(Harmlose Plaudereien.)
„Wie war das Reisen einst bequem — wie billig und wie angenehm” fängt ein längeres Epos an, das ich soeben, anstatt zu plaudern, dichten wollte, über dessen erste beiden Zeilen ich aber nicht hinweg komme, denn mir geht es wie Faust. Hier stock' ich schon, wer hilft mir weiter? Aber ich brauche keinen Vorspann, um weiterdichten zu können, die Reime kommen ganz allein, genau wie beim Kollegen Heine, wohl aber stocke ich, weil ich plötzlich nicht weiß, ob die Reisen in vergangenen Zeiten wirklich so billig, so bequem und so angenehm waren, wie wir es uns heute in der Erinnerung einbilden, denn wie das Glück ist übehaupt alles Schöne auf dieser Welt lediglich eine Augenblicksempfindung, die, kaum empfunden, schon der Erinnerung angehört, und die manchmal überhaupt erst in der Erinnerung schön wird. Und deshalb weiß ich wirklich nicht, ob wir nicht alle Ursache haben, uns darüber zu freuen, daß die hohen Fahrpreise und der unerschwinglich teure Aufenthalt in den Hotels und in den Pensionen uns, die wir nicht mit einem Schieberlutschpfropfen groß geworden sind, das Reisen unmöglich machen, so sehr man sich auch einmal aus dem ewigen Einerlei heraussehnt und so sehr der Körper und der Geist auch einer Auffrischung bedürfen. Und dem, der da gerne reisen möchte und nicht reisen kann, gebe ich den guten Rat: Reise zu Hause. Natürlich nicht mit einem vollgepackten Koffer von einem Zimmer in das andere, soweit das Wohnungsamt dir noch andere oder auch nur ein anderes Zimmer gelassen hat, sondern in anderer Art. Nimm dir ein Kursbuch zur Hand und stelle dir eine schöne, schöne Reise zusammen, vielleicht nach Oberbayern, wo du in diesem Jahre ja doch keinen Platz bekämst, weil dort alles für die Amerikaner belegt ist. Dann erkundige dich auf dem Reisebüro, was dich die Reise 4. Klasse kosten würde, aber setze dich vorher auf einen Stuhl, damit du nicht umfällst, wenn du den Preis hörst, und dann kaufe dir die Fahrkarte, aber nur in Gedanken. Und wenn du die hast, dann schreibe nach Berlin an Wertheim, der bekanntlich oder auch nicht bekanntlich von jedem Ort der Welt alle dort nur aufgenommenen Ansichtspostkarten hat und lasse dir von denen so viele schicken wie du tragen kannst. Und wenn du die Karten hast, betrachte sie voller Aufmerksamkeit und sage dir: Ach wie schön muß es dort sein! Aber sage dir zugleich auch: So schön wie auf den Karten ist es dort ganz gewiß nicht und bedenke, daß jede Ansichtskarte eine Vorspiegelung falscher Tatsachen ist. So wie auf denen sieht es in Wirklichkeit nirgends aus. So wie auf den Bildern scheint die Sonne nirgends tagaus, tagein, so grüne Wälder, so schön blühende Rosen, so bunt und malerisch gekleidete Landeseinwohner, solche grünen Matten und Wiesen, so wundervoll beleuchtete Berge gibt es nur in dem Tuschkasten des Photographen, der die Karten retuschiert und koloriert. Die Enttäuschung, in Wirklichkeit alles ganz anders zu finden, als du es erwartet hats, bleibt dir erspart, wenn du zu Hause reist, wenn du die Karten um dich herum aufstellst, um dich herum an die Wände hängst und wenn du vier oder sechs Wochen im Dirndlkostüm, oder als Mann in kniefreien Lederhosen, zwischen denen lebst. Und hast du dir die Gegend übergesehen, kennst du die in- und auswendig, dann läßt du dir von Wertheim eine andere Gegend schicken und verlebst zur Nachkur noch ein paar Wochen an der Ostsee, oder in Norderney, oder am Bodensee, oder wo du sonst gern in Wirklichkeit hingefahren wärest. Und so du mir etwa auf meinen guten Rat hin zur Antwort gibst: Ja, aber die Luft, die andere Luft fehlt mir doch, wenn ich zu Hause reise, dann gedenke des Wortes: Alles ist nur Einbildung, aber glücklicherweise geht eine jede vorüber. Und bedenke, wieviel Geld du sparst, wenn du zu Hause reist. Und die Ersparnisse brauchst du nicht einmal zu versteuern. Und wie erholst du dich nicht, wenn du zu Hause bleibst. Da hast du dein eigenes schönes Bett, deine gewohnte Bequemlichkeit und alles, was du sonst zu deinem Wohlbefinden brauchst. Und du brauchst dich über nichts aufzuregen, während man in vergangenen Zeiten bei dem Reisen aus der Aufregung gar nicht herauskam, wie ein Anhänger der Jägerwolle nicht aus seinem Hemd.
