Von Freiherr von Schlicht
in: „Unverstandene Frauen”
Le Lendemain!
In dem Salon ihres Apartements, das sie gestern abend mit ihrem Mann in dem großen Prunkhotel bezog, sitzt die junge Frau in duftigster Morgentoilette am Frühstückstisch und horcht alle Augenblicke danach hin, ob ihr Hans denn immer noch nicht wiederkommt. Zwar ist er noch keine zehn Minuten fort, aber trotzdem — seit gestern mittag sind sie erst verheiratet und nun schon eine so lange Trennung? Ach, und das Frühstück will ihr ohne ihn gar nicht schmecken. Wo er nur bleibt? Der Kellner hat doch ausdrücklich erklärt, der Friseur wohne unten im Vestibül und so lange kann es doch nicht dauern, bis er rasiert ist. Aber rasieren muß er sich lassen. Ihr zuliebe hatte er sich vor drei Wochen den Vollbart abschneiden lassen, nun bereut sie es bitter, ihn darum gebeten zu haben, denn wenn er jedesmal so lange fortbleibt, bis er rasiert ist, nein, das darf nicht sein, aber heute mußte er sich gleich rasieren lassen, der Bart war ihm ja über Nacht derartig gewachsen, daß es ihr im Gesicht direkt weh tat, wenn er sie küßte oder sie ihn. Ach und sie müßten sich doch heute den ganzen Tag küssen, heute, am Lendemain, aber nicht nur heute und morgen und die folgenden Tage, so lange sie noch auf der Hochzeitsreise sind, sondern auch später. Gott sei Dank, daß ihr Hans nicht darauf angewiesen ist, Geld verdienen zu müssen. Als er damals vor drei Jahren ganz unerwartet die große Erbschaft machte, hatte er sogar daran gedacht, seine Praxis als Rechtsanwalt ganz aufzugeben und nur noch seinen Neigungen zu leben. Aber eine Beschäftigung muß der Mensch ja schließlich haben, so war er Anwalt geblieben, aber er führte nur solche Prozesse, die ihn interessierten. Und er hatte ihr sogar versprochen, in Zukunft noch weniger zu arbeiten als bisher und nur noch für sie zu leben. Das hatte er ihr heute nacht sogar geschworen, heute nacht, als er sie in seinen Armen hielt, als sie sich voller Leidenschaft an ihn schmiegte, als sie wirklich seine Frau geworden war.
In seliger Erinnerung schließt sie die Augen und blickt traumverloren vor sich hin. Nun hat auch sie das große Mysterium der Liebe kennen gelernt, das kennen zu lernen auch ihr junger Leib begehrte, aber nicht aus irgendwelcher krankhaften Sinnlichkeit heraus, nein, das nicht, lediglich die gesunde Natur des Weibes verlangte in ihr nach ihrem Recht. Nun ist es ihr geworden, und wenn das für sie in der Ehe auch niemals das Höchste sein wird, wenn sie auch niemals darin allein ausschließlich das Glück erblicken wird, daß ihr Mann sie immer von neuem in seine Arme nimmt, das weiß sie heute aber doch schon — nun, da sie die Liebe kennen gelernt hat, und nun, da sie weiß, wie süß sie ist, jetzt möchte sie die auch nie wieder missen.
Ach, sie hat ihren Hans ja über alles lieb! Und wie voll die Kirche gestern war und wie hübsch ihr Hans in der Uniform seines Husarenregiments aussah, dem er als Reserveoffizier angehört, und wie die Brautjungfern sie um ihn beneidet haben. Und wie stolz seine Sporen klirrten, als er neben ihr zum Altar schritt, und wie seine hohen Lackstiefel blitzten und blinkten, als die Sonne hell und lachend durch die großen Kirchenfenster hineinschien. Und dann das wundervolle Perlenhalsband, das er ihr gestern gleich nach der Trauung um den Hals legte. Zwanzigtausend Mark hat es gekostet.
Ihre Augen werden feucht, ach, sie hat ihren Hans ja zu lieb, und so gut ist er zu ihr, so rührend gut.
Ach und sie will ihn ja immer wieder lieb haben, nur ihn, nur für ihn will sie fortan noch leben.
Aber wo Hans nur bleibt?
Endlich, endlich kommt er zurück und mit einem Jubelschrei fliegt sie ihm entgegen: „Mein Hans, mein Hans!”
Voller Liebe und Zärtlichkeit zieht er sie an sich und küßt sie heiß auf den Mund, bis er dann fragt: „Hat meine kleine Manon denn solche Sehnsucht nach mir gehabt?”
„Ich wäre beinahe vor Sehnsucht gestorben,” gibt sie zur Antwort, „und das eine mußt du mir fest versprechen, wenn das Rasieren immer so lange dauert, dann mußt du dir wieder den Vollbart stehen lassen. Hörst du, Hans?”
Er lacht glücklich auf: „Sei unbesorgt, mein Lieb, ein anderes Mal geht es schon schneller, ich habe heute nur noch rasch eine Kleinigkeit für dich gekauft.” Und gleich darauf hält er ihr ein Etui entgegen, aus dem ihr, als sie es nun öffnet, ein prachtvoller Ring von Perlen und Diamanten entgegenleuchtet.
Einen Augenblick steht sie fassungslos da: „Nein, Hans, das ist zuviel, wodurch habe ich es verdient, daß du mich so beschenkst?”
Wieder zieht er sie zärtlich an sich: „Hast du mir denn nicht noch viel mehr geschenkt, dich selbst? Hast du jetzt schon vergessen, was du mir heute nacht alles gabst, deine Küsse und deine Liebkosungen, deinen jungen, blühendschönen Körper —”
Ihre Wangen färben sich dunkelrot und mit einer schnellen Handbewegung hält sie ihm den Mund zu, damit er nicht weiterspricht, aber gleichzeitig geht ein süßer Wonneschauer durch sie hindurch, fester schmiegt sie sich an ihn, sie bietet ihm den Mund zum Kuß und beider Lippen pressen sich fest aufeinander, bis die Leidenschaft von neuem in ihnen erwacht, bis die kaum gestillten Sinne nach neuer Befriedigung verlangen, bis er sie mit starken Armen aufhebt und zu dem Lager trägt.
Und in heißer wilder Umarmung genießen sie das höchste Glück.
Endlich lassen sie einander wieder los, aber schon wenig später zieht er sie auf seinen Schoß, und während er sie küßt und ihr das Gesicht streichelt, das sie an seine Brust gelehnt hat, murmelt er immer wieder: „Wie schön du bist.”
Und sie ist schön. Sie ist von mittelgroßer, schlanker, fast knabenhafter Figur und sie ist unvergleichlich schön gewachsen. Sie hat die kleinsten und zierlichsten Füße, die man sich denken kann, und ihre Beine sind so schlank und dabei so schön geformt, so schnurgerade, daß sie jeden Künstler begeistern müßten. Und auf diesem verführerisch schönen Körper ein süßes Kindergesicht mit lachenden hellbraunen Augen, mit einem berückend schönen kleinen Mund, mit schneeweißen Zähnen, in den zarten Wangen zwei schelmische Grübchen — man kann nicht müde werden, dies Gesichtchen anzusehen, und als er ihr nun übermütig die Kämme aus dem Haar zieht, da fällt das Haar wie ein Mantel über ihre Schulter. und er nimmt es in beide Hände und preßt sein Gesicht hinein, um sich an dem Duft zu berauschen.
„Wie schön du bist, Manon.”
Sie weiß, daß sie es ist, der Spiegel hat es ihr oft genug gesagt, aber voller Glückseligkeit, daß auch er es findet, fragt sie: „Findest du mich wirklich so schön, und wenn ich es bin, ich bin es doch nur für dich.”
„Ja, nur für mich,” wiederholt er, und während er sie von neuem liebkost, kann er das Glück gar nicht fassen, daß die schöne vielbegehrte Manon gerade ihn erhört hat. Er ist mit seinen fünfunddreißig Jahren für sie, die eben zwanzig wurde, doch eigentlich schon ein bißchen alt. Und zehn Jahre später, wenn sie gerade dreißig ist, dann steuert er schon auf die fünfzig zu. Na, vorläufig ist er ja noch im Vollbesitz seiner besten Kraft, und daß er eine gute Erscheinung macht, weiß er allein. Er braucht nicht wie gestern in Uniform zu kommen, um bemerkt zu werden, auch der tadellos gearbeitete englische Zivilanzug kleidet seine große schlanke Figur ausgezeichnet. Dazu sein kluges intelligentes Gesicht mit der hohen Stirn und den tiefschwarzen Augen. Er kann sich schon an der Seite seiner Manon sehen lassen, ohne daß die Leute einander zuflüstern: „Mein Gott, wie kommt die blendend hübsche junge Frau zu dem Mann?”
Aber trotzdem. Er hat das Leben genossen und die Zahl seiner früheren Liebschaften geht ins Unendliche. Und als er dann schließlich den Ekel vor diesem Leben bekam und sich vornahm, zu heiraten — daß er da gerade sich noch die Manon eroberte, das ist für ihn fast zuviel des Glücks. Allerdings ist er ja eine sogenannte glänzende Partie, und eine andere wie Manon hätte ihn vielleicht deshalb auch dann genommen, wenn sie ihn nicht liebte, aber Manon liebte ihn wirklich, davon ist er fest überzeugt.
Und sie liebt ihn wirklich, sie liebt ihn ebenso wie er sie, und wie er, so kann auch sie das Glück nicht fassen, daß sie nun einander angehören für immer.
Und immer wieder will sie von ihm hören, daß sie schön ist, daß er sie liebt, nicht nur heute, sondern auch an allen folgenden Tagen.
Wie im Fluge vergehen ihnen die Flitterwochen und so viel des Schönen sie auf der Reise auch sehen, das Schönste ist es für sie beide doch, wenn sie sich in ihren Hotelzimmern einander gegenübersitzen und einer in den Augen des anderen liest: Ich liebe dich.
Nach einigen Wochen reisen sie wieder nach Haus, in sein Haus, in die große schöne Villa, die ihm gehört und die in ihrer Abwesenheit neu eingerichtet worden ist. Sie ist in ihrem Elternhaus nicht allzusehr verwöhnt worden, so ist ihr fast, als schritte sie durch ein Märchenschloß, als sie nun zum erstenmal diese Räume betritt. Jedes Zimmer ist eine Sehenswürdigkeit für sich, sie klatscht vor grenzenloser Freude wie ein Kind in die Hände und kann all diese Herrlichkeiten gar nicht genug bewundern. Und dabei ist alles so gemütlich und behaglich, so wohnlich und so traulich. Jede Ecke und jede Nische ladet ein zum Plaudern, zum Kosen und zum Küssen. Und nun erst dieses märchenhaft schöne Schlafzimmer, das ganz in Rot gehalten ist. Die Wände sind mit rotem Damast bespannt, rote Gardinen verhängen die Fenster, große rote Teppiche bedecken den Fußboden, über den beiden nebeneinander stehenden breiten goldenen Betten spannt sich ein roter Baldachin und eine rote Ampel spendet ein dunkelrotes Licht.
Und überall sind Spiegel und Spiegel, damit sie jederzeit sehen kann, wie schön sie ist.
Ach, daß er auch daran gedacht hat, daß rot ihre Lieblingsfarbe ist, dunkelrot.
Wie gut er ist, wie lieb er sie hat, ach und wie sie ihn erst liebt, nicht nur heute, sondern immerdar.
Und wie die Freundinnen sie um dieses Heim beneiden werden. Das steht für sie fest, sobald es irgend geht, will sie eine ganz große Gesellschaft geben, und dann will sie allen ihr Haus zeigen vom Keller bis zum Dach.
Sie ist ja so namenlos glücklich und sie bleibt glücklich. Drei Jahre gehen so dahin und wenn der Himmel ihr die Bitte nach einem kleinen Kindchen auch nicht erfüllt, so ist sie trotzdem wunschlos glücklich.
Da durcheilt eines Tages eine aufsehenerregende Neuigkeit die Stadt. Ein hoher Beamter, der überall das größte Vertrauen besaß und sich des höchsten Ansehens erfreute, der als Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle galt, hat sich große Unterschlagungen zuschulden kommen lassen. Eine unerwartete Kassenrevison hat seine jahrelangen Vergehungen an den Tag gebracht und seine sofortige Verhaftung herbeigeführt.
