diese reiche Gesellschaft offenbar Verständnis: die holdesten, blondesten, süßesten Geschöpfe amtieren da in privater Schwesterntracht. Und kurz vor dem Mittagbrot kommen die Eltern und holen die Kleinen ab. Das ist erst der eigentliche Korso. Da werden die Kinder des einen Elternpaares dem anderen vorexerziert. Da lernen schon die dreijährigen Mädchen das Schwänzeln und das Blickewerfen. Voll unendlichen Stolzes ziehen die Herrschaften dann zum benachbarten Kurfürstendamm ab oder lassen sich durch ihr Auto in die Westendvilla entführen.

Unsereins kennt für die Kinder weder Chinchilla-Pelze noch Nappa-Leder, aber anspruchsvoll sind wir freilich alle geworden. Als ich noch Schülerruderer war, hatten wir einmal im Jahre, im Sommer, ein Klubfest. Das wurde in einem Ausflugsort im Freien bei Kaffee und Kuchen gefeiert. Jetzt, nach einem guten Menschenalter, mache ich das Winter-Klubfest unserer Jungen mit. In einem vornehmen teuren Saal natürlich. Die Buben haben jeder die Flasche Wein vor sich und rauchen angesichts der Lehrer Zigaretten. Vorsorglich habe ich unserem Jüngsten bei meinem späten Erscheinen ein paar belegte Butterbrote mitgebracht, da er doch hungrig werden muß, wenn er von 7 bis 1 Uhr unentwegt tanzt; und so viel Taschengeld hat er nicht, um sich im Künstlerhaus in der Bellevuestraße ein Abendbrot auftischen zu lassen. Aber da sieht er mich flehend an und bittet, ich solle das Paket wegstecken:

"Was soll Inge von mir denken, wenn ich hier Stullen fresse ?"
26. März 1925 (Donnerstag)


29

Wege zu Kraft und Schönheit - Die erste Präsidialwahl - Jugendweihe der Arbeiterschaft - Für Walter Flex - Leinert und Hindenburg - Ein ehedem Regierender im Elend - "Tausend süße Beinchen" - Erika Gläßner auf "Heimlicher Brautfahrt" - Rudolf Steiners Ende

Das wäre also auch überstanden: wieder ein Wahlsonntag in Berlin, diesmal für den neuen Reichspräsidenten. Auf der Mittelpromenade der Tauentzienstraße stehen den ganzen Nachmittag über viele, ach, so viele Damen in dunkler Kleidung, denen man es ansieht, daß sie den Gatten oder die Söhne im Kriege verloren haben. Wenn sie ein Wahlauto mit schwarzweißroten Fahnen vorüberfahren sehen, winken sie ihm mit ihrem Taschentuch in freudiger Erregung zu und führen es gleich darauf an die Augen. Sie warten alle sehnsüchtig auf das große Wunder.

Das kommt noch nicht. Am selben Nachmittag sitzen viele Leute in dem prachtvollen Film "Wege zu Kraft und Schönheit", der uns Sport und Spiel und Tanz in tausend Variationen zeigt: den norwegischen Kronprinzen auf Schneeschuhen, Niddy Impekoven als Pinner-Puppe, Lloyd George beim Golfspiel, Gerhart Hauptmann als Schwimmer in der Adria, dann gemeißelte Körper junger Männer, ideale Gestalten junger Frauen in der Bewegung, Klassisches und Modernes, das im Maschinenzeitalter trotz allem wiedererstandene Hellas in seiner Schönheit; und als auf der Leinewand eine Abteilung Reichswehrsoldaten, nicht einmal in Uniform, sondern im Sportdreß, aber unter den Klängen des Hohenfriedbergers in das Stadion einzieht, da - zischen und pfeifen einzelne Gruppen von Proleten. Und in derselben Zeit fährt ein kommunistisches Lastauto durch die Hasenheide und schleift eine schwarzweißrote Fahne im Schmutz hinterher. Dafür beziehen wiederum rund 400 Kommunisten in Köpenick von knapp 150 Nationalen feste Senge. So gibt es allerhand bunte Bilder, aber es ist doch alles verhältnismäßig ruhig ausgegangen - und das große Wunder ausgeblieben. Die Demokraten sind wieder ein paar Treppenstufen weiter heruntergekollert; ihre Reklame steht in umgekehrtem Verhältnis zu ihren Erfolgen. Sonst ist im wesentlichen der alte Heerbann der Parteien befehlsgemäß für den jeweilig proklamierten Kandidaten angetreten. Die Sozialdemokraten haben dabei die Verluste, die ihnen bei denkenden Genossen die Schieberaffären eingebracht haben, aus dem stark leckenden Reservoir des Kommunismus leidlich wieder ausgleichen können. Vielleicht wäre das große Wunder Wahrheit geworden, wenn man einen Mann wie Hindenburg aufgestellt hätte, was für den zweiten Wahlgang immer noch möglich ist. Fürs erste suchte man einen, der die wenigsten Bedenken gegen sich, nicht die größten Leistungen hinter sich hat. Wir müssen also in unserer Kulturgeschichte notieren: auch 1925 immer noch Parlamentarier-Schachermachei.