Mit einer schlaflosen Nacht fing ehemals jede Reise an, entweder man schlief vor Reisefieber nicht, oder man regte sich die ganze Nacht darüber auf, ob der Kutscher am Morgen auch wirklich pünktlich zur Stelle sein würde. Und wenn er dann da war, ging entweder die zahlreiche Familie nicht in sein eines Pferd, nein, nicht in seinen einen Wagen hinein, oder das Gepäck nicht. Und wenn man trotzdem endlich teils in, teils auf, teils neben oder hinter der Droschke auf dem Bahnhof ankam, wie wurde da das Gepäck herumgeworfen, nein, geschmissen, nicht, als wenn es Rohrplatten-, sondern Eisenplattenkoffer wären, daß es in allen Fugen krachte und daß man selbst Herzkrämpfe bekam, wenn man das nur mit ansah und mit anhörte. Dann begann die Schlacht um einen Platz in dem bereits überfüllten Zug und glücklich war der zu preisen, der noch unter den nägelbeschlagenen Stiefeln eines Hochtouristen in dem Gang des Wagens einen Stehplatz bekam. Mehr tot als lebendig, gerädert und geschlagen kam man an seinem Reiseziel an, in dem man glücklicherweise schon lange vorher sein Zimmer betsellt hatte. Aber die Vorausbestellung erwies sich fast immer als eine völlig unnötig ausgegebene und als eine vergeudete Zehnpfennigmarke (es gab einmal solche), denn der Wirt oder die Wirtin hatte „leider” anders disponieren müssen. Man bekam nicht das Zimmer, das man sich bestellt hatte, sondern man mußte froh sein, daß man überhaupt eins bekam. Und was gab es an dem nicht alles auszusetzen. Es war entweder zu klein oder zu groß, zu sonnig oder zu wenig sonnig, es hatte zu dunkle Vorhänge, die des Morgens kein Licht hineinließen, oder es hatte zu dünne Vorhänge, die zuviel Licht hineinließen, denn man wollte sich doch ausschlafen. Und die Zimmernachbarn! So was von Rücksichtslosigkeit hatte man doch nicht für möglich gehalten, da mußte man erst für teures Geld auf Reisen gehen, um so etwas zu erleben.
Und dann das Essen! Entweder war es zu fett oder zu mager gekocht und dann gar keine Abwechslung! Aber auch gar keine! Immer dasselbe und die kleinen Portionen! Von denen sollte man satt werden und an denen sollte man sich kräftigen. Es war einfach ein Skandal! Und wenn man vor Hunger Magenkrämpfe bekam und sich auch nur das geringste extra geben ließ, fand man es später, wenn man es schon längst verdaut hatte, auf seiner Rechnung wieder. Ueberhaupt die Rechnungen! Ohnmächtig konnte man werden, wenn man die nur ansah und nun erst, wenn man sie bezahlen mußte.
Und dann das Wetter! Man war doch nicht hergekommen, um sich Tag für Tag naß regnen zu lassen. Das hätten der Wirt oder die Wirtin einem doch schreiben müssen, daß es gerade hier immer, aber auch immer regnete, dann wäre man doch wo anders hingegangen.
Und nun erst die Menschen, mit denen man zusammen wohnte. Wo hatten die nur ihre Manieren und das viele Sprechen gelernt? Die ließen einen ja selbst gar nicht zu Worte kommen und man wollte sich doch auch mal aussprechen, wollte von seinen eigenen Leiden erzählen und nicht nur von den Leiden der anderen hören, die einen doch absolut nicht interessierten. Krank und erholungsbedürftig wie man es war, wollte man sich doch nicht von anderen die Ohren volljaulen lassen, das konnte man zu Hause billiger und bequemer haben. Und wie die Leute nur aßen und was die alles in sich hineinaßen! Gar nicht satt zu bekommen waren sie und nahmen bei den gemeinsamen Mahlzeiten von den herumgereichten Platten soviel, daß für einen selbst nichts übrig blieb, und dabei hatte der Hausarzt doch gerade reichliche Ernährung verordnet.