Die ganze Stadt ist von dieser Nachricht erfüllt, man versteht den Mann ganz einfach nicht, man bedauert dessen arme Frau und die Kinder, und da am Abend desselben Tages bei Frau Manon zur Feier der Wiederkehr ihres Hochzeitstages ein großes Diner stattfindet, zu dem der Gatte und sie zahlreiche Gäste geladen haben, wird bei Tisch von nichts anderem, als von diesem Vorfall gesprochen. Auch mehrere Rechtsanwälte sind zugegen und so wird auch die juristische Seite des Falles erörtert. Alle Einzelheiten, soweit sie bis jetzt bekannt sind, werden eingehend geprüft und das allgemeine Urteil der Juristen geht dahin: Die Sache steht für den Schuldigen hoffnungslos, selbst der beste Anwalt kann den nicht vor der ganzen Strenge des Gesetzes retten, und alle wünschen sich, nicht mit der Verteidigung betraut zu werden. Man würde für eine verlorene Sache kämpfen und nicht einmal etwas dafür bezahlt erhalten.
Nur einer beurteilt die Sachlage anders, wenn er auch das jetzt noch nicht ausspricht, das ist Manons Gatte. Er enthält sich absichtlich im Gespräch jeder Ansicht, aber er ist bei der Debatte ein um so aufmerksamerer Zuhörer, ihm entgeht kein Wort, keine Silbe, er achtet auf jeden Zwischenruf, auf jede Handbewegung, mit der die Sprecher ihre Ausführungen begleiten, und sein Gehirn und sein scharfer Verstand arbeiten unermüdlich. Auch als das Gespräch sich dann wieder um andere Dinge dreht, ist er immer noch mit dem Fall „Borgmann” beschäftigt.
Ein so liebenswürdiger Wirt er nach außen hin auch heute ist, er kann es jetzt kaum erwarten, bis seine Gäste fort sind, um seinen Geist ganz ungestört weitergrübeln lassen zu können, und als er dann endlich wieder mit Manon allein ist, wehrt er sie zum erstenmal seit ihrer Verheiratung leise ab, als die nun, nachdem sie sich schnell umgekleidet und in einen duftigen Schlafrock gehüllt hat, noch zu ihm in sein Zimmer tritt, um etwas mit ihm zu plaudern, und um sich bei ihm die Küsse zu holen, die sie den ganzen Abend hindurch mit Rücksicht auf die Gäste hat entbehren müssen.
Ganz verwundert sieht sie ihn an, als er sie nicht wie sonst gleich auf den Schoß zieht, als er sogar eine ganz leise ungeduldige Bewegung macht, als sie sich ihm nähert. So ist er doch noch nie zu ihr gewesen, und so fragt sie denn: „Aber Hans, was hast du denn nur heute?”
Aber anstatt ihr gleich zu antworten, springt er plötzlich von seinem Stuhl auf und geht mit erregten Schritten in seinem großen Zimmer auf und ab, bis er dann plötzlich vor ihr stehen bleibt. Und als sie dann in seine leuchtenden Augen blickt, als sie dort wie sonst wieder das Glück, sie zu besitzen, zu lesen glaubt, da weiß sie es, er liebt sie doch noch, genau so wie früher. Wie hatte sie auch nur für eine Sekunde daran zweifeln können? Nein, wirklich daran gezweifelt hatte sie ja auch gar nicht, sie war nur für eine Sekunde an ihm irre geworden, aber schon das war ein großes Unrecht, für das sie ihn um Verzeihung bitten muß.
Aber als sie sich nun an seine Brust lehnt und ihm die Lippen zum Kuß bietet, da küßt er sie so schnell und flüchtig, daß sie fühlt, wie es sie kalt überläuft. Und jetzt weiß sie: Es ist etwas Fremdes zwischen sie getreten, etwas, das früher nicht da war.
Die Angst und das Entsetzen packt sie, sie möchte aufschreien, denn sie merkt es ihm ja an, daß er mit seinen Gednken gar nicht bei ihr ist, noch dazu heute, an ihrem Hochzeitstage.
So hat sie ihn noch nie gesehen, was ist geschehen? Was hat sie getan, um mit einem so flüchtigen Kuß abgefertigt zu werden? Die Angst spricht aus ihren Zügen, denn sie liebt ihn auch heute noch über alles, und sie ist noch ganz das naive und unverdorbene Kind, das sie damals war, als er sie heiratete.
Aber er bemerkt nichts von dem, was in ihr vorgeht, dazu ist er viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, bis er dann endlich zu ihr sagt: „Höre mich mal an, Manon, aber, bitte nimm erst Platz, setze dich hier auf diesen Sessel, ich kann dann besser zu dir sprechen, als wenn du stehst. So, klein Ma, nun paß mal auf. Mir ist schon vorhin bei Tisch eine glänzende Idee gekommen und je länger ich über die nachdenke, desto mehr lockt und reizt sie mich. Und meine Idee heißt auf deutsch, ich werde den Borgmann verteidigen.”
Gott sei Dank, das also ist es, das hatte ihn so beschäftigt, daß er sie heute nicht wie sonst herzte und küßte. Sie hatte schon geglaubt, seine Liebe verloren zu haben.
Sie ist ja so froh und glücklich, daß es nur das ist, dann aber meint sie doch: „Du willst Borgmann verteidigen? Aber eine aussichtslose Sache hat dich doch sonst noch nie interessiert?”
„Die Sache ist aber nicht aussichtslos,” ruft er lebhaft, „das kommt den anderen Dummköpfen nur so vor. Mir ist da vorhin, als der Fall besprochen wurde, verschiedenes aufgefallen, was die anderen übersahen. Natürlich, daß der Borgmann freigesprochen wird, ist ja ausgeschlossen, denn nackte Tatsachen kann kein Verteidiger aus der Welt schaffen, aber man kann sie drehen und wenden, daß sie in einem völlig anderen Licht erscheinen. Man kann die Beweise, die für die Schuld zu sprechen scheinen, in ein Nichts zerpflücken und noch vieles andere mehr.” Er zählt die verschiedenen Einzelheiten auf, die er sich gemerkt hat und die er mit Erfolg vor Gericht später verwenden zu können glaubt. Dann schließt er mit den Worten: „Wie gesagt, kleine Ma, der Fall interessiert mich ganz ungeheuer. Ob ich für meine Verteidigung bezahlt werde oder nicht, was liegt mir daran? Aber es juckt mich in allen Fingerspitzen, den sehr verehrten Herren Kollegen einmal zu beweisen, daß ich doch mehr Verstand habe, als sie, wenn die natürlich auch schon deshalb eine größere Praxis haben als ich, weil ich sie gar nicht haben will. Ich will gleich morgen mit dem Untersuchungsrichter und vor allen Dingen mit Borgmann selbst sprechen. Ich werde mich dem unentgeltlich zur Verfügung stellen, und wenn er mir seine Verteidigung anvertraut, werde ich die so durchführen, daß die anderen sich wundern sollen. Was meinst du dazu, kleine Ma?”
„Ach ja, tue das,” stimmt sie ihm lebhaft bei. Voll innigster Teilnahme hat sie während des Diners fortwährend an die Familie des Verhafteten denken müssen, an die arme Frau und die armen Kinder. Wenn es nun wirklich ihrem Hans gelingen sollte, für den Schuldigen nur eine milde Strafe zu erwirken, so daß der bald wieder zu den Seinen zurück kam — ach, ihr ist plötzlich, als würde sie ihren Hans dann noch lieber haben als jetzt, noch lieber, obgleich sie sich selbst eingestehen muß, daß ihr das gar nicht möglich sein wird.
„Das freut mich, klein Ma, daß du meine Ansicht teilst,” gibt er zur Antwort. „Allerdings, das kann ich dir nicht verhehlen, viel Arbeit wird die Sache machen und ganz so viel wie sonst werde ich mich dir in der allernächsten Zeit nicht widmen können, aber ich werde schon mein Möglichstes tun, um die Sache zu beschleunigen.”
Nun tut es ihr doch schon beinahe leid, daß auch sie ihn gebeten hat, die Verteidigung zu übernehmen. Was soll sie denn nur anfangen, wenn sie jetzt oft alleine sein muß? Gewiß, sie hat einen großen Verkehr und zahlreiche Bekannte, aber trotz allen Reichtums, der sie umgibt, ist sie auch in der Hinsicht das Kind geblieben, das sie war. Wenn andere zugegen sind, ist sie die vollendete Salondame, aber am liebsten ist sie doch mit ihrem Hans allein, sitzt auf seinem Schoß, läßt sich von ihm liebkosen und liebkost ihn wieder. Sie fürchtet sich vor den Stunden des Alleinseins, die nun kommen sollen, aber dann denkt sie doch wieder an die arme Frau und an die Kinder des Verhafteten. Das Mitleid überwindet ihre Bedenken und ihr Hans arbeitet ja auch so schnell. Das, wozu andere Wochen gebrauchen, erledigt er in ebensoviel Tagen, und wie stolz wird sie auf ihn sein, wenn seine Verteidigung den gewünschten Erfolg hat.
So sagt sie ihm denn nichts von dem, was ihr kleines Herz bewegt, sie sieht ihm ja auch deutlich an, wie er sich auf diesen Prozeß freut und die Freude darf und will sie ihm nicht verwehren. Aufmerksam hört sie ihm jetzt zu, als er wieder von dem spricht, was ihn beschäftigt, bis es Mitternacht schlägt.
Dann endlich bittet sie: „Wollen wir uns jetzt nicht schlafen legen, Hans?”
„Bist du schon müde, kliene Ma?” meint er verwundert, „dann lege dich nur hin, ich selbst bin viel zu erregt, um schon jetzt schlafen zu können. Ich muß wenigstens noch eine Stunde aufbleiben, aber ich werde schon nachher so leise sein, daß ich dich nicht wecke.”
Mit ganz traurigen Augen sieht sie ihn an und mit leiser Stimme fragt sie: „Du willst mich alleine zu Bett gehen lassen, Hans, heute? An unserem Hochzeitstag?”
Zärtlich zieht er sie an sich: „Richtig, kleine Ma, das hätte ich beinahe ganz vergessen. Heute ist ja unser Hochzeitstag, nein, da lasse ich dich nicht allein, da will ich dich in meine Arme nehmen, wie heute vor drei Jahren. Weißt du es noch, kleine Ma?”
Als ob sie je die Nacht vergessen würde, in der sie seine Frau geworden ist.
Er hat seinen Arm fester um sie geschlungen und sie ganz dicht an sich herangezogen, während er ihr mit der linken Hand unter das Kinn faßt und ihr süßes kleines Gesicht zu sich hinaufhebt, so daß sie einander voll in die Augen sehen. Und noch einmal fragt er: „Weißt du es noch, kleine Ma?”
Sie antwortet ihm nicht, aber ein Zittern und Beben geht durch ihren ganzen Körper, und so dicht preßt sie sich an ihn, so dicht, als wolle sie ihn nie wieder loslassen, als wolle sie ihm dadurch zeigen, wie sie sich mit ihm eins fühlt.
Und bald darauf ruht sie in seinen Armen, sie fühlt seine Küsse, sie wehrt seinen Händen nicht, die ihre schlanken Glieder streicheln und liebkosen, und voller Leidenschaft erwidert sie seine Umarmungen, seine Glut entflammt die ihrige, bis sie dann, einander immer noch umschlungen haltend, in den Schlaf versinken.
Es ist spät, als sie am nächsten Morgen erwacht, so spät, daß die helle Sonne schon in das Zimmer scheint, als sie die Augen aufschlägt.
Ihr erster Blick gilt dem Bett des Mannes, sie will sehen, ob der noch im festen Schlummer liegt, oder ob der schon wach ist, und darauf wartet, daß auch sie —
Aber das Bett ist leer. Jetzt sieht sie auch, daß seine Schlüssel, die er auf den Nachttisch zu legen pflegt, nicht mehr da sind. Er muß also schon aufgestanden und fortgegangen sein.
Ist es denn schon so spät? Aber selbst wenn es noch viel später wäre, das hat er ihr doch noch nie angetan, daß er so von ihr ging, ohne jeden Kuß, und noch nie ist sie aufgestanden, ohne daß er sie vorher nicht noch einmal in seine Arme nahm, ohne daß sie ihr Gesicht an das seine schmiegte, ohne daß sie, wenn auch nur für flüchtige Minuten, noch einmal in sein Bett kroch und sich bei ihm einkuschelte.
Sie kann es nicht glauben, daß er aufgestanden und fortgegangen ist, ohne ihr Erwachen abzuwarten, so klingelt sie denn der Zofe und die bringt ihr die Aufklärung: „Der gnädige Herr ließe bitten, die gnädige Frau möchte nicht böse sein, aber die gnädige Frau hätte so fest geschlafen und den gnädigen Herrn hätte es vor Unruhe nicht länger im Bett gelitten — er hätte bei dem Untersuchungsrichter zu tun, die gnädige Frau wisse schon, um was es sich handele.”
