34
Großstadtfrühling - Rote Jugend - Wahlverse und Lichtreklame - Schachts Geldgeschäfte - Erinnerungen an Helfferich - Abbau in den Gymnasien.
"Du, du, du hast einen Bräutigam!" flötet im Tiergarten der Fink, wenn er ein junges Mädel sieht. Aus allen Büschen trällern dazu die Schwarzdrosseln voll spitzbübischer Lustigkeit. Und ein anderer Gesell im Federkleid, ewig auf der Flucht, pfeift von einem immer wieder entfernteren Baum: "Ich bin der Pirol, Pirol!", obwohl er es noch gar nicht ist, jetzt im April. Alles begrüßt in ausgelassener Freude den Frühling und das neue Leben; und zwitschert und flirtet und neckt sich und die Menschen. Die freilich sind kaum ein geeignetes Objekt, denn sie kennen hier, in dem großen Steinbaukasten der 4 Millionen Stadtbewohner, die Sprache des Waldgetiers nicht mehr. Ein kleiner Junge steht mit dem Rücken gegn das Lortzingdenkmal in all dem Jubilieren, guckt blöde zu den Wipfeln empor, bohrt sich nachdenklich in der Nase und sagt: "Da piept een Vogel, ick jloobe, een jroßer Spatz!" Bohre nicht, Jungchen; bis ins Gehirn kommst du doch nicht. Du armer Kerl, der du zwischen Pferdeäpfeln auf dem Asphalt dich großspielst, hast ja nicht einmal jemand, der dich Eichen und Buchen unterscheiden lehrt. Du weißt ja nur, daß Frühling ist, wenn man mit Murmeln auf dem Trottoir zu kugeln anfängt und die großen Konditoreien ein paar Tischchen und den Lorbeerbaum hinausstellen; oder daß der Sommer kommt, wenn man, der Murmel überdrüssig, zum Kreiseltreiben - zum Trieseln, sagt der Berliner - übergeht und der Portier abends zum erstenmal auf einem Schemel vor der Haustür sitzt.
Freilich hat das Wandern aus der Asphaltwüste hinaus in die märkischen Oasen in den letzten Jahren stark zugenommen. Auch Berlin N stellt dazu seine starken Trupps Jugendlicher. Aber sie fragen nicht nach Fink und Amsel, nach Schlehdorn und Farnkraut, sondern sie gehen auf den Kriegspfad, zunächst in Adams und Evas Kostüm in bewußter Auflehnung gegen alle überkommene Sitte, schokieren die ehrsamen Bauernfrauen, bringen durch leichtsinniges Feueranzünden im Walde die Förster auf den Trab, gröhlen abwechselnd Sowjetlieder und Zotiges und lugen nach "Bismärckern" aus, nach Angehörigen der nationalen Jugend, um sich dann - aber nur in der Übermacht - mit Schlagring und Messer auf sie zu stürzen. Ihrer 80 gegen 9, so haben sie, die halbflüggen Helden von Berlin N, dieser Tage wieder bewußt als Rote ein paar Schwarzweißrote überfallen. Ein blutjunger Gymnasiast, ein braves Kerlchen, die einzige Freude seiner Mutter, liegt alsbald, durch den Rücken mit dem Schlächtermesser in die Lunge gestochen, tot auf dem grünenden Anger. So begeht unsere Novemberjugend den Frühling. Wenn dieses Geschlecht, das während des Krieges ohne väterliche Maulschellen aufwuchs und nach der Revolution auch noch damit beschenkt wurde, daß den Lehrern in der Volksschule jedes harte "Anfassen" der Kinder bei Amtsverlust verboten wurde, noch einige Jährchen weiter ist, wird es auch den Eltern mit dem Messer zu Leibe gehen. Manche Arbeiterfrau sieht sich schon heute scheu um, woher die Rettung kommen könnte; und ist fester denn je entschlossen, bei der Reichtagswahl nur für eine Partei zu stimmen, der am ehesten zuzutrauen ist, daß sie uns die alte Zucht wieder bringt. Wenn bei den wandernden Germanen die Männer geschlagen und mutlos zurückfluteten, stand das Weib mit erhobener Streitaxt vor der Wagenburg. Des Weibes Eingreifen entschied oft den letzten Kampf mit dem nachdrängenden Feinde. So ist es heute wieder. Wo das Mannesvolk versagt, kommen die Mütter und Frauen und Schwestern, auch die von Berlin, an die Reihe und bringen, so auch in ganz Deutschland, an der Wahlurne wieder in Ordnung, was seit fünf Jahren in hellem Zerfall bei uns war.
