Humoristische Plauderei von Freiherr von Schlicht.
Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, ist ein reichliches Jahr vergangen, seitdem ich hier eines Tages zur Laute das schöne Lied sang: „Wie war das Reisen einst bequem, wie billig und wie angenehm!” Damals gab ich meinen lieben Mitmenschen, und namentlich mir selbst, der ich früher so gern in der Welt herumgereist war, den guten Rat, reise zu Hause, denn ich ahnte nichts davon, daß ich bald darauf gezwungen werden würde, ein Reiseleben zu führen. Und wenn ich jetzt auf Kosten der Leute, die mich bei sich haben wollen, im D-Zug durch Deutschlands Gaue fahre, dann komme ich immer wieder zu der Erkenntnis, daß das Reisen zu Hause doch nicht ganz denselben Reiz hat, als wenn man wirklich reist. Aber zweierlei braucht man heutzutage mehr als je, um das Reisen zu preisen und um die Reisepreise bezahlen zu können: Sonne, nein, drei Sack oder drei Schock Sonne im Herzen, und im Gepäckwagen wenigstens drei große Koffer, die obenhin vollgepackt mit den äußerlich so schauderhaft häßlichen, aber trotzdem für den, der sie hat, ganz angenehmen Fünf-, Zehn- und noch höheren Millionenscheinen. Beides muß man mitnehmen, und die Sonne muß fester im Herzen sitzen als das Geld in der Brieftasche, sonst fliegt die schon während der Fahrt zum Fenster hinaus, denn ein wollüstiges Vergnügen ist es wirklich nicht, in einem Abteil, das für acht Personen bestimmt ist, zu achtzehn zu stehen, zu sitzen, zu schwitzen und zu Gelee gequetscht zu werden. Auf jedem Arm ein fremdes Kind zu halten, sich, ohne zu fluchen, von den Würmern naß machen zu lassen, geduldig still zu halten, wenn man von rechts und links, von vorne und von hinten aus dem Netz fallende Hutschachteln, Handkoffer und mit schweren Bergschuhen beschwerte Rucksäcke auf den Kopf bekommt — wenn man vor Hunger einen Anfall von Hungertyphus erleidet und nicht in den Speisewagen kann, weil die Gänge des D-Zuges so proppenvoll stehen, daß selbst die aalglatteste Schlange sich durch die Menschenmenge nicht hindurchzuwinden vermöchte. Und man muß seine Herzenssonne auch ganz verdammt festhalten, wenn man so nötig, wie es nur in den Fällen der höchsten Not nötig ist, auf die Toilette muß und wenn die seit Stunden von einem freundlichen Mitreisenden besetzt ist, der sich dort häuslich niedergelassen hat und der gar nicht daran denkt, sich in den nächsten Stunden von seinem Platz zu erheben, weil er nicht länger im Gang stehen will oder kann. Und sehr hübsch ist es auch, wenn vor dem Eingang zur Toilette Gepäckstücke jeglicher Art und jeglichen Kalibers auf- und übereinander gestapelt sind, als wäre der dortige Raum die Gepäckabfertigungsstelle eines großen Bahnhofes. Und in wie außerordentlich liebenswürdiger Weise wird man von seinen Mitreisenden beschimpft, verflucht, und wenn man Glück hat, in die Backenzähne gehauen, wenn man eingedenk des Wortes: „Freie Bahn dem Tüchtigen!” es wagt, die Gepäckstücke nur anzufassen, um sich freie Bahn zu schaffen.
Preise das Reisen, aber um Gotteswillen nicht die Reisepreise, sonst werden die noch höher, als sie es auf allgemeinen Wunsch und, um endlich einem dringenden Bedürfnius abzuhelfen, jetzt ja ohnehin schon alle vierzehn Tage werden sollen. Und dabei kostet das Reisen doch heute schon allerhand, um nicht zu sagen, allerlei Hände. Als ich am letzten Juni von Köln nach Westerland auf Sylt fuhr, kostete mein Billet rund 90 000 Mark, mein Gepäck ebensoviel. Als ich am 1. August abreiste, kostete mein Koffer hierher 810 000 Mk. Nur der Koffer, ohne mich, oder sagt man ohne ich?