„Ja ja, gewiß Nini, ich weiß schon, ich dachte nur, daß vielleicht etwas anderes den Herrn veranlaßt hätte, so früh zu gehen.”
Gleich darauf ist Manon wieder allein und sie muß an sich halten, um nicht zu weinen. Dieser gräßliche Prozeß! Ach, hätte sie ihrem Hans doch nur nicht zugeredet, die Sache zu führen, sie selbst wird nun darunter zu leiden haben, und wenn ihr die Angehörigen des Verhafteten auch noch so leid tun, was gehen sie schließlich die fremden Leute an?
Und wie langsam dann der Vormittag verstreicht, als sie aufgestanden ist, wie die Stunden kein Ende zu nehmen scheinen. Sie will eine Spazierfahrt oder einen Ausgang machen, aber ihr Hans kann ja jeden Augenblick zurückkommen, da muß sie doch da sein, schon um ihrer selbst willen, denn sie hat ja nicht einmal von ihm den Morgenkuß bekommen.
Sie wartet und wartet, die Mittagsstunde rückt immer näher heran, aber ihr Hans kommt noch nicht.
Da klingelt endlich das Telephon, ihr Mann bittet sie, mit dem Essen nicht auf ihn zu warten, es sei ganz unbestimmt, wann er zurückkäme, es könne vier aber auch sechs Uhr werden, ihm sei die Verteidigung übertragen und er habe im Augenblick so viel zu tun, daß er nicht wisse, wo ihm der Kopf stehe. Aber das schadete nichts, er sei ja so glücklich, den Prozeß führen zu können. „Und nicht wahr, kleine Ma, du freust dich doch mit mir?”
„Gewiß, mein Hans,” gibt sie zur Antwort. Aber in Wirklichkeit ist ihre Freude nicht allzugroß und es dauert nur noch ein paar Tage, da verwünscht sie diesen Prozeß, wie sie bisher in ihrem ganzen Leben noch nichts verwünscht hat.
Sie kennt ihren Hans gar nicht mehr wieder. Der geht vollständig in seinen Akten auf, und während er bisher alles, was mit seinem Beruf zusammenhing, lediglich in seinem dicht neben dem Gericht gelegenen Bureau erledigte und niemals in seine Privatwohnung auch nur das dünnste Aktenheft hineinließ, häufen sich jetzt auf seinem Schreibtisch die Akten derartig, daß es Manon zuweilen ganz angst und bange wird, wenn sie die dort alle liegen sieht. Die muß ihr armer Hans alle durchlesen?
Aber wenn sie ihm dann ihre Besorgnisse mitteilt, lacht er fröhlich auf: „Das ist noch gar nichts, kleine Ma, das kommt noch ganz anders, warte es nur ab.”
Und sie beginnt diese Akten zu hassen, die ihr ihren Hans rauben.
Gewiß, am Tage widmet er sich ihr nach wie vor so viel, wie seine Zeit es ihm irgend erlaubt, aber an den Abenden ist er für sie verloren, da sitzt er, oft bis in die späte Nacht hinein, an seinem Schreibtisch. Sie hat es schon längst aufgegeben, in ihrem Bett wachzubleiben, bis auch er sich schlafen legt. Warum soll sie auch wachbleiben? Todmüde sinkt er in die Kissen, so müde, daß er einschläft, wenn er sich kaum zugedeckt hat. Ganz selten, daß er vor dem Einschlafen noch einmal mit müder Stimme fragt: „Bist du noch wach, kleine Ma?”
Sie schläft oder sie stellt sich wenigstens schlafend und doch sehnt sie sich nach seinen Küssen und Liebkosungen. Nicht aus irgend welcher krankhaften Sinnlichkeit heraus, o nein, aber sie hat ihren Hans doch über alles lieb, und schon, um ihm zu zeigen und beweisen zu können, wie lieb sie ihn hat, wünscht sie sich, daß er sie in seine Arme nimmt, um ihm alles, alles geben zu können, was sie als seine Frau und als seine Geliebte ihm nur zu geben vermag.
Aber sie hat schon seit langer Zeit aufgehört, seine Geliebte zu sein. Die in ihr auch jetzt noch wohnende mädchenhafte Scheu und Scham hält sie davon zurück, ihm anzubieten, was er nicht freiwillig begehrt. Und sie sagt sich auch, daß er jetzt, wo er geistig überanstrengt ist, ganz still und ruhig leben muß. Und vor allen Dingen, einmal wird dieser Prozeß, wenn er sich auch endlos lange hinzieht, doch vorüber sein, und dann wird wieder alles so werden, wie es war.
Nur ein Glück, daß sie keine heiße, leidenschaftliche Natur ist, daß das Sinnesleben nicht ihr ganzes Denken und Empfinden ausmacht, daß sie in gegenseitigen Umarmungen weiter nichts sieht, als den höchsten Beweis gegenseitiger Liebe. Wie könnte sie es sonst wohl ertragen, so vernachlässigt zu werden?
Bis dann doch eine Nacht kommt, in der die Natur in ihr stürmisch ihr Recht verlangt. Ruhelos wirft sie sich in den Kissen hin und her, sie stößt die Decken mit den Füßen zurück, ihr ist so heiß, so brennend heiß. Ihre Pulse schlagen, ihre Schläfen glühen und hämmern und dann geht doch wieder ein Zittern durch ihren ganzen Körper, ein kalter Schauer überläuft sie, daß sie die Decken wieder über sich zieht, um sie gleich darauf von neuem zurückzustoßen. Und ihr ganzer Körper zuckt und bebt. Sie schließt die Augen und denkt zurück an jene erste Nacht, in der sie sich ihrem Manne hingab. Mit solcher Glut hat er sie da umarmt, daß sie geglaubt hat, die Leidenschaft würde nie erlöschen, die würde immer aufs neue in heißen Flammen auflodern. Und nun sind es schon bald fünf Wochen, daß er ganz vergessen hat, daß sie sein Weib ist.
Und immer heißer und immer wilder werden ihre Sinne.
Ach und die Nacht ist noch so lang, so endlos lang. Es hat eben erst Mitternacht geschlagen, wie soll sie da all die langen Stunden bis zum Morgen nur verbringen? Sie hat plötzlich die Empfindung, als müsse sie verrückt werden, wenn sie auch heute die ganze Nacht allein bleiben soll. Und wenn er sie auch gar nicht in seine Arme nimmt, sie will ihm schon dankbar sein, wenn er sie nur küßt, und ihr nur einmal wieder sagt, wie schön sie ist.
Bis dann plötzlich ihr Entschluß feststeht: Kommt er nicht zu dir, dann gehst du zu ihm.
Sie weiß, daß er noch auf ist, denn vor zwei oder drei Uhr morgens legt er sich jetzt nie schlafen. Gewiß, im ersten Augenblick wird er böse sein, wenn sie bei ihm eintritt und ihn mitten in der Arbeit stört, aber dann wird er sich doch freuen, wenn sie ihm sagt, daß sie nicht einschlafen kann, ohne ihn nochmals geküßt zu haben. Und wenn er es nicht glaubt, daß sie nur deswegen kommt, — nein, das kann er ihr ja auch gar nicht glauben, sie wird lieber sagen, sie ängtige sich heute so, sie habe Furcht vor dem Alleinsein, sie sei so nervös. Ja, das wird sie ihm sagen, und dann wird sie ihn bitten, heute nacht wieder bei ihr im Zimmer zu schlafen und nicht, wie in der letzten Zeit, in dem großen Fremdenzimmer, in das er übersiedelt ist, damit er ganz sicher ist, sie nicht in ihrem Schalf zu stören, wenn er sich spät niederlegt.
Sie dreht das elektrische Licht auf und tritt mit ihren kleinen rosigen Füßen in den weichen dunkelroten Teppich. Gleich darauf steckt sie die Füße in zierliche schwarze Lackpantöffelchen und greift nach einem Schlafrock, um sich den überzuziehen. Dann aber besinnt sie sich doch wieder eines anderen. Nein, er soll sie so sehen, wie sie ist, sie will ihm ihre Reize doch nicht verbergen, er soll die sehen oder wenigstens ahnen und das dünne Batisthemdchen ist ja so dünn wie Seide. Und wenn sie sich nichts überzieht, wenn sie sich nicht einmal dazu Zeit genommen hat, dann wird er ihr um so eher glauben, wie sehr sie sich ängstigt, wie sie sich beeilt hat, zu ihm zu gelangen, um bei ihm Schutz zu finden.
Nein, sie will so zu ihm gehen, wie sie ist. Nur ein Paar Strümpfe will sie sich anziehen, damit sie sich nicht erkältet, wenn sie unterwegs die kleinen Pantoffel verlieren sollte, und ihr Hans liebt ja auch die nackten Füße nicht. Er hat ihr einmal erklärt, selbst das schönste Bein einer schönen Frau erschiene noch schöner, wenn es in seidenen Strümpfen stecke, wenn die weiße Haut zwischen den dünnen Maschen hindurchschiene. Zuerst hat sie das nicht geglaubt und nicht begriffen, bis sie sich dann vor ihren Spiegeln davon überzeugte, daß er recht hat. So schön und so schlank ihre Beine auch ohnehin schon sind, selbst ihr erscheinen sie noch schlanker und schöner, wenn sie die in Strümpfen sieht.
So öffnet sie eine der Schubladen, in der die teuersten und verführerischsten Strümpfe zu Dutzenden herumliegen und zu denen sie doch immer noch neue hinzukauft. Ihr Hans liebt es ja so und durch ihn hat auch sie es lieben gelernt.
Unschlüssig steht sie einen Augenblick da. Von den koketten Strümpfen will sie die allerkokettesten heraussuchen, bis ihr dann einfällt: Ihr Hans liebt ja am meisten die dunkelroten seidenen und er liebt sie ganz besonders, wenn sie dazu ein rundes dunkelrotes seidenes Strumpfband über dem Knie trägt.
Nur die Aufregung, in der sie sich befindet, kann schuld daran sein, daß sie das, wenn auch nur vorübergehend, vergessen konnte.
Gleich darauf hat sie die Strümpfe angezogen, die Strumpfbänder befestigt und schickt sich an, zu ihm zu eilen.
Aber als sie schon den Türgriff in der Hand hat, kommen ihr doch wieder Bedenken. Wird ihr Hans ihr Kommen nicht vielleicht falsch deuten? Was dann, wenn er gar den wahren Grund errät? Sie fühlt, wie sie errötet, das Schamgefühl wird in ihr wach, bis sie dann doch bei ihrem Entschluß bleibt. Ist sie denn nicht seine Frau, sein ihm vor Gott und den Menschen angetrautes Weib? Und selbst, wenn er errät, daß sie sich nach seiner Umarmung sehnt, ist denn dabei etwas Unanständiges? Und ist es nicht in erster Linie die Liebe zu ihm, die ihre Sinne entflammt hat?
So öffnet sie denn die Tür, um zu ihm zu gehen. Die Dienstboten sind schon lange zu Bett, sie ist sicher, niemandem zu begegnen, sie braucht ja auch nur durch drei Zimmer zu eilen, in denen sie schnell überall das elektrische Licht anknipst, dann ist sie bei ihm.
Und kaum eine Minute später tritt sie in sein Zimmer.
Tief über seine Akten gebeugt, sitzt er an seinem Schreibtisch und ist so in seine Arbeit vertieft, daß er es gar nicht hört, als sie nun mit leiser Stimme „Hans” ruft.
Erst bei dem dritten Mal hört er es und springt verwundert und erschrocken zugleich auf: „Aber Manon, Liebling, kleine Ma, was hat denn das nur zu bedeuten? Und noch dazu in diesem Aufzug, du kannst dich ja auf den Tod erkälten.”
Zärtlich schmiegt sie sich an ihn, als er sie nun in seine Arme nimmt: „Es ist ja in allen Zimmern geheizt, Hans, du brauchst dich also nicht zu beunruhigen. Ich habe mir gar nicht die Zeit gelassen, mir etwas überzuwerfen, ich habe mir nur rasch ein Paar Strümpfe angezogen, die ersten besten, die mir in die Hände kamen.”
Er wirft rasch einen Blick auf ihre kleinen Füße, von denen sie nun in seinem Zimmer absichtlich die Pantoffel verloren hat, dann meint er vorwurfsvoll: „Aber die dünnsten, die du nur hast, die dunkelroten.”
„Wirklich die roten?” fragt sie ganz verwundert, und dann hebt sie das Hemd bis an die Knie, als wolle auch sie sich davon überzeugen, ob sie wirklich gerade die roten Strümpfe erwischt habe.