Und wenn man dann Gott sei Dank endlich wieder an die Abreise denken konnte, die Trinkgelder! Wo kamen nur plötzlich alle die Leute her, die ein solches haben wollten und die doch nichts, aber auch gar nichts getan hatten, denn das Putzen der Stiefel, auch wenn die noch so dreckig waren, das bißchen Kleiderreinigen, das Bettmachen und ähnliches zählte doch nicht mit. Und man konnte geben soviel wie man wollte, und man konnte sich vorher noch so genau erkundigen, wie wenig die anderen Gäste geben würden, zufrieden waren die Leute nie.
Dann kam die Rückreise. Der Zug womöglich noch überfüllter als auf der Hinfahrt. Nur eins hielt einen aufrecht, die Hoffnung, bald wieder zu Hause zu sein, allwo die Berta oder die Anna, damit die doch auch eine Erholung im Sommer habe, inzwischen Großreinemachen gehabt hatte. Aber wie sah das Reinemachen aus, wenn man es sich hinterher ansah. Nichts hatte die Berta gemacht, gar nichts, nur geschlafen und sich satt gegessen, während man selbst —.
Und dem Faultier wurde sofort gekündigt! Auf der Stelle flog sie raus und dann saß man vier Wochen ganz ohne Mädchen.
So ähnlich sah ehemals unter tausend Fällen neunhundertmal eine Sommerreise aus, von der man mit einem so leeren Geldbeutel zurückkehrte, daß man hinterher an allen Ecken sparen und knausern mußte, um nur durchzukommen. Und damals kostete die Butter das Pfund noch 1,50 Mk.
Na, diese schrecklichen Reisezeiten gehören nun glücklicherweise der Vergangenheit an und kommen auch hoffentlich so bald nicht wieder.
Und darum sage ich noch einmal, freuen wir uns, daß die hohen Fahrpreise und die unverschämten Preise in den Gasthöfen und Pensionen uns jetzt das Reisen unmöglich machen. Beherzigt meinen Rat und macht es wie ich, der ich nichts Schöneres als das Reisen kenne und der ich weit, weit in der Welt, im In- und Auslande herumgekommen bin. Macht es wie ich und beherziget das Wort: Reise zu Hause.
Ich selbst reise in diesem Sommer zu Hause sechs Wochen nach Baden-Baden und werde mir, sobald meine Zeit es mir erlaubt, die Baden-Badener Ansichtskarten von Wertheim kommen lassen.
(Harmlose Plaudereien.)
„Ach, lieber Herr von Schlicht,” piepte mich vor einiger Zeit eine liebenswürdige, alte asthmatische Dame an, „ach, ich habe gehört und gelesen, daß Sie so weit in der Welt herumgekommen sind. Da haben Sie doch sicher sehr interessante und schöne Reiseerinnerungen. Können Sie nicht einmal von denen plaudern und uns nicht einmal etwas von denen erzählen, damit wir, die wir nun gar nicht mehr reisen können, wenigstens mit Ihnen in Ihren schönen Erinnerungen schwelgen?”
„Schön, gnädige Frau,” sagte ich, „die Schwelgerei können Sie haben.”
Und darum und deshalb: Auf, laßt uns schwelgen!
Und da frage ich Dich, geliebter Leser, und erst recht Dich, Du mit zarten, feinen Nasenflügeln behaftete Leserin als erstes, hast Du in Deinem Leben schon einmal einen toten, abgezogenen Walfisch gerochen? Nein? Dann stelle Dir den entsetzlichsten Geruch vor, den Deine Phantasie sich nur vorzustellen vermag, multipliziere diesen Geruch mit einigen Millionen, erhebe den Gestank, der dann herauskommt, in die fünfundzwanzigste Potenz und stecke Deine Nase in das Parfüm, das Dir entgegenschlägt, ganz tief hinein. Dann hast Du eine ungefähre Ahnung davon, wie ein toter Walfisch riechen kann, aber noch lange keine, wie er wirklich duftet. Und ich habe auf der Walfischfangstation Skarö in Norwegen sechs tote, abgezogene Walfische auf einmal gerochen! Trotz des windstillen Wetters rochen wir sie auf hoher See schon, als unser Dampfer sich dem Lande näherte, noch bevor wir es vorläufig sahen. Meilenweit war draußen auf dem Meere die Luft von dem Gestank erfüllt und wenn man atmete, hatte man jedesmal die Empfindung: Eben hast du drei Dosen Lebertran auf einmal eingenommen.