Und nun erst die Preise in einem Badeort. Erbarmung, Königliche Hoheit! Hier im Städtchen bekommt man ja auch nichts geschenkt, im Gegenteil. Während des Krieges sprach man immer von dem Weißbluten, jetzt müssen wir uns weiß bezahlen. Warum kommt keine Kuh vor das Wuchergericht oder in die Irrenanstalt, wenn sie für einen Liter Milch, die noch dazu meistens keine ist, 15 000 Mark und in vier Wochen vielleicht 150 000 Mark verlangt? Aber trotzdem, auf Reisen ist es noch teurer. Wenn man des Morgens aufwacht, hat man in seinem Bettchen schon durchschnittlich vier- bis fünfhunderttausend Mark verschlafen, und zwar jede Nacht. Der Morgenkaffee kostet rund 80 000 Mark und wer, bevor er sein mit Recht so beliebtes Morgenei selbst legt, ein morgendliches Hühnerei ißt, darf dafür 25 000 Mark extra bezahlen. Und nun erst das Mittagessen! Eines Tages entdeckte ich an der Außentür eines sehr vornehmen Restaurants eine Speisekarte: Suppe — Fisch — Braten — Nachtisch — Butter und Käse. Preis 800 Mark. Erst glaubte ich, ich hätte mich verlesen und putzte mit dem Taschentuch meine Pupillen, aber die hatten sich nicht geirrt, da stand wahrhaftig 800 Mark. Ich ging, nein ich flog durch die Glastür in das Lokal, um mich für das Spottgeld einmal ordentlich satt zu essen; aber leider mußte ich gleich darauf erfahren, daß auf meine Pupillen doch kein Verlaß mehr war, denn unter den 800 Mark hatte ganz klein geschrieben gestanden: 1 Mark = 1000 Mark, so daß das Mittagessen in Wirklichkeit 800 000 Mark kostete. Für den, der es bezahlen konnte. Was ich aber leider nicht konnte, denn ich war kein Schieber, wie ein mir bekannter Herr, der sich am Tage seiner Ankunft tausend holländische Gulden gekauft hatte und an diesen, als ich abreiste, bereits 750 Millionen Papiermark verdient hatte, ein frohes Familienereignis, das er mit einer ganzen Ente und einer dreifachen Portion Gurkensalat feierte. Kostenpunkt eine Million! Na, wenn schon, wenn man 750 verdient hat. Neppich!
Schön ist der Strand, gelb ist der Sand, teuer, ach teuer ist Westerland oder Nepperland, wie es im allgemeinen genannt wurde, obgleich es in anderen Bädern und Badeorten auch nicht billiger ist. Für die Preise auf Reisen nur ein paar Zahlen: der Nachmittagskaffee 60 000 Mark, das kleinste Stück Kuchen 15 000 Mark, ein Glas helles Bier 50 000 Mark, Pensionspreis ohne Zimmer von 400 000 Mark aufwärts bis in die Puppen. Und beinahe jeden Tag, wenn man zum ersten Frühstück kam, fand man auf seinem Platz einen Zettel: Der Pensionspreis erhöht sich von heute ab auf — und wenn man die Erhöhung eben verdaut hatte, kam zwei Tage später eine neue, so daß man aus dem Verdauen gar nicht herauskam. Und das hatte auch sein Gutes, denn ebenso wie zu Hause, lebt der Mensch ja auch auf Reisen in erster Linie von dem, was er verdaut.
Nur ein Glück, daß trotz der irrsinnigen Preise auf Reisen jeder Verdauung irgendetwas zum Verdauen vorausgehen muß, denn sonst würden die meisten Reisenden nicht wieder lebendig nach Hause kommen, sondern die würden sich unterwegs bei dem Verdauen der Reisepreise ganz einfach tot verdauen.
Und das wäre schade, besonders wenn es sich um ein hübsches junges Mädchen handelte, von dem schon der Dichter singt: Sei mir gegrüßt, du holde Jungfrau, die du eine bist, eine warst — oder sonst ganz sicher wieder eine werden willst.
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© Karlheinz Everts