„Zurück — marsch, marsch!”

Eine Skizze vom Kasernenhofe.
Von Freiherrn v. Schlicht (Dresden).
in: „Frankfurter Zeitung und Handelsblatt” vom 10.Febr. 1901,
in: „General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen”, Gratisbeilage Unterhaltungsblatt, vom 13.2.1901,
in: „Indiana-Tribüne” vom 26.4.1901,
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 2.6.1901 und
in: „Zurück — marsch, marsch!”


Alle Welt, wenigstens die daran betheiligte, hatte sich diebisch darüber gefreut, daß Se. Excellenz, der Herr Divisions­kommandeur durch die Influenza verhindert gewesen war, der Rekruten­besichtigung beizuwohnen. Alle waren sie glücklich, die Unteroffiziere, die Herren Leutnants, die Herren Hauptleute und Stabsoffiziere, und last not least der Herr Oberst. Der hatte sich vielleicht am allermeisten gefreut, denn er war bei der Besichtigung lieber der Erste, als bei der Kritik der Zweite.

Diejenigen, denen es im Grunde ihres Herzens und im Mark ihrer Knochen ziemlich, um nicht zu sagen: ganz gleichgiltig gewesen war, daß Se. Excellenz nicht kam, waren die Mannschaften. Die sagten sich: „Geschliffen, daß uns die Augen übergehen, werden wir vor der Besichtigung doch — darüber, ob dies nun zu Ehren des Herrn Oberst oder zu Ehren Seiner Excellenz geschieht, wollen wir uns weiter nicht aufregen.”

Und sie regten sich nicht auf.

Se. Excellenz war nicht gekommen. Untergebene pflegen immer länger krank zu sein, als den Vorgesetzten lieb ist, und die Vorgesetzten werden immer viel schneller wieder gesund, als den Untergebenen lieb ist, das ist eine alte Geschichte, an der auch das neue Jahrhundert, das ja wohl nun definitiv da ist, nichts ändern kann.

Auch Se. Excellenz stand schneller, als man gehofft hatte, wieder in seinen rothgestreiften Hosen und war glücklich, durch seine schnelle Genesung den Untergebenen ein Bild treuester Pflichterfüllung geworden zu sein — seinen höheren Vorgesetzten aber hatte er bewiesen, daß er noch kein Schwächling sei.

Excellenz war gesund und fühlte den Drang in sich, spazieren zu gehen, natürlich wollte er in den Dienst — das würde einen sehr guten Eindruck machen — leider aber hatte er nichts zu thun, so machte er sich etwas zu thun und beschloß, sich die Rekruten, die eben besichtigt waren, lieber doch noch anzusehen.

Es war doch immerhin möglich, daß der Herr Oberst das Eine oder das Andere übersehen hätte, das später für die kriegsgemäße Ausbildung der Division von den verderblichsten Folgen sein konnte.

Als Excellenz am Dienstag die Mittheilung in das Regiments­bureau gelangen läßt, daß er sich am Samstag die Rekruten ansehen wolle, entsteht dort das reine Heulen und Zähneklappern.

Man kennt Se. Excellenz, man weiß, was das „Ansehen” bedeutet, und daß es fast noch schlimmer ist, als eine Besichtigung.

Bei einer Vorstellung dürfen die Leute, ohne daß es ihnen allzu übel genommen wird, etwas unruhig sein, und mancher Vorgesetzte sieht es sogar ganz gern, daß seine Anwesenheit allein genügt, um den Leuten einen heillosen Schrecken einzuflößen, und er sagt dann nicht viel, wenn dem Mann, dessen Hände zittern, ein Griff mißlingt, oder wenn der Jüngling in seiner Herzensangst das Gewehr nicht auf die linke, sondern auf die rechte Schulter schiebt. Bei einer offiziellen Besichtigung kann und darf so etwas unter Umständen ausnahmsweise einmal vorkommen, aber wenn Excellenz sich die Leute nur ansieht, dann muß Alles klappen, dann muß Alles tadellos sein, denn wenn es bei dem „Ansehen” schon schlecht ist, wie ist es dann erst bei der Besichtigung, bei der die Leute doch aufgeregt sind und es noch schlechter machen als bei dem „Ansehen”?

Der Herr Oberst hört im Geiste diese Rede, die von Widersprüchen, falschen Voraussetzungen und falschen Schlußfolgerungen strotzt, die er aber trotzdem Sr. Excellenz wenigstens äußerlich wird glauben müssen.

Der Herr Oberst stöhnt und mit ihm stöhnen die Hauptleute und die Leutnants und die Unteroffiziere: eben sind die guten Anzüge wieder auf Kammer abgegeben worden, nun müssen sie wieder heruntergeholt werden. Die Hauptleute hatten gehofft, in dieser Woche mit der Ausbildung des Zuges beginnen zu können, nun müssen sie wieder en détail exerziren lassen — Alle hatten gehofft und geglaubt. fertig zu sein mit Allem, was bei der Rekruten­besichtigung drum und dran hängt, nun fängt es wieder von vorn an.