Und auch, als sie sich dann davon überzeugt hat, daß es wirklich die roten sind, läßt sie das Hemd nicht gleich wieder auf den Boden fallen. Und sie denkt im stillen: „Wenn er doch noch einmal hinsehen und dann auch heute zu mir sagen möchte: „Kleine Ma, so viel Frauen ich auch schon vor dir in meinem Leben kennen lernte, noch nie sah ich eine, die so verführerisch schön gewachsen und so schlank ist wie du.”
Sie sehnt sich nach diesen Worten mit allen Fasern ihres Herzens, mit aller Leidenschaft ihrer erregten Sinne, aber statt dessen sagt er nur: „Kleine Ma, ich verstehe es noch immer nicht, warum bist du denn nur zu mir gekommen?”
Als suche sie Schutz bei ihm, klammerte sie sich nur noch fester an ihn an: „Sei nicht böse, Hans, ich weiß ja selbst, daß es kindisch ist, vielleicht bin ich auch heute etwas nervös, aber ich habe solche furchtbare Angst, da drüben ganz alleine in dem großen Schlafzimmer. Ich denke fortwährend, es wird eingebrochen, ich höre beständig irgendwelche Geräusche, ich habe vor Angst mit den Zähnen geklappert und eiskalt ist es mir über den Rücken gelaufen. Da hielt ich es schließlich nicht mehr aus, ich mußte zu dir kommen, und ich flehe dich an, Hans, laß mich heute nacht nicht allein. Ich weiß selbst nicht, was mit mir ist, aber ich beschwöre dich, Hans, schlafe heute nacht nicht wieder drüben in dem Fremdenzimmer, sondern bei mir. Ich bekomme sonst vor Aufregung einen Herzschlag.”
„Aber kleine Ma,” schilt er, „wie kannst du nur so etwas reden? Und vor allen Dingen, warum ängstigst du dich denn nur? Die Hunde sind doch auch heute nacht von der Kette freigemacht und du weißt genau so gut wie ich, ein paar bessere Wächter gibt es gar nicht. Die Doggen zerreißen jeden, der sich ihnen nähert. Alle Türen sind verschlossen und verriegelt, nein, Ma, du kannst ganz unbesorgt sein, und wenn deine Nerven heute nicht in Ordnung sind, dann will ich dir noch ein Glas Zuckerwasser machen lassen, dann wirst du schon schlafen.”
Ein Glas Zuckerwasser, anstatt der Liebe, die sie begehrt!
Sie ist dem Weinen nahe und noch einmal bittet sie: „Kannst du nicht trotzdem heute nacht in meinem Zimmer schlafen?”
„Wenn es dich wirklich beruhigt, gerne,” gibt er zur Antwort, setzt aber dann gleich hinzu: „Ich fürchte nur, das wird dir wenig nützen, denn ich muß unbedingt noch ein paar Stunden arbeiten. Ich habe heute vormittag mit dem Borgmann eine lange Besprechung gehabt, ich muß noch die ganzen neuen Akten durchsehen und ich bin da auf eine Geschichte gestoßen, die mir vorläufig absolut noch nicht klar werden will. Aber auch das werde ich schon noch herausbekommen, ich muß nur Ruhe haben, und wenn ich weiß, daß du in deinem Bett liegst und fortwährend auf mich wartest, das macht mich nervös. Also sei verständig, kleine Ma, lege dich nur ruhig wieder nieder, es wird dir schon nichts passieren.”
Und seinen Arm um ihre Schulter legend, führt er sie hinaus.
So grenzenlos enttäuscht sie bisher war, jetzt belebt sie plötzlich eine neue Hoffnung. Er geht mit ihr in ihr Zimmer, er wird dabei sein, wenn sie sich wieder hinlegt, er wird sich noch einen Augenblick auf ihr Bett setzen, sie küssen und dann, wenn sie ihn wieder küßt, heiß und wild, wenn sie ihn nicht losläßt aus ihren Armen, dann wird auch seine Leidenschaft entflammen und dann —
Ein Wonneschauer überfällt sie, sie muß sich an ihn klammern, sonst wäre sie gefallen.
„Aber Ma,” fragt er ganz verwundert, „was hast du denn nur? Du zitterst ja am ganzen Körper, das kommt davon, wenn du des Nachts so herumläufst, da mußt du dich ja erkälten. Du kannst dir ja den Tod dabei holen, versprich mir, daß du so etwas nie mehr wieder machen willst, hörst du, niemals.”
Und um ihn nicht zu erzürnen, damit er nachher nicht gleich wieder von ihr fortgeht, anstatt bei ihr zu bleiben, verspricht sie ihm alles.
Nun sind sie in ihrem Schlafzimmer angekommen und vorsichtig, als führe er ein kleines Kind, gleitet er sie zu ihrem Bett, und als er ihr dann behilflich ist, sich hinzulegen, sagt er plötzlich: „Kleine Ma, du hast ja noch die Strümpfe an, ich will sie dir ausziehen.” Und dann das kokette runde Strumpfband bemerkend, setzt er hinzu: „Nur ein wahres Glück, daß du in der Eile wenigstens daran gedacht hast, sonst wären dir die Strümpfe schon längst heruntergefallen und du hättest dich mit nackten Beinen dann erst recht erkältet.”
Und so gelassen zieht er ihr die Strümpfe herunter, als wäre sie Gott weiß wer, irgendein ihm völlig gleichgültiger fremder Mensch, aber nicht seine über alles geliebte Ma, seine kleine Manon, an deren Schönheit er sich sonst nie sattsehen kann.
Die Tränen wollen ihr in die Augen treten, aber gewaltsam hält sie die zurück. Nein, nicht weinen, wenigstens jetzt nicht, das braucht er nicht zu sehen, er würde es ja auch gar nicht verstehen, weshalb sie überhaupt weint.
Vorsichtig und behutsam deckt er sie zu, dann beugt er sich über sie und küßt sie auf den Mund, aber bevor sie noch Zeit gefunden hat, ihre Arme um seinen Nacken zu schlingen und ihn an sich zu pressen, ist der Kuß schon vorüber und hochaufgerichtet steht er neben ihrem Bett: „Nun gute Nacht, kleine Ma, und schlaf recht schön.”
„Ich will es wenigstens versuchen, Hans,” gibt sie zur Antwort.
„Na, dann nochmals gute Nacht, kleine Ma, ich muß jetzt auch wieder an die Arbeit gehen.”
Einen Augenblick später ist sie allein, und kaum hat sich die Tür hinter ihm geschlossen, da ist es mit ihrer Selbstbeherrschung zu Ende, die Tränen stürzen ihr aus den Augen und, laut aufschluchzend, vergräbt sie das Gesicht in den Kissen.
Ihre Leidenschaft ist verraucht, ihre Sinne haben sich beruhigt, dafür erfüllt sie jetzt ein anderes Gefühl, das der verletzten Eitelkeit.
Sie fühlt sich gekränkt und auf das tiefste gedemütigt. Sie hat sich ihrem Mann angeboten und er hat sie zurückgewiesen, denn er mußte es doch erraten, was sie in Wirklichkeit zu ihm führt.
Sie sagt sich zwar selbt immer wieder, daß er in Wirklichkeit gar nicht auf diesen Gedanken kommen konnte, sie weiß, daß sie ihm damit Unrecht tut, aber sie sagt es sich trotzdem so lange, bis sie es selbst glaubt, und dann setzt sie im stillen hinzu: „Wenn er mich wirklich noch liebt, müßte er es erraten haben, oder wenn auch das nicht — als er mich so vor sich sah, hätte der Wunsch nach meinem Besitz in ihm doch wach werden müssen, dann hätte er in meiner Nähe den Prozeß und alles andere vergessen, hätte mich in seine starken Arme genommen, wie damals am Lendemain und wie so oft in späteren Tagen, wenn die Leidenschaft plötzlich über ihn kam.
Und wie grenzenlos glücklich hat er sich dann gefühlt, wenn er sie wie ein Kind vom Boden aufhob und durch die Zimmer trug, als wäre sie ein Spielzeug. Das Bewußtsein seiner körperlichen Kraft, das jeder Frau an dem Mann gefällt, hatte ihr selige Wonnen bereitet.
Und nun?
Er hat sie nicht mehr lieb, der heutige Abend hat es ihr ja zur Genüge bewiesen. Wie kühl und kalt ist er bei ihr geblieben, kaum, daß er nach ihr hinsah, als er ihr die Strümpfe abzog, nicht ein zärtliches Wort ist über seine Lippen gekommen, mit keiner Silbe hat er ihre Schönheit gepriesen und sein Kuß war so flüchtig, daß sie es ihm anmerkte: „Er küßt dich nur pro forma, er denkt dabei gar nicht an dich, er denkt nur an seinen Prozeß und an seine Akten.”
Nein, er liebt sie nicht mehr, und wenn er sie auf seine Art vielleicht doch noch lieb hat, es ist doch jetzt eine ganz andere Liebe, als die, die er früher für sie empfand.
Seine Leidenschaften sind erstorben, seine Sinne, die früher so heiß aufloderten, wenn er sie nur ansah, sind erkaltet.
Und dabei ist sie noch so jung, kaum dreiundzwanzig Jahre.
Aber wenn er auch für sie nur noch Freundschaft und Kameradschaft empfindet, begreift er denn nicht, daß sie noch zu jung ist, um sich nur damit zu begnügen? Weiß er denn nicht, wie sie ihn liebt? Konnte er sie nicht schon um ihrer selbst willen zuweilen in die Arme nehmen, um sie wenigstens darüber hinwegzutäuschen, daß er sich nichts mehr aus ihr macht? Versetzt er sich denn gar nicht einmal in ihre Lage, macht er sich denn gar nicht einmal klar, wie sie unter seiner jetzigen Kälte leidet, wie sie seine Zärtlichkeiten, mit denen er sie früher überschüttete, jetzt entbehren muß?
Wenn er sich in Gedanken nur wenigstens einmal ernstlich mit ihr beschäftigte, dann mußte er doch erraten, wie es in ihr aussieht.
Bis sie es dann plötzlich gar nicht begreift, daß nicht auch seine Natur sich nach ihren Umarmungen sehnt, denn sie ist noch zu jung und unerfahren, um zu wissen, daß eine angestrengte geistige Arbeit mehr als alles andere die Sinne einschläfert.
Wie schnell seine Begierde zu ihr erloschen ist. Nicht viel mehr als drei Jahre ist ihre Schönheit imstande gewesen, ihn zu entflammen, nicht viel länger als drei kurze Jahre.
Ob die Freundinnen nicht damals doch vielleicht recht hatten, als die zu ihr sagten, ihr Hans wäre für sie zu alt, nach ein paar Jahren würde sie das selbst einsehen.
Damals hat sie gelacht, hat geglaubt, aus den Freundinnen spräche der Neid, weil sie selbst fortan die reiche Frau sein würde, und dann hatte sie ihren Hans doch so lieb, sie hätte ihn auch geheiratet, wenn er noch viel älter gewesen wäre. Sie hat die Freundinnen auch gar nicht so recht verstanden, inwiefern sollte ihr Hans denn für sie zu alt sein, und inwiefern würde sie das später selbst noch einsehen?
Nun weiß sie es, aber nun ist es zu spät.
Aber daß sie nun seine Umarmungen entbehren muß, das ist das wenigste, denn nur deshalb hat sie ihren Hans doch ganz gewiß nicht geheiratet, dazu ist sie viel zu normal veranlagt, aber daß er sie nicht einmal mehr küßt, ihr Gesicht nicht mehr streichelt wie früher, daß er nie mehr sagt, wie schön sie ist, daß er sie nicht mehr wie früher bittet, sich in ihrer ganzen Schönheit vor einen Spiegel zu stellen, damit all die anderen großen Spiegel ihr Bild zurückwerfen, so daß er sie nicht einmal, sondern viele Male vor sich sieht, daß er sie nie mehr zu sich auf seinen Schoß zieht und ihre schlanken Glieder streichelt, das wird sie nicht überwinden.
Freudlos liegt plötzlich ihr ganzes ferneres Leben vor ihr, sie war so namenlos glücklich und jetzt ist sie zum Sterben unglücklich.
Und Hans ist ganz allein daran schuld, ihr Hans, den sie lediglich aus Liebe geheiratet hat.
Und wie es jetzt ist, so wird es bleiben bis an ihr Lebensende, er kümmert sich gar nicht mehr um sie, er hat keine Ahnung davon, wie es in ihr aussieht — er versteht sie nicht.