Allmählich macht sich der große Tag auch im Berliner Straßenbilde schon bemerkbar. Die Zahl der Wahlbilder und Wahlverse an den Anschlagsäulen nimmt zu, aber freilich, es sind nicht immer Lenbachs und Goethes, die den Stift da führen. "Jedermann wählt diesesmal unbedingt deutschnational!" ist ein sehr gutgemeinter, aber doch sehr kindlicher Spruch. Noch holpriger und inhaltlich unwahrer dichten uns andere Parteien an. Mit einer wirklichen Schlageridee sind nur die um Stresemann herausgekommen, die rechtzeitig einen großen Teil der Lichtreklame am Potsdamer Platz gemietet haben. Da leuchtet zwischen den üblichen Anzeigen immer wieder die Empfehlung der Deutschen Volkspartei auf:
JUGEND WAEHLT DEUTSCHE VOLKSPARTEI |
Man steht da und schmunzelt und fragt sich, ob die Riesenkosten der Lichtreklame sich für die Partei wirklich rentieren werden, aber der nahezu amerikanische Einfall selbst macht einem allabendlich nach wie vor Spaß. Etwas verärgerter ist man schon, wenn man liest, was die bürgerliche Linke an die Anschlagsäulen pappt: "An der Rentenmark halten treue Wacht die Demokraten und Dr. Schacht!"Das ist denn doch eine faustdicke - na, sagen wir, Ungenauigkeit, denn den monatelangen Kampf Schachts gegen den ausschließlich und allein von Helfferich ausgearbeiteten Plan der Rentenmark hat doch selbst der eiligste Zeitungsleser noch nicht vergessen. Auch in einem durch jede Haustür geschobenen Flugblatt heißt es: "Wer den Ekkehard der deutschen Währung in seiner Arbeit für das deutsche Volk nicht im Stich lassen, wer die deutsche Währung sichern will, muß sich zu Dr. Schacht und damit zur Deutschen Demokratischen Partei bekennen." Mit Verlaub, das ist doch zu stark. Da fällt selbst den Berliner Bankiers vor Erstaunen die dicke Zigarre aus dem Munde.
Ich kann einen kleinen Beitrag zu unserer Währungsgeschichte geben, der jeder Prüfung durch berufene Sachverständige Stich hält.
Anfang November vorigen Jahres hatte Schacht, damals Devisenkommissar, Besprechungen mit den Leitern der Berliner Großbanken, in denen die Umrechnungszahl für Papiermark in Rentenmark festgesetzt werden sollte. Schacht wies auf die Schwierigkeiten hin, den weiteren Marksturz aufzuhalten. Vertraulich informierte er die Bankhäuser, daß eine Umrechnungszahl von 21 Billionen Papiermark für den Dollar die einzig mögliche sein werde. Infolge dieser Mitteilung sperrten die Banken ihren Kunden die Kredite bis zur Abschnürung; und die Stempelvereinigung beschloß einen Zinsfuß von 10 Prozent täglich für Leihgeld. Einzig und allein die Darmstädter-Nationalbank - deren Direktor damals Schacht noch war - ließ nicht nur die laufenden Kredite weiterbestehen, sondern eröffnete Kredite auch neuen Kunden, die anderswo abgewiesen waren, selbstverständlich zu 10 Prozent pro Tag. Sie hat verschiedene Millionen Goldmark dabei verdient; und als der Sturm vorüber war, da wurde der Dollar auf 4,2 Billionen Papiermark gehalten, aber die Konkurrenzbanken der Darmstädter waren einen Teil ihrer besten Kunden losgeworden, während der Kurs der Darmstädter sich verdoppelte.
Lebten wir noch unter dem ehrenfesten alten System, so würde Dr. Schacht wohl schon längst in Untersuchung gezogen worden sein. Auch darüber, ob er seinen großen eigenen Besitz an Darmstädter Aktien wirklich abgestoßen oder sie nur unter anderem Namen in seiner Familie untergebracht hat. Heute, unter dem demokratischen Novembersystem, kräht aber natürlich kein Hahn danach. Die gesamte Bankwelt steht diesem Schacht ablehnend gegenüber; aber Fritz Ebert hält seinen Schild über ihn.
Mag Dr. Schacht, der erbittertste Gegner Helfferichs, jetzt sich auch für die Herkulesarbeiten bekränzen lassen, die dieser vollbracht hat: Helfferich kann nicht mehr widersprechen. Sein Denkerhaupt wurde in dem berstenden Eisenbahnzuge zermalmt, sein glühendes Herz verloderte in den Brandtrümmern. Über diesen genialen Menschen von Jahrhundertmaß, der in einem Alter, in dem andere junge Leute noch Studenten sind, schon Lehrer an der Universität war, in einem Alter, in dem andere noch Assessoren sind, zum Vortragenden Rat im Kolonialamt ernannt wurde, um dann in schneller Folge Leiter der Anatolischen Bahnen in Konstantinopel, Direktor der Deutschen Bank und, in den ersten vierziger Jahren seines Lebens, schließlich bereits Schatzsekretär und Vizekanzler des Deutschen Reiches zu sein, schreiben jetzt die Politiker ihre Nachrufe. Uns Nahestehenden aber war doch der Mensch, der Mensch Helfferich so unendlich liebenswert, der trotz seines immensen Wissens so schlichte Mensch, der nichts für sich wollte und nur eine Leidenschaft kannte: das Vaterland.Aus den vielen Stunden, die ich ihm gegenüber verbrachte, nur eine kleine Erinnerung. Ich war im vorigen Jahre im Tiergarten gearde Fritz Ebert begegnet, der mit pomphaftem Gefolge "majestätisch" daherritt. Wir plauderten darüber. Und da sagte Helfferich leise, wie traumverloren:
"Für mein Leben gern bin ich immer geritten. Aber seit 1914 nicht mehr. Ich sah damals Bekannte zu Pferde am Zoo. Ich habe mich mit ihnen beinahe verrissen. Ich sagte ihnen, alle diensttauglichen Pferde gehörten an die Front. Der Rest an die Arbeit in der Heimat. Und seit 1918 habe ich das Reiten natürlich erst recht gelassen."
Helfferich gehörte zu den meist aufgesuchten Männern Deutschlands, weil man in allen fünf Erdteilen das instinktive Gefühl hatte, solange ein Helfferich noch unter uns lebe, sei Deutschlands Rolle noch nicht ausgespielt. Seine Sätze, seine Reden waren prophetisch, denn die Augen in diesem Adlerkopf erspähten, was noch kein anderer sah. Er warb für Deutschland in fast allen Kultursprachen, er konnte sich gleich geläufig mit seinen Besuchern auf Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Türkisch unterhalten, auf Spanisch und Neugriechisch sich leidlich durchhelfen. Im Parlament war er der rastloseste wirkliche Arbeiter, und dabei produzierte er noch bändereiche Bücher nebenher. Eines seiner Bücher hat er mir einmal mit der Widmung "In dankbarer Erinnerung an die Kampfesgenossenschaft in mancher schweren Fehde" geschenkt; diese handschriftliche Eintragung ist mir fast noch wertvoller als der kurze Brief, den ich einst in ganz jungen Jahren von dem Altreichskanzler Fürsten Bismarck bekommen habe.
Jung, blutjung war Helfferich, als er schon unter die europäischen Größen zählte. Spät, sehr spät hat er, der für das Land sich aufrieb, sich erst das eigene Heim geschaffen.
Die schlichteste und gütigste Frau, die je über das Parkett der Berliner ersten Gesellschaft gewandelt, hat er geheiratet, eine ganz unauffällige Erscheinung. Das Arbeitszimmer war das Zentrum dieses Hauses, Berliner "Betrieb" kannte man hier nicht. Sonst die übliche Berliner Mietswohnung, in der die beiden hausten, draußen am Viktoria-Luise-Platz, und fast in nichts von anderen unterschieden, es sei denn durch die Fülle der Bücher darin; und durch die gelegentlichen Gäste, unter denen Hindenburg und Ludendorff nicht die seltensten waren. Einen Sohn, ein jetzt erst zweijähriges kleines Bübchen, hat die Witwe nach kurzem, tiefem Eheglück behalten und will den jungen Adler nun heranziehen, wie der Vater es gewollt: für Deutschland.
Helfferich hat es noch erlebt, wie seine Rentenmark den Alp von uns nahm, wie wir bei gutem Gelde wieder gesundeten, wie unsere Nerven sich strafften. Den Sieg des nationalen Gedankens in den Wahlen sieht er nicht mehr. Auch kann er nicht mehr an die zwei großen Aufgaben, die er sich gesetzt hatte, selber Hand anlegen: im Auslande den deutschen Namen nach der fünfjährigen Periode der Unterschreiber und Jasager und Erfüllungsfakire wieder geachtet zu machen; und im Innern dafür zu sorgen, daß unsere Jugend erneut zu vaterländischer Arbeit und Ehrfurcht vor Größe erzogen wird. Noch sind wir hier mitten im Abbauen. Man entläßt mehr Lehrer, als ein gebildetes Volk vertragen kann. Man schafft in Berlin und wohl auch anderswo nicht nur die dritte Turnstunde in der Woche, sondern auch mehrere Stunden in wissenschaftlichen Fächern ab. Es ist auf einmal furchtbar viel Zeit für den Tauentzienbummel, den Rundfunk, das Zigarettenrauchen übrig. In diesem Capua wird das Ehrhardtlied, das sonst immer stieg, vergessen. Statt dessen erschallt in allen Berliner Gymnasien, zur innigen Beruhigung aller wahren Republikaner, nur noch der Rundgesang:
Und wenn sie uns die Stiefelsohlen |
35
Mah-Dschong - Überall Spielseuche - Vor dem Scheidungsrichter - Der Nibelungen 2. Teil - Frau v. Harbous Prospekt - Messalina - "Bei mir -".
Einen ganzen Nachmittag - und gerade nachmittags kann ich mich doch so schwer von der Arbeit freimachen - klang es mir so in den Ohren. Endlich. Ich war schon lange darauf aus. Immer wieder hatte ich das Auto mit dem Wappen einer fremden Gesandtschaft, aber nicht etwa der chinesischen, dem die reizende Frau Legationsrat entstieg, vor dem großen Kaufhaus zu bestimmter Zeit halten sehen. Und immer stand es da noch nach Stunden. Aha. Ich bin kein Sherlock Holmes. Aber soviel war mir klar, daß die junge Dame nicht alle Tage hier Einkäufe machte, sondern das Kaufhaus nur als Durchgang benutzte. Richtig, am hinteren Ausgang, in der Parallelstraße, rief sie denn auch eine Droschke heran, während ihr Chauffeur vorn am Hauptportal stundenlang weiterdöste.
In solchen Situationen soll man eine Dame nie grüßen, sondern mit möglichst geistesabwesender Miene vorübertrotten.Ich kann ein fabelhaft dummes Gesicht machen. Ich mache also auch hier mein dümmstes Gesicht und starre auf die weiß-violetten Pyjamas im Schaufenster. Da kommt das junge Frauchen von selbst heran, begrüßt mich und sagt im schönsten Berlinisch:
"Was Sie denken, ist nicht. Ich geh bloß Mah-Dschong spielen. Kommen Sie mit."