In dem lauten Getriebe an diesem Sonntag Judica fehlen aber auch nicht die stillen Ruhepunkte. Es gibt Straßen, in denen keine Plakate schreien, keine Flugblätter flattern. Aber feiertägliche Leute mit strahlenden Gesichtern schauen auf Buben, deren Haar mit Wasser oder Pomade gestrählt ist, hernieder, oder auf Mädel, denen zum ersten Male die Frisur getollt ist, beide mit dem Sträußchen an der Brust. Es sind Konfirmanden. Aber vielen von ihnen fehlt das übliche Gesangbuch in den Händen: sie gehen nicht zur Kirche, sondern zur Partei.

Bei der "Jugendweihe der Arbeiterschaft Groß-Berlins" im Schillertheater versammeln sich diese armen Kinder, denen das Schönste genommen worden ist, die Erweckung. Und das Verständlichste, die Bibel. Und das Notwendigste, das Beten. Auf der Bühne steht ein Junge in Wandertracht vor einer großen blutroten Fahne, flankiert von zwei Mädchen in Dirndlkostüm; diesen beiden wird während der langen Feier, namentlich während des Seichs eines sozialdemokratischen Lehrers, übel und sie verschwinden. Sie haben gerade noch gehört, wer Fritz Ebert gewesen ist, nämlich - "der Lichtsucher, der Bahnbrecher, der Wahrheitskünder der Welt!" Es ist die alte Geschichte. Wenn man den lieben Gott abschafft, hat man auch bald das goldene Kalb, um das man tanzt; Gottesdienst wird von Götzendienst abgelöst. Auch mir wird beinahe übel, wenn ich die abgekauten Redensarten von dem neuen März, dem neuen Menschheitsfrühling draußen in der Welt höre, von dem Entwicklungsgedanken, von der durch finstere Mächte dem Volke vorenthaltenen Erkenntnis und schließlich von dem Kampf gegen die kapitalistisch-unbegrenzte Profitwirtschaft. Musik, Gesang, Deklamation. "O Jotte, is det scheen!", schluchzt eine alte Frau neben mir, die sonst nichts kapiert hat, ebenso wenig wie die Kinder. Ein paar verwehte Sätze haften. "Nicht soll uns mehr gewaltsam der schwarze Feind die Hände falten."   "Nicht jenseits winkt ein Paradies."   "Du selber, Menschenkind, du sollst dein Gott, dein Heiland werden."   Arme Kinder, arme Kinder.