Erbarmen!

Aber es erbarmt sich Niemand der geplagten und gequälten Seelen.

Der Herr Oberst weiß, daß Se. Excellenz den Hauptwerth auf einen tadellosen Helmsitz, auf guten Haarschnitt und auf einen strammen Parademarsch legt, und so legt er denn diese drei Dinge seinen Hauptleuten noch ganz besonders an's Herz.

Um elf Uhr will der Herr Oberst sich am nächsten Vormittag den Parademarsch einmal ansehen.

Damit die Sache dann klappt und damit sie nicht zuviel auf den Hut bekommen, einigen sich die drei Bataillons­kommandeure dahin, daß sie von zehn Uhr an gemeinsam nach den Klängen der Trommler und Pfeifer im Bataillon üben wollen.

Damit die Sache dann klappt und damit sie nicht zuviel auf den Hut bekommen, beschließen die Herren Hauptleute, daß sie von neun Uhr an nach den Klängen der Spielleute der Kompagnie Parademarsch üben wollen.

Der Hauptmann der ersten Kompagnie beschließt sogar, um acht Uhr mit dem Parademarsch anzufangen, erstens ist der Kasernenhof dann noch leer und zweitens denkt er: je länger man etwas übt, desto besser ist es.

Am nächsten Vormittag um acht Uhr beginnt denn auch das Vergnügen. Damit gar keine unnütze Zeit verloren wird, hat der Häuptling befohlen, daß bei seinem Erscheinen die Points schon stehen sollen, daß das Federvieh, die Spielleute, auf dem richtigen Fleck stehen, daß die Offiziere schon den Degen gezogen haben, kurz Alles, was nöthig ist, damit die Sache gleich losgehen kann.

Als der Häuptling auf dem Kasernenhof erscheint, will der älteste Offizier ihm melden, aber der Vorgesetzte winkt ab, er sagt nicht einmal „Guten Morgen”, er legt sogar nicht einmal die Hand zum Gruß an die Mütze. Mit seinen endlos langen, dünnen Beinen steigt er in einer Eile über den Platz, als sei das Vaterland in Gefahr und als warte es nur auf ihn, den Erretter.

Dann ruft er: „Antreten!”

Die Zeit ist kostbar und muß ausgenutzt werden, ihm stehen ja nur drei knappe Stunden zur Verfügung.

Drei Stunden! Selbst mit einer Logarithmen–Tafel kann man nicht ausrechnen, wieivel Parademärsche man innerhalb dieser Zeit ausführen kann.

Der Häuptling ist wegen seiner Rücksichtslosigkeit bekannt(1) — schon äußerlich sieht man der langen, hageren, aber trotzdem sehnigen und muskulösen Gestalt an, daß mit dem Besitzer dieser Figur schlecht Kirschen essen ist. Eine eiserne Willenskraft und Energie spricht aus den scharfen Zügen und den stieren blauen Augen.

Der Häuptling behandelt Alle gleich schlecht: die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften, und so kommt es, daß die Chargen mehr auf Seiten ihrer Leute stehen, als auf der des Hauptmanns.

„Na, Kinder, denn man zu, nur Muth, dann wird die Sache schon gehen,” sagt der Herr Oberst(2) zu den Leuten; dann tritt der vorderste Zug an.

Der Parademarsch ist nicht schlecht, aber er könnte besser sein; und so sagt der Häuptling denn, als der Zug an ihm vorübermarschirt ist: „Zurück — marsch, marsch!”

Der Zug theilt sich, die eine Hälfte läuft um den linken, die andere Hälfte hinter dem Hauptmann um den rechten Flügel des zweiten Zuges, der sich bereits im Marsch befindet, herum — die Front muß freigemacht werden.

Der zweite Zug marschirt nicht schlechter als der erste, aber auch nicht besser — was dem Einen recht ist, ist dem Zweiten auch beim Militär billig, und so ruft der Häuptling auch dem zweiten Zug zu: „Zurück — marsch, marsch!”

Die Front wird freigemacht, denn der dritte Zug naht. Der Leutnant, der mit zwei Schritt Abstand vor der Mitte seiner Leute marschirt, ruft den Rekruten mit halblauter Stimme zu: „Die Beine 'raus, Jungens!” denn er will seinem Hauptmann beweisen, daß seine Rekruten gut sind und mehr leisten als die alten Leute, die sich „a. B.”, auf Befehl, auch an dem Parademarsch betheiligen und die zurückgeschickt wurden.

„Die Beine 'raus, Jungens!” wiederholt er noch einmal.