Ich habe, als wir an Land waren, ungefähr drei Stunden lang sechs tote Walfische riechen müssen und bin bis auf den heutigen Tag die Walfische aus meiner Nase auch noch nicht wieder los geworden, wenigstens habe ich seit dem Tage überhaupt keinen Geruch mehr. Ich rieche nichts, absolut nichts, keine Blume, keinen Kampferspiritus, nichts, nichts. Sie haben vollständig recht, auch das, oder richtiger gesagt, auch die nicht.
Deshalb werde ich mich auch später, wenn ich mal als Schreiber gar nichts mehr verdiene, um eine Anstellung bei der städtischen Tonnenabfuhr bewerben.
Jerusalem! Glauben werden es mir wohl nur wenige und selbst vielleicht die nicht einmal, aber wahr ist es doch, ich habe eigentlich Geistlicher werden wollen und wohl in Erinnerung an diesen meinen Tertianer- und Sekundanertraum hatte ich immer den lebhaften Wunsch, einmal die heiligen Stätten kennen zu lernen. Und ich lernte sie kennen, zuerst Jerusalem. Und was war das erste, das mich dort begrüßte und das mich in eindringlicher Weise darauf aufmerksam machte, daß ich mich jetzt im Heiligen Lande befände? Was grüßte mich zuerst? An den Straßenecken ein großes Plakat mit der Aufschrift: Odol! Das Mundwasser!
Wer in Kairo war, muß, wie in Rom den Papst, die Pyramiden und die Sphinx in der Wüste bei Mondscheinbeleuchtung gesehen haben. So wollte denn auch ich eines Abends in die Wüste hinaus wandern, als ich darüber belehrt wurde, das könne ich einfacher haben, für eine Mark deutschen Geldes führe man mit der Elektrischen sehr bequem dorthin.
Raubt es nicht jede, aber auch jede Illusion, mit der elektrischen Klingel- und Bimmelbahn zu den Pyramiden hinausfahren zu können?
Aber da alle fuhren, fuhr auch ich und um wieder in die richtige Mondscheinwüstenbeleuchtung zu kommen, las ich unterwegs die in der elektrischen Bahn angebrachten Schilder: Trinkt Lipton-Tee! — Singers Nähmaschinen sind unübertrefflich! — Rauche Batschari! — Ihr jungen Frauen, die ihr Mütter werden wollt, kauft einen Soxhlet, er ist und bleibt der beste Mutterbrustersatz!
Stockholm! Grand Hotel. Ich wohne in der ersten Etage dicht neben einem wirklichen indischen Maharadscha, nicht neben Gunar Tolnäs, denn der war damals noch nicht erfunden. Der Maharadscha reist natürlich nicht allein, sondern in Begleitung zweier englischer Regierungsattachés, die mich absolut nicht interessieren, und ferner in Begleitung einer bildschönen, sehr eleganten und sehr verführerischen jungen Französin, die mich ganz ungeheuer interessiert, so daß ich schon verschiedentlich im Speisesaal des Hotels und auf der Terrasse des Kaffee Opóra, wo der Fürst mit seiner Begleitung zu frühstücken pflegte, mit ihr zu kokettieren versuchte und nicht ganz ohne Erfolg, denn meine Haare und mein damaliger dichter Vollbart waren womöglich noch schwärzer als die des Inders.
Eines Morgens treffe ich die junge Französin allein auf dem Korridor des Hotels. Schon um ihr zu beweisen, daß ich das Französische perfekt beherrsche, spreche ich sie an und da ich mich mit ihr doch nicht nur über das Wetter unterhalten kann, bitte ich sie, mir zu gestatten, auch einmal ihr Maharadscha sein zu dürfen und auf das angelegenlichste lege ich ihr meine Zimmernummer an das Herz, für den Fall, daß sie mir nicht erlauben will oder nicht kann, sie einmal in ihrem Reich zu besuchen.
Lächelnd hört die hübsche Französin mich an und daß sie mir nicht gleich einen Korb gibt, ermutigt mich, stürmischer um sie zu werben.
Warum auch nicht? Hoppla! Vater Maharadscha sieht es ja nicht!
Aber er sieht und hört es doch, denn plötzlich steht er vor mir und meiner, nein, leider seiner Französin.