Ich glaube, daß nur aus der Jugend selber heraus die Heilung kommen kann. Es gibt in Berlin schon Tausende von Arbeiterkindern, die, im Bismarckbund gesammelt, nicht nur für die alte schwarzweißrote Fahne (einer hat für sie im vorigen Jahre sein Leben gelassen) eintreten, sondern auch voll Ehrfurcht an dem Glauben der Väter hängen. Und dann die Scharen im Alt-Wandervogel. Manchmal in den letzten Jahren schien es uns, als seien sie äußerlich ruppig und innerlich zerfahren geworden, aber es scheint, daß der Most sich nun gesetzt hat. Die lange Mähne fällt. Die Jungen sieht man in sauberer Lettow-Bluse, die Mädchen in ordentlichen Strümpfen. Die vage Naturschwärmerei ist bewußtem Deutschtum gewichen. Und Führer dieser neuen Jugend ist noch nach seinem Tode unumstritten Walter Flex geworden, dessen "Wanderer zwischen zwei Welten" heute von dem Jungvolk wieder so zerlesen wird, wie einst Werthers Leiden; und die waren nicht so erquickend gesund. Drüben in der Ostsee auf der Insel Oesel, dort, wo er fiel, ist Flex begraben. Ein jetzt morsches Holzkreuz steht auf dem Hügel, den die paar verarmten Deutschbalten der Gegend regelmäßig mit Blumen schmücken. Ein dauerhaftes Kreuz aus Eisen soll hin. Dafür sammelt jetzt der Alt-Wandervogel und veranstaltet dafür Aufführungen. Für den Vater und zwei andere gefallene Brüder hat der einzige Überlebende der Familie schon Grabmäler gesetzt und das Letzte dafür hergegeben. Auch ihn hat die Papiermarkseuche alles Ersparten beraubt; da müssen sich helfende Hände regen.

Unter diesem Elend, das im November 1918 begann und im November 1923 den völligen Niederbruch brachte, haben wir ja alle gelitten. Wir alle sind Inflationsverlierer. Inflationsgewinnler waren nur die wenigen Spekulanten, denen die Sozialdemokratie Becken und Handtuch hielt. Oder die Futterkrippler selbst. Noch heute bekommt Herr Leinert-Hannover als hinausgetaner Oberbürgermeister eine mehr als doppelt so hohe Pension wie Hindenburg. Genosse Leinert hat dabei nicht etwa "auf Bürgermeister gelernt", sondern sich die Sache erheblich leichter gemacht. Damals, im November 1918, kam er zum Rathaus und verlangte, daß man ihn binnen 10 Minuten zum Oberbürgermeister mache, - sonst würden seine Genossen es mit Handgranaten besorgen. Sie haben noch manches andere "besorgt". Darunter in fabelhafter Fixigkeit die Ausraubung auch jener Fürsten, die nur Wohltäter ihres Landes gewesen waren.

Also Herr Leinert hat nach wie vor genug, um selbst seinen erheblichen Bedarf an Alkohol zu befriedigen. Herr Scheidemann lebt nicht schlechter. Die Hörsing und Richter brauchen sich nichts abgehen zu lassen. Herr Noske gönnt sich Engadin- und Madeira-Reisen.

Derweil lebt eine demnächst Achtzigjährige, noch als Greisin charmant und schön, in meiner Väter alten Heimat, im Schwarzburgischen, in bitterer Not: die geborene Prinzessin Marie von Altenburg. Als sie von einer schweren Grippe nicht recht genesen wollte, verordnete ihr der Arzt ein Glas Portwein täglich. Woher sollte sie das bezahlen ? Sie mußte einen Verwandten aus dem herzoglichen Hause Anhalt bitten, daß er ihr eine Flasche schenken möge. Und die 65jährige Prinzessin Thekla, die Schwester des Fürsten von Schwarzburg, fristet ihre Tage von einer laufenden Unterstützung, die die Königin von Holland ihr zukommen läßt. Ist das nicht, man verzeihe mir den Unmut, eine Affenschande für das Land Thüringen ? Der Fürst selbst, 73 Jahre alt, schwer nervenleidend, hat am 22. November 1918, während die rote Fahne über seinem Dach wehte, ein "Gesetz" - dazu war er gar nicht mehr befugt - unterschreiben müssen, wonach sein ganzer sehr umfangreicher Grundbesitz, verfassungsgemäß als Privateigentum anerkannt, Wert über 100 Millionen Goldmark, an den Staat fiele, der ihm dafür eine Lebensrente von 360 000 Papiermark jährlich aussetzte. Das waren zuletzt nicht einmal Pfennige mehr. Dann griffen die Gerichte, die angerufen werden mußten, endlich ein, dem Fürsten wurden vor anderthalb Jahren annähernd 4000 Goldmark monatlich bewilligt. Aber davon muß er alle seine alten Angestellten bezahlen. Von dem Gelde leben siebzehn - siebzehn - Familien und sechs Unverheiratete. Sie leben, nun ja. Wie, das weiß man, wenn man hört, wie sorgenvoller Überlegung es bei dem alten Fürsten Günther von Schwarzburg bedarf, ehe er sich ein Paar Stiefel neu besohlen läßt. Natürlich ist das abgedrungene "Gesetz" vom 22.November 1918 angefochten. Vom Gericht ist in Teilurteilen dieser Raub bereits als ungültig erklärt worden, sicherlich würde auch das Land Thüringen sämtliche Prozesse genau so verlieren, wie sie der preußische Fiskus, vertreten durch den Sozialdemokraten Lüdemann, gegen den Prinzen Friedrich Leopold von Preußen verloren hat. Will man sich die Kosten machen ? Will man den Dreiundsiebzigjährigen, dessen alle Schwarzburger nur mit Ehrerbietung gedenken, derweil zum Objekt amerikanischer Wohltätigkeit machen ? Die deutschen Fürsten, an der Spitze Wilhelm II., haben Vergleichsverhandlungen immer in vornehmster Art geführt und stets den Staat auch nach der Revolution in ihren Vorschlägen freigebig bedacht. Nun schlägt der Vertreter des Fürsten von Schwarzburg vor, man solle sich auf beiden Seiten die ungeheuren Kosten ersparen und ein einmaliges Schiedsgerichtsurteil durch das Reichsgericht erbitten. Das sollten sich Regierung und Landtag von Thüringen nicht zweimal sagen lassen. Man macht sich ja sonst lächerlich in Europa.

Der neue Staat hat viel gutzumachen von dem, was er im ersten Delirium der Revolution verbrochen hat. Die Genesung der Volksseele steht auf einem anderen Blatt, die ist nicht durch irgendeine Verordnung zu erreichen. Aber wie es die bekannte "Selbstreinigung der Flüsse" gibt, in denen gewisse Sinkstoffe zu Boden gehen, andere Krankheitskeime an der Oberfläche von der Sonne getötet werden, so gibt es auch eine "Selbstreinigung der Völker" im Flusse der Zeit. Ganz leise Anzeichen dafür gibt es schon heute bei uns. Sogar in dem vielverketzerten Theaterleben. Zwar hat das Metropol, das auf die Reisekundschaft aus dem Reiche eingestellt ist, mit "Tausend süße Beinchen" schon sein stehendes Sommerstück installiert, in dem die Dürftigkeit der Bekleidung über die Dürftigkeit des Textes und der Musik hinwegtrösten sollen. Aber dafür, o Wunder über Wunder, kann im Theater in der Königgrätzer Straße, in dem wir schon im Winter den harmlos-fröhlichen Schwank "Victoria" sahen, jetzt ein richtig schalkhaftes deutsches Lustspiel, die "Heimliche Brautfahrt" von Leo Lenz, uns das Herz erfreuen. Ein Stück ohne Zote, ohne Wortwitz, ohne Bettszene, voll von drolliger Situationskomik, in seiner Art fast so herzhaft deutsch, wie Lessings "Minna". Dabei ein Stück, man denke, aus der galanten Zeit August des Starken, ein Stück vom Hofe zweier Duodezfürstentümer, mit einer Prinzessin in Hosenrolle! Es ist ganz köstlich, wie sie, das "Satans-Mannweib", das der Nachbarprinz nicht leiden mag, durch hundert reizende Spitzbübereien in drei verschiedenen Rollen diesen Prinzen von seiner polnischen Gräfin zu sich selber bekehrt. Freilich, Erika Gläßner spielt das. Nur ein Berliner kann verstehen, was Erika Gläßner ihm ist: der Inbegriff alles verführerisch Weiblichen, was die Berliner Bühnen überhaupt aufzuweisen haben. Im Grunde ist das hier keine Erika-Gläßner-Rolle, wie der Berliner sie gewohnt ist, keine Rolle der Art, von der Erika Gläßnre selber augenzwinkernd zu sagen pflegt: "Da bin ich von 8 bis 10 Uhr abends ein bißchen unanständig, aber die ganze übrige Zeit, zu Hause, furchtbar solide!" Erika Gläßner unterstreicht freilich auch nie die Unanständigkeit, sondern veralbert sie, amüsiert sich über sie. Fremde Besucher mögen finden, sie spiele doch nur stets, auch als Prinzessin, die leicht angeschwipste Barmaid. Aber da kriegt man es mit den Berlinern zu tun. Die sind auf Erika Gläßner versessen. Und wenn diese vollsaftige Frau in einem so vergnüglichen, sauberen, appetitlichen Lustspiel auftritt, wie es die "Heimliche Brautfahrt" ist, so können wir allesamt zufrieden sein.