Und die Beine fliegen, daß es eine Freude ist — aber sie fliegen zu hoch, die Wahrheit liegt auch hier, wie so häufig, in der Mitte.

Zurück — marsch, marsch!”

Die Front wird freigemacht, denn der erste der zurückgeschickten Züge naht von Neuem.

Der Marsch ist nicht schlecht, nein, das kann man nicht behaupten, aber er könnte doch noch besser sein.

Zurück — marsch, marsch!”

„Verflucht noch mal,” denkt der Leutnant, dann dreht er sich kurz um und treibt seine Leute im Galopp zurück, sie müssen schnelll verschwinden, damit die Front für den nächsten Zug frei wird.

Als die Leute vorübermarschiren, spricht der Hauptmann gerade mit seinem Feldwebel, der neben ihm steht — er paßt nicht auf und sieht nicht nach dem Marsch hin, er weiß nicht, war er gut oder schlecht? Na, er wird wohl nichts getaugt haben — besser hätte er wohl auf jeden Fall sein können.

Die Rekruten nahen, der Leutnant marschirt wie eine Puppe, tadellos, und auch die Leute machen ihre Sache gut, sehr gut, sie wollen zeigen, was sie können, und sie zeigen es, der Beinsatz und die Haltung der Fußspitzen ist beinahe vollkommen — aber die Gewehrlage taugt nichts.

Zurück — marsch, marsch!”

Und diese drei Worte ertönen noch unzählige Male im Laufe des Vormittags — die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften fangen an, unruhig und nervös zu werden, dann werden sie ärgerlich und endlich werden sie wüthend. Am liebsten sagten Alle dem Vorgesetzten, wie sie über ihn denken, aber das dürfen sie nicht — so fluchen sie denn Alle in sich hinein und beschuldigen sich gegenseitig, zu bummeln und dadurch an dem „Zurück — marsch, marsch!” schuld zu sein.

Der Häuptling sieht's, wie seine Leute, die warm geworden sind, dampfen, er sieht die Schweißtropfen, die sich unter den Helmen bilden und dann die Stirn und die Wangen hinunterlaufen, er sieht seine Leute scharf an und sieht in ihren Mienen, was sie denken — aber das rührt ihn Alles nicht, er bleibt kühl bis an das Herz hinan und er spricht sein „Zurück — marsch, marsch!” so ruhig und gleichgiltig, als wenn er in einem Restaurant zu dem Kellner sagte: „Noch ein Glas Bier!”

Als er keine Lust mehr hat, immer wieder „Zurück — marsch, marsch!” zu sagen, läßt er es bleiben und winkt nur noch mit dem Zeigefinger der rechten Hand: das ist einfacher und bedeutet dasselbe.

Einmal wagt es ein Leutnant, der sich im Stillen gegen diese Behandlung auflehnt, diesen Fingerzeig zu übersehen — er marschirt ruhig weiter, aber seine Leute sind nicht so muthig wie er selbst, sie haben, als der Finger sich hob, kurz Kehrt gemacht und sind zurückgelaufen.

Der Leutnant ist allein auf weiter Flur. Der Häuptling merkt, was in seinem Leutnant vorgeht, aber auch das läßt ihn ganz kalt, er wird ihm nicht einmal grob, er winkt nur noch einmal mit dem Finger. — Da sieht der Leutnant ein, daß es gegen das „Zurück — marsch, marsch!” keine Auflehnung und keinen Widerspruch gibt.

Gehorsam macht er Kehrt und läuft im „Marsch — marsch” seinen Leuten nach.

Einmal passirte es irgendwo, daß ein Leutnant, der mit seinem Zug auch beständig zurückgeschickt wurde, sich darüber sehr verwunderte, daß er einmal mit seinem Zuge vorbeikam, ohne daß aus dem Munde des Hauptmanns das übliche „Zurück — marsch, marsch!” ertönt wäre. Der junge Leutnant glaubte, daß hier ein Irrthum vorläge, und infolge dessen kommandirte er selbst, so laut er konnte: „Zurück — marsch, marsch!”

Der Leutnant wurde angehaucht, daß ihm die Augen übergingen, und dadurch kam ihm von Neuem die Erkenntniß, daß es nicht nur sehr schwer, sondern sogar unmöglich ist, seinen Vorgesetzten etwas recht zu machen.


Fußnoten:

(1) Vergleiche hierzu den Abschnitt aus der Schlicht'schen Autobiographie, in dem Schlicht von der Rücksichtslosigkeit seines eigenen Kompagniechefs (Hauptmann Frhr. v. Gayl) bezüglich vielfachen Übens des Parademarsches berichtet. (zurück)

(2) In der Buchfassung heißt es richtig: „der Herr Ober”. (zurück)


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© Karlheinz Everts