"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 37 - 39
15. bis 30. Mai 1924


37

Apachentücher - Die hohen Zinsen - Vom Zug nach Halle - Propaganda - In der "Grille" - Der Bettler als Kapitalist - Nothilfegeld - Sommertage in Werder.

Nächstens wird vielleicht irgendein Dandy auch im feinen Westen die Mode des Kaschemmen-Ede aufbringen, sich Handrücken und Unterarm mit Anker und Sowjetstern und Frauenkopf tätowieren lassen. Jedenfalls weist die Entwickelungslinie der Mode dorthin. Schon tragen ja unsere Damen zu jeglicher Toilette das sogenannte Apachentuch, das bunte Halstuch aus dem Dirnenquartier niedersten Ranges, das doch nur zur zerrissenen Bluse über ausgefranstem Rocke paßt. Auch hat es den Zweck, Schwären und Schmutz zu verbergen; und dieser Zweck ist im feinen Westen doch sicherlich ausgeschlossen. Das Kokettieren mit der "unverbildeten" Welt aus der Großstadthefe von Paris stammt ja nicht erst von heute. Apachenbälle sind schon vor dem Kriege in gewissen Kreisen bei uns sehr beliebt gewesen, wobei das fremde Wort, von den wenigsten gekannt, doch nur den deutschen Ausdruck Zuhälter deckt. Ein Mensch von Kultur schüttelt sich, wenn er auf dem Nacken einer Dame den bunten Zipfel sieht. Denn er weiß dann sofort: die Trägerin ist geschmacklos und dumm.

Zugrunde liegt natürlich meist die Sucht, irgend etwas Auffälliges und doch Billiges sich zuzulegen. Einen venezianischen Seidenschal mit langen Fransen, der wie ein Umhang die ganze Gestalt verhüllt oder bei geschickter Raffung die Körperform hervorhebt, kann nicht jede kaufen, nicht jede tragen. Da würgt man sich denn das grelle Tüchelchen um den Hals. Dazu "hat man's" auf jeden Fall; "man hat's" ja wieder überhaupt. Der Alp der Arbeitslosigkeit beginnt langsam zu weichen. Die letzten Kleinrentner werden ja auch wohl über kurz oder lang verhungert sein und mit ihren Klagen den an ihrem Elend schuldigen Novemberpolitikern die Verdauung nicht mehr stören. Ebenso beginnen die Geschäftsleute wieder zu hoffen: vorgestern hatten wir seit langer Zeit den ersten Tag ohne eine Konkurserklärung. Die Geldknappheit ist allerdings ungeheuerlich und beweist am besten die allgemeine deutsche Not. Während früher, in der gesegneten Zeit des alten Reiches, 8 Prozent als Wucherzins galten und den Ausleiher schnell vor den Strafrichter brachten, bietet jetzt sogar die Deutsche Bank ihren Depositenkunden 15 Prozent für monatlich kündbares bares Geld, und von kleineren Banken und einzelnen Industriefirmen kann man das doppelte erhalten. Mit jeglicher nur gewünschten Sicherheit. Man sollte meinen, daß da doch das ausländische Kapital, das daheim nur mit einem kleinen Bruchteil dieser Verzinsung arbeitet, sich massenhaft nach Deutschland hineinstürzen müßte, um durch uns diese hohen Zinsen für sich erarbeiten zu lassen; aber draußen glaubt man eben an keine deutsche Sicherheit mehr, seit unsere Novemberpolitiker auch den deutschen Privatbesitz der Reparation zu opfern bereit sind. Was aber des einen Tod ist, ist des anderen Brot. Wer vor dem Kriege etwa 30 000 Mark besaß, der war doch nur ein sogenannter Sechserrentier. Heute kann er von den gesteigerten Zinsen glänzend leben. Auch das trägt zur gesellschaftlichen Umschichtung bei uns bei. Wer für sein Vermögen einst Kriegsanleihe erstand, der hat es verloren. Wer es in einem Waggon Schokolade oder Speisefett oder Hufnägeln anlegte, der ist heute fein heraus. Man muß nur wieder Kapitalist sein. Selbst das kleinste Kapital nährt. Wenn ein Mädchen heute, sagen wir einmal, als Abfindung zweitausend Mark erhalten hat, so geben die gegenwärtigen Zinsen schon die Jahresgarderobe. Ein paar Apachentücher fallen nebenbei ab. Auch die Übergangsgebührnisse Abgebauter sind "Kapital". Da hat ein Abgebauter in unserer Nachbarschaft 3600 Mark erhalten und gleich zinstragend angelegt; er bekommt dafür 90 Mark monatlich und hat damit die Grundlage seines Daseins. Natürlich müssen die übrigen Volksgenossen die Zinsen erschuften. Breiter denn je steht der Thron des baren Geldes. Das Ergebnis fünfeinhalbjähriger Weisheit der Novemberpolitiker hatte man sich anders vorgestellt.

Wer hat, der hat. Das ist das Ergebnis.

Es ist begreiflich, daß unter diesen Umständen Berlin so "rechts" gewählt hat wie überhaupt noch nie, seit ein Deutsches Reich besteht. Aber es gibt immer noch Hunderttausende, ja Millionen fast unbelehrbarer Menschen. Lediglich zu dem Zweck, um mit den Nationalen Händel zu suchen, sind auch aus Berlin ein paar "Hundertschaften" junger Kommunisten nach Halle zur Neueinweihung der Moltkestatue gefahren. Es war wüst schon auf dem Anhalter Bahnhof. Ein paar pfeifenrauchende und schnapstrinkende Mädchen hatten sich zur Verabschiedung eingefunden. Von den Mannen, mit denen ich in ein gleichgültiges Gespräch kam, hatte kaum einer überhaupt eine Ahnung, wer dieser Moltke gewesen sei; und daß es sich um den Wiederaufbau seines von Roten zertrümmerten Standbildes handelte. Sie wußten nur von dem "Faschisten-Aufmarsch" in Halle. Das hatte ihnen die von Sowjet-Rußland bezahlte Propaganda eingehämmert. Die Bolschewiki geben mehr für Propaganda aus als für Heer und Flotte. Auch die Westmächte haben im Kriege diese stärkste Waffe zu schätzen gewußt. In den Vereinigten Staaten, wo besonders der Film gegen Deutschland arbeitete, hat man ja sogar Mary Pickford, Elsie Davies und fünf andere Flimmerfräuleins zu "Ehrenobersten" der amerikanischen Armee mit allen dazugehörigen Gerechtsamen ernannt und noch bis in die letzten Tage hinein, wo diesem Unfug endlich offiziell ein Ende gemacht wurde, Truppen vor ihnen paradieren lassen. Wir wären schon erheblich weiter, wenn wir das auch begriffen. Wir sind erst bei der geschäftlichen Propaganda angelangt. Wir haben in der Leipziger und anderen großen Kaufstraßen Berlins gerade die Propagandawoche hinter uns, in der dem Publikum vom Werden der Ware etwas erzählt wurde: in dem einen Schaufenster lag neben dem Damenpelz ein umgedrehter Fuchsbalg, in einem anderen konnte man den Baumkuchen in seinen verschiedenen Stadien sehen, in dem dritten den Weg vom Fichtenholz bis zur Visitenkarte oder von der Gans bis zum Daunenpfühl verfolgen. Von dem Werden des Reiches und Volkes bei uns aber erfährt nur der Volksschüler ein paar trockenen Daten, und dann ist es aus. Ich kenne kaum einen Menschen in Berlin, der für seinen Portier eine Zeitung hält oder seinem Dienstmädchen die Historienbilder in der Ruhmeshalle erklärt oder sich für eine nationale Partei auch nur annähernd so besteuert wie der Arbeiter für seine Gewerkschaft.

Lieber "lebt man auf" und genießt gedankenlos das, was die Großstadt an üblichen Reizen bietet. Es ist nicht die "schäumende" Jugend, die das tut. Die Jugend ist, das sei mit Freuden festgestellt, durch den Sport von manchem erlöst, worin sie früher verstrickt war. Die vielen roten Laternen in den Berliner Straßen vor mehr oder weniger schmierigen Lokalen, die roten Laternen, die "dezente Damenbedienung" verhießen und übelste Animierung zum Trinken bedeuteten, sind schon vor zehn Jahren ausgestorben. Um so schlimmer sind viele Kabaretts von heute, - aber sie werden meist nur von höheren Semestern besucht. Wenn man abgearbeitet ist, wenn man anfängt, Grillen zu fangen, geht man beispielsweise in die "Grille" in der Jägerstraße. Das ist eine der ungezählten Stätten, wo die Celly de Rheidterei blüht, der nachrevolutionäre Halbnackttanz. Aber da sitzt kein Portokassenjüngling mit heißen Augen, sondern "studienhalber" hier ein Ehepaar von 50 und 45, dort eines von 60 und 50 Jahren, dazwischen noch dieser und jener Herr Direktor aus der Provinz, der seine geschäftlichen Sitzungen erledigt hat und nun, ehe er in sein Hotel geht, hier noch sein Abendbrot nimmt und eine Flasche Wein dazu trinkt. Die erste Tänzerin, die sich Helga v.Zellwitz nennt, aber in keinem Gotha steht, kommt - ebenso ihre Gefährtinnen - von hinten her aus dem "Künstlerzimmer" den Gang entlang bis zum Bühnchen mitten durch das Publikum und kehrt nach jeder Nummer wieder den gleichen Weg zurück. Die Mädchen - darunter eine eben 19 Jahre alt gewordene kleine Schwarzlockige, von deren Verdienst Vater und Mutter, beide krank, ausschließlich leben - haben mitunter nur einen Lendenschurz und die Andeutung eines durchsichtigen Brustschleiers um. Aber es kommt kein Zuruf. Keine "dreckige" Bemerkung. Das Ganze läßt dieses Publikum der Reifen völlig kühl.

Und doch: da vorn, am Tischchen direkt vor dem Podium, sitzt ein Junger. Wo habe ich den schon mal gesehen? Er trägt einen grauen Sakkoanzug, "Pfeffer und Salz", wie man ihn eben alltags trägt. Aber man wird rot über eine Geschmacklosigkeit: auf der Jacke ist ein Eisernes Kreuz erster Klasse befestigt. Wo habe ich den schon mal gesehen? Zu meinen engeren Bekannten gehören Leute, die mit Kriegsorden in Kabaretts gehen und sich den "Tanz mit der Peitsche", zweimal polizeilich verboten, ansehen, sicherlich nicht. Aber den Mann kenne ich, das möchte ich beschwören.

Er benimmt sich nicht wie ein Angehöriger der guten Gesellschaft. Schon ist die Barmaid von hinten bei ihm aufgetaucht und animiert ihn zum Trinken. Nach der zweiten Flasche Oppenheimer Goldberg wird eine Flasche Champagner gebracht. Da kriegt der junge Mann den ersten Kuß.

Wo habe ich den schon mal gesehen?

Er renommiert mit einer Fahrt von 18 Stunden im eigenen Auto von Stuttgart nach Berlin. Nun hilft ihm auch schon der Herr Direktor der "Grille" beim Trinken. Nach der dritten Flasche Champagner, die drüben aufknallt, geht mir ein Licht auf. Der junge Mann ist - ein Berliner Straßenbettler. Ich habe ihn oft genug als Schüttler auf dem Bürgersteig sitzen sehen, aber in den letzten Monaten allerdings nicht mehr. Er gehört jetzt wohl endgültig zu den Kapitalisten und leidet anscheinend auch unter keinerlei Kriegsneurosen mehr.

Mit seinem früheren Freiluftberuf hat er übrigens rechtzeitig abgebaut. Das Betteln in Berlin fängt an unlohnend zu werden, seit das Publikum im wesentlichen nur noch Nothilfegeld gibt. Das ist eine der segensreichsten Erfindungen zur - Straßenreinigung. Für dieses Nothilfegeld kann man sich zunächst nichts kaufen. Weder eine Flasche Schampus in der "Grille" noch ein Auto oder ein weißes Tuchkostüm für die Freundin bei Kersten u. Tuteur. Man kann es in seinem Bezirk - nur in seinem Wohnbezirk, wo man doch bekannt ist - der Pflegschaft vorweisen und daraufhin seinen Lebensunterhalt für den Tag erhalten; der überschießende Rest kommt anderen Armen zugute. Wenn erst alle Berliner sich solche Nothilfemarken kaufen, um sie statt baren Geldes, wenn sie das Geben durchaus nicht lassen können, den Bettlern zu geben, dann wird die Stadtplage der unwürdigen Eckensteher bald fast ganz verschwunden sein. Im ganzen Deutschen Reiche müßten die Frauenvereine, die Wohltätigkeitsgesellschaften, die Armenämter den Vertrieb ähnlicher Marken in die Hand nehmen. Von den Überschüssen könnte mancher wirklich Arme dann noch gerettet werden.

Kabaretts und Theater und Likördielen haben natürlich nur selten solch einen illustren und leichtsinnigen Gast wie meinen Champagnerschüttler. Sie alle klagen über schlechten Besuch. Das ist nach dem Wetterumschlag auch kein Wunder. Ehe der Frühling auch nur die Augen aufmachen konnte, ist der Sommer über ihn weg in das Jahr hineingesprungen. Anfang Mai hatten die Berliner Gymnasiasten noch "kältefrei"; das ist keine zwei Wochen her; und morgen oder übermorgen gibt's vielleicht "hitzefrei".

Wer es kann, der büchst nach Werder aus. Es ist alle Jahre dasselbe, und doch erliegt man immer wieder dem Zauber der Baumblüte in diesem Obsthügelland zwischen märkischen Seen. Vorerst blühen Kirschen und Aprikosen. Selbst die blütefrohen und blütegewohnten Studenten aus Japan sind von dem weißen und rosigen Schimmer wie geblendet. Für den Berliner ist es die lebendig gewordene Poesie in seinem sonst so grauen Asphaltdasein. In dieser Stimmung haut man leicht über die Schnur, der Obstwein hat es sowieso in sich, und wer nach einer Flasche 1912er Werderer Johannisbeer noch eine Flasche vorjährigen Erdbeer versucht, nachdem er in einem der zahlreichen Bergrestaurants den landesüblichen "Aal grün" mit Gurkensalat gegessen hat, der verliert sehr bald den Boden der gegebenen Tatsachen. Zum Glück gibt es neben der großen Freitreppe zur Friedrichshöhe noch einen Sandweg ohne Stufen, da rutscht oder kollert man nachher ohne Gefahr hinunter. Wer junge Mädel kichern, lachen, kreischen hören und korybantisch erglühen sehen will, der kann dies an Maisonntagen jetzt in Werder an buchstäblich Zehntausenden von ihnen aus Berlin studieren. Fast immer ist es ein harmloses Vergnügtsein. Ich habe in Werder zur Baumblüte noch kaum je gemeine Witze erlebt, wohl aber viel ulkiges Berlinern. Da deklamiert ein bereits stark Angejohannisbeerter zur Freude aller Umsitzenden im Garten von Rauenstein:

Ick sitz' am Tisch un esse Klops.
Mit eenmal kloppt's.
Ick kieke, staune un wunda mir.
Mit eenmal jeht uff die Tür.
Nanu, denk' ick;
Ick denke: nanu,
Erst war se uff,
Jetzt is se zu!
Ick jeh' mal raus un kieke, -
Un wer steht draußen?
Icke!

Die Kleine nebenan will sich ausschütten vor Lachen. Dann will sie auch mal raus und kieken. Aber es geht nicht recht. Schon an unserem Tisch, an dem sie vorbei will, muß sie sich festhalten. Und wie zur Entschuldigung sagt sie in ihrer Betroffenheit: "Ick weeß nich, ich stottere so mit die Beene!"
15. Mai 1924 (Donnerstag)


38

Die heilige Agathe - Im Auktionssaal - Bei Neureichs kriselt es - Unseren verjüngten Frauen - Der Ablauf der Gefühle.

Die heilige Agathe ist am 4. Februar 250 zu Tode gefoltert worden. Sie wollte einem noch heidnischen Herrn, der als römischer Oberpräsident in Sizilien saß, nicht zu Willen sein. Seither wird sie als Schutzpatronin gegen vulkanische Ausbrüche in Catania und sonstwo angerufen. In Neapel liegt im September, beim Feste des San Gennaro, die Menge in hysterischer Verzückung, glühend vor innerer Hitze, vor dem Altargefäß mit dem angeblichen Blute des Heiligen, das jeweils an diesem Tage ins Brodeln gerät, und flüstert und barmt und wimmert und schreit in steigender Erregung: "Heiliger Januarius, koche, koche, koche!" Ebenso wild wird in Sizilien die heilige Agathe angefleht, wenn der Ätna zu spucken anfängt; die heilige Agathe ist Spezialistin gegen Lavaströme, Giftgas und Aschenregen.

Sicher hat sie es sich vor 1674 Jahren nicht träumen lassen, daß ihre Knochen einst - in Berlin in der Spichernstraße Nr. 3 öffentlich meistbietend versteigert werden würden!

Das ist wirklich wahr. Und da sagt man noch, daß in Berlin nichts los sei.Wo man doch die Knochen der heiligen Agathe um ein billiges erstehen kann; für den Fall, daß der Kreuzberg einmal Feuer speien sollte. In einer der üblichen Versteigerungsanzeigen hatte es unter vielem anderen gestanden: Altar aus Kloster Breitbrunnen in Bayern mit Knochen der heiligen Agathe. Also solch ein Skandal, denke ich. Man ist ja doch ein anständiger Mensch, auch wenn man als Protestant von Reliquien nichts hält, und man schämt sich, daß der christlichen Nachbarkonfession so etwas angetan wird. Ich will den Nuntius Pacelli anrufen, damit er die Versteigerung verhindert, etwa unter der Hand schnell noch vorher die Knochen der heiligen Agathe aufkauft und sie dann feierlich nach Palermo eskortieren läßt. Leider steht er nicht im Telephonbuch. Auch unter "Nuntiatur" oder "Päpstlich" steht nichts. Man könnte vielleicht, fällt mir ein, das Auswärtige Amt um Mitteilung der Geheimnummer des vaticanischen Gesandten bitten. Ehe ich das tue, läßt mich aber ein bekannter Italiener aus allen Wolken fallen. Er sagt mir, es gäbe sicher ganze Waggonladungen von Knochen der heiligen Agathe auf der Welt. Ich solle mich bloß nicht unnütz bemühen.

Trotzdem bin ich zur Spichernstraße Nr. 3 gepilgert, Hof geradezu, großer Saal, und habe den etwas bäurischen Altarschrein in Augenschein genommen. In der Mitte ein dürftiges und kindliches Gemälde auf Holz, vielleicht von dem Tischler selber gemacht, links und rechts die Seitenflügel mit angepappten Barock-Ornamenten, darin unter Glas von Filigranschmuck und Glasperlen umgeben links und rechts je ein weißes Knöchelchen. Meine Erwartung, daß irgendein Echtheits-Dokument dazu geliefert werde, bestätigt sich nicht.

Man hat vorerst mit wichtigeren Dingen zu tun. Es scheint auch nur wenig Interesse für das heilige Möbel vorhanden zu sein, wenigstens sieht die Versammlung der Bietenden nicht so aus, als befänden sich mehrere Katholiken oder auch nur Protestanten darunter. Der Auktionator kennt fast alle, und sie kennen sich untereinander. Der Ausrufer hebt einen Gegenstand empor: "'ne Brogse, Goldbrongse, Anjebot bitte? Kein Anjebot? Herr Friedländer, können Se nich mehr? Wäre das nich wat for Sie, Frau Loeser?" Daunenbetten, Japanvasen, Wildbestecke, Samoware, Flügeldecken gehen um ein kleines ab, falls nicht der zerschmettert dabeisitzende Auftraggeber schleunigst mitbietet und so - gegen 10 Prozent Gebühr - den Gegenstand wieder zurückkauft. Für Privatleute ist das Kaufen hier schwer. Der Ring der Händler treibt dann sofort in die Höhe; man muß sich lieber abseits mit den Herren verständigen. Ein echter Brouwermann wird ausgeboten, auch andere Gemälde, die aber keinen Absatz finden, trotz aller Anregungen und Witze des Ausrufers und des Auktionators selbst. "Wir sind ausgemistet, und kein Aas kauft mehr was!", sagt ein Antiquitätenhändler. Was geht, das sind doch nur Möbel und sonstige Ausrüstungsstücke für junge Ehepaare. Ein Meißner Service, Rosenmuster, 76 Teile, geht sehr schnell auf über 700 Mark. "Is es handjemalt?", ruft ein Bieter. "Nee, mit'm Pinsel!", erwidert der Ausrufer. Seine Stentorstimme und seine gute Laune regieren alles. Ansonsten ist die Stimmung mäßig. Die Geldknappheit macht sich auch im Auktionssaal bemerkbar. Stundenlang sitze ich nun schon da und warte auf die heilige Agathe, - so lange habe ich nicht einmal auf ein lebendes junges Mädchen jemals gelauert. Endlich, nach einem Sofa im Jugendstil, einem Biedermeier-Zimmer, einer kleinen Prunk-Kanone von 1770, einer Garnitur Klubmöbel und etlichen alten Zinngefäßen gerät mein Altarschrein in die Hände des dicken Markthelfers, der mir wie ein Henker erscheint. Man kommt aus der eigenen Haut nicht heraus, ich denke immer noch: jetzt, jetzt geschieht was! Irgendein Prälat oder ein sonstiger deus ex machina verhindert die Versteigerung. Aber nichts da. Es geht ganz nüchtern, ohne jede Sensation. Für 95 Mark zieht ein Althändler aus Breslau mit den Resten der heiligen Agathe ab.

Weshalb ein bayrisches Kloster sie jetzt nach Berlin verklopft haben soll, ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich ist die heilige Agathe schon in vierter oder fünfter Hand. Es ist merkwürdig, wie viele Meßgewänder, Altardecken, Ewige Lampen und sonstige "Kuriositäten" den Weg zum Auktionssaal finden. Oder gar nicht merkwürdig. Nämlich: bei den Berliner Neureichs kriselt es! Das, was sie früher als "Sachwerte" sich angelegt haben, auch Flügel, Bilder, Teppiche, stoßen sie jetzt wieder ab, um Bargeld in die Hände zu bekommen. Es gibt sogar schon hohlwangige Neureichs. Bei Tietz in der Leipziger Straße, wo in den Schaufenstern "der Deutsche auf Reisen" ausgestellt ist, staut sich allerdings lachend die Menge vor der Gruppe "Verzollung an der Grenze", weil eine so unglaublich komische dicke Frau Neureich aus Wachs, Handschuhnummer 8½, Wadenstärke 64 Zentimeter, ihre Himmelfahrtsnase emporstreckt, während die beiden Zollbeamten feinste Spitzenhöschen und dergleichen auskramen. Aber wirklich, es geht Neureichs nicht mehr glänzend. Manchen Neureichs sogar schlecht. Bei einer dieser Familien, die in einer pompösen Villa in Dahlem wohnt, hat dieser Tage eine Großbank schnell zugepackt. Herr Neureich - in Wirklichkeit heißt er ein wenig östlicher - schuldete ihr 200 000 Goldmark und hatte mit einem Wechsel gedeckt, der, sagen wir einmal, nicht ganz richtig war. Da mußte er denn, um dem Staatsanwalt zu entgehen, den auch Großbanken nur ungern bemühen, schleunigst die Villa, obwohl vorsichtshalber eine Familien-G.m.b.H. als Besitzerin eingetragen war, samt Möbeln und Kunstsachen und 30 Perserteppichen und 2 Autos registrieren und verpfänden lassen. Ob das aufregend für Neureichs war? Keine Spur; an so etwas ist man gewöhnt. Also Frau Neureich stellte ihrer Dienerschaft die abschätzenden Sachverständigen als Versicherungsagenten vor, versenkte sich wieder in den Klubsessel, schlug die Seidenstrumpfbeine übereinander, zündete sich eine Zigarette an und flötete ins Telephon: "Gut, meine Liebe, daß du mich anklingelst, also Moissi ist als Prometheus einfach göttlich, da mußt du auch hin!"

Man meint, diese Frauen, die so häufig steilen Aufstieg und jähen Absturz erleben, müßten vorzeitig verfallen. Aber das Gegenteil ist richtig. Sie sind fabelhaft frisch. Auch im armen, aber gebildeten Mittelstande der anregungsreichen Großstadt bleiben ja heute die Frauen sozusagen "ewig" jung. Einst waren nur die Damen um die 20 herum, was natürlich auch noch heute ein für Damen sehr empfehlenswertes Alter ist, literaturfähig, romanfähig. Dann entdeckze plötzlich Balzac "la femme de trente ans", die Dreißigjährige, als Siegerin in mancher Liebesschlacht, in der das junge Ding versagt. Heute würde schon eine Vierzigjährige sich schämen, wenn sie nicht mehr imstande wäre, bei den Männern irgendein "Gänschen" auszustechen; und früher trugen die Vierzigjährigen doch nur noch ein Schwarzseidenes bei feierlichen Gelegenheiten und resignierten am Kaffeetopf. Heute machen sie Bergtouren, beweisen unten im Tale bei Jazz-Band-Klängen ihre Biegsamkeit, und in der Kunst des Flirtens, des geistvollen Flirtens, sind sie den Jungen meilenweit voraus. Bis zu welchen Jahren das noch hinaufgeht? Ich weiß nicht recht. Ich habe Eleonora Duse die Cameliendame mit grauem Haarschopf spielen sehen, und doch schmolzen die Herzen der Zuschauer in Rührung und Liebe. Und neulich höre ich ein Zwiegespräch, das noch überzeugender ist. Ein Junge stürmt herein: "Du Mutti, also da war eine alte Frau, so fünfzig Jahre vielleicht . . ." Die Mutter antwortet: "Jungchen, weißt du eigentlich, daß ich auch schon fünfzig werde?" Da lacht der Junge unbändig: "Du und überhaupt alt, ach, Mutti, das ist ja zu komisch!" Nein, unsere Jugend merkt das Altwerden der Frauen kaum. Sie machen ja alles mit. Die paar Querfalten oben werden von Stirnlöckchen gedeckt, die Krähenfüße sorgfältig wegmassiert, und für das übrige hat man den Sport: und wenn es nur das "Müllern" wäre, längelang auf der Diele des Schlafzimmers, die Fußspitzen unter den Kleiderschrank geklemmt.

Je länger die Alten jung bleiben, desto früher, scheint es, sind die Jungen alt. Oder werden wenigstens als reif ästimiert, beklopft, behorcht, beschrieben. Einschließlich des Ablaufs ihrer Gefühle. Was das ist, der Ablauf der Gefühle, das weiß ich nicht. Nur vom Ablauf der Vorstellungen im Gehirn und ihrer Verknüpfung ist mir wohl mal etwas Gedrucktes vor Augen gekommen. Ich habe zwar einmal einen Professor der experimentellen Psychologie und Pädagogik gekannt, aber von ihm nur die Anfangsgründe des Türkischen gelernt, als ich im Sabah Edin Kjösk oberhalb Ortaköj am Bosporus meinem anatolischen Burschen etwas erläutern wollte. Irgendwie hängt aber der Ablauf der Gefühle mit Psychopädagogik zusammen, denn die Berliner Volksschullehrer müssen darüber berichten.

Wir haben 593 Volksschulen in Berlin.

Es gibt Länder im Deutschen Reiche, die haben erheblich weniger. Und sie haben vor allem keinen roten Oberschulrat wie unseren Paulsen. Herrgott, was gibt sich der für eine Mühe! Vor lauter entschiedener Schulreform kommen unsere ABC-Schützen kaum mehr zum Lernen oder zum Spielen.

Frau Lehmann wird schon ordentlich giftig, weil ihr die Henny ganz aus den Händen kommt. Eine richtige mütterliche und hausfrauliche Erziehung kriegt das Kind nicht mehr. Es kann nicht einmal mehr Pötte schrubben. Keine Zeit, keine Zeit. Vormittags ist Schule und nachmittags wahlfrei mal Kurzschrift, mal Englisch, mal Schulkino, mal Werkunterricht, mal Naturkundemuseum. Und dabei ahnt Henny, die keinen fehlerfreien deutschen Brief schreiben kann, immer noch nicht, daß selbst das alles nur Nebensache ist. Die Hauptsache ist der psychologische Bericht. Mensch, danke deinem Schöpfer, daß du nicht Klassenlehrer an einer der 593 Berliner Volksschulen unter dem Oberschulrat Paulsen bist. Da hättest du nämlich deine 39 oder 44 Kinder vor dir, denen du etwas beibringen möchtest, aber statt dessen sinnst du verstört über dem Bericht. Es ist das Schülerbogen-Ergänzungsblatt, Vordruck Ia, Vereinfachte Schulverwaltung, Psychologischer Bericht. Uff! Also es genügt nicht, daß du auf dem eigentlichen Schülerbogen und auf der Versäumniskarte fortlaufend alles notierst, was für die Menschheit an den Personlien jedes Schülers einschließlich Impfung, Vorname der Mutter, Einfluß von Krankheiten, Leistung in Raumlehre usw. von Interesse sein könnte. Du mußt noch auf dem Ergänzungsblatt unter A bis Z nebst Unterabteilungen von jedem einzelnen deiner 39 oder 44 Hosenmätze berichten, wie es in puncto Sinnestüchtigkeit, Vorstellungsleben, gruppenpsychologisches Verhalten, Reproduktionsfähigkeit und dergleichen bei ihm steht, was für eine "Gesamtpersönlichkeit" er ist, welche Motive sein Handeln bestimmen, ob Mängel in seinem psychischen Mechanismus sich zeigen und ob er - der vielleicht Neun- oder Zehnjährige - der Typus des körperlichen oder des geistigen Arbeiters ist. Mensch, haste Wochte?

Unter C 2, Gefühlseigenschaften, aber steht: Ablauf der Gefühle.

Der Oberlehrer Dr. Müller, der wegen der Aussichtslosigkeit, jemals zum Vortrag sophokleischer Chöre vor Primanern zu kommen, längst in das Volksschulfach hinübergewechselt ist, steht am Rande der Verzweiflung. Seit zwei Stunden denkt er darüber nach, was für einen Ablauf der Gefühle wohl der Schüler Max Lemke, Klasse 3 der 447. Volksschule, haben mag, und es ist ihm immer noch nicht klar.

Mir ist überhaupt der Zweck der ganzen Schreiberei nicht klar. Will der Oberschulrat Paulsen Heldentenore oder Industriekapitäne oder Filmmädchen oder Meisterboxer entdecken lassen? Oder soll die "Auslese der Tüchtigen", der zukünftigen parlamentarischen Führer des Volkes, schon bei jenen Kindern beginnen, die noch mit baumelndem Nasentropfen dasitzen? Ich habe keine Ahnung; denn, wie gesagt, ich habe noch nie eine Vorlesung über experimentelle Psychologie und Pädagogik gehört.

Schade jedenfalls, daß diese psychologischen Berichte nicht schon seit Menschenaltern angefertigt werden und, soweit sie Männer der Öffentlichkeit betreffen, nicht auch öffentlich ausliegen. Wir wüßten dann doch wenigstens, wie die "Kombinationsfähigkeit" Adolf Hoffmanns zu der ständigen Verwechselung von mir und mich kommt, oder wie sich aus dem "gruppenpsychologischen Verhalten" mancher nachnovemberlichen Ministerpräsidenten und Landräte die Verwechselung von mein und dein erklärt.
22. Mai 1924 (Donnerstag)


39

Die richtige Berlinerin - Himmelfahrt und Herrenpartie - "Schwarz oder Rot" - Patriotische Feiern verboten - Ausstellung in der Akademie - Steinhausen-Erinnerungen - Doktorandus Stresemann - Die zu lange Hose.

Was eine richtige Berlinerin ist, die hat ihren "Ollen" natürlich fest an der Strippe. Sie hat das Kommando. Sie hat die Hosen an. Sie hat den Hausschlüssel. Sie kriegt das ganze Geld. Aber diese selbe Berlinerin wünscht durchaus nicht, daß es bekannt wird, was für eine "Nulpe" ihr Mann ist. Nach außen hin ist sie sentimental, ganz liebende Gattin, die den Heldenvater respektiert. Nein, da gibt sie sich keine Blöße. Eine Frau wie sie hat selbstverständlich nur einen ganzen Mann geheiratet. An dem Berliner traditionellen Tage der "Herrenpartie" kriegt er auch den Hausschlüssel. Dazu ein Stullenpaket, ein paar Taler Zehrgeld und zum Abschied ein malitiöses Lächeln. Ist er weg, dann geht sie zur Nachbarin und klöhnt über die Männer und ihre Ansprüche. Den einen Tag im Jahre, wo sie frei von Muttern mit den Kollegen sich treffen,, den Donnerstag in der Woche vor Pfingsten, nennen die Männer also - Himmelfahrt. Da ist ihnen so leicht und so frei, da ist alle irdische Knechtschaft vergessen, da tun sie schier tolpatschige Schritte ins Grüne. Ämterweise oder firmenweise tun die Ehekrüppel sich meist zusammen, fahren in aller Herrgottsfrühe hinaus und markieren das junge Böcklein auf der Weide. Ein bißchen eckig sieht alles ja noch aus. Man muß die Freiheit begießen. Wenn man die achte oder zehnte Runde Bier am Vormittag genossen hat, dann erst ist es so die richtige "runde Sache".

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Und Therm- wie Barometer klettern jäh,
Schon kommt die erste Herrnpartie, juchheh,

hieß es auch diesmal in allen Gastwirtschaften am Rande der Stadt und darüber hinaus meilenweit in die Mark hinein; morgens um 5 rollten schon die ersten Kremser, mit zwei Schindmähren bespannt, unter Hörnerklang hinaus, dann waren Vorortzüge, Straßenbahnen, Autobusse gestopft voll, und gegen Mittag jappten die Kellner in allen Ausflugsorten schon nach Luft. Es gab diesmal nur einen Gewitterguß am Nachmittage, sonst aber heißes schönes Wetter, und gerade das bringt ja die tragische Wendung in die Herrenpartie. Der Durst ist groß, der Magen schwach. Am Abend schwanken Tausende von Häufchen Unglück heimwärts, wie ausgebrochene Haustiere wieder still zum Stalle trotten, froh der wiedergefundenen Aufsicht und Wartung. Die richtige Berlinerin sagt dann kein Wort. Sie hilft dem Ollen womöglich noch ins Bett. Morgen wird er ganz klein sein. Morgen hat er für ein Jahr genug von der Selbständigkeit. Morgen hat sie ihn wieder fest an der Strippe.

Eigentlich war es diesmal ganz interessant. Nicht wegen des herkömmlichen Ulks dabei, wegen des "sterbenden Schweins" und anderer Quietschinstrumente, wegen der komischen Aufschriften an den Papptafeln der einzelnen Wandergruppen oder wegen der neuen Witze über den Landesvater Ebert, die irgendwer immer zum besten gab, sondern wegen des Spielbetriebes überall draußen. Das hatte man sich doch so nicht gedacht. Auf je einen Bockwurstmaxe, Limonadenschenker, Eisverkäufer, Apfelsinenhändler an den Haltestellen und Eingangsstraßen der Ausflugsorte, ja schon gleich hinter dem Reichskanzlerplatz und in der ganzen Gegend des Stadíons, kamen immer 5 oder 6 Menschenfreunde, die "Schwarz oder Rot" machten. Das ist ein wirklich sehr einfaches Hasardspiel. Der Unternehmer hat drei Karten, zwei schwarze und eine rote, oder zwei rote und eine schwarze, mischt sie und legt sie verdeckt nebeneinander hin. Man darf nur die Farbe setzen, die einmal vertreten ist, nicht diejenige, für die zwei Karten da sind. Erweist es sich beim Abheben, daß man gewonnen hat, so bekommt man den Einsatz - unter 5 und über 50 Mark wird nichts angenommen - verdoppelt zurück, andernfalls hat man ihn verloren. Der Unternehmer hat also die doppelte Chance. Die Gerupften ziehen scharenweise ab. Jede neuankommende Herrenpartie, die eine Spielergruppe sieht, fragt natürlich, was los sei, stellt sich rundum an, erlebt es, daß ein paar junge Anreißer, die zum Betrieb gehören, im Handumdrehen 10 oder 20 Mark gewinnen, und schon zückt jeder seine Banknote, legt sie mit blödem Lächeln hin, verliert in zwei von drei Fällen und zieht endlich mit den Worten: "So ein gemeiner Schwindel!", aber ruhig und ohne zu skandalieren ab. Da das ganze Spielgerät nur aus drei Karten besteht und das Unternehmen an einen Ort nicht gebunden ist, kann man in jeder Sekunde verschwinden. Kein Schutzmann und kein Landjäger vermögen etwas dagegen. An diesem einen Donnerstag haben die "Schwarz oder Rot"-Spieler sicherlich mehr eingenommen als der Totalisator am Derbytag. Wie ein Heuschreckenschwarm haben sie sich niedergelassen. Man geht in einer knappen Stunde an Hunderten ihrer Gruppen vorüber. Es ist eine Seuche. Eine neue Manifestation der großstädtischen Massendummheit, von der eine Anzahl Geschickter dann glänzend zu leben vermag. Die Seuche verbreitet sich in geometrischer Progression. Ungezählte junge Leute, die den Betrieb sich einmal angesehen, leihen sich drei Karten und eröffnen hundert Schritte weiter eine selbständige Filiale. Die Luft zittert vor Hitze und Schwindel. Augen zittern, Hände zittern. Aber der Vermögenswechsel vollzieht sich ohne lebhafte Proteste. Gerupftwerden ist Schicksal. Man ist Fatalist geworden.

"Eigentlich" müßte die Regierung dagegen doch etwas tun, sagt freilich auf der Nachhausefahrt der eine oder der andere. Die arme Regierung! Sie ist ja, wie sie erklärt, nicht einmal imstande, bei Einweihungen von Denkmälern für gefallene Krieger die Teilnehmer zu schützen. Man könne ihr, sagt sie, nicht zumuten, die Polizei dafür zu strapazieren. Wofür denn? Da gibt es ein Berliner Garderegiment, das mehrere tausend brave Soldaten auf dem Schlachtfelde verloren hat. Zehntausende von Angehörigen der Gefallenen und von Angehörigen und Freunden des Regiments möchten bei der Enthüllung des Gedenksteins dabeisein. Das Deutsche Reich und der Freistaat Preußen sind aber angeblich nicht in der Lage, ihre persönliche Sicherheit dabei zu verbürgen; also wird die Feier verboten. Alle anderen auch; mögen sie in geschlossenen Räumen abgehalten werden. Und selbstverständlich ohne Beteiligung von Angehörigen des Zollernhauses, die auch für die 200-Jahr-Feier des von Friedrich Wilhelm I. begründeten Militärwaisenhauses verboten worden ist. Eine Angst haben die Leute! Ist die Republik bereits so schwach, daß ein uniformierter Prinz als Festgast sie umblasen kann? Wir müssen uns wirklich vor dem neutralen Auslande schämen, das ganz anders zu diesen Dingen steht und das Sichverkriechen Deutscher vor deutscher Vergangenheit einfach nicht begreift. In der Hauptstadt von Chile wurden neulich im Theater Esmeralda Bilder der alten preußischen Garde im Parademarsch gezeigt, Bilder des Kaisers in Felduniform und schließlich die neueste Zivilaufnahme aus Doorn. In diesem Augenblick brauch ein lauter Beifallssturm aus, in den sich nicht ein einziger der sonst üblichen Pfiffe mischte. Es ist schon richtig: südamerikanische Republiken sind heute viel weiter als das Deutsche Reich.

In solchen Zeiten haben wir uns immer gern zur Kunst geflüchtet, die nur heute leider auch bei uns noch im Bolschewismus steckt. Die Frühjahrsausstellung der Akademie der Künste am Pariser Platz enthält aber diesmal außer den Scheußlichkeiten von Kokoschka und anderen nichtdeutschen Farbenpatzern, außer den trostlosen Grau-in-Grau-Kurzsichtigkeiten Liebermanns, außer der grauenhaften blutigen Eingeweidesammlung unter dem Titel "Schützengraben" von Otto Dix, außer Pechsteins und Schmidt-Rotluffs Sprachgestammel und sonstigen Unzulänglichkeiten doch noch einiges Rückschauende von ganz wundervoller und erhebender Poesie. Von dem jetzt schon greisen Bildhauer Max Kruse ist die Gruppe "Junge Liebe" in ihrer bestrickenden Schönheit und Keuschheit ja in der ganzen Welt bekannt; von dem holzgemeißelten Original, das in Hamburger Privatbesitz sich befindet, steht ein Bronzeabguß jetzt hier in der Akademie. Dazu noch rund 30 andere hervorragende Schöpfungen. Man kann stundenlang allein vor dem marmornen Haupte der Mutter Kruses stehen. Jedes Fältchen und jedes Härchen ist durchleuchtet von der schaffenden Sohnesliebe, die der sorgenden Mutterliebe hier ein Denkmal setzte; man muß auch als Beschauer an sich halten, um der alten Frau nicht mit leiser Hand über den Scheitel zu streichen. "Und hättet ihr der Liebe nicht . . ." - nein, Liebe ist bei denen um Kokoschka und Kandinsky nicht zu finden. Mit harten, leblosen Augen und mit unsicherem Pinsel oder Griffel treiben sie bestenfalls Kunstgeckerei. Von dem jüngst verstorbenen Maler Wilhelm Steinhausen, dem zum Gedächtnis eine Anzahl seiner Bilder hier hängt, kann man aber wohl sagen, daß er von Liebe zum Schöpfer, zur Schöpfung, zum Geschöpf völlig durchtränkt war. Eine Reproduktion einer seiner Landschaften, die Religion atmen, auch wenn sie nichts Religiöses darstellen, hat er mir einmal mit freundlicher Inschrift gestiftet. Aber lieber noch sind mir seine Bekenntnisse über die Seele in der Kunst, die er im Herbst 1904 mir schrieb. Einige Zeilen daraus möchte ich hier wiedergeben; ein moderner Kunstberliner versteht davon kein Wort.

"Die Grundstimmung aller Kunst ist Sehnsucht. Große Kunstwerke öffnen das Auge, es schaut Gegenden, die es bis dahin nicht erreicht, wie von einem Berge sieht es weite Strecken, das gelobte Land, das des Menschen Fuß nie betritt - aber es sieht den Horizont, auf dem der Himmel ruht. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, daß alle Malerei, da sie auf Anschauen der in der eigenen Natur sich spiegelnden Außenwelt beruht, kontemplativ sein muß. Die göttliche Kunst ist der Wunder voll und darum Gefäß der Wahrheit. Hier wird das Unbegreifliche deutlich."

Selten in meinem Leben habe ich einen so glücklichen Menschen gesehen, wie den Patriarchen Steinhausen inmitten seiner großen Familie, obwohl es manchmal nicht viel mehr als trocken Brot war, das er täglich mit Danksagung brach. Zuweilen war freilich auch ein Bild wieder gut verkauft, und dann gab es wohl gar ein Fest. In den kleinen Stuben fanden die Besucher nicht alle Platz, aber im Keller, wo über ein paar Brettern die Kinder des Hauses, darunter ein ganz sonderliches rotblondes Jungfräulein, lustiges Theater spielten, saß man zu Hauf, und jedermann hatte ein Glas Bier, ein Stück Brot, ein paar Frankfurter Würstchen - und das ganze Herz voll Sonnenschein. Die beiden Alten habe ich einmal am Kaffeetisch photographiert. Ein Bild der Frau des Malers, aus der Zeit, wo sie noch nicht ergraut war, hängt, von seiner Hand, auch hier in der Ausstellung der Akademie, und wieder sieht man das Leuchtende der Liebe darin. Ganz zauberhaft sind manche seiner Märchenbilder ("Die Gänsemagd"), Landschaften und biblischen Darstellungen. Man badet sich darin gesund. Und man trägt dieses still Leuchtende innerlich mit heim in die laute unholde Welt.

Sie ist nun besonders laut, seit der Reichstag wieder beisammen ist und fünf Dutzend Moskowiter darin sich so benehmen, als gelte es, die Notwendigkeit einer durchgreifenden Militärdiktatur zu erweisen. Es gibt nicht viele Berliner, die einem der bisherigen Minister es zutrauen, daß er mit diesem Reichstage etwas schaffen könne. "Es muß ganz anders kommen!" heißt es wieder überall. Nicht einmal die bekannte Eloquenz des Außenministers Dr. Stresemann vermag uns über die Frage um Leben und Sterben, die im Gutachten der sogenannten Sachverständigen beschlossen liegt, hinwegzuheben. Dabei ist er doch der einzige echte Berliner im Kabinett, mit Spreewasser getauft, voll Mutterwitz und nie um eine Ausrede verlegen. Ich vertiefe mich gerade wieder mit Vergnügen in seine Doktorarbeit, die 1901 von ihm geschrieben ist, - nicht etwa über ein Thema der Diplomatie oder der hohen Politik, denn damals steuerte er wohl auf seine jetzige Laufbahn nicht los, sondern über das Thema: "Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts." Dem jungen Stresemann als Sohn eines Berliner Bierverlegers lag diese Arbeit besonders nahe, zumal da er sich - auch da schon rednerisch - im väterlichen Geschäfte selber betätigt hatte. Er schildert es auch in dieser Doktorarbeit, wie die Kinder der Bierverleger allabendlich "fragen" gehen, nämlich in den Grünkramkellern und Viktualienläden fragen, wie viele Flaschen - 20 oder 40 oder gar 60 - die Madame am nächsten Morgen zum Verkauf benötige. Das ganze alte Berlin aus der Zeit vor zwanzig bis dreißig Jahren ersteht vor unseren Augen, wenn wir in der Dissertation lesen, wie das bayrische Bier allmählich das Weißbier verdrängt, wie die Begründung der Aschingerstuben auf den Bierkonsum wirkt, - "dort die Bürger etwas ehrwürdig an den einfachen Tischen vor den runden großen Gläsern vereinigt, Zeitung lesend oder in Ruhe und Behäbigkeit sich unterhaltend; hier ein ewiges Hasten und Treiben, Kommen und Gehen, die einzelnen kaum sich Zeit lassend, um Platz zu nehmen, sondern im Stehen eines der obligaten belegten Brötchen essend oder einen Schnitt echten Bieres herunterstürzend und mit dem Blick auf die Uhr nach einigen Minuten wieder forteilend."

Nett, wirklich nett; abgesehen von dem etwas reichlichen Partizipiengebrauch feuilletonistisch gut gesehen, so daß einem um diesen Stresemann nicht bange zu sein braucht, auch wenn er wirklich seinen Ministerposten verlöre.

Ob sein Mutterwitz und seine Beobachtungsgabe gegenüber der Entente ausreicht, will mir noch etwas zweifelhaft erscheinen. Unter den bisherigen Ministern ist überhaupt kaum einer, dem man die Befähigung zu den bevorstehenden schwierigen Verhandlungen zutrauen möchte. Aber zum Trost kann man vielleicht das Wort des alten Dorfschneiders zitieren, bei dem ein Kunde sich beschwerte, daß die Hosen viel zu lang geraten seien: "Das machts nichts, lieber Herr, das tritt sich noch ab."
30. Mai 1924 (Freitag)



Glossen 34 - 36

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Glossen 40 - 42

© Karlheinz Everts