Sehr gern. Das habe ich mir schon lange gewünscht. Bridge ist veraltet. Mit vieler Mühe haben Neureichs sich Bridge, die Stunde zu fünf Mark, von Spezialisten beibringen lassen, aber Lehmanns lachen sie aus, denn die haben Mah-Dschong, die Stunde zu 10 Mark, bei einer Dame in der Mommsenstraße gelernt. Das ist tip-top. Nur unschicke Leute spielen noch Bridge. In Amerika sitzt von Frisko bis Newyork alles über diesen chinesischen Dominosteinen. Ein junger Bekannter von mir war über Ostern im ungarisch-slowakischen Bade Pistyan und kehrt mit der Behauptung zurück, jeder Gent spreche nur noch von Mah-Dschong. In Italien ist selbst Mussolini gegen die Spielwut machtlos und hat soeben offiziell neben den Kleinen Pferdchen und dem Bac auch Mah-Dschong genehmigt, nachdem er vor wenigen Monaten alles verboten hatte. In Berlin W sah ich neulich in einer Familie die 144 Steine aus schönem Elfenbein in Lederetui, Kostenpunkt 65 Dollars. Es gibt aber schon ganz billige Ausgaben. Für ein paar Mark. Nächstens klappern die Bambus-, Zirkel-, Charakter-, Wind-, Klima- und Glückszeichen mit der chinesischen Schrift wohl schon im Laubengelände in NO. Ganz Berlin ist von der Seuche ergriffen. Auch die kleine Frau Legationsrat ist ganz Leidenschaft. Nicht etwa für mich. Sondern für Mah-Dschong. So wie früher für Bridge, bis ihr Gatte ihr eines Tages das Handwerk legte.
Also da sitzen wir ein paar Straßen weiter im Heim des Kunsthändlers. Drei Damen und ich. Mindestens zwei, höchstens vier Personen gehören zu dem Spiel. Der Mokka wird kalt, der Grand Marnier verduftet, die Petits Fours werden trocken. Wir würfeln um den Anfang, nachdem wir die chinesische Mauer gebaut haben. Frau Legationsrat bekommt die Bank, bekommt den Osten, muß die erste Bresche schlagen. Ich bin zur Nordmauer gekommen. Flink wird ein Stein nach dem anderen abgehoben, wie eine Karte zum eigenen Spiel genommen. Unpassendes stößt man ab, legt es offen innerhalb der Mauer mitten auf den Tisch. Hat man drei gleiche Steine bekommen oder erspielt: Pang! Hat man eine Gruppe von dreien hintereinander, etwa Bambus 3, 4, 5: Tschau! Hat man aber gar vier gleiche Steine: Kong!
"Ich habe keine gute Hand, ich werfe vier Charaktere hinaus!", klagt die Frau des Kunsthändlers.
Aber im allgemeinen wird wenig gesprochen. Es geht außerordentlich flink. In wneigen Minuten ist ein Spiel - in Amerika meist um Zwanzigstel Cents, in Berlin um Zehntel Pfennig - zu Ende, und es wird Kasse gemacht. 88 für mich, 104 für Frau Legationsrat. Weiter, nächstes Spiel. Nun mit Überlegung, mit Tricks, mit Bluffs. Fräulein Doktor, unsere dritte Partnerin, beißt die Lippen zusammen. Sie ist erheblich auf der Minusseite. Noch etliche Spiele weiter, da hat sie schon 19 Mark verloren.
Einfach fabelhaft. Bridge ist gar nichts dagegen. Mah-Dschong schafft an einem Tage unter Umständen eine Tirolreise oder ein Pleureusen-Stilkleid. Oder einen - Scheidungsprozeß. Bridge hat lange nicht so viele Ehen ruiniert. Mah-Dschong ist stärker.
Im fernen Osten, an einem glühheißen Augusttag, vor nunmehr achtzehn Jahren, habe ich zum erstenmal Mah-Dschong, das man damals weder in Amerika noch Europa kannte, gesehen. Ein Sarte, ein Kirgise, zwei Chinesen spielten es. Der Sarte, ein reicher Baumwollhändler, hatte kurz zuvor beim Wachtelkampf mit seiner kleinen Kampfwachtel, die als Außenseiter galt, buchstäblich im Handumdrehen nach unserer Währung 2000 Goldmark gewonnen. Er hatte, als man im Ring beieinanderkauerte, die Hand in dem lang herabhängenden Ärmel geöffnet, die Wachtel war herausstolziert, hatte sich auf die vom Gegenüber gestürzt, und die floh nach wenigen Schnabelhieben zurück in den Ärmel ihres Besitzers drüben. Aus. Liebevoll nahm mein Sarte seinen siegreichen Vogel wieder in die Hand, massierte ihm die streichholzdünnen Beinchen und kassierte seine 2000 Mark. Jetzt gingen sie binnen wenigen Stunden wieder flöten. Ich glaube, die beiden Chinesen waren im Bunde und verhalfen sich gegenseitig zu Paßsteinen. Fast hätte der Sarte nachher noch seine Kampfwachtel versetzt oder sonstwie unbar weitergespielt. Aber der Kirgise machte ein Ende. Die beiden Chinesen könnten doch nun etwas ausgeben. Und man einigte sich darauf, ein kleines Fest zu veranstalten, bei dem Bantschus, junge Lustknaben, tanzen sollten.
Ich habe einen ekelhaften Geschmack am Gaumen, wenn ich an die vier gelben Kerle zurückdenke. Bei unserem Nächsten sehen Gier und Leidenschaft immer häßlich aus. Einen ähnlich abstoßenden Eindruck hatte ich vor etwa zwölf Jahren im Klub in Ostende, wo die zaundürre Frau Kommerzienrat Jandorf am Baccarat-Tisch neben mir saß. Ihr Mann, der Warenhauskönig, stand hinter ihr und holte immer neue Hundert- und Tausendfrankenscheine aus der Brusttasche. Mich selbst packt es nicht. Um so etwas kennzulernen, opfere ich alle paar Jahre einmal zwanzig Mark und mache dann sofort Schluß; auch zum Mah-Dschong ziehen mich keine drei schönen Frauen mehr.
Seit der Revolution, wo offen auf dem Potsdamer Platz Lustige Sieben und Schlesische Lotterie an Dutzenden von Tischen gespielt wurde, hat die Spielwut rasend um sich gefressen. Im vorigen Jahr erzählte ich von der Verwüstung in den ärmeren Schichten, von dem täglichen Pech des Händler-Karl in dem Askanischen Keller. Ganz besonders ist es aber jetzt die Großkonfektion, die sich immer wieder bei der ständig mit einem Spielzimmer neu auftauchenden Mama Goldhahn oder anderswo rupfen läßt. Wenn aber Damen dem Laster verfallen, endet das meist doch vor dem Scheidungsrichter.
Der Mann noch in den besten Jahren. Die Frau, obwohl jünger, eine Ruine. Ihr hemmungsloses Spiel entfremdete die beiden. Sie fühlte sich vernachlässigt. Da wurde die Opiumpfeife ihre Trösterin. "Warum auch noch das?", fragt kühl, etwas angewidert, bei der Vernehmung der Richter.
Da schlägt die Frau die schon fast erstorbenen Augen in dem aschfahlen Gesicht auf und stöhnt:
"Weil ich nur noch - im Opiumrausch - den Mann, meinen Mann so sah, wie einst - den lieben Mann - der mich begehrte - als ich noch begehrenswert war - nicht spielte, nicht Opium nahm."
Ein wahres Glück, daß solche entsetzlichen Tragödien, wenn sie auch hin und wieder sich in Familien abspielen, die man kennt, eine verhältnismäßig seltene Erscheinung sind. Ganz oben und ganz unten auf der sozialen - nein: finanziellen - Stufenleiter zerstören Spiel oder Trunk viele Existenzen, aber die große Masse des arbeitenden Mittelstandes, im weitesten Sinne gemessen, ist noch frei von solchen Exzessen. "Noch" frei. Doch der Anschauungsunterricht, den der Film uns gibt, sorgt ja allmählich dafür, daß "Leidenschaft" jeder Art, nur ein bißchen eingeschmalzt durch Sentimentalität, dem Volke als sein gutes Recht auf Ausleben erscheint. Wirklich große und edle Leidenschaft loht in Thea v.Harbous Nibelungen. Auch der zweite Teil, obwohl ihm das märchenhaft Schöne fehlt, ist grandios in der Komposition, in der unerbittlichen Folgerichtigkeit des altgermanischen Sühnegedankens. Das ist so recht etwas zum Aufwühlen unserer Gedankenlosen. Und das ist von einer ungeheuren sittlichen Wucht, wie sie kein anderes Volk, am wenigsten das klassische Altertum mit seiner blindwaltenden Moira gekannt hat. Wer die Nibelungen - beide Teile - erlebt, dem straffen sich Arm und Herz, der geht erschüttert, aber doch wieder erhoben davon; und stolz auf dieses deutsche Werk. Es war stärker sogar als seine Schöpferin. Thea v.Harbou ist vor ihrer eigenen Arbeit ins Stammeln gekommen und hat in dem Prospekt des 2. Teils allerlei Mißverständliches über Germanenart veröffentlicht. Was bleibt, das ist aber nicht der Prospekt, sondern das Drama. Was bleibt, das ist wie eingehämmert in unser Hirn die Gewißheit: jede Untreue wird auf Erden gerächt. Frau v.Harbou hat recht, wenn sie findet, unsere deutsche Geschichte sei voll von grauenhaftem Treubruch. Unter den Folgen des letzten und größten, der gerade fünfeinhalb Jahre alt ist, muß unser Volk ja fast verbluten. Auch da ist die Sühne unumgänglich. Ehe nicht wieder gutgemacht ist, was im November verbrochen wurde, ehe die Urheber nicht bekehrt oder vernichtet sind, kann es uns nicht wohlgehen; und kommt die Sühne nicht, so gehen wir alle miteinander zugrunde wie die Hunnen und Burgunden.
Wir sind es nur nicht gewohnt, so sub specie aeternitatis, so vom Ewigkeitsstandpunkt der Geschichte aus die Ereignisse der Gegenwart zu betrachten. Wir gehen auch lieber in Prunkfilme wie die Messalina der italienischen Gesellschaft, die uns Deutschen wirklich nicht viel außer sogenannter Leidenschaft bieten kann; da aber ist die Leidenschaft schon nur Laster, Laster und Verbrechen aus Roms dekadenten Zeiten. Der Prunk täuscht Einfältige darüber hinweg, enttäuscht aber alle diejenigen, die wirklich den Atem der Geschichte und der großen Leidenschaft suchen, - in diesem gemessen an deutscher Kunst armseligen Film muß im übrigen der Busen als Blasebalg, Großaufnahme, durch sein Wogen alles ersetzen, was unsere Mimik ganz anders darzustellen vermag.
Aber darüber gibt sich der Berliner kaum Rechenschaft.Er ist zufrieden, wenn er für Begegnende eine stereotype Redensart hat. In alten Zeiten: "Wie denken Sie über Rußland?" Einge Jahre vor dem Kriege: "Ha'm S nicht den kleinen Kohn gesehn?" Und heute: "Bei mir ..."