Es ist besser, wenn unsere jungen Leute sich da die gute Laune holen, als wenn sie bei dem "Propheten" Steiner, dessen soeben gemeldeter Tod seine Anhänger erschüttert, sich der sogenannten sexuellen Magie ergeben. Man hat schon schnell vergessen, was dieser "Anthroposoph" in Berlin und Stuttgart und Basel und anderswo angerichtet hat; vergessen, wie die zwei Schwestern Brand, hochbegabte junge Lehrerinnen, die auch "esoterische Ätherkinder" bekommen sollten, endeten: durch Selbstmord und im Irrenhause. Es ist imm er dieselbe Geschichte bei den falschen Propheten, die sich auf das Kurieren allen Wehs und Achs aus dem einen Punkte verstehen, wie Mephisto es empfiehlt. Nebenbei war Steiner, was bei seiner Herkunft verständlich ist, ein glänzender Geschäftsmann. Nur auf Kerngesunde konnte er keinen Einfluß gewinnen, und es ist in diesem Zusammenhange besonders erfreulich, festzustellen, daß in Berlin sein Stern schon seit Jahr und Tag im Sinken war.
2. April 1925(Donnerstag)


30

Die neugebackenen Primaner - Immer Schlagsahne - "Dick wird Mode" - Die schöne Frau in der Hotelhalle - Zur Geschichte der Seidenstrümpfe - Wedekinds "Franziska" - Mondscheinpartie auf der Oberspree

Unsere beiden neugebackenen Primaner - Unterprimaner darf man nicht sagen, das wäre im höchsten Grade taktlos - wollten einmal, ach, einmal nur noch ein Tanzfest mitmachen. Es gibt ja so viele Schülerinnen-Ruderklubs, deren Gründungstag in den Frühling fällt. Aber wir sind hart geblieben. Schluß mit der Saison! Tummelt Euch lieber im Freien! Eine Belohnung für die glatte Versetzung der beiden, von denen der eine noch nicht fünfzehn Jahre alt ist, soll es freilich geben. "Spielt mal den Kavalier in der Konditorei. der eine von Euch führt die Mutter aus, der andere die Schwester, hier ist reichlich Geld dafür, haltet Eure Damen ordentlich frei!" Da spitzen sie die Ohren, da glänzen ihnen die Augen. Mit dem Vater bei einer solchen besonderen Gelegenheit auszugehen, ist ja recht lohnend, aber wenn der den Kellner ruft und sagt: "Geben Sie den Jungens noch einmal Schlagsahne!", dann schmeckt die schönste Schlagsahne bitter, denn man ist doch nicht mehr Junge, sondern Primaner, also Herr, allenfalls junger Herr, und hat sich neulich vom Taschengeld für 50 Pfennig sogar ein Paar verpönte bunte Socken für die Halbschuhe gekauft; allerdings hatten die Socken schon am ersten Abend große Löcher. Nun sitzen die "Herren" also in ihrer Sonntagskluft oben bei Kempinsky - und der Kellner wartet minutenlang vergeblich auf die Bestellung. Denn beide Primaner rechnen; rechnen, was man am Spiel der Lippen sieht, krampfhaft aus, was alles für Herrlichkeiten sie fordern müssen, damit auf jeden Fall das ganze Geld aufgeht und man nicht am Ende zu Hause noch ein paar Groschen abliefern muß. Nun schlampampt die kleine Gesellschaft. Die Rechnung ist doch nicht aufgegangen. Nach der letzten Schlagsahne und dem letzten Mohrenkopf blieb doch noch etwas nach, und die Karte wird erneut studiert, ob noch etwas "Billiges" da sei. Da: es ist entdeckt. "Mensch, trink noch einen Kornschnaps!", sagt tríumphierend der Jüngere zum Älteren.

Alle Konditoreien und Kaffeehäuser sind voll von kleineren und größeren Gruppen schleckender Leute. Selbst alte Herren sieht man vor ihrer Portion Schlagsahne. Sie wird schon ohne weiteres zum Kuchen gereicht. Alles entschädigt sich jetzt für die Entbehrungen der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre. Nichts hat so viel Freude erregt, als die zunächst nichst als Aprilscherz erkannte Mitteilung eines Bilderblattes, daß Dick wieder Mode werde. Das ist natürlich nicht wahr. Auch die neuen seidenen Complets, unter denen man erst recht so gut wie nichts anhaben darf, betonen nach wie vor die schlanke Linie, - aber bald wird man aus der Linie herausplatzen. Schon keuchen die umfangreichsten Damen wie Kleinbahnlokomotiven heran: "Pf . . . pf . . . Kellner, Schokolade bitte und . . . pf . . . pf . . . einmal Schlagsahne!"

Es ist schon fast wieder so, daß die Ästhetik ihr Haupt verhüllen muß. Ich mag gar nicht mehr in Konditoreien und Kaffeehäuser gehen, ich nehme meinen Fünf-Uhr-Tee, wenn keine sympathische Dame ihn mir bei sich daheim kredenzt, am liebsten nur noch in der Halle eines Hotels: Exzelsior, Fürstenhof, Esplanade, Adlon, Bristol, Eden. Da ist es teurer, aber gut; teurer, aber nicht überfüllt; teurer, aber mitunter sehr interessant. Besonders, wenn man vorzeitig kommt, die Klubsessel erst vereinzelt besetzt sind. Hier und da von einer undefinierbaren Berlinerin, die eine Zigarette nach der anderen raucht und offenbar auf den großen Coup wartet; meist von einzelnen Herren, die ein Mietshaus oder dreißig Dutzend Kisten Stahlfeilen oder einen russischen Prätendenten auf den Zarenthron "an der Hand haben" oder Obermann in Parterreakrobatik machen oder Maschinenpistolen nach Kurdistan verschieben; und sehr selten - von einer schönen Frau.

Wenn aber einmal die schöne Frau, natürlich eine Frau von Welt, auf ihren Platz zuschreitet, stocken sofort alle Geschäfte, alle Gespräche. Im Nu hat jedermann ihren Pelz, ihr Ohrgehänge, ihren Wadenumfang abtaxiert. Der Zarenmacher hat mit Befriedigung festgestellt, daß sie wohl schon ihre 36 oder 38 Jahre alt sei, daß auch er also wohl noch Chancen habe. Er lächelt diskret hinüber. "Ekelhafter Patron!", sagt sich der Stahlfeilenmann und wagt eine offene Attacke, indem er den Boy heranwinkt und ihn sehr laut fragt: "Können Sie mir ein elegantes Privatauto besorgen ? Will mal bei dem schönen Wetter nach Wannsee fahren. Kosten spielen keine Rolle!" Der Obermann aus der Scala-Truppe aber sagt gar nichts, sondern starrt nur versunken auf die seidenen Strümpfe der schönen Frau. Man kann sie, das gehört so zu der Nonchalance der Hotelhallen, bis zu dem Strumpfband hinauf sehen. Sie gleißen wie eine frischgehäutete Abgottschlange. Allen Umsitzenden, soweit sie von Kulturgeschichte eine Ahnung haben sollten, ist es klar, warum Maria Stuart von Königin Elisabeth so gehaßt wurde: Elisabeth trug noch genähte Strümpfe aus dickem Taffet, deren Naht sich mißgestaltig von der Ferse bis zur Kniekehle kringelte, während die schöne Schottin als erste die ihr vom König von Frankreich spendierten gestrickten und ganz zarten Seidenstrümpfe anzuziehen beliebte. Der Mann mit dem Haus am Kurfürstendamm läßt seinen falschen Brillantring spielen. Ganz im Hintergrunde stehen zwei weitere Herren auf und pürschen sich näher heran; einer von ihnen deutet wie achtlos auf den Titel einer Zeitung, die er in der Hand hält. Da kommt zur Drehtür ein zerknitterter, kleiner, fettiger Kerl herein und steuert auf die schöne Frau zu. "Oh, Beppo", sagt sie, "Gott sei Dank, daß Du da bist." Und alles rundum versinkt wieder in Lethargie, in plätscherndes Gespräch, in Alltag und Geschäft.

Solche kleinen Beobachtungen pflegte mit glimmenden Augen Frank Wedekind überall zu machen, wo er sich befand, und dann war es für ihn wieder einmal so klar wie nur je, daß ausschließlich das Geschlecht uns regiere. Er suchte eigentlich nur nach dieser Bestätigung. Es gab nichts anderes für ihn. Er litt wie Strindberg an dem Weibe, er hielt ein jedes für Lulu und Pandora, und wenn man auf ihn einredete, ihm diesen Wahn auszureden versuchte, dann wurde sein glattes Komödiantengesicht mit den sonderbaren Gruben an den Schläfen von faunischem Grinsen überzuckt. Im Goldenen Hirschen in München, wo mit ihm Halbe und andere Dichter Jungdeutschlands thronten, hat es darob manchen Meinungsstreit gegeben. Immer war doch jemand da, der noch rot werden konnte und an die Eine dachte, die Eine, die Feine, die Reine. Oder an Mutter und Schwester; oder an die Königin Luise; oder an irgend etwas Deutsches und Hehres. Mit allen diesen Dingen hatte Wedekind endgültig abgeschlossen, weil er selber so am Angelhaken des Geschlechts zappelte und sich immer wieder die Kiemen daran zerriß. Mich hat's überschauert, wenn ich bei den wenigen Gelegenheiten, wo ich diesem Zerrissenen gegenüber saß, es erleben mußte, wie er sich stets durch einen Kopfsprung in die Schamlosigkeit dem Schmerz zu entziehen versuchte. Nun hat man, lange nach seinem Tode, sein wirrstes und niederträchtigstes Stück, seine "Franziska", nach Berlin gebracht und spielt es im Theater in der Königgrätzer Straße fast noch gemeiner, als es ist. Schon die Szenerie - eine schiefe Ebene, auf der Stühle nur stehen können, wenn ihnen zwei Beine zur Hälfte abgesägt sind, eine Wendeltreppe, ein ganz flacher Aufgang - ist ein Hohngelächter. Vielleicht gibt es so etwas allenfalls in irgendeinem Zirkus hinter den Kulissen. In einem Lattenverschlag sitzt eine Jazzband, die zu allem ihre unsinnige Musik macht. Dazu der Peitschenknall der abgerissenen Worte Wedekinds. Dazu als Inkarnation alles dessen, was die Bestie im Weibe ist, - Tilla Durieux. Sie ist ein fabelhaftes Frauenzimmer, sie hat eine darstellerische Technik, die vor einigen Jahren noch hinreißend war, aber heute ist diese Technik ganz nackt. Kann diese Frau noch irgend jemand eine Franziska von zwanzig Jahren vortäuschen ? Sie hat Hände wie ein Holzhacker; darauf starrende Adern wie Baumäste; in ihren Stöckelschuhen Bocksfüße und im Gesicht die unschminkbaren Runen eines zerstörenden langen Komödiantendaseins. Daß sie während des Krieges in der Schweiz französische Chansons gesungen hat, will ich ihr ebensowenig ankreiden, wie die Sünden ihres Mannes, des Millionärs und Salonkommunisten Kassierer [sic! Anm. d. Herausg.]. Aber die Geschmacklosigkeit, daß sie eine solche Rolle wie die der Franziska spielt, ist nicht zu sühnen und fordert die Grobheit heraus. Unsere guten Berliner sitzen in dem Stück übrigens mit offenen Mäulern da und verstehen weder Sinn noch Worte, allenfalls den stereotypen Satz, den Wedekind einen der Statisten immer wieder sagen läßt: "Halt's Maul, alte Sau!" Womit übrigens natürlich nicht die junge Franziska gemeint ist, die als eine Art weiblichen Fausts wirken soll und doch nur karrikaturistisch wirkt. Also die guten Berliner sitzen da und genießen nur das Drum und Dran, eine Art Tiller-Girls, die mit nackten Beinen auf der Bühne langsam sich umeinander winden, oder die eine Tänzerin, die in völliger Hüllenlosigkeit erscheint und für diese plädiert. Wedekind hat sich viel im Zirkus herumgetrieben, besonders in Paris, hat mit der schönen Ella, der Tochter des weiland berühmten ersten "dummen Augusts", Tom Belling, ein Techtelmechtel gehabt, ist von dem Variétékünstler Rudinoff in die Artistenwelt eingeführt worden und hat sie bis zur Hefe und bis zum Delirium genossen: aus dieser exzentrischen Welt, die in Wirklichkeit viel solider ist, als der Hereingeschneite es glaubt, nimmt er seine Bilder, seine Situationen, seinen Kitzel und seinen Schmerz. Aber er hat nicht die Kraft, "ein Gebild zu gestalten". Er verhöhnt in seiner Franziska alles moralische Philistertum, und doch folgt ihm niemand, überzeugt er niemand. Halluzinationen geistern vorüber. Die Erinnerung an ein Biest bleibt noch eine Weile. Der Rest ist gespreiztes Getue eines aschfahlen Katzenjämmerlings, der kurz vor dem heulenden Elend noch große Worte macht.

Da lobe ich mir die primitiven, unverbildeten, etwas tolpatschigen jungen Berliner, die statt in solchen Irrsinn zu gehen, lieber die herkömmliche Mondscheinpartie machen, zu der der Frühling ruft. Es ist kein Mondschein in breiten Alleen und über dichten Hecken; es ist auch kein Mond, der onkelhaft über spitzgiebelige alte Dächer lugt. Alles das gibt es ja kaum in Berlin. Nein, hier ist Natur ja eigentlich nur auf den weiten Wasserflächen zu finden. Also Sonnabend abends um 8 wackelt der kleine Dampfer "Wintermärchen" von der Jannowitzbrücke los und steuert gen Osten, bis er nach langer Fahrt hinter Köpenick anlegt, in "Schmetterlingshorst", was keine Ortschaft, sondern ein Ausflugsziel mit Wirtschaft und Tanzsaal ist. Auf dem Dampfer, in der durchgehenden Messe unter Deck, hat man bei Bier und warmen Würstchen die nötigen Bekanntschaften gemacht, wenn man sich nicht schon vorher "eingedeckt" hatte; dann genießen die Pärchen wohl auch einmal oben an Deck den Mondschein über dem Wasserspiegel, werden sentimental und halten den beginnenden Schnupfen für Liebe. Unten wird man derweil immer aufgeräumter. Man freut sich - es sind ja alles brave "kleine Leute" - der "fürstlichen" Verpflegung und ist begeistert, wenn aus der neuen Brennert-Zille-Operette einer so recht realistisch vorträgt:

Zwee Jahre saß ick wieda in de Plötze, -
Ach detse ickse nie jesehen hättse!
Zwee Jahre Einzelhaft uff Flügel C -
Un täglich blauen Heinrich, na nu nee!

Das ist fast so ruppig wie bei Wedekind, aber es ist wenigstens verständlicher; und natürlich weiß man, daß der Sänger in Wirklichkeit sehr ehrenwerter Verkäufer in einem Drogengeschäft ist, eine gute Partie, nicht vorbestraft, gesund und ein geborener treuer Ehegatte. Auch die Mädelchen haben durchaus so etwas Solides, wenn sie auch arg sehnsüchtig sind und den Mondschein so lieben und ein bißchen flatterhaft angezogen sind; hier ist Gott Amor häufig genug Lieferant für das Standesamt. In Schmetterlingshorst wird dann unentwegt getanzt, bis früh um Fünfe, wo der brave Wackeldampfer wieder zu rumpeln anfängt und dann im Morgensonnenschein in Berlin seine Menschenfracht ablädt. Es ist der große Traum unserer Minna, in diesem Jahre wieder solch eine Partie zu erleben. "Wenn ick bloß nich Pech habe un wieda eenen Verheirateten krieje wie vorichtes Mal!" Wir trösten sie. Nein, diesmal kriege sie sicher ihren Zukünftigen. Und selbstverständlich nähmen wir uns eine Aushilfe für Sonntag. Nach einer Berliner Mondscheinpartie ist Durchschlafenlassen natürlich Ehrensache. Wir wissen, was sich für eine anständige Herrschaft schickt.
8. April 1925 (Mittwoch)



Glossen 25 - 27

Jahresinhalt

Glossen 31 - 33

© Karlheinz Everts