Strich. — —
Seit der Stunde flimmert mir immer ein indischer Dolch vor den Augen, wenn ich nur das Wort Maharadscha höre oder lese.
Baalbeck in Syrien. Wundervolle uralte aber trotzdem zum Teil noch gut erhaltene Tempelruinen. Ueber fünfzig gigantische Säulen von mehr als zwanzig Meter Höhe und von einer Schönheit, die selbst die heutige Architektur nicht nachmachen kann.
Und in der größten Tempelruine, die man nur mit ehrfurchtsvollem Schweigen betritt, eine moderne weiße Marmortafel, auf die in moderner, mehr als geschmackloser Goldschrift für alle Zeiten verewigt ist, daß Seine Majestät Kaiser Wilhelm II. im Jahre des Heils soundso an dem und dem Tage hier geweilt hat.
Drei Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen und sechs klitschnasse Handtücher sechsmal um die Ohren geschlagen, wirken nicht annähernd so ernüchternd und deprimierend, wie an dieser uralten Tempeltätte diese Marmortafel.
Die Stätte, die ein guter Mensch betritt, ist eingeweiht, sagt Goethe. Warum mußte Kaiser Wilhelm, der doch auch ein guter Mensch war, jede Stätte, die er betrat, durch eine ähnliche Geschmacklosigkeit entweihen?
Hätte Dante den größten Teil seines Lebens anstatt in der Hölle in dem Judenviertel von Amsterdam zugebracht, dann hätte er seine Göttliche Komödie dort spielen lassen und das geschildert. Das Wort: laßt jede Hoffnung hinter euch, ihr, die hier eintrete, hätte auch dann, oder vielleicht dann erst recht seine Gültigkeit gehabt. Man muß durch dieses Viertel gegangen sein, um sich von dem Elend, dem Schmutz, der Luft, dem Ungeziefer und um sich von den zahllosen Kindern, die auf der Straße vom Unrat leben, und auf dem groß werden, auch nur einen ungefähren Begriff machen zu können.
Als ich einmal in Moskau in dem schönen Restaurant „Zur Eremitage” zu mittag aß, sagte mir ein Russe, der mir ansah, wie wundervoll mir der schöne Kaviar schmeckte: „Ein richtiger Feinschmecker ißt den Kaviar eigentlich nur in Astrachan und zwar ganz frisch, wie er aus dem Stör herausgenommen wird. Wenn Sie also Gelegenheit haben sollten, dorthin zu fahren, dann tun Sie es.”
Und ich fuhr nach Astrachan, nebenbei bemerkt, fünf Nächte und sechs Tage, und aß dort Kaviar frisch vom Faß, nein, frisch vom Stör, ungewaschen und ungesalzen. Und der Wahrheit die Ehre, er schmeckte hundsgemein, nein, noch viel gemeiner. Er schmeckte ungefähr so, wie die sechs toten Walfische rochen. Aber ich aß trotzdem unentwegt weiter, um endlich auf den Geschmack zu kommen.
Bis dann mit einem Male zwar nicht die Erkentnis, daß nur der Kaviar frisch vom Stör gut schmecke, wohl aber etwas anderes über mich kam, das aber auch so fürchterlich, und zwar nicht nur für Tage, sondern für Wochen, daß ich alles Opium, das in Astrachan und Umgegend aufzutreiben war, austrank und austrinken mußte, um nur einigermaßen wieder luftdicht zu werden.
Und wenn ich seitdem nur irgendwie das Wort Kaviar höre, geht es mir so ähnlich wie jener Mutter, die von ihrem zur See fahrenden Sohn zu Weihnachten eine große Kiste Korinthen geschenkt erhielt, nach derem Genuß ihr aber jedesmal ganz blümerant im Magen wurde, bis es sich schließlich herausstellte, daß die Korinthen gar keine Korinthen, sondern Tamarinden waren.
Das sind einige kleine Proben aus dem Sack meiner Reiseerinnerungen und ich denke, der freundliche Leser hat genug in denen „geschwelgt” und hoffentlich haben die den Beweis für die Wahrheit meiner Behauptung erbracht: Das Reisen war früher gar nicht immer so schön, wie es uns jetzt in der Erinnerung vorkommt.
Und darum sage ich zum allerletzten Schluß noch einmal: Freue dich, daß die jetzigen Preise dem gewöhnlichen Sterblichen das Reisen unmöglich machen. mache es wie ich, lasse dir Ansichtspostkarten kommen und reise zu Hause!
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© Karlheinz Everts