Alles beimirt. Jedermann grübelt nur noch über eine neue Version. "Bei mir Mielenz!" ruft ein Bekannter dir zu. Du siehst ihn fragend an. "Tja: ein Schlag, und Fern Andra ist Witwe!" antwortet er feixend. "Bei mir rote Laterne. Einfahrt verboten!" "Bei mir Müllgrube. Immer rin mit deinen Blechabfällen!" "Bei mir Hannover: Immer an der Leine." "Bei mir Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirch: Türme, türme, türme!" Immer wird "bei mir" nur mit der ersten Wendung gesagt und erst dann, wenn der Angeredete nicht versteht, die zweite hinzugefügt. "Bei mir: Deutsche Volkspartei!" steht jetzt sogar an den Anschlagsäulen. "Mir auch!", schreibt ein Ritter Götz dazu. Das Beimirgerede hat sogar schon einen Drucker und Verleger gefunden, der mit besonderer Sachkenntnis die Beimir-Zitate mit zotiger Nebenbedeutung gesammelt hat. Bei mir, in diesem kaum dem Inflationselend entronnenen Berlin, ist alle Torheit möglich.
Bei mir Kakao. Hier kann jeder durchgezogen werden.
1. Mai 1924 (Donnerstag)
36
Am Kopfhörer - Was die Waschfrau dazu sagt - In der Wahlnacht - Berlin wieder sauber - "Zapfenstreich" - Ruth Fischer und Erna Morena.
Natürlich haben wir auch einen. Wie? Nein! Ich meine natürlich einen Rundfunk.
Wie das so eben geht: man lächelt überlegen, man ist eiskühl, aber man kann eher einer hydraulischen Presse von 100 Pferdestärken widerstehen, als dem täglich verstärkten Druck der Gründe aus dem heißen Herzen eines vierzehnjährigen Sekundaners. Schließlich schmelzen die Bedenken dahin. Also bastele nur zu, mein Junge. Das Basteln ist des Jungen Lust, das Basteln; wem niemals fiel das Basteln ein, der mag kein rechter Junge sein, das Basteln. In der Tat: innerhalb 8 Stunden und für spottwenig Geld, nach sparsamstem Einkauf der nötigen Materialien, ist der Apparat zustande gebracht. Oben auf der Galerie in der Halle, kaum sichtbar und nicht störend, die Antenne, zweimal zehn Meter. Daneben im roten Zimmer, zwischen bequemen Sesseln auf einem kleinen Tisch, ein Brettchen und darauf Spule, Detektor, Kondensator und die paar Klemmschrauben für die Kopfhörer. Den ganzen Bastelkram kann man in zwei Hosentaschen unterbringen. Dabei hört man ganz ausgezeichnet, was einem da durch die Luft zugesprochen oder zumusiziert wird; nur ist dieses freilich nicht immer ausgezeichnet.
Jedenfalls unsere Minna staunt Bauklötze. Sie hat sich strahlend einen Vortrag über die feine Küche angehört und erzählt nachher allerlei über das beste Servieren von Lachsforellen. Aber die Klappstullen und Bratkartoffeln unseres einfachen Abendbrotes kommen an dem Tage 20 Minuten zu spät auf den Tisch.
Eine besondere Feier ist die Einführung unserer alten Waschfrau in das Wesen des Rundfunks. Sie wischt sich mit der Schürze über Augen und Nase, wischt mit der Schürze dann über den Sessel, nimmt umständlich Platz, kriegt die Horchklappen angelegt und starrt nun, den Mund weit offen, in die Unendlichkeit. Unsere ganze Familie steht um sie herum und beobachtet die Wirkung. Zuerst wird ihr von tausend Falten zersägtes Gesicht noch faltiger, fast bekümmert, dann heitert es sich auf, und schließlich biegt sich die Alte, als wenn sie jemand kitzele, hin und her, nimmt auf einmal den Kopfhörer ab und platzt aus:
"Wenn det der liebe Jott zukuckt, wat heite die Menschen nu alles machen, denn lacht er sich den Bauch kapott!"
Also die Geschichte kostet uns nun nach der einmaligen Ausgabe für die Sächelchen nur 2 Mark Hörmiete monatlich. Dazu kommen aber wohl noch weitere 2 Mark für den Ersatz der durch den Kopfhörer zerrissenen Haarnetze der Damen unserer Familie.
Die Umwälzungen durch die neue Erfindung sind nicht zu zählen. Zunächst machen soundso viele Grammophonfabriken Pleite, denn der Absatz ihrer Konservenmusik ist auf ein Minimum zurückgegangen, weil man auf Hunderttausenden von Rundfunkanschlüssen die Ware ganz frisch bekommt. Außerdem werden soundso viele Scheidungsrichter demnächst wohl abgebaut werden müssen, denn Mann und Frau zanken sich nicht mehr, sondern hören mäuschenstill zu, wenn der Rundfunk loslegt. Bei einigermaßen zweifelhaftem Wetter bleiben auch die Konzertcafés fortan leer. Und der Buchhandel hat erneut Anlaß zum Klagen, denn nachdem schon die Zeitungen durch ihren vielseitigen Inhalt ihm viele Kunden abspenstig gemacht haben, versorgt nun auch noch der Rundfunk alle Halbgebildeten mit halbwissenschaftlichen Vorträgen aus allen Gebieten der menschlichen Erkenntnis.
Mitunter ist die drahtlose Übertragung so wunderbar klar, daß man schier vermeint, das Atemholen der Sängerin zu hören; oder daß man an dem Ton des Cellos seine Herkunft erraten zu können glaubt. Nur nicht ganz so plastisch ist die Musik wie im Konzertsaal, wo jede Wand als Resonanzboden dient. Mitunter gibt es freilich auch noch Störungen, und die Klavierbegleitung schrillt, als habe irgendein Lausbub heimlich ein Lineal auf die Saiten des geöffneten Flügels gelegt. Außerdem können wir auf unserer sehr primitiven Spule die Wellenlänge nicht haargenau ertasten; wenn also annähernd mit Voxhaus-Wellenlänge noch sonst jemand in den Weltenraum hineinquatscht, hören wir das, wenn auch etwas leiser, gleichzeitig. Da bringt gerade die Sängerin einer italienischen Serenade im Voxhaus mit höchstem Kopfton ihr "perquè . . . perquè . . ." heraus, aber wir hören, daß zur selben Zeit ein Ingenieur auf dem Sender der Firma Huth eine Vortrag über Wärmeenergie in die Welt hinausspricht, und im Hintergrunde, ich glaube in Astrachan oder Irkutsk, ein Kirchenchor düstere Bußgesänge von sich gibt. Dies ist uns freilich erst ein einziges Mal widerfahren.
Fix und fertig war der Apparat, wie gewünscht, am Wahlsonntag. Mochten also andere Leute in die Innenstadt pilgern und sich nachts, da patriotische Begeisterung in Preußen noch immer verboten ist, von Severings Polizeirossen auf die Füße trampeln lassen. Ich sitze statt dessen bequem im Sessel, die letzte der köstlich duftenden mexikanischen Puros im Munde, die mir einst gute Freunde von drüben zugestellt haben, und lasse mir die Wahlresultate melden, bis der Ansager endlich um ½2 Uhr schließt und die in den Pausen konzertierende Kapelle mich mit der Wacht am Rhein und dem Deutschlandliede entläßt. Zum Vergleich habe ich die Statistiken der Wahl von 1920 auf den Knien. Früher als mancher andere bin ich so im Bilde. Schon in dieser Nacht weiß ich, daß die Deutschnationalen die stärkste Fraktion sein werden. Langsam ändert es sich. Gerade eben habe ich noch in Reuters Franzosentid gelesen, daß der Deutsche von hartem Kernholz sei, das schwer Feuer fange, dann aber auch dauernd starke Glut gebe. In der Nationalversammlung hatten die Sozialisten noch 45 Prozent aller Sitze; jetzt bringt es die gesamte Novemberei einschließlich der Kommunisten nur noch auf 34 Prozent, weniger sogar, als die Roten im letzten Reichstag unter dem Kaiserreich besaßen. Auf dem Potsdamer Platz haben die Leute "Nun danket alle Gott" gesungen, bis die Schutzmannsgäule sie in die Flucht schlugen.
Tags darauf ist der ganze Spuk verflogen. Die Massen verschmutzten Papieres der Wahlaufrufe, Flugblätter, Handzettel, die in Haufen auf Straßen und Bürgersteigen lagen, sind entfernt. Berlin ist tatsächlich und symbolisch wieder eine saubere Stadt.
Noch nicht die alte Kaiserstadt, das ist freilich richtig; obwohl sie seit Bestehen des Reichstages noch nie verhältnismäßig so viele nationale Stimmen aufgebracht hat wie diesmal. Jahrzehntelang hatte sie nur demokratische und sozialdemokratische Vertreter. Trotzdem noch nicht die alte Kaiserstadt: es fehlt vor allem der blinkende Soldat, die Wache am Brandenburger Tor und die Neue Wache sind unbesetzt, im Kronprinzenpalais hängt ein Bildnis Fritz Eberts, vor dessen breiten "Menschenfresser-Kinnladen" selbst die Tante Voß sich in ästhetischem Entsetzen windet, und es gibt hier noch Beamte, die sich damit brüsten, zu den Novembersozialisten zu gehören, sogar in unserem auswärtigen Dienste; Generalkonsul an einem der wichtigsten Plätze des nahen Ostens, in Smyrna, ist ein Herr geworden, der sich zur Sozialdemokratie bekennt, und in der Zentrale in der Wilhelmstraße sitzt ein Geheimer Legationsrat, der in seiner freien Zeit kommunistische Propagandareden hält. Aber um so mehr sehnt man sich nach der alten Kaiserstadt. Wenigstens nach ihren schmucken Soldaten, nach der ganzen versunkenen Herrlichkeit der früheren Armee, nach ihrer straffen Erziehung der Jungmänner und sogar nach dem lieben, leichtsinnigen, schneidigen Leutnant von ehedem.
In dieser Zeit der Theateröde ist es brechend voll, wo die Uniform auf die Bühne gebracht wird. Sogar die Warenhauskönige des Berliner Schaubetriebes, die Gebrüder Rotter, deren Unternehmungen früher mit Recht Fleischbeschaupaläste genannt wurden, haben für ihr Trianon-Theater unter den Stadtbahnbögen nahe der Friedrichstraße jetzt Beyerleins "Zapfenstreich" wieder ausgegraben, - und das Publikum, kleines Mittelstandspublikum bis zum gehobenen Arbeiter herab, viel Studentenvolk dazu, auch in Menge Bureaufräuleins, Ladenmädchen, Wirtschafterinnen, Krankenschwestern, Kriegswitwen, Schalterdamen, strömt herzu wie toll. Einst galt das Stück als gefährlich in seiner ganzen Tendenz. Man durfte es doch nicht sagen, daß ein im übrigen famoser, tapferer kleiner Ulanenleutnant ein Gschpusi hat, ein süßes Mädel. Irre ich mich nicht, so kriegte der Kronprinz 5 Tage Stubenarrest, weil er gemeinsam mit dem Leutnant v.Zobeltitz in Uniform den "Zapfenstreich" damals - es mögen wohl zwanzig Jahre seither verflossen sein - im Deutschen Theater sich angesehen hat. In einer wundervoll echten Aufführung zieht das alte Stück jetzt wieder an uns vorüber, und die Wirkung ist nicht Auflehnung, sondern Rührung, nicht antimilitaristisch, sondern nationalistisch. Die Leute lachen Tränen, um ihre Rührung, ja ihre Begeisterung zu verbergen, ganz gleich, ob der Bursche Michalek seine dumme Visage auf die Bühne steckt oder der Vizewachtmeister Queiß im Drillichrock, den Strohhalm zwischen den Lippen, aus dem Stall kommt oder der Leutnant v.Höwen dem leichtherzigen Kameraden von der sittlichen Hoheit des Offizierberufes erzählt oder der Rittmeister Graf Lehdenburg im Kriegsgericht den Mutterwitz und das Menschentum des Junkers der guten Sorte produziert oder der alte Wachtmeister Volkhardt mit seinen 33 Dienstjahren über dem Geschick seiner Tochter zusammenbricht; in Scherz und Ernst, in Leichtsinn und Treue, in Liebelei und Berufsfanatismus alles in allem ein so gut gesehener Ausschnitt aus dem Leben der alten Armee, auch wenn der tragische Einzelfall durchaus ein Ausnahmefall ist, daß jeder der hingerissenen Zuschauer den Eindruck der absolutesten Wahrheit hat. Und vor allem: das Ganze ist ja durchtränkt von Poesie; durchtränkt von Romantik auch in den alltäglichen Zügen aus dem Dienstbetrieb. Man kriegt wieder einmal die große Sehnsucht. Man ringt wieder einmal innerlich um die Wiederkehr alles Verschollenen.
Damals gab es in Berlin noch keine geheimen Waffenlager, gehütet von Leuten mit Sowjetstern oder mit Hakenkreuz. Damals wurde das Maß aller Dinge uns auch noch nicht von auswärtiger Kontrolle vorgeschrieben, sondern wir hatten nur ein einziges Heer, ein deutsches Heer, das sich nach eigener ruhmreicher Überlieferung fortentwickelte. In der Leidenschaft, mit der man jetzt die alten Militärstücke auf der Bühne erlebt, steckt auch ein gut Teil Verlangen nach jener Einheit, als wir noch nicht unter Sowjetstern und Hakenkreuz und in insgesamt 23 Parteien gespalten waren.
Und nicht vor dem Fremden katzbuckelten. Das ist das schlimmste. Die einen bei uns horchen jetzt auf Paris, die anderen auf Moskau. Wir sind wieder Obrigkeitsstaat trotz aller Revolution. Nur sitzen unsere Oberen jetzt jenseits der Grenze. In Berlin unterhalten sie ihre Landvögte. Im Hotel Adlon die französischen Kontrolloffiziere. In der Lindenstraße die sowjetrussischen Revolutionierer. Da befindet sich auch das Asyl für unsere heimischen Moskowiter.
Die Partei war wochenlang "verboten", hat aber trotzdem mit Unterstützung der Sinowjew-Apfelbaum-Gesellschaft "illegal" weitergelebt. Sogar einen regulären Parteitag abgehalten, von dem Severing angeblich nichts gemerkt hat. Auf dieser Versammlung der kommunistischen Vertreter aus ganz Deutschland hatte Ruth Fischer ein Referat zu halten, die neugewählte Abgeordnete, die kürzlich wegen Mangels an Erfolg aus dem Vorstand der deutschen Tsche-Ka entfernt worden war und nun sich wieder "anschmusen" wollte. Das mußte man gehört, das mußte man vor allem gesehen haben. Also Ruth Fischer stellte sich nicht etwa hinter das Rednerpult, sondern setzte sich auf seine Kante und baumelte mit den florbestrumpften Beinen, denen ein kniefreies Röckchen volle Freiheit ließ, bis über die "englische" Länge hinaus; dazu ließ Ruth, die nicht zum Ährenlesen, sondern zum Menschenfangen da war, noch im Eifer des Gefechtes das eine Achselband ihrer Bluse herunterrutschen, während sie mit ihren bloßen Armen lebhaft gestikulierte, was bei den Kommunisten ja meist eine Stammeseigentümlichkeit ist. Man wird es mir glauben, wenn ich sage, daß die Versammlung zwar nicht ganz Ohr, aber ganz Auge war. Ganz Stiel-Auge. Und daß das Gedränge unmittelbar vor dem Katheder immer lebensgefährlicher wurde. Und daß der nächstfolgende Redner, nennen wir ihn einmal Adolf Hoffmann, verständnisinnige Heiterkeit erweckte, als er mit den Worten begann:
"Angesichts der Wucht von die nackten Tatsachen, vor die uns die Genossin Fischer gestellt hat, muß ich mir ganz kurz fassen."
Übrigens ist diese Art Zurschaustellung nicht neu. Versucht Ruth Fischer durch die Wucht nackter Tatsachen zu wirken, so tut es Erna Morena, die bekannte Filmdarstellerin, durch das Raffinement ihrer angeblich verhüllenden Toiletten. Über den Luxus dieser Diva hat einmal ein rotes Organ sich sehr aufgeregt, als es wohl noch nicht wußte, daß Schön-Erna die Gattin - des Hamburger Kommunisten Wilhelm Herzog ist.
8. Mai 1924 (Donnerstag)
Glossen 31 - 33 |
Jahresinhalt |
Glossen 37 - 39 |