Ab er wenn er sie nicht versteht, dann —
Sie richtet sich plötzlich im Bette auf und lauscht mit angehaltenem Atem. Eine Stimme spricht zu ihr, ihre eigene innere Stimme, und was die ihr sagt, ist für sie so neu und überraschend, daß sie es zuerst gar nicht glauben kann. Aber die Stimme sagt ihr immer und immer wieder dasselbe: dann bist du eine unverstandene Frau.
Für einen Augenblick liegt sie völlig regungslos da, denn sie weiß nicht, wie sie sich dieser Erkenntnis gegenüber verhalten soll. Sie hat schon soviel von unverstandenen Frauen gehört und gelesen, ja ihr ist sogar, als gäbe es ein Theaterstück „Eine unverstandene Frau”(1), aber sie hat nie so recht gewußt, was sie sich unter einer solchen Frau vorstellen solle, aber es ist ihr trotzdem riesig interessant erschienen, „unverstanden” zu sein. Auf einer Gesellschaft ist ihr einmal eine Frau von Soundso vorgestellt worden, eine blendend schöne Frau in einer prachtvollen, aber etwas exzentrischen Toilette, und sie hat gehört, wie die Herren sich gegenseitig zuflüsterten: „Schade um die junbge Frau, daß selbst die unverstanden ist.”
Woher wußten die Herren das? Haben die Herren ihr das an der Toilette angesehen? Ob sie sich nun auch fortan anders kleiden muß, als bisher? Und ob sie sich nicht lieber gleich morgen einen neuen Hut kauft? Natürlich keinen richtigen Trauerhut, aber doch so etwas Ähnliches, damit die Welt sieht, daß auch sie Leid und Kummer zu tragen hat.
Oder ob sie das, was sie bedrückt, für sich behält und die anderen Menschen keinen Anteil daran nehmen läßt?
Aber wenn niemand weiß, was sie leidet, dann können die anderen sie auch nicht trösten, und es ist doch so schön, getröstet zu werden — man tut sich dann selbst so furchtbar leid. Und wenn man dann weint und die anderen einem dann immer zureden, doch nicht so traurig zu sein, dann weint man erst recht und auf allen Gesellschaften wird von ihr gesprochen werden, und einer wird es dem anderen erzählen: wissen Sie schon, die kleine Frau Manon ist auch schon eine unverstandene Frau?
Und voller Mitleid und Anteilnahme werden dann aller Blicke auf ihr ruhen.
Wenn sie es auch nicht durch ihre Kleidung verraten wird, schon deshalb nicht, weil ein solches exzentrisches Gewand, wie die Frau von Soundso es trug, ihr nicht steht — in ihren Mienen und in ihrem Wesen wird sie es der Welt doch zeigen, daß sie unverstanden ist.
Sie findet sich wahnsinnig interessant und eigentlich ist sie Hans jetzt dankbar, daß sie durch ihn eine unverstandene Frau geworden ist. Aber dann fängt sie doch plötzlich an zu weinen. Gerade weil sie sich so interessant findet, fühlt sie sich plötzlich zum Sterben unglücklich. Sie schluchzt laut auf und die heißen Tränen laufen ihr die Wangen herunter.
Und dabei kann sie trotz ihres Suchens nicht einmal ihr Taschentuch finden.
Sie ist noch so jung und trotzdem schon unverstanden!
Sie weint und weint vor sich hin, bis sie sich dann plötzlich fragt: „Ob ich auch dann schon heute unverstanden wäre, wenn ich damals nicht Hans, sondern einen anderen geheiratet hätte? Vielleicht den Leutnant von Marlow, oder den Assessor Brückner, oder gar den Fritz Erler?”
Zum erstenmal seit drei Jahren denkt sie wieder daran zurück, wie der sich um ihre Gunst bewarb, weniger mit Worten, als mit seinen wunderschönen dunkelblauen Augen. Ganz deutlich fühlt sie plötzlich seinen Blick auf sich gerichtet, sie sieht in seine Augen, die immer einen so traurigen Ausdruck haben, mit denen er sie immer so bittend und flehend anschaute.
„Ich darf diese Augen nicht mehr lange ansehen, sonst heirate ich ihn am Ende doch noch einmal.”
Wie oft hat sie sich das nicht früher als junges Mädchen gesagt, bis sie sich dann plötzlich in ihren Hans verliebte.
Und zum erstenmal fragt sie sich eigentlich erst heute; „Warum hast du dich damals nicht in Fritz Erler verliebt?” Auch er ist ein hübscher, großer schlanker Mensch, Ende der Zwanzig, klug und intelligent, auch sehr wohlhabend, wenn auch lange nicht so reich wie ihr Hans, aber doch vermögend genug, um lediglich, ohne einen Beruf zu haben, seinen Passionen leben zu können. Er treibt viel Sport, reitet, fährt und ist ein leidenschaftlicher Jäger.
Warum hat sie sich eigentlich nicht in Fritz verliebt? Darauf findet sie keine Antwort. Gewiß, sehr gerne hatte sie ihn immer, und daß er bis über beide Ohren in sie verliebt war, das hat er ihr deutlich genug gezeigt, das haben seine Augen ihr mehr als einmal verraten.
Ob sie wohl auch dann schon heute eine unverstandene Frau wäre, wenn sie Fritz geheiratet hätte? Ganz gewiß nicht, denn der hätte sie nicht über einen dummen Prozeß vergessen, der hätte sein ganzes Leben mit ihr geteilt, wie sie das ihrige mit ihm. Sie hätte seine Passionen geteilt, wäre mit ihm gefahren und geritten und wäre mit ihm auf die Jagd gegangen. Auch ohne daß sie ihn besonders liebte, wäre sie vielleicht mit dem viel glücklicher geworden, als mit Hans, denn daß selbst die heißeste Liebe zuweilen nicht ausreicht, um eine Ehe glücklich zu erhalten, dafür hatte sie ja den Beweis in Händen, sogar einen greifbaren Beweis in Gestalt eines völlig durchnäßten Taschentuches, das sie nun doch endlich gefunden hat.
Auch sie ist eine unverstandene Frau.
Und von neuem fängt sie an zu weinen und zu schluchzen, bis dann doch endlich der Schlaf über sie kommt und sie alles Leid vergessen läßt.
Sie schläft und sie träumt, aber nicht von Hans, sondern von Fritz Erler. Denn sie hat zuviel an ihn gedacht, als daß ihre Gedanken sich nicht auch noch jetzt mit ihm beschäftigen sollten.
Aber aus diesem Schlaf heraus fährt sie plötzlich mit einem leisen Schrei in die Höhe und sie schämt sich so, daß sie trotz der Dunkelheit der Nacht beide Hände vor das Gesicht schlägt.
Nein, das nicht. Mag Hans sie noch so gleichgültig behandeln, mag er ihr auch nicht ein einziges Mal mehr sagen, daß er sie liebt, und selbst, wenn er sie nie wieder küssen sollte, nein, daß sie ihm jemals untreu wird und ihn mit Fritz Erler betrügt, nein, niemals.
Ach, aber der Traum war so wunderschön und ganz deutlich hat sie es gesehen, auch sein Schlafzimmer ist dunkelrot gehalten und vor seinem Bett liegt ein ganz großes Eisbärfell. Jetzt fällt es ihr wieder ein, daß sie Hans damals gebeten hat, ihr ein solches Fell zu schenken und vor ihr Bett zu legen, aber er hat ihr den Wunsch nicht erfüllt, weil er da ihren Geschmack nicht begriff.
Jetzt wird es ihr klar — schon damals hat er sie nicht verstanden.
Ob Fritz Erler wohl in Wirklichkeit ein Eisbärfell vor dem Bett liegen hat und ob er auch sonst so hübsch eingerichtet ist, wie sie es im Traum sah? Ob er in Wirklichkeit ein so breites zweischläfriges englisches Bett hat? Noch dazu als Junggeselle? Aber die sind ja häufig am meisten verheiratet, wenn auch nur vorübergehend.
Sie schämt sich ihres Traums und ihrer Gedanken, denn mit solchen Dingen hat sich ihre Phantasie noch nie beschäftigt, dazu ist sie viel zu rein und unverdorben, und wenn sie heute so etwas denkt — sie spricht sich selbst von jeder Schuld frei. Warum ist Hans so gleichgültig gegen sie? Da hat er es sich selbst zuzuschreiben, wenn sie ihm in Gedanken untreu wird.
Und eine andere Frau als sie würde ihn auch in Wirklichkeit betrügen.
Aber wenn sie ihren Hans auch nicht mehr so liebt wie früher, ihn nicht mehr so lieben kann, nein, das wird sie ihm niemals antun, und sie würde auch vor Scham in die Erde sinken, wenn sie sich jemals vor Fritz Erler ausziehen müßte.
Wenigstens müßte er dann vorher das elektrische Licht ausdrehen und unter keinen Umständen dürfte er dabei sein.
Sie würde ihn erst rufen, wenn sie sich in seinem Bett versteckt hat.
Ob auch wohl er solche Vorliebe für hübsche Schuhe und Strümpfe hat, wie Hans?
Sie nennt den in Gedanken nur noch „Hans”, nicht mehr wie früher „ihren Hans”, aber auch daran ist er ganz alleine schuld.
Und ob auch Fritz es gleich sehen würde, daß sie unter der rechten Achselhöhle einen ganz, ganz kleinen Leberfleck hat?
Da müßte sie sich ja ganz nackt vor ihm ausziehen, nein, das würde sie niemals tun, niemals, sie würde vor Scham sterben.
Und sie schämt sich schon jetzt so, daß sie ihr heißes Gesicht in den Kissen vergräbt.
Wie kommt sie nur auf solche Gedanken?
Endlich schläft sie wieder ein, und als sie dann am nächsten Morgen erwacht, begreift sie es selbst nicht mehr, daß sie sich so viel mit Fritz Erler hat beschäftigen können, und noch dazu in solcher Weise. Sie wird es auch ganz betsimmt nicht wieder tun, sie will überhaupt nicht mehr an ihn denken.
Aber als sie dann am Vormittag ausgeht, um ein paar Besorgungen zu machen, reitet er an ihr vorüber. Seit mehr als vierzehn Tagen hat sie ihn nicht mehr gesehen, und daß der Zufall nun gerade heute die Begegnung herbeiführt — ob das wirklich nur ein Zufall ist?
Sie muß sich mit Gewalt beherrschen, um seinen höflichen Gruß unbefangen erwidern zu können, um nicht verwirrt zu werden unter dem langen Blick, den er ihr zuwirft, mit dem er ihre ganze Erscheinung umfaßt. Wie hübsch er ist und wie ausgezeichnet er zu Pferde sitzt! Und wie der Rappe unter ihm tänzelt und kurbettiert. Ein prachtvolles Tier, das muß sie sich noch einmal ansehen.
Und als sie dann zurückblickt, sieht sie, daß auch er sich nach ihr umgewandt hat.
Ganz verwirrt setzt sie ihren Weg fort. Was er sich nur gedacht haben mag, als sie sich nach seinem Pferd umsah? Ob er sich vielleicht gar einbildet, daß ihr Blick und ihr Interesse ihm selbst galten? Darüber muß sie ihn aufklären, sobald sie einmal wieder mit ihm zusammentrifft, nein, noch besser, sie wird diese Begegnung gar nicht erwähnen, die Männer sind ja so schlecht, er wäre imstande, ihr gar nicht zu glauben. Aber nein, er würde ihr schon glauben, denn er ist nicht so frech und eingebildet wie die anderen Männer, die in der kleinsten Freundlichkieit, die man ihnen erweist, sofort eine Bevorzugung erblicken. Und eigentlich ist Fritz Erler überhaupt ein sehr netter Mensch, und sie weiß selbst nicht, woran es liegt, daß sie sich damals nicht in ihn verliebt hat.
Aber darüber jetzt noch nachzudenken, hat ja keinen Zweck mehr, sie ist jetzt doch auch eine verheiratete Frau, und wenn Hans sich auch jetzt nicht mehr um sie kümmert, so darf sie doch solchen Gedanken nicht nachhängen.
Sie darf überhaupt nicht mehr an Fritz Erler denken, sie will es auch nicht, das nimmt sie sich ganz fest vor, aber leicht wird es ihr nicht, ihrem Vorsatz treu zu bleiben, denn in den nächsten Wochen bekommt sie ihren Mann überhaupt kaum noch zu sehen. Der Tag, an dem der Prozeß verhandelt werden soll, rückt immer näher und die Akten auf seinem Schreibtisch häufen sich fortwährend.
Bis dann endlich der große Tag da ist, bis ihr Mann dann am späten Nachmittag glückstrahlend zu ihr in das Zimmer gestürzt kommt und sie an sich reißt, daß sie glaubt, in seinen starken Armen zu zerbrechen. Er hat den Prozeß glänzend gewonnen, ein völliger Freispruch war natürlich nicht zu erzielen, aber auf Grund seiner fulminanten Rede haben die Richter in einigen Punkten die Schuldfrage verneint, in anderen mildernde Umstände zuerkannt, und anstatt der vom Staatsanwalt beantragten fünf Jahre Gefängnis ist Borgmann mit sechs Monaten davongekommen und von diesen werden ihm noch vier Monante Untersuchungshaft angerechnet.
Das ist ein Erfolg, den selbst er nicht zu erhoffen gewagt hat. Er ist so stolz und glücklich, wie er in seiner Berufstätigkeit noch niemals gewesen ist. Und während er seine Praxis bisher eigentlich nur ausübte, um eine Beschäftigung zu haben, machte ihm seine Tätigkeit jetzt zum erstenmal wirklich Freude, erfüllte ihn zum erstenmal mit stolzer Genugtuung.
Aber noch mehr, sein Ehrgeiz ist erwacht. Er träumt davon, ein ganz berühmter Verteidiger zu werden. „Denn das kannst du mir glauben, kleine Ma, der Prozeß geht durch alle Blätter und das Urteil wird überall, nicht nur in Juristenkreisen, das größte Aufsehen erregen. Man wird sich sagen: ,Donnerwetter, dieser Verteidiger, das ist ein Kerl, der versteht seine Sache aus dem Effeff.' Und es soll mich gar nicht wundern, wenn man mich nächstens nach Berlin oder sonst irgendwohin holt, um einen Prozeß zu führen. Ich bin ja so froh, kleine Ma, und, nicht wahr, du freust dich mit mir?”
Und sie freut sich wirklich, in der Hauptsache aber doch nur deshalb, weil dieser Prozeß nun endlich vorüber ist. Aber seine Hoffnungen, daß er nun bald nach auswärts gerufen wird, teilt sie nicht, wenn sie das auch nicht ausspricht, um ihn nicht zu betrüben. Nur keinen zweiten solchen Prozeß, an diesem einen hat sie mehr als genug.
Aber stolz ist sie doch auf ihren Mann, als nun im Laufe des Tages für ihn von allen Seiten Glückwünsche eintreffen, als selbst die Kollegen mit ihrer vollen Anerkennung seiner Leistung nicht zurückhalten.
Ja, sie ist stolz auf ihn, und aus diesem Gefühl heraus hat sie ihn auch plötzlich wieder lieb, genau so lieb wie früher. Alles, was er ihr angetan hat, ist vergessen und vergeben, nun ist er wieder „ihr” Hans, ihr alter Hans, und sie sehnt die Nacht herbei, denn an der Art, in der er sie heute wieder küßt und streichelt, merkt sie ja, daß auch er sich danach sehnt, sie endlich einmal wieder in seine Arme zu nehmen.
Und als die Nacht dann da ist, überschüttet er sie mit Beweisen seiner Liebe, er kann sich nicht sattsehen an ihrer Schönheit. er flüstert ihr die zärtlichsten Worte zu und bittet sie immer wieder um Verzeihung, daß er sie so lange vernachlässigte. Er kann es nun plötzlich selbst nicht mehr begreifen, daß er über den Prozeß sein Weib hat vergessen können, sein süßes kleines Weib.
Und zärtlich an ihn geschmiegt, lauscht sie seinen Worten, die ihren Ohren wie Musik klingen. Ach, er ist ja doch ihr Hans, ihr über alles geliebter Hans, bis sie dann in seinen Armen alles vergißt, sich selbst und auch Fritz Erler.
An den denkt sie nun überhaupt nicht mehr, denn nun beginnt für sie wieder ein Leben wie früher. Ach, sie ist ja so glücklich, so namenlos glücklich. Nun macht es ihr auch wieder Freude, sich zu schmücken und zu putzen, jetzt sieht ihr Hans wieder danach hin, wie sie sich kleidet. Nun sagt er ihr wieder, daß sie schön ist, und ihre Schönheit entflammt ihn stets aufs neue.
Und als sie ihm dann eines Tages gesteht, warum sie damals in der Nacht zu ihm kam, da bittet er sie in so leidenschaftliochen Worten um Verzeihung, da ist er so zerknirscht, daß sie es gleich darauf bitter bereut, ihm alles anvertraut zu haben.
Ach, sie ist ja so glücklich und ihr Hans ist es ja auch, der ist sogar doppelt glücklich, einmal, weil er seine kleine Ma wieder hat, dann aber auch, weil er sich in seinen Erwartungen nicht getäuscht sieht. Der Prozeß ist durch alle Blätter gegangen, aber das nicht allein, man ist auf ihn als einen äußerst geschickten Verteidiger aufmerksam geworden, das beweisen ihm zahlreiche Zuschriften.
Und es dauert auch gar nicht lange, als er aus einer weit entfernt liegenden Stadt die Anfrage erhält, ob er bereit wäre, in einer sehr komplizierten Unterschlagungssache die Verteidigung zu übernehmen. Sein Entschluß steht sofort fest, er telegraphiert eine Zusage, aber als er dann Manon davon erzählt, bricht die in Tränen aus: „Tue es nicht, Hans,” bittet sie ihn. „Warum hast du nicht vorher mit mir darüber gesprochen? Aber noch ist es ja Zeit, mach deine Zusage wieder rückgängig, gleich heute. Tu es mir zuliebe, Hans, ich flehe dich an. Einmal habe ich schon die langen Wochen des Alleinseins durchmachen müssen, aber da warst du wenigstens hier im Haus, ich sah dich bei den Mahlzeiten, ich konnte doch täglich mit dir sprechen, aber wenn du nun fortfährst und vielleicht wochenlang fortbleibst, das ertrage ich ganz einfach nicht. Wenn ich dich doch wenigstens begleiten könnte, wenn der Prozeß in Berlin oder einer anderen großen Stadt wäre, aber in diesem kleinen Nest? Da kann ich doch nicht den ganzen Tag im Hotel sitzen und auf dich warten, ich würde ja verrückt vor Langeweile, und deshalb bitte ich dich noch einmal, Hans, nimm die Verteidigung nicht an, tu es mir zuliebe nicht, denn du hast mich doch lieb, Hans.”
Ja, er hat sie lieb, aber noch größer als seine Liebe zu ihr ist sein Ehrgeiz, der ganz plötzlich wie ein böser Geist in ihn hineingefahren ist. Gewiß, seine kleine Ma tut ihm aufrichtig leid, sie wird ihm entsetzlich fehlen, er wird fortwährend an sie denken, ihr schreiben, so oft er nur kann, und er wird zwischendurch schon ein paar Tage finden, in denen er wieder zu ihr kommen kann, oder sie treffen sich sonst in Berlin oder sie besucht ihn auf ein paar Tage. „Und die Zeit geht ja so schnell dahin, kleine Ma, vielleicht bleibe ich auch nicht annähernd so lange fort, wie wir beide in diesem Augenblick denken, wenn ich erst einen Einblick in die Sache gewonnen habe, werde ich sicher auch vieles von hier aus erledigen können, und es genügt dann, wenn ich nur hin und wieder auf ein paar Tage fortfahre. Aber zurücknehmen kann ich meine Zusage nicht, das bin ich mir selbst schuldig, dazu liegt auch kein zwingender Grund vor.”
Sie glaubt nicht recht gehört zu haben. Ist ihre gegenseitige Liebe denn kein zwingender Grund, ihre Bitte zu erfüllen?
Aber sie ist zu stolz, ihm das zu sagen, sie ist auch zu stolz, ihn weiter zu bitten, ihm noch einmal von ihrer Liebe zu sprechen. Wenn er sie denn nicht mehr liebt — gewiß, auf seine Art liebt er sie auch heute noch, aber das ist nicht mehr die ganz große Liebe, die freudig jedes Opfer bringt.
Und dabei hat er ihr in der Hochzeitsnacht geschworen, sie nie zu verlassen, nur noch für sie zu leben.
Aber sie ist auch zu stolz, um ihn daran zu erinnern. Wenn er nicht selbst daran denkt, warum soll sie ihm seinen Schwur ins Gedächtnis zurückrufen? Und sie würde sich für ihn schämen, wenn er eingestehen müßte, daß er im Begriff ist, diesen Schwur zu brechen.
So fügt sie sich denn in das Unvermeidliche, sie weint auch nicht mehr, aber sie fühlt in sich eine grenzenlose Leere, ihr ist, als sei mit einemmal etwas in ihr gestorben, und ihr kleines Herz tut ihr so weh, so bitter weh. Aber was liegt daran? Sie muß sich ja fügen.
Irgend etwas in ihr ist gestorben, und selbst, als ihr Mann dann bald darauf verreist, vorläufig ganz unbestimmt, auf wie lange, weint sie nicht, sie ist nicht einmal sehr traurig, in ihr ist nur alles so leer, so leer.
Ach, und dieses schreckliche Alleinsein. Sie hat daran gedacht, zu Verwandten oder zu Freunden zu reien, hat sich dann aber doch wieder eines anderen besonnen. Die würden ihr immer wieder vorreden, wie stolz sie auf Hans sein müsse, die würden sie um ihren Mann beneiden, der im Begriff steht, sich einen bekannten Namen zu machen, sie würden es gar nicht begreifen, daß sie selbst darüber keine Freude empfindet, sie würden sie auslachen, wenn sie zu ihnen sagt: „Was habe ich davon, wenn Hans berühmt wird? Mir wäre viel lieber, es wäre alles so wie früher und er lebte nur noch für mich.” Und sie hört im Geiste schon die Antwort der anderen: „Aber, liebe Manon, die Flitterwochen können doch nicht ewig dauern.”
In anderen Ehen gewiß nicht, das weiß sie ja auch, da ist der Mann ja mehr oder weniger darauf angewiesen, zu arbeiten und zu verdienen, aber Hans ist doch reich, noch viel reicher als sie geglaubt hat, was braucht er da zu arbeiten? Und er arbeitet ja nicht einmal aus Freude an der Arbeit selbst, sondern lediglich aus Ehrgeiz. Darüber vergißt er alles, auch sie, und da sie es nicht einsieht, wie ein Mensch ehrgeizig sein kann, versteht sie ihren Mann nicht, und je weniger sie ihn versteht, um so mehr fühlt sie sich als unverstandene Frau.
Nein, sie hat es nicht über sich gebracht, zu fremden Menschen zu fahren, und schließlich, wenn sie einmal jemanden sehen und sprechen will, hat sie hier ja genug Bekannte, die sich ohnehin um sie kümmern und in ihrer Einsamkeit zu trösten versuchen.
Hans hätte es gar nicht erst nötig gehabt, alle noch besonders darum zu bitten, sich seiner kleinen Ma nach besten Kräften anzunehmen.
Wenn Hans nur doch erst wieder da wäre. Aber das wird noch lange dauern. Erst heute morgen hat sie einen Brief von ihm erhalten und ganz glücklich hat er ihr geschrieben, daß man ihn in einem kleinen Ort gleich noch die Verteidigung in einem zweiten Prozeß übertragen habe. Der Fall an sich interessiere ihn allerdings nicht besonders, aber bei der Persönlichkeit des Angeklagten werde auch dieser Prozeß Sensation erregen, und dann hatte es geheißen: „Ich bin ja so traurig, kleine Ma, daß ich wegen des Wiedersehens immer noch nichts Bestimmtes sagen kann, und das Schlimmste ist, ich darf dich nicht einmal bitten, zu mir zu kommen. Vom Morgen bis zum Abend habe ich zu tun, und dazu diese Hotelverhältnisse. Wenn ich daran denke, daß deine kleinen Füße auf diese Teppiche treten sollen, und wenn ich mir vorstelle, daß dein schöner Körper in einer dieser elenden Bettstellen ruht, nein, kleine Ma, das wäre der Tod der Schönheit und der Tod der Liebe, denn wie ich dir schon so oft sagte, wenn man schon in Schönheit sterben soll, da muß man erst recht in Schönheit leben und lieben.”
Und Manon ist ganz glücklich, als sie diese Worte liest, die beweisen ihr ja, daß Hans an sie denkt, daß sie ihm fehlt, aber es sind doch nur wenige Zeilen, die von ihr handeln, dann kommen wieder lange Seiten, in denen er ausführlich von seinen Prozessen schreibt, und zum Schluß heißt es dann: „Der Brief ist viel länger geworden, als ich dachte, aber jetzt muß es auch für heute genug sein. Und noch rasch einen Kuß, kleine Ma, und tausend herzliche Grüße von deinem Hans.”
Sie lacht bitter auf. „Nur noch rasch einen Kuß.” Nur einen, und nicht einmal zu dem läßt er sich Zeit. Was interessieren sie die Prozesse? Hätte er die nicht nur kurz erwähnen und die übrigen sieben Seiten seines Briefes dazu benutzen können, um ihr von seiner Liebe zu sprechen? Und fragt er denn überhaupt danach, wie es ihr geht und wie sie die Zeit ohne ihn verbringt, geht er nicht auch jetzt wieder vollständig in seinen Akten auf? Er denkt nur an sich, gar nicht mehr an sie, und da sie es gar nicht begreift, daß ein Mann so in der Arbeit aufgehen kann, daß er darüber alles andere auf der Welt vorübergehend vergißt und da sie an seiner Arbeit keinen Anteil nimmt, fühlt sie sich heute mehr denn je als unverstandene Frau.
Sie ist so traurig, sie fühlt sich so einsam und verlassen, daß sie wieder weinen muß, und dabei ist sie heute abend um sechs Uhr zu einem großen Diner geladen. Sie ist so gar nicht in der Stimmung, unter fremde, ihr gleichgültige Menschen zu gehen, aber sie muß, sie hat es der Freundin, die heute ihren Geburtstag durch dieses Diner feiert, geschworen, ihr und ihrem Mann nicht vielleicht doch noch im letzten Augenblick eine Absage zu schicken, wie sie es kürzlich bei dem Generalkonsul tat.
So läßt sie sich denn am Nachmittag von ihrer Zofe ankleiden. Sie weiß, sie wird kein allzu fröhlicher und allzu amüsanter Gast sein, so will sie wenigstens schön sein, so schön, wie es nur irgend geht.
Und selbst der Zofe, die doch an ihren Anblick gewöhnt ist, entschlüpft unwillkürlich ein Ausruf der Bewunderung, als sie nun fix und fertig vor dem großen Spiegel steht und als all die anderen großen Spiegel ihr Bild vielfach zurückwerfen.
Ja, sie ist sinnberückend schön und ihr Eintritt in den Salon der Freundin erregt allgemeines Aufsehen. Sie ist die Königin, keine andere kommt ihr auch nur annähernd gleich.
Sie hört das allgemeine Flüstern, das durch die Reihen der übrigen Gäste geht, sie fühlt, daß alle Blicke nur auf sie gerichtet sind, und sie fragt sich immer wieder: „Gelten diese Blicke nur deiner Schönheit oder sehen die anderen es dir an, welcher Schmerz deine Seele bewegt, sehen es die anderen, daß auch du eine unverstandene Frau bist?” Aber keiner zollt ihr mit seinen Augen eine so ehrliche Bewunderung, wie Fritz Erler, der da drüben neben dem Kamin steht. Auf den Gedanken, daß sie den hier treffen würde, obgleich sie weiß, daß er in diesem Hause verkehrt, ist sie gar nicht gekommen. Nun macht sie seine Anwesenheit verwirrt und diese Verwirrung wächst, als er sich ihr bald darauf nähert, um sie zu Tisch zu führen.
Gerade er ist ihr Tischherr! Hätte sie das geahnt, dann würde sie doch noch im letzten Augenblick abgesagt haben. Sie ist an seiner Seite unruhig und befangen. Ob sie will oder nicht, sie muß fortwährend an den Traum zurückdenken, an jenen Traum, in dem er sie in seinen Armen hielt und küßte, bis sie davon erwachte.
Und in ihrer Nervosität überfällt es sie plötzlich wie eine fixe Idee: „Ob er wohl wirklich vor seinem Bett ein großes Eisbärfell liegen hat?”
Das muß sie wissen, und so bringt sie denn, wenn auch etwas plötzlich und unvermittelt, das Gespräch auf seine Jagden, sie weiß, daß er einmal einen Elch erlegte, und, wie gänzlich unbeabsichtigt, fragt sie ihn, ob er noch nie auf den Gedanken gekommen wäre, auf die Bärenjagd zu gehen, sie hätte gerade gestern darüber gelesen, diese Jagd müsse doch besonders interessant sein.
„Sie ist es auch tatsächlich,” stimmte er ihr bei, „ich kenne die Jagd bereits aus Erfahrung, vor zwei Jahren habe ich einen großen Eisbären geschossen, gnädige Frau, sein Fell habe ich als Siegestrophäe mit nach Hause genommen, und der riesige Bursche, der mir beinahe das Leben gekostet hätte, liegt jetzt in meinem Schlafzimmer, als Bettvorleger.”
Also doch! Sie wird immer unruhiger, wie ist es nur möglich, daß sie damals im Traum alles hat so deutlich vor sich sehen können?
Auf ihre Bitte hin erzählt er ihr dann ausführlich von dieser Jagd, aber sie hört kaum hin auf seine Worte, wenn sie sich auch den Anschein gibt, ganz Ohr zu sein, und er merkt es, wie zerstreut sie ist. Er spricht trotzdem weiter, aber während des Sprechens ruhen seine Augen voll ehrlichster Anteilnahme auf ihr. Er hat diese Frau über alles geliebt, er liebt sie noch heute, und er leidet im stillen mit ihr, denn er merkt es ihr ja deutlich an, daß sie nicht glücklich ist. So nervös wie heute hat er sie noch nie gesehen und er errät, daß sie durch die Lebhaftigkeit, die sie nun plötzlich zur Schau trägt, ihm gegenüber verbergen will, was sie beschäftigt.
Und während sie sonst fast ausschließlich von ihrem Hans spricht und von dem Glück, das sie bei ihm gefunden, hat sie heute seinen Namen noch nicht ein einziges Mal erwähnt.
Mitten in seiner Schilderung, mitten im Satz, hält er plötzlich inne. Was interessiert die Frau da an seiner Seite die Jagd? Er bringt es nicht länger fertig, ihr von so gleichgültigen Dingen zu sprechen. Er möchte ihr etwas ganz anderes sagen, daß er sie immer noch liebt und welches Mitleid er für sie empfindet, aber er hat kein Recht, so zu ihr zu sprechen, wenn sich nicht im Laufe des Gesprächs eine Gelegenheit bieten sollte, ihr wenigstens anzudeuten, was er für sie fühlt.
Bis sie dann doch plötzlich von ihrem Mann spricht. Aber als sie seinen Namen nennt, hat ihre Stimme nicht wie sonst einen heißen glücklichen Klang, sondern ganz gleichgültig spricht sie von ihm, ja sogar mit einer gewissen Verbitterung, wenn sie die natürlich auch nach besten Kräften zu verbergen versucht.
Und aus jedem ihrer Worte gört er heraus, daß sie nicht glücklich ist.
Und plötzlich sagt er ihr es auch, aber so zart und diskret, mit einem so gütigen weichen Organ, mit einem so teilnehmenden Blick in seinen Augen, daß sie gar nicht danach fragt, wie er dazu kommt, ihr so etwas zu sagen.
Ja, sie widerspricht ihm nicht einmal, und doch hat sie die Empfindung, als ob sie das müsse, als wäre sie das ihrem Mann und vor allen Dingen sich selbst schuldig. Aber sie drängt die Worte, die sie entgegnen will, immer wieder zurück, und sie lauscht ihm weiter, als er ihr nun sagt, wie heiß er sie liebte, daß er sie auch heute noch liebt, soweit er sie, die Gattin eines anderen, noch lieben darf, daß er niemals heiraten wird, da es ihm nicht gelungen ist, sie zu gewinnen, und daß er sie nie vergessen wird, solange er lebt.
Nein, so darf er nicht zu ihr sprechen, das darf sie nicht länger mit anhören, und doch hört sie es so gerne. Seine Stimme ist so weich und so zart, seine Worte klingen so ehrlich und so rein, so frei von jedem sinnlichen Nebengedanken, und mehr noch als sein Mund verraten seine Augen, wie lieb er sie hat. Und seine Worte lallen und lullen sie ein, ihr ist, als lausche sie einem Märchen: „Es war einmal —” Wie lange hat sie nicht gehört, daß sie geliebt wird, und das muß eine Frau hören, lieber will sie hungern und darben.
Sie hat den Wunsch, daß er ewig so weitersprechen möge, und doch sagt sie jetzt: „Ich bitte Sie, wenn wir gute Freunde bleiben wollen wie bisher — sagen Sie mir so etwas nie wieder, niemals, geben Sie mir Ihr Wort darauf.”
„Das kann ich nicht, gnädige Frau,” gibt er mit fester Stimme zur Antwort, „ich würde mein Wort brechen und Sie müßten mich verachten, während Sie mir so höchstens nur zürnen können. Ein Zorn kann verrauchen, dem kann eine Versöhnung folgen, aber wenn man einen Menschen erst einmal hat verachten müssen, gnädige Frau, da gibt es nichts mehr wieder gutzumachen.”
Wie fest und energisch plötzlich seine Stimme klingt und welch strenge Anschauungen er hat. Wenn Hans doch nur eben so denken möchte, wie glücklich wäre sie dann noch heute.
Sie schweigt noch einen Augenblick, dann sagt sie: „Ich will nicht schuld daran sein, Sie dereinst vielleicht nicht mehr achten zu können, ich verlange jetzt nicht mehr Ihr Wort, aber ich bitte Sie, nie wieder so zu mir zu sprechen, werden Sie mir diese Bitte erfüllen?”
„Ich will es versuchen gnädige Frau, aber wenn die Liebe und die Verehrung zu Ihnen stärker ist, als der feste Vorsatz, Ihrem Wunsche gehorsam zu sein, dann dürfen Sie mich dafür nicht verantwortlich machen, dann sind Sie ganz alleine selbst daran schuld, Sie ganz allen, denn wenn eine Frau so schön ist, wie Sie” — und dann anhaltend fragt er ganz plötzlich: „Sagen Sie, bitte, gnädige Frau, hat Ihnen in Ihrem Leben schon einmal ein Mensch gesagt, wie schön Sie sind? Nicht, daß Sie schön sind, sondern wie schön Sie sind? Und wenn nicht, darf ich Ihnen das dann einmal sagen?”
Seine Worte, seine Blicke machen sie ganz verwirrt, trotzdem zwingt sie sich jetzt zu einem Lächeln, und, anscheinend sehr belustigt, meint sie: „Da bin ich aber wirklich sehr begierig, also sagen Sie es mir, bitte.”
„Ja, ich werde es Ihnen sagen, gnädige Frau,” ruft er lebhaft, „aber nicht hier, nicht jetzt. Da muß erst die richtige Stunde über uns kommen, die richtige Stunde und der rechte Ort. Ich muß zu Ihren Füßen hocken oder Sie zu den meinen, und dann, wenn eine Art Dichterstimmung über mich gekommen ist, die Stimmung, die der Dichter braucht, um alles, was sein Herz bewegt, in Versen voll erhabener Schönheit und Reinheit auszusprechen, dann will ich Sie besingen, zwar nur in Prosa, aber wie Verse sollen Ihnen meine Worte doch klingen, und die sollen sich anhören wie Musik, wie eine schöne edle Musik, bei der man alles um sich herum vergißt, bei der man träumt und bei der man weint, ohne daß man selbst weiß, ob vor Trauer oder ob vor Glück. Mir, gnädige Frau, will ich wünschen, daß diese Stunde noch einmal kommt, ob ich sie auch Ihnen wünschen darf, gnädige Frau, das wage ich nicht zu entscheiden.”
„Nein, die Stunde dürfen Sie mir nicht wünschen, niemals,” gibt sie zur Antwort, aber so energisch die auch klingen soll, ihre Stimme zittert und bebt doch vor Unruhe und Erregung.
Ganz traurig sieht er sie an, bis er schließlich sagt: „Dann will ich davon träumen, ich hätte diese Stunde erlebt, die Erinnerung an einen Traum kann uns ja niemand rauben, und es gibt auch Träume, die ebenso lebendig in uns fortleben, wie die Erinnerung an Dinge, die sich wirklich abspielten.”
Sie muß sich Gewalt antun, um sich zu beherrschen. Wieder wird der Traum in ihr lebendig, jener Traum, in dem er sie küßte, in dem sie —
Wenn er eine Ahnung davon hätte, was sie ihm damals alles gab.
Dann zwingt sie sich aber doch wieder zu einem leisen Lachen: „Ihre Träume kann ich Ihnen natürlich nicht wehren, aber noch einmal bitte ich Sie, sprechen Sie jetzt von etwas anderem.”
„Und doch haben Sie mich selbst gebeten, Ihnen zu sagen, wie schön Sie sind.”
„Aber nicht hier und nicht jetzt,” unterbricht sie ihn, und nur, um seinen Worten nicht länger zuhören zu müssen, setzt sie hinzu, ohne in der Erregung genau darauf zu achten, was sie sagt: „Sie haben mir doch selbst erklärt, Ort und Stunde seien dazu jetzt nicht geeignet, warten wir also damit, bis beides besser ist, und das verspreche ich Ihnen, dann will ich Ihnen gerne zuhören.”
Mit einem Blick, der eine Welt von Liebe verrät, dankt er ihr, um dann gleich darauf mit ihr über gleichgültige Dinge zu reden. Aber wenn auch er mit keiner Silbe mehr auf das alte Thema zurückkommt, Frau Manon ist doch froh, als endlich vom Tisch aufgestanden wird. Aber als sie sich dann gesegnete Mahlzeit wünschen und sich die Hände reichen, da fühlt sie, wie er ihre Rechte ein ganz klein wenig drückt. Und unter der Macht seines Blickes drückt sie ihm die Hand leise wieder.
Und so leise, daß selbst sie es kaum versteht, flüstert er ihr zu: „Jetzt weiß ich, daß die Stunde kommen wird.”
„Niemals,” will sie ihm ganz entsetzt zurufen, aber er hört sie nicht mehr, er ist schnell davongegangen, und als ihre Augen ihn dann später wiederfinden, da sieht sie in seinen Zügen den Ausdruck des höchsten und reinsten Glückes, keinen Stolz oder Triumph, wie andere Männer ihn zur Schau tragen, wenn sie glauben, den Sieg über eine schöne Frau errungen zu haben.
Zum erstenmal wird es ihr jetzt ganz klar, wie lieb er sie haben muß.
Und das Gefühl und das Bewußtsein, sich so geliebt zu wissen, macht sie froh und glücklich. Es ist ja eine keusche und reine Liebe, die er ihr entgegenbringt, und derer braucht sie sich nicht zu schämen. Und sie, sie liebt ihn ja auch nicht wieder. Aber selbst, wenn auch sie ihn einmal lieben sollte, nein, selbst dann nicht. Das tut sie ihrem Mann nicht an, und sie würde ja vor sich selbst jede Achtung verlieren, wenn sie, ebenso wie viele andere unverstandene Frauen, bei einem anderen Manne das Glück suchen sollte, das sie bei dem eigenen nicht findet.
Nie, niemals!
Das sagt sie sich immer wieder, als sie spät am Abend nach Haus gekommen ist und ihr Lager aufgesucht hat.
Und sie macht sich gar nicht klar, daß sie mit diesem fortwährenden „Niemals” ganz deutlich verrät, wie sehr sie sich schon in Gedanken mit Dingen beschäftigt, die nach ihrer festen Überzeugung außerhalb des Bereiches einer jeden Möglichkeit liegen.
Aber wenn er ihr einmal sagen will, wie schön sie ist, wenn Ort und Stunde dazu einmal Gelegenheit bieten, dann will sie ihn anhören, denn auch das ist ja keine Sünde. Und sie wünscht sich, daß diese Stunde bald kommen möge, sie wünscht sie sich um so mehr, je länger ihr Alleinsein dauert und je mehr sie einsieht, daß sie vorläufig auf die Rückkehr ihres Mannes nicht rechnen kann.
Wenige Tage darauf trifft sie ganz zufällig Fritz Erler auf der Straße, und es ist wirklich auch nur ein Zufall, daß ihr gerade in dem Augenblick, als er an ihr vorübergeht, der Schirm aus der Hand fällt. Er bückt sich schnell, um ihn aufzuheben, sie dankt ihm mit ein paar Worten und aus diesen wenigen Worten werden immer mehr und mehr, bis er schließlich an ihrer Seite durch die Straßen dahinschreitet. Wie gut er aussieht in dem langen Überrock und in dem tadellosen Zylinder. Und wie reizend er zu plaudern versteht, eigentlich über nichts und doch über alles, und wie geschickt er es versteht, kleine humoristische Bemerkungen einzuflechten, die manchmal gar nicht zur Sache gehören, die aber gerade deshalb an der betreffenden Stelle sehr wirken. Ach, wie lange hat sie nicht gelacht, und sie lacht doch so gern.
Jetzt haben sie die Promenade verlassen und biegen in den Stadtpark ein. Dort treffen sie weniger Bekannte und brauchen nicht fortwährend zu grüßen. Hier ist es still, fast ganz einsam. Es ist ein wundervoller Herbsttag(2), es ist so warm, als befinde man sich noch im Sommer, aber die Blätter fangen doch schon an, sich braun und gelb zu färben, und hin und wieder raschelt bereits das Laub unter ihren Füßen. Ein kleines Eichkätzchen kreuzt ihren Weg, um dann blitzschnell einen Baum hinaufzuklettern, sonst sind sie allein und hören keinen Laut. Sie sind allein mit sich und ihren Gedanken.
Wie schön es hier ist! Sie gehen lange auf und ab, schlagen bald diesen, bald jenen Weg ein, bis es dann doch Zeit für sie wird, nach Haus zu gehen. Er begleitet sie bis an ihre Gartenpforte, dann reicht sie ihm zum Abschied die Hand. Es tut ihr leid, daß sie sich jetzt trennen müssen, sie hat sich so gut mit ihm unterhalten und so nett ist er gewesen. Er hat ihre Bitte erfüllt, mit keinem Wort ist er darauf zurückgekommen, daß er sie liebt, er hat auch gar nicht gesagt, daß sie schön ist, und doch möchte sie gerade jetzt endlich einmal aus seinem Munde hören, wie schön sie ist. Wer weiß, wann der Zufall sie einmal wieder zusammenführt. Nein, nur jetzt nicht so auseinandergehen. Ob sie ihn bittet, noch einen Augenblick mit ihr hinaufzugehen und eine Tasse Tee bei ihr zu trinken? Aber nein, das geht ja nicht, er verkehrt nicht in ihrem Hause. Er hat dort bis jetzt noch keinen Besuch gemacht, und jetzt glaubt sie plötzlich auch zu wissen, warum er es unterließ: Weil er eifersüchtig ist auf ihren Mann, weil er es nicht mit ansehen könnte, wenn der sie in seiner Gegenwart einmal küssen sollte.
Immer noch ruhen ihre Hände ineinander und er muß erraten haben, was ihre Gedanken beschäftigt, denn plötzlich sagt er: „Gnädige Frau, es gibt nur einen Ort, an dem ich so zu Ihnen sprechen kann, wie ich es möchte, das ist mein Haus.” Und ihre Hand festhaltend, die sie ihm plötzlich entziehen will, ihren zornigen und beleidigten Blick, den sie ihm zuwirft, ruhig und gelassen aushaltend, fährt er fort: „Ich würde es mir nie erlauben, gnädige Frau, Sie um die Ehre Ihres Besuches zu bitten, wenn ich nicht genau wüßte, daß Sie sich mir ruhig anvertrauen können. Sie baten mich kürzlich in einer anderen Veranlassung um mein Ehrenwort, damals konnte ich es nicht geben, denn ich hätte es gebrochen, wenn Sie es jetzt aber von mir verlangen —”
Aber sie verlangt es nicht, dazu ist sie viel zu erregt, sie hat auf seine letzten Worte gar nicht mehr geachtet. Sie soll zu ihm kommen, in seine Villa, und wenn sie ihm auch trauen kann, wenn sie auch selbst niemals Unrecht tun würde, sie ebensowenig wie er, er verlangt Unmögliches von ihr.
„Nein, das geht unter keinen Umständen,” gibt sie endlich zur Antwort, „und bedenken Sie doch selbst, wenn mich jemand sähe.”
„Aber es wird Sie niemand sehen, gnädige Frau,” beruhigt er sie, und er setzt ihr seinen Plan auseinander, den er sich schon zurechtgelegt hat: „Sie wissen, gnädige Frau, mein Haus liegt nicht an der Straße, sondern weit zurück im Garten, von alten hohen Kastanien umgeben. Kein Mensch kann von der Straße aus beobachten, ob jemand mich besucht. Sie kommen in einem geschlossenen Wagen dicht verschleiert. Ich lasse Sie mit meinem eigenen Wagen abholen, natürlich nicht vor Ihrem Haus, sondern Sie treffen den an einem anderen Ort, wo Sie einsteigen können, ohne bemerkt zu werden.” Er nennt ihr den Platz, den er für den geeignetsten hält, und setzt dann hinzu: „Dort verlassen Sie die Droschke oder das Automobil und steigen dann in meinen Wagen. Mein Kutscher kennt Sie nicht, gnädige Frau, er wird Ihr Gesicht auch nicht sehen, Ihre Stimme nicht hören, Sie brauchen nicht das geringste zu befürchten. Und in meinem Hause werden Sie niemanden sehen, als nur mich. Ich werde die Dienerschaft für den Nachmittag beurlauben, ich verbürge mich Ihnen gegenüber mit meinem Kopf und mit meiner Ehre dafür, daß kein Mensch jemals etwas von Ihrem Besuch erfährt. Und deshalb bitte ich Sie noch einmal: Kommen Sie.”
„Nein, nein.” Sie ruft es schnell und heftig, aber doch nicht mehr so bestimmt und ablehnend wie bisher. Der Gedanke an dieses kleine Abenteuer reizt sie, und wenn er sich mit seinem Kopf und mit seiner Ehre verbürgt, was hat sie da noch zu fürchten? Und wie flehend seine blauen Augen sie ansehen und er will ja auch nichts weiter von ihr, ebensowenig wie sie von ihm, er will ihr ja nur sagen, wie schön sie ist.
Ihre Hände haben einander losgelassen, jetzt stehen sie sich stumm gegenüber, beide in gleich großer Erregung. Er voller Erwartung, weil sie „ja” sagen soll, sie zweifelnd und unruhig, ob sie dieses „Ja” aussprechen darf. Bis sie sich dann im stillen sagt: „Und wenn du ihm auch jetzt seine Bitte abschlägst, er wird sich doch nicht damit zufrieden geben, er wird nicht damit aufhören, dich immer von neuem zu bestürmen, und einmal wirst du doch zu ihm gehen. Und wenn du jetzt ,ja' sagst, dann hast du endlich wieder Ruhe, Ruhe vor ihm und vor dir selbst.”
So antwortet sie ihm endlich: „Schön, ich will morgen kommen, ich schreibe noch, wann und wo ich Ihren Wagen erwarte.”
Und ehe er noch Zeit gefunden hat, ihr mit einem Wort und mit einem Blick zu danken, ist sie in das Haus geeilt.
Nach einer schlaflosen Nacht steht sie am nächsten Morgen mit dem festen Entschluß auf, ihm abzuschreiben, aber ein paar Stunden später hat sie sich doch wieder eines anderen besonnen und schickt ihm ein Billett: „Ich erwarte Ihren Wagen heute abend um sechs Uhr an dem mir gestern vorgeschlagenen Platz.”
Der Tag vergeht ihr so schnell und doch wieder so langsam, wie kaum ein anderer. Sie ist nervös und erregt, wie im Fieber geht sie einher, bis es dann endlich Zeit wird, sich anzukleiden. Sie hat ihrer Zofe erklärt, sie hätte gestern ganz plötzlich die Einladung zu einem Diner angenommen, und so sehr die sich auch darüber wunderte, daß sie heute schon wieder das rosa Crêpe de chine-Kleid wählt, das sie erst kürzlich trug, sie besteht doch darauf, von ihren vielen Toiletten gerade diese zu tragen. Als er sie in dieser Robe sah, hat er den Wunsch geäußert, ihre Schönheit besingen zu dürfen, da muß sie auch heute in dieser Robe erscheinen.
Sie duldet es nicht, daß die Zofe sie wie sonst an den Wagen begleitet. Während sie mit ihr zusammen die Treppe heruntergeht, gibt sie dem Mädchen den Auftrag, ihr rasch noch den Fächer zu holen, den sie angeblich auf dem Toilettentisch hat liegen lassen, der aber in Wirklichkeit eingeschlossen ist, und während die Zofe immer noch sucht und sucht, fährt sie schon davon.
Eine halbe Stunde später ist sie in seinem Haus. Er hat ihr selbst die Tür geöffnet, ist ihr behilflich gewesen, abzulegen, und wenig später sitzen sie in seinem großen schönen Herrenzimmer bei dem Tee einander gegenüber: „Hoffentlich schmeckt er Ihnen nicht zu schlecht, gnädige Frau, ich habe ihn selbst zubereitet, denn das Haus ist ausgestorben, nur wir zwei leben und atmen hier, sonst niemand.”
Sie schmeckