"Rumpelstilzchen"

Haste Worte?
(Jahrgangsband 1924/25)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1925

Glossen 25 - 27
5. bis 19. März 1925


25

Im März 1888 - Eberts Tod und das gleichgültige Berlin - Pressemache - Hunderttausende von Schaulustigen - Wilhelm oder Wilhelmine? - To Rhama - Die stärkste Frau der Welt - Frau Minister und das Auto

Ein eisiger Märztag - damals im Jahre 1888 - war es. Wir Buben, außer mir noch zwei reichsdeutsche, trieben uns im Wallgraben der alten Stadt herum, dicht am deutschen Konsulat. Da, was war das ? Auf dem Turm des Konsulats ging die schwarzweißrote Flagge hoch und - blieb halbstocks hängen . . .

Auf der Promenade am Wall entlang ging, stolperte, lief ein Mann. So hatte ich ihn noch nie gedehen. Ich stürmte hinauf, es war mein Vater, der nach Hause eilte. Die hellen Tränen liefen ihm in den grauen Bart. "Der Kaiser ist gestorben!" Von neuem kamen ihm die Tränen, wortlos gingen wir weiter, setzten uns dazwischen wie von Angst gepeitscht in Trab. Bereundete Ausländer begegneten uns, hielten uns auf, drückten uns die Hand. Sie wußten es auch schon. Mit Mühe rissen wir uns immer wieder los und stürmten weiter. Es war, als sei die Sonne erloschen, als rase der Weltuntergang hinter uns drein.

"Der Kaiser ist gestorben!"

Noch nie war die große gotische Kirche so überfüllt gewesen, wie am Freitag darauf bei der Trauerfeier. In der Mitte das Häuflein Reichsdeutscher. Rundum wohl an die Tausend Fremder, auch sie in ungeheuchelter tiefster Ergriffenheit. Das ist das erschütterndste Erlebnis meiner Kindheit gewesen.

Jahrzehnte sind darüber hinweggebraust. Nun erlebe ich zum ersten Male den Tod eines Präsidenten der deutschen Republik. Und - noch nie habe ich eine bei dergleichen so teilnahmslose Stadt gesehen, wie dieses Berlin am Sonnabend der vergangenen Woche. Die Offiziellen flaggen halbstock. Die Privaten geht es nichts an. Nur hie und da hängt aus einem Fenster ein schwarzrotgelbes Fähnchen, wo irgendein Halboffizieller wohnt, ein sozialdemokratischer Krankenkassenkassierer oder ein Reichsbannerhäuptling. Der Vorwärts schäumt: man solle allen den Hausbesitzern, die nicht geflaggt hätten, behördlich die Flaggenstangen von den Häusern reißen, schreibt er. Vor den Aushängekästen der Zeitungen ein teilnahmsloses Publikum; nur wenige kühle Bemerkungen. Das war zu erwarten, sagt der eine und geht weiter. Ob es wahr ist, daß er sich vergiftet hat, fragt blöde ein zweiter. Eine Proletarierkrankheit war es nicht, sagt ein dritter, ein Arbeiter. Tja, sterben müssen wir alle, erklärt achselzuckend eine Marktfrau.

Ein Parteimann ist gestorben, einer der Großen - seiner Partei. Nicht einmal unumstrittener Führer etwa des deutschen Proletariats. Man darf nicht vergessen, daß mehr als ein Drittel der roten Arbeiterschaft diesen Fritz Ebert gehaßt hat wie nur je einen Gewalthaber der alten Zeit. In fünfhundert Jahren der Zollernherrschaft ist nicht so viel Arbeiterblut vergossen worden wie in den fünf Jahren des Ebertpräsidiums. Nie war unter dem Kaiserreich die Meinungsfreiheit so geknebelt.

Da setzt aber die Mache ein. In würdelos byzantinischer Verhimmelung des Toten, an dem nicht nur Deutschland, nein, Europa, nein, die Welt ihren Größten verloren habe, wetteifern die Zeitungen des Novemberblocks, die in Berlin denen im Reiche um ungezählte Längen voran. Der Suggestion erliegen auch Blätter, auch Männer, - was sage ich, Männer, nein, alte Waschweiber - der Rechten, die ums Himmels willen sich nicht nachsagen lassen möchten, daß sie "angesichts des Todes" aufrecht geblieben seien. Die Heuchelei wird zur Lawine. Zum Schluß als ungeheure Reklame, als vorbereitende Wahlmache für den 29. März der Pomp des Leichenbegängnisses, die große Schau für das Berliner werktätige Volk.

Seit mindestens zwölf Jahren hat der ausgehungerte Berliner, der ein Anrecht darauf zu haben glaubt, kein offizielles Gepränge mehr gesehen. Es sei denn den berühmten Aufmarsch der Ehrenkompagnie der Reichswehr vor der französischen Botschaft, der Kompagnie, die unter Führung des Douaumontstürmers zum Salutieren der französischen Trikolore gezwungen wurde. Wir haben keine Parade des Gardekorps mehr, keine Paroleausgabe am Neujahrstage, keinen Hochzeitseinzug eines Zollernprinzen, keine fremden Monarchenbesuche. Auch Straßendemonstrationen, die schließlich dem Gummiknüppel oder dem Karabiner weichen müssen, sind kein rechter Ersatz. Also die Schaulustigen hungern. Da ist nun endlich die Totenfeier für Fritz Ebert, die wirklich würdevoll und imposant von den Offiziellen unter Beratung durch den Reichskunstwart arrangiert worden ist. Daß die Republik ihren ersten Präsidenten - oder vielmehr seine Partei ihren Führer - so ehrt, dagegen läßt sich nichts sagen. So sind denn gut zweimalhunderttausend Menschen da, Hunderttausend parteiamtlich Kommandierte unter schwarzrotgelben und fast noch mehr unter roten Fahnen, Hunderttausend auch bloß Neugierige, aber kaum ein Trauernder. Nur die Verletzten und Gequetschten, die vom Schlachtfeld der Neugier heimgeschafft werden, haben Anlaß zur Klage. Auf etwa 1500 Meter Trauerkondukt rund 1000 solche Opfer; der Gummiknüttel saust, die Sanitäter rennen, alle verfügbaren Tragbahren sind dauernd besetzt; es war wirklich "eine schöne Leich", wie man zu sagen pflegt.

Nachdem die vereinigten Novemberparteiler es fertiggebracht haben, gewaltigere Hymnen in der Presse aufzuhäufen, als sie den gewaltigsten Herrschern aller Zeiten je erschollen sind, wollen sie auch noch etwas ganz besonderes herausschlagen. Der Großsiegelbewahrer des Hauses Ullstein erzählt es und Théodore Wolff vom Hause Mosse bestätigt es, daß der schönste Kranz am Katafalk Eberts - vom deutschen Kronprinz stamme; sie selber aber, so erklärten sie augenzwinkernd, würden es nicht bringen, denn sie wollten nicht "Reklame für den Herr von Öls machen. Außer den Vertretern der Linken in Deutschland sind auch die je einer Zeitung aus den verschiedenen fremden Ländern zur Trauerfeier in das Palais des Reichspräsidenten geladen; sie spitzen natürlich die Ohren und depeschieren die Nachricht vom Kranze des Kronprinzen brühwarm nach Hause. Sinnfälliger kann man es dem Auslande freilich nicht machen, daß die Republik in Deutschland sich durchgesetzt hätte, und die Augurn der Häuser Mosse und Ullstein lächeln verschmitzt und reiben sich die Hände. Keiner von ihnen hat den Kranz des Kronprinzen gesehen, nur einen allerdings sehr großen und schönen, auf dessen Schleife man die Kuchstaben "K.W." unter einer Krone entdecken konnte. Also dieses "K.W." soll Kronprinz Wilhelm heißen. Nein! Es ist der Kranz der Königin Wilhelmine von Holland. Alle Staatsoberhäupter, das verlangt nun mal die Etikette, pflegen am Sarge verstorbener anderer Staatsoberhäupter durch ihre Vertretungen Kränze niederlegen zu lassen. So hat es auch der deutsche Kaiser durch seinen Konsul tun lassen, wenn der Präsident einer Negerrepublik starb.

Aber von nun an ist die Legende sicher unausrottbar, der Kronprinz habe als Jaques Bonhomme seine Reverenz vor Fritz Ebert gemacht. Demselben Fritz Ebert, dessen berühmter Prozeß immer noch schwebt. Das Unmöglichste wird ja geglaubt, weil es so unzählig viel Weichmütige bei uns gibt.

Das Volk aber will sie nicht. Es hungert noch mehr als nach allem übrigen nach Männern. Es schaut sich nach ungebrochenen Charakteren um. Es seht sich nach starken Willensmenschen. Es hat die Kompromißler, es hat die Froschmolluskenbreinaturen satt. Es will Tatmenschen sehen.

Da muß es aber schon in den Sportpalast oder in das Variété.

Hier findet man noch fabelhafte Konzentration auf ein Ziel. Hier vollbringt der Wille noch Wunder. Freilich ist es manchmal der Wille eines schwer Hysterischen. Im Wintergarten heißt die große Sensation dieser Tage: To Rhama. Das soll hindostanisch "Der Bezwinger" heißen. Ich kann nicht hindostanisch, aber ich habe indische Fakire gesehen, für die ihr Leib ein Nichts und ihr Wille alles war, Fakire, die vor unserern Augen Dinge vollbrachten, "die nicht mehr Trick sein konnten, sondern schon in das Übersinnliche reichten". Der Mangobaum, der vor unseren Augen in wenigen Minuten aus dem Kern emporwächst. ist noch Trick. Die Geschichte von dem in die Luft geworfenen Tau, das bocksteif stehen bleibt, so daß der Fakir daran emporklettern kann, halte ich für ein Märchen; kein Inder konnte es mir vormachen, nur wußten sie alle davon zu erzählen. Wohl aber können sie kraft ihres Willens in das Nirwana schon hier eingehen, in das Jenseits von Lust und Schmerz. Und der geisterhaft bleiche To Rhama - kann es noch besser als sie. Der junge Mann, ein aus irgendeinem böhmischen Ghetto stammender neunundzwanzigjähriger Chemiker, Sohn eines kleinen Drogenhändlers, versetzt sich durch einen Willensruck in kataleptischen Zustand. Dann durchbohrt man ihm die Arme mit Hutnadeln, schlägt ihm Nägel durch die Hände oder nagelt ihm das Bein an ein Brett. Er spürt nichts. Es kommt kein Blut. Am Tage darauf verschwinden auch die roten Pünktchen der Einschlagstelle, es ist alles wieder in Ordnung. Dr. Karl Diem, der Olympier und Wissenschaftler im Reiche unseres Sports, hat auch schon gelegentlich sich mit Nadeln durch die Wangen gestochen, und andere Sportsleute haben es ohne Wimperzucken nachgemacht. Das ist auch Wille, Entschluß, Moment. Aber To Rhama läßt doch noch ganz anders mit sich umgehen.

Der jeweilig diensttuende Arzt, den die Charité wie allen großen Schaustätten auch dem Wintergarten allabendlich stellt, geht zu den Experimenten auf die Bühne. Sticht wohl auch selber, da der mitberufene "Herr aus dem Publikum" gewöhnlich den Angstschweiß kriegt, dem Herrn To Rhama - seinen wahren Namen kenne ich selber nicht - die Nadeln durch das Fleisch. Vorgestern wurde zwei Herren im Publikum beim Zusehen schlecht. Aber die Damen, die sich zu Suggestion und Autosuggestion immer hingezogen fühlen, sehen mit runden Augen hin und züngeln vor Erregung.

Eien ganz fabelhafte Variété-Nummer ist es, wenn To Rhama seinen Willen - anderen Geschöpfen aufzwingt. Solche Experimente an Menschen sind öffentlich in Deutschland nicht erlaubt. Aber man kann To Rhama beliebige Tiere bringen. Hagenbeck und der Zoo sind zuerst dazu erbötig gewesen. Eine 4½ Meter lange Riesenschlange wird hypnotisiert und liegt steif da. Ein Krokodil, das zuerst lebhaft mit dem gepanzerten Schwanze um sich schlägt, streckt sich und wird gläsern. Zwei gackernde Hühner werden willenlos gemacht und dem Krokodil an den Rachen gelegt: die Hühner regen sich nicht, das Krokodil schnappt nicht zu.

Der sehr geschäftsgewandte Impresario To Rhamas hat Wert darauf gelegt, daß ich seinen Schützling persönlich erprobte. Auf die Bühne im Wintergarten mag ich nicht. Seitdem ich mich im vorigen Jahr als "Herr aus dem Publikum" vor den Meinen im Metropol so blamiert habe, daß mir sämtliche Taschen geleert wurden, ohne daß ich etwas merkte, tue ich es nicht mehr. Aber nun kommen die beiden Herren zu uns, sind nach der Wintergarten-Vorstellung zu einer privaten Sitzung erschienen. Das junge Volk hat bis zehn getanzt und sich an kaltem Büfett gütlich getan, es sind auch noch ein paar ältere Gäste da. Meine Schwägerin, die Ärztin, weigert sich; sie sei, sagt sie, zu jeder Operation an einem Kranken bereit, aber einen Fakir pieke sie nicht. Also muß ich es schon selber tun. Wahrhaftig: es ist kein Trick, die Nadel, die zuerst an irgendeiner Sehne Widerstand findet und sich biegt, geht glatt durch, nachdem ich Mut gefaßt. Und nun das Wichtigste: das Experiment mit Mucki. Mucki ist unsere schwarze Hauskatze. Obwohl ich Mucki zuweilen höchsteigenhändig ihre Lieblingsspeise, ein Stückchen Räucherflunder gebe, ihr auch sonst sehr um den Bart gehe, ist sie doch ein wildes Tier. Ich habe häufig Kratzwunden. Einem Fremden würde ich nicht raten, sie anzufassen. Aber unter To Rhamas magnetischer Hand, die er nur einige Zentimeter entfernt über ihr hält, ist sie nach einer halben Minute starr geworden. Wir machen einen weiteren Versuch. Wir legen To Rhama einen dicken Wattebausch vor die Augen, verbinden ihm die Augen, stülpen ihm einen dichten Rucksack über, so daß er wirklich nichts sehen kann. Dann ziehen wir im Zickzack einen Kriedestrich über die Diele. Er schreitet genau den Strich ab und erzählt von jedem von uns, die wir inzwischen die Plätze gewechselt haben, wo wir sind und in welcher Haltung wir dasitzen, während er selber uns den Rücken kehrt und sein Impresario ins Nebenzimmer geschickt ist. Der König von Spanien hat sich das alles in San Sebastian einmal zeigen lassen, ausländische Ärztekongresse haben To Rhama geprüft; als Variété-Nummer für Deutschland ist der Mann aber so gut wie neu; außer in Berlin ist er, glaube ich, erst in drei Städten aufgetreten.

Während seines Zustandes rast sein Puls mit 220 bis 240 Schlägen in der Minute. In normaler Verfassung ist To Rhama ein stiller, in sich gekehrter Mensch, sehr schmerzempfindlich, fast scheu. Ein derartiges Phänomen habe ich noch nicht gesehen: und das Wintergarten-Publikum wird allabendlich von Grauen gepackt; - kommt aber immer wieder.

Ich will nur ruhig gestehen, daß auch ich das Gefühl hatte, man müsse sich von ihm erholen. Also habe ich hinter den Kulissen die Frau aufgesucht, die ihren Mann auf den Händen trägt.

Gelt, nun soll ich wohl ihre Adresse verraten ?

Ich denke nicht daran. Aber sie sagt, sie sei "die stärkste Frau der Welt" und mache es nicht, wie der äußerlich schwache To Rhama, mit Willens-Konzentration, sondern mit Muskeln. Sie hebt ihren Mann buchstäblich auf dem Handteller empor. Mit ihrem ältesten Jungen könnte sie es freilich kaum mehr. Der ist 16 Jahre alt, wiegt aber bei 1,86 Meter Länge 83 Kilo und ist eine Hoffnung unserer Boxerei. Frau Sandwina, wie sie sich mit ihrem Artistennamen nennt, stammt nicht aus Böhmen, sondern aus München, ist aber unterwegs im Wohnwagen in Essen an der Ruhr geboren. Schon im Alter von zwei Jahren machte sie Handstand auf dem Unterarm ihres Vaters. Die Brumbachs - das ist ihr Mädchenname - sind schon in der vierten Generation Schwerathleten und gefürchtet starke Menschen. Frau Käte Sandwina macht alles, was "der stärkste Mann der Welt", Breitbart, macht, und macht wohl noch mehr. Zollstarke Eisenstangen zu Spiralen zusammenbiegen: Kleinigkeit. Eine sieben Millimeter dicke Eisenkette mit bloßen Händen zerreißen: Kleinigkeit. Menschen und Pferde marschieren über sie als lebende Brücke, ihr Atem geht ruhig und behaglich. Ein bißchen Angst hatte ich ja vor der Begegnung. Wenn die einem die Hand drückt, denke ich, hat man gleich drei gebrochene Finger. Aber nein: eine weiche gepflegte Patsche erwidert kaum meinen Druck.

Offenbar hat diese Frau verschiedene Einstellungen. Für mich war 0-0 das Gegebene. Wenn sie aber ihre dritte Kraft und ihre vierte Geschwindigkeit einschaltet, garantiere ich für nichts. Ich möchte sie als Reisemarschall haben und vorne auf die Lokomotivpuffer setzen. Dann gibt's kein Unglück. Die haut jeden entgegenbrausenden Schnellzug zurück. Morgens trainiert sie immer, nachdem sie sehr gut gefrühstückt hat. Da zerreißt sie freilich keine Ketten, sondern betreibt nur rhythmische Gymnastik. Noch zwei Jahre herumreisen im eigenen Auto durch alle Länder, dann will sie in Berlin eine Damenschule für Körperkultur aufmachen. Huch, der ganze Kurfürstendamm wird mit Brunhilden bevölkert sein. Die Herren trippeln dann sicher in Stöckelschuhen und tragen Büstenhalter.

Vorläufig sind unsere Frauen aber noch in allem von der bisherigen Sorte. Auch die von der hohen Politik bleiben, nehmt alles nur in allem, Weib. In Preußen haben wir immer noch kein neues Kabinett, also sitzen die bisherigen Ministerfrauen auch noch in der Amtswohnung. Da ist eine,die vom Wedding stammt, die möchte neulich ins Theater und sagt dem ministeriellen Pförtner, um sieben Uhr abends solle das Dienstauto bereitstehen. Der vergißt es. Nun erscheint abends die Gnädige, das Auto ist aber weg, der Pförtner entschuldigt sich, stürzt diensteifrig hinaus auf die Straße und kommt mit einer schönen Autodroschke wieder. Da schreit ihn die Ministerfrau an:

"Ick denke nich dran, mit eine Mietskarre zu fahren!"

Wirft ihm das Theaterbillet vor die Füße und rauscht zurück in ihre Gemächer.
5. März 1925 (Donnerstag)


26

Der Fall Althaus - Zusammengebrochene Offiziere - Der alte Luftschiffer - Frau Eberts Pension - Simons schwört weltlich - Marx und v. Campe und Peters - Wintersport auf dem Kreuzberg - Hexentanz bei Vollmondschein

Oberstleutnant Siegert, der sein junges Fliegervolk humorvoll zu nehmen wußte, gab eine Art Knigge für die Herren heraus, in dem u.a. hieß: "Es empfiehlt sich nicht, mit Sturzhelm, Reitpeitsche und Pour le mérite in eine Tanzbar zu gehen." Dieser wackere Inspekteur der Fliegertruppen schien allerlei zu ahnen. In einer Brüsseler Tanzbar verlor jedenfalls bald darauf - so wurde erzählt, er selbst bestreitet es - der Oberleutnant Frhr. von Althaus seinen Pour le mérite, nachdem er schon vorher seinen Kopf verloren hatte - und noch manches andere dazu. Weil er als Offizier im Felde im Einverständnis mit einem anderen Offizier und einem Unteroffizier versucht hatte, "Waren mit Gewinn zu verkaufen", wurde er der Verletzung der Standesehre für schuldig befunden und darnach vom Kriegsgericht zu einem Jahr und drei Monaten Festung sowie Dienstentlassung verurteilt. Name und Bild des Kampffliegers verschwanden aus der Öffentlichkeit. Im Kameradenkreise wurde das nicht bedauert. Frhr. v.Althaus galt nun mal aus der Art geschlagen. Er ist der Sohn eines Prinzen Bentheim und der Tochter eines sächsischen Hofschauspielers, eines Fräuleins Porth, das bei der Verheiratung den Namen einer Freifrau v.Althaus für sich und ihre etwaigen Nachkommen erhielt. Althaus selbst nennt sich heute, da die Republik auch bei Ehen zur linken Hand die Vererbung des Vaternamens angeordnet hat, Prinz Bentheim und - steht wieder vor Gericht. Man hat ihn verhaftet, weil die im vorigen Jahre begründete "Preußische Grundstücks-Aktiengesellschaft", an der er als einer der Direktoren angestellt war, die Leute mit völlig wertlosen Obligationen angeschmiert hat, für die keinerlei Deckung vorhanden war.

Das ist ein fetter Bissen für gewisse Zeitungen. "Wieder ein Offizier!" Noch dazu ein Prinz. Man sehnt sich ja so nach Kriminalfällen in dieser Schicht.

Deshalb habe ich die Erinnerung aus Belgien wiedergegeben: Althaus hat offenbar seit jeher die Anlage zum Leichtsinn gehabt. In dem Fall der kleinen Schieberbank wird es sich, sobald nach einigen Monaten Untersuchungshaft die Sache Althaus geklärt hat, ja heraustellen, ob hier irgendeine Verfehlung vorliegt oder ob, wie Althaus' Verteidiger Werthauer erklärt, sein Mandant von keinem Schwindel gewußt hat. Es wäre zu wünschen, daß sich seine Unschuld herausstellte. Denn das kann man wohl sagen, daß er sich blutige Mühe gegeben hat, die belgische Erinnerung auszumerzen. Die Strafe von einem Jahr und drei Monaten Festung wurde damals nicht vollstreckt; der König von Sachsen hatte das Verfahren durch einen Gnadenerlaß niedergeschlagen. Freiherr v.Althaus trat, um sich rehabilitieren zu können, bei der Infanterie wieder ein, schlug sich tapfer und hat dadurch, wie das Vereinsehrengericht der Offiziere der ehemaligen 18. Husaren erklärt, seine Ehre reingewaschen. Nach dem Kriege hatte er bald hier, bald da eine Stellung, bekam überall gute Zeugnisse, machte nebenbei seinen Doktor der Rechte, hatte aber immer mit Not zu kämpfen. Ein Einzelschicksal, aber typisch für ungezählte Schicksale.

Daß unter unseren rund 30 000, schließlich im Kriege 60 000 Offizieren der eine oder andere nicht so sein mochte, wie es die Ehrengerichtsverordnung des alten Kaisers von 1874 erwartet und verlangt, ist an sich nicht verwunderlich. Es gibt überall räudige Schafe. Im Offizierkorps seit jeher noch am allerwenigsten, denn die Zucht war straff, und der Ausgestoßene verloren. Nach 1918 hat das Parlament dafür gesorgt, gewisse Hemmungen noch niederzureißen, indem es die Ehrengerichte abschaffte. Auch die verabschiedeten Offiziere unterstanden ihnen früher. Jetzt setzte man Zehntausende von ihnen auf dei Straße mit ganz unzureichenden Gebühren, stieß sie in das Erwerbsleben und nahm ihnen den starken Halt der "Genossenschaft", wie Wilhelm I. das Offizierkorps genannt hat. Nur freiwillig konnten sie sich einem privaten Offiziersbund und seinem Ehrenrat unterstellen.

Die geschäftlich oft sehr ungewandten namentlich jüngeren Herren sind dann von Gerissenen nach Noten ausgenutzt und in "unklare Situationen", um es milde auszudrücken, gebracht worden. Selbst ein solcher Idealist wie der Hauptmann Schmude ist auf dem phantastischen Zuge nach Persien fast um Ehre und Reputation gekommen; ungezählte andere, die "in der Industrie" untergekommen zu sein glaubten, sahen sich auf einmal in der unwürdigen Stellung von Handlangern irgendeiner Schieberfirma.

Ganz hartherzig blieb der Staat, in dem früher doch wenigstens ein König für seine Altgedienten gelegentlich noch eintreten konnte. Der Staat hat die verabschiedeten Offiziere in die größte Not gebracht und alte verbriefte Versprechungen gebrochen. Da kenne ich einen, der bei einer Gesamtdienstzeit von über 23 Jahren, davon nahezu 6 Jahre in etatmäßiger Stellung als Hauptmann (im Kriege als Stabsoffizier) nur die Pension - eines Oberleutnants für sich und seine Familie bezieht, heute sogar weniger, als er vor dem Kriege bekam. Er hat 31 Jahre seines Lebesn der Luftfahrt gewidmet, nach seiner Verabschiedung noch seinen Doktor gemacht, ist aber völlig arbeitsunfähig im Sinne des Gesetzes, weil er sozusagen sämtliche Knochen im Dienste des Vaterlandes ramponiert hat. Er war der erste, der mit Orville Wright flog, einer der ersten, die für Zeppelin eintraten, und hat infolge zahlreicher Abstürze in der Kinderzeit der Luftfahrt sich beide Füße, mehrfach Hand und Finger, den Unterkiefer, das Nasenbein, das Schlüsselbein gebrochen, beide Trommelfelle zerrissen, hat eine Schädelwunde über dem linken Auge, leidet infolge dieser Dinge an Sehstörungen, Harthörigkeit, Gelenkrheumatismus, Herzanfällen, muß ständig bandagiert sein - und diesem Manne hat man sogar den Pensionszuschuß aus dem Dispositionsfond (der nicht einmal ganz die Kosten für Arzt und Medizin und Bandagen deckt) in besonders rücksichtsloser Weise ohne jede Benachrichtigung seit einiger Zeit entzogen. Eine Eingabe schließlich an den Reichspräsidenten Fritz Ebert, zu der sich der alte Major in letzter Not entschloß, hatte nur den Erfolg, daß der Reichspräsident ihm schreiben ließ, eine besondere Härte, die einen Ausgleich erfordere, liege nicht vor, und die Angelegenheit gelte "hier als erledigt". In der Inflationszeit hat dieser verdient Pionier der Luftfahrt (er galt vor dem Kriege als wohlhabend) seine berühmte Luftfahrt-Bibliothek, die die seltensten Werke in zahlreichen Sprachen aus den verschiedensten Zeiten enthielt, für einen Pappenstiel verkaufen müssen. Ähnlich mag es noch manchen Kameraden ergangen sein, die, ebenso wie er, den Stolz auf des Königs Rock behielten und den Namen nicht für dunkle Geschäfte herliehen.

Ich bin früheren Offizieren begegnet, die sich als Karrenschieber auf dem Dresdener Güterbahnhof in Berlin anboten. Einen traf ich neulich als Stiefelputzer in der Nähe des Zoologischen Gartens. Ein älterer Kamerad sieht sich eben nach einer Ecke um, an der er sich als Straßenhändler aufstellen kann.

Wir aber sollen uns, wie die Tante Voß es will, darüber entrüsten, daß Frau Ebert "nur" 592 Mark monatlich Witwengeld vom Reiche erhält; nämlich das höchste, was eine Beamtenfrau überhaupt haben kann. Dabei war ihr Mann sicherlich nicht "altgedient", und sie selber hat es sich früher, als sie noch Servierfräulein war, gewiß nicht träumen lassen, daß sie einst solch ein Ruhegehalt bekäme.

Inzwischen ist in der Wilhelmstraße 73 der stellvertretende Nachfolger Reichsgerichtspräsident Simons bereits eingezogen, wenigstens in die Diensträume; seine Wohnung in Leipzig behält er selbstverständlich bei. Ich habe es mir vergönnt, seine Vereidigung im Reichstage mitzumachen, eine stimmungslose trockene Angelegenheit unter feierlich Schwarzberockten. Zu einem rechten Schwur gehörte nach früheren Begriffen die Anrufung Gottes, - so wahr er einem helfen möge. Simons hat statt dessen den jetzt gestatteten "weltlichen" Eid ohne Anrufung Gottes abgelegt. Er hat also sozusagen nur beim heiligen Strafgesetzbuch geschworen. Ihm, diesem Biedermann ohne Falsch, diesem Durch-und-durch-Juristen pazifistischer Einstellung, der noch nach dem Londoner Ultimatum erklärte, man vergewaltige uns zwar, aber "wir dürften nicht Böses mit Bösem vergelten", glauben wir freilich ohnehin aufs Wort. Ich gebe auch zu, daß die Heiligkeit des Eides durch die saloppe Vorbereitung oft abgewetzt worden ist, nicht nur durch die Serienabnahme vor Gericht in Bagatellsachen. Vielleicht lebt noch der joviale Major, der einst als militärischer Vorsitzender einen Eid abzunehmen hatte und also sprach:

"Nun müssen Sie also schwören, Krawutschke! Ich mache Sie pflichtgemäß darauf aufmerksam, daß auf Meineid Zuchthaus steht! Außerdem setzen Sie sich im Jenseits kolossalen Unannehmlichkeiten aus!"

Sprachs, sah sich dräuend um, und glaubte fabelhaft wirkungsvoll gesprochen zu haben.

Noch weiß in diesem Augenblick wohl selbst Simons nicht, wer nun der wirkliche Nachfolger Eberts werden wird. Ich persönlich mache schon seit Monaten - im Januar habe ich den ersten Fühler in einem Leitartikel eines großen Provinzblattes ausgestreckt - kein Hehl daraus, daß wir keinen Berufsparlamentarier, keinen Parteipolitiker, keinen sogenannten "Staatsmann" aufstellen dürfen, sondern daß nur ein über den Parteien stehender alter hoher Offizier zum Einiger des nationalen Deutschlands werden kann. Wir haben noch zwei Feldmarschälle unter den Lebenden, wir können auf diese Weise auch noch den bisher vergessenen Dank an unsere nach unerhörten Leistungen still verscharrte oder gar verunglimpfte Armee abstatten. Wenn wirklich, was hervorragende Abgeordnete mir gegenüber behaupten, Hindenburg bestimmt nicht wollte, hätten wir immer noch Mackensen, die ritterlich-gänzendste Erscheinung des alten Systems. Den Einwand, daß wir einen Mann haben müßten, der "die Fuchsgänge zwischen Wilhelmstraße und Königsplatz" kennt, lasse ich nicht gelten: auf den Charakter kommt es heute mehr an als auf die Routine, und ein Hindenburg hat davon im kleinen Finger mehr, als unsere gesamten Politiker in Herz und Hirn. Daß seine Aufstellung eine furchtbare Krise herbeiführen würde, ist einfach nicht wahr; aber - "das sowieso", wie der Berliner sagt.

Überall Dauerkrise. Auch in Preußen haben wir anscheinend wieder nur auf wenige Tage ein Kabinett Marx. Man sollte meinen, dieser Parlamentarier habe sich in seinen bisherigen Ämtern und Anwartschaften - in die Reichskanzlei kam er einst mit dem Bekenntnis, daß er von Politik nichts verstehe - zum mindesten eine profunde Personalkenntnis erworben. Ganz so scheint es aber doch nicht zu sein, wenn man ein Gespräch, das kürzlich zwischen einem deutschen Volksparteiler und ihm stattfand, sich ins Gedaächtnis zurückruft. Es wird mir von dem Partner, dem Abgeordneten v.Campe, in folgender Form bestätigt:

"Machen Sie doch ein Beamtenkabinett!"

"Wie denn ?"

"Machen Sie die Staatssekretäre zu Ministern, da gibt es sehr tüchtige Leute, da ist also erstens der Peters . . ."

"Nein, nein, den Afrikaner will ich nicht!"

"Den Afr . . . . Herrgott, Sie meinen Dr. Karl Peters, der ist doch schon zeh Jahre tot!"

"Ach . . ."

Dieses wundevolle Ach verschwebt langsam in den Gewölben des Parlaments und schickt ein leises beglückendes Echo zurück, das uns alle fröhlich erstrahlen läßt. So, nur so, stellen wir uns selbstverständlich die Leiter unserer Geschicke vor, ganz gleich, ob sie für das Ministerpräsidium in Preußen oder für die Kanzlerschaft oder für das Reichspräsidium kandidieren.

Dem Gros der Berliner ist das alles völlig gleichgültig. Draußen im Reich denken viele, in Berlin, wo man doch die Auffahrt der Minister mit Simons und ähnliche Dinge häufig genug sehe, sei jedermann außerordentlich dafür interessiert. Da lebe man doch "mitten drin", da sei man voll Erregung bei der Sache. Kein Spur! Am Stammtisch in Krapfenhausen regt man sich viel mehr auf.

Der sogenannte politische Barometer interessiert die Berliner viel weniger als der einfache Quecksilberthermometer. Daß er endlich gegen Mitte März unter Null gesunken ist, daß wir seit gestern sogar eine dünne Schneedecke haben, ist wichtiger als sämtliche Wahlen. Ich will nicht mit der üblichen Reporter-Übertreibung behaupten, daß eine "wahre Völkerwanderung" zum Kreuzberg sich ergossen habe, aber das weiß ich, daß es heute nacht auf diesem 21 Meter hohen Chimborasso der Berliner ein Leben wie in sagenhafter Mainacht auf dem Blocksberg gab. Allerliebste kleine Hexchen in Hosen, allerdings nicht mit Besenstiel, sondern mit Rodel zwischen den Beinen, quirlten da herum, die männliche Jugend war noch stärker vertreten, und es gab bei Laternen- und Vollmondschein auf sämtlichen Rutschbahnen den schönsten Wintersport. Sogar einen Fünferbob, allerdings ohne Schlitten. Fünf Mann in derben Stiefeln hintereinander fassen sich an die Taille, gehen in Kniebeuge und sausen hinunter: an der ersten Kurve purzeln sie natürlich übereinander, aber das gibt es ja auch in Oberhof oder Friedrichroda. In der klaren Luft dieses ersten Winterabends 1925 sieht man unten weithin das lichterübersäte Berlin, eine im sonstigen Großstadtdunst fast nie erlebte Illumination. Um Mitternacht ist das bißchen Schnee schon fast ganz abgefahren, das Gedränge allmählich auch schon zu arg geworden. Aber wenn man nicht rodeln kann, warum - soll man nicht tanzen ? Einer hat eine kleine Handharmonika. er legt los, schon wird nach der Melodie

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"Mein Lackschuh, mein Lackschuh,
Mein Lackschuh ist kaputt"

auf jeder glitzernden Fläche des Viktoriaparks auf dem Kreuzberg, die einigermaßen eben ist, mit einer Inbrunst geschwoft, wie man es kaum auf Tanzdielen sieht, die Mädels fast durchweg in Wintersportkostüm, die Jungen in Fäustlingen und sonst im Bureau- oder Arbeitsanzug, alle Stände und Lebensalter aus Berlin SW und S und SO durcheinander. Nach dem kaputten Lackschuh wird stürmisch der Hund verlangt:

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"Mein Hund kam in das Küchen
Und stahl das Koch ein Ei,
Da nahm das Koch ein Regenschirm
Und schlug ans Hund vorbei",

wobei die Korona, mitten im Tanzen bei Vollmond im Schnee um mitternächtige Stunde, eifrig mitsingt. Aber plötzlich scheiden sich die Geister. Der Harmonikaspieler hat Fridericus Rex angestimmt, wonach die Pärchen unbekümmert einen Foxtrott schieben, nur mit besser durchgedrückten Knien als sonst. Das geht den anwesenden Primanern vom Askanischen Gymnasium und sonstigem Jungvolk des gebildeten nationalen Mittelstandes doch wider die Ehre, daß ihr vergötterter Marsch so "erniedrigt" wird, sie verdrücken sich still und überlassen das Feld den von ähnlichen Bedenken nicht beschwerten jungen Leuten anderer Art.

Kein Wächter hat den ganzen improvisierten Hexenspuk verjagt. Man hat sich zum ersten Male im Jahre die Lungen mit reiner Winterluft vollgepumpt. Auf dem Heimweg kehren die Pärchen mit frischen roten Backen dann wohl auch noch im Pfauenpalast in der Belle-Alliance-Straße oder in einem anderen Kaffeehaus ein - und haben einander so lieb - und haben einander so lieb . . .
12. März 1925(Donnerstag)


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Prihoda - Neuerwachen des Musiklebens - Die Ära Terpis im Staatsballett - "Kerkyra" - Wie Herr v. Chelius aushalf - Eine Prinzessin verkauft Bilder - Bahai

Von ihren Vettern, den Tschechen, erzählen die Polen, daß ihr Geschick sich schon in der Wiege erfülle. Neben den Säugling werde eine Fiedel und ein Goldstück gelegt. Je nach dem, wonach es greife, werde das Kind später ein Geiger oder ein Dieb. Es ist nicht hübsch, was so aus polnischem Volksmund kommt. Die Tschechen könnten umgekehrt noch viel unliebenswürdiger über die Polen sich äußern. Aber etwas Wahres ist doch an der Redensart. Musikalisch sind sie Tschechen; das muß der Neid ihnen lassen. Sie kommen darin in ihrer natürlichen Begabung gleich hinter den Zigeunern. Die böhmischen Dorfmusikanten sind früher auch in Deutschland eine bekannte Erscheinung gewesen, und heute sind Namen wie Kubelik, Smetana, Destinn, Dworak und ein gutes Dutzend anderer weltbekannt. Wie ein Meteor ist unter ihnen der junge Geiger Prihoda emporgeschossen. In Italien hob er sich zum ersten Male leuchtend über den Horizont, in Amerika wurde er berühmt, in Prag und Wien stattete er dann der Heimat seinen Dank ab, alles in allem eine Laufbahn von knapp vier Jahren. Die sonst für die musikalische Welt unerläßliche Erstabstempelung des Genius in Berlin unterblieb (Grund: Papiermark) und wird erst jetzt nachgeholt. Man lauscht atemlos und - angestrengt dieser wirklich säkularen Erscheinung, diesem neuen Paganini, und müht sich zunächst, festzustellen, ob er wirklich im Vierundsechzigstel-Tempo beim Doppelgriff- und Flageolett-Spiel nicht eine Perle aus der funkelnden Schnur fallen läßt, nicht mit kaum merkbarer Trübung über einen Ton hinweghuscht. Aber man gibt sich geschlagen. Es ist eine unerhört saubere Feinmechanik, sozusagen mit der Mikrometerschraube eingestellt; es ist in der Musik das, was in ihrer zeichnerischen Gewissenhaftigkeit Dürer, Menzel, Greiner waren. Es hat eine Weile gedauert, bis ich in dem Konzert Prihodas in der Philharmonie mich innerlich zu dieser Feststellung bequemen mußte, dann erst konnte ich mich ganz dem reinen Genuß hingeben und mich daran erfreuen, daß dieser junge Mann mit dem blonden Schopf und den guten blauen Augen kein seelenloser Virtuose ist, sondern wirklich auch ein Musiker aus tief innerlich erbrausendem Blut. Ich hörte mit wachsendem Erstaunen eine Grieg-Sonate, ein Paganini-Konzert, und als dann die Beethoven-Romanze anhub, da wünschte ich - das ist mir nicht einmal bei Fritz Kreisler passiert - die Klavierbegleitung zu allen Teufeln, um nur Prihoda allein in mich aufzunehmen.

Wenn irgend etwas uns den zeitweiligen Umschwung der Verhältnisse zum Besseren in Deutschland sinnfällig macht, so ist es eben das, daß wieder die besten Künstler aller Länder ihre Karte bei uns abgeben. Vor Jahr und Tag kamen verrückte Neuntöner und schrullenhafte Snobs, indem sie unsere bitterliche Armut ausnutzten, aus dem Auslande her und mieteten für ein paar Dollar unsere Konzertsäle und unsere Anzeigenseiten. Unser reiches musikalisches Eigenleben verstummte, weil man doch nur das nackte Dasein hatte. Heute ist der Austausch in der Heimat wieder rege, unser gegenwärtig vielleicht genialster Dirigent, Dr. Peter Raabe in Aachen, kann in Berlin und anderswo Konzerte leiten, viel Jungvolk stellt sich der Öffentlichkeit zur Prüfung, und ein wiederum gutes Publikum bevölkert die Musiksäle.

Die tänzerische Kultur an unseren staatlichen Instituten dagegen scheint etwas nachzulassen. Wer vor einigen Jahren etwa und dann jetzt die Josefslegende, das Ballett mit der Musik von Richard Strauß, sich im Opernhaus gegönnt hat, der ist enttäuscht. Es ist nun einmal ein grundlegender Unterschied in dem Solotanz des Mannes und der Frau, das erkennt doch schon ein Kind bei der Betrachtung der Körper. Auch im symbolischen Tanz heischt und fordert der Mann, lockt und verspricht die Frau: er, der Krieger, sie, die Erholung des Kriegers, um mit Nietzsche zu sprechen. In der neuen Schulung mit Max Terpis am staatlichen Opernhause aber verweiblicht alles. Nicht mehr straff und federnd, sondern weich und rund sind die Bewegungen dieser Hermaphroditen. Die jungen Männer der Bühne tanzen Feminismus, Pazifismus; es ist greuliche Unnatur. Auch unter dem weiblichen Nachwuchs gibt es zwar, was gern angemerkt sei, mehr Jugend als in den Zeiten der dell Era, aber weniger Talent und disziplinierte Schule. Es scheint, daß heut, wo jedermann auf der Tanzdiele sich trollt, das Interesse für den Kunsttanz nicht mehr so groß ist. Es fehlen die Mäzene und die Fürsten. Das letzte große Ballett der alten Zeit haben wir noch in der "Kerkyra" erlebt, in der ein sonderbares Duumvirat - Wilhelm II. und Professor Delitzsch - die "historisch getreuen" Richtlinien gab. Was man alljährlich auf Korfu an Volkstänzen gesehen hatte, das sollte hier an der Spree wieder auferstehen. Dem königlichen Corps de Ballet wurde die Sache im Film vorgeführt. Der schnurrte in Eile herunter und war tänzerisch nicht zu analysieren. Da griff der Kaiser, wie es wohl auch Friedrich II. gelegentlich getan hat, selber ein, legte auf der Probe seine Husarenpelzmütze ab, stemmte den Arm in die Seite und machte den Leutchen die Schritte vor. Nachher waren Tänzer und Tänzerinnen überzeugter als je, daß der Kaiser ein großer Flottenschöpfer sei, aber die Tanzfiguren der Korfioten hatte man immer noch nicht kapiert. Da nahm der Flügeladjutant v.Chelius, der einst als junger Leutnant selber Vortänzer bei Hofe gewesen war, den Ballettmeister zur Seite und raunte ihm zu: "Ich komme morgen früh mit der Prinzessin auf die Probe, die kann's!" Gesagt, getan; und die Prinzessin Viktoria Luise, die auf Korfu mit den Landleuten auf dem Anger herumgesprungen war, brachte in einer halben Stunde der Gesellschaft alles nötige bei.

Heute haben Prinzessinnen da keinen Zutritt. Sonst käme die Republik vielleicht in Gefahr. Außerdem ist die Zahl der Prinzessinnen, die sich derartige Liebhabereien leisten können, nicht mehr allzu groß. Auch dominieren doch Frau Raffke und Fräulein Großverdiener. Eine Prinzessin weiß ich, die macht sich nichts daraus, daß sie jetzt zu den "Herabkömmlingen" gehört, sondern hat tapfer und schlicht den Lebenskampf aufgenommen. Ihre Aquarelle und Rötel-Zeichnungen. 19 Bilder im ganzen, sind zurzeit im Hotel Adlon ausgestellt - "zum Verkauf" ausgestellt - und hin und wieder mag sich wohl ein amerikanischer Hotelgast finden, den die Unterschrift reizt:

Rümann
Prinzessin Alexandra Feodora
von Schleswig-Holstein-Glücksburg.

Das ist die ehemalige Prinzessin August Wilhelm von Preußen, die einst die Lieblings-Schwiegertochter der verstorbenen Kaiserin war, die rosig-derbfrische mit ihrem Gesicht wie Milch und Blut. Sie ist in zweiter Ehe mit dem Kapitänleutnant a.D. Rümann verheiratet, der neben seiner winzigen Pension nur noch einen kleinen Nebenverdienst als Versicherungsagent hat. Da muß also die Frau schon mitschaffen, wenn sie eine rechte wackere Frau ist. Ihre Porträtzeichnungen, darunter besonders hübsch die einer jungen Baronesse und recht ähnlich auch die von Louis Adlon und Frau, sind eine treue Arbeit, sehr sorgfältig, nicht so hingewischt, wie man es heute vielfach sieht; und die Aquarelle, darunter Architekturen aus Koburg, Rotenburg, Hampton Court, alles mitten in verschwenderischem Blumenflor, haben ein Leuchten in sich. Es ist jedenfalls erheblich mehr als Dilettantismus. Hoffentlich findet die Prinzessin auch deutsche Käufer. Leicht hat sie es nicht gehabt. Aus dem herzoglichen Familienfideikommiß gab es allmonatlich nur ein paar Mark, gerade genug zum Frankieren der Briefe; häufig hat die Prinzessin Alexandra Feodora von dem übrigen, in erster Linie der Pension des Mannes, kaum das Gemüse für den Mittagstisch sich leisten können, und an das Halten eines Dienstmädchens war nun gar nicht zu denken. Zwei Jahre lang hat die Prinzessin, ohne viel Aufhebens davon zu machen, alle Hausarbeit daheim getan, auch die Dielen allein gescheuert. Es ist ja eine alte Erfahrung, daß Prinzessinnen sich viel königlich-gelassener in eine Aschenbrödel-Rolle finden, als ehemalige Wedding-Aschenbrödel in ihre heutigen Rollen als Minister- und Oberpräsidentengattin. Nur daß Prinzessinnen sich nicht zu "lancieren" verstehen.

Da sind sie schon immer ganz hilflos. In diesem Falle sind zwei bekannte Schriftsteller, Ewers und Freksa, eingesprungen und haben vermittelt. Nächstens soll Frau Rümann Zeichnungen (auch der Text ist von ihr) in einer Zeitschrift loswerden, die allerdings von einem waschechten Galizier herausgegeben wird. Das war ja wohl schon immer so. Siehe Fontane mit dem bitteren Schluß seines bekannten Gedichtes: "Kommen Sie, Kohn!" Diese Leute haben für geistige Arbeit, da muß man doch offen zugeben, häufig mehr Verständnis und offenere Hände gehabt, als unsere Bodenständigen im Lande.

Auch heute noch wird ein Gramm Gehirnschmalz auf der Linken vielfach höher aufgewogen als auf der Rechten, wo die Produktion handfesterer Dinge vorgezogen wird. Vielleicht wie wenige kann ich es wohl bezeugen, daß man heute allmählich auch auf der Rechten sein Publikum für freies Schaffen und sogar gelegentlichen Übermut findet.

Eines könnte man natürlich gänzlich, weil es nichts einbringt, uns Reindeutschen überlassen, nämlich das Spintisieren. Auch das Gründen neuer esoterischer Gemeinden und dergleichen gehört dazu, das Sektenbilden, das Zungenreden. Das alternde und reiche Rom baute ein Pantheon als Heim und gemeinschaftlichen Unterstand für alle Götter und Götzen sämtlicher Völker. Das junge Berlin ist bald auch so weit. Als es uns ganz schlecht ging, bis in das vorige Jahr hinein, lernten manche Leute wieder beten, viele allerdings auch fluchen. Die Beter gingen in die Kirche oder flüchteten daheim in die Bibel. Seitdem aber die Rentenmark große Schichten des Volkes aus der Not wieder emporgehoben hat, leistet sich dieser und jener wieder das ästhetische Wohlbehagen, eine besondere "Lehre" neben oder außer dem Christentum als dessen angeblich wahre Erfüllung, als seligmachend schon auf Erden, sich auszusuchen.

Unsereins als geradlinig denkender Mensch macht da nicht mit. Man sieht und hört es sich nur hin und wieder an, und merkwürdig: auch da, wo es doch nichts einbringt und bestenfalls eine züchterisch ganz interessante Religionskreuzung (in Wahrheit eine Bastardierung der Religion) herauskommt, findet man viele Vertreter der nicht spintisierenden, sondern betriebsamen Rasse. Die Sufi-Lehre, die Karma-Lehre, die Mtesa-Lehre, die Bahai-Lehre, - ach, es gibt vielleicht hundert solcher Lehren und tausend ihrer Propheten in Koventikeln der Reichshauptstadt, die immer wieder Zuzug auf Kongressen auch aus dem Reiche erhalten. Es wird eine ganze Menge Gas- und elektrisches Licht dabei verbraucht, verhältnismäßig wenig innere Erleuchtung. Ein alter Doktor in einem Berliner Vorort, der der Lehre Buddhas anhängt, hat sich sogar eine indische Tempel-Villa dafür gebaut und debattiert, überzeugt und hilflos, in Vollmondnächten darüber mit Christen und Juden und Heiden.

Im Lyceum-Klub bin ich neulich zufällig in die Bahai-Lehre hineingeraten, der ich an sich milde gegenüberstand, weil sie nicht, wie die Huter-Lehre, einem mir nahestehenden lieben Jungen den Kopf verdeht hat, sondern nur fremden Leuten. Guten Leuten, idealdenkenden Leuten, das sei alles zugestanden. Ich kann mir nicht helfen: ich habe trotzdem gelächelt. Schon über die Zusammensetzung dieser Bruder- und Schwesternschaft aus größtenteils schon etwas ältlichen Damen, die wie abgebaute Lehrerinnen aussehen, aber Betätigungsdrang und Bubikopf haben.

Unter den anwesenden männlichen Teilnehmern sehr viele Libanon-Tiroler, darunter der unvermeidliche getaufte Dr. Kappstein, der beste Barmixer in Religionen, dessen geistliche Getränke einem süß und philosophisch eingehen. Man nennt sich da untereinander Du. O, Du . . . Du hübscher, strammer Mensch . . . Du, den eine Schwester in Bahai so anschmachtet . . . Es gibt Musik, Gesang und Vorträge. Eine Dame, die so aussieht, als wäre sie die Präsidentin des Vereins zur Aufrichtung gefallener Mädchen, macht innerhalb der Stuhlreihen Propaganda. Eine andere auf der Bühne löst den Oratoriensänger Salomonski und den Klavierspieler Lichtenstern ab und orientiert mich endlich über Herrn Bahai, genannt Baha-el-Bab, der ein Perser war und 1844 oder da herum den "Märtyrertod" gestorben ist. Bis zu diesen sachlichen Mitteilungen hat die ergriffene Gemeinde nur allerhand Phrasen und Paraphrasen über die Liebe gehört: über den reinen Glockenton der allumfassenden Liebe; über Lust, Leben, Liebe; Liebe sei Kraft, Liebe sei Entfaltung, Liebe sei Erfüllung. Wenn doch die ältlichen Damen sich nicht so oft schneuzen wollten! Hier und da fällt schon ein Kneifer herunter auf wogenden Busen oder bei dessen Nichtvorhandensein in den Schoß. Das alles habe ich mir, milde und geduldig und voll Hochachtung vor dem Johannistrieb, eine ganze Weile angehört, aber nun wird's ernst. Die eine Vortragende, weithergereist, erzählt, daß schon jener Bahai - man denke, vor 1844 - die Emanzipation der Frau des Orients und eine Art Völkerbund und ein Weltschiedsgericht gefordert habe. Und überhaupt, sagt sie, dieser entsetzliche Krieg! Wenn die deutschen Mütter doch endlich aufhören wollten, sagt sie, ihre Kinder für den Krieg, also zu Mördern, zu erziehen!

Da bin ich stracks aufgestanden und hinausgegangen. Für eine Weile habe ich von allen "Lehren" und ihrer Seichtbeutelei wieder genug. Daheim habe ich dann die Bergpredigt, Liliencrons und Börries v.Münchhausens Gedichte, Luthers Traktat "Ob auch Kriegsleute im seligen Stand sein können" und Treitschkes Studie über die Deutschordensritter gelesen, bis mir der Kopf wieder licht war.

Ich denke, daß unsere deutschen Mütter, so lange die Franzosen am Rhein stehen, Herrn Bahai nicht als Hausgötzen aufstellen werden.
19. März 1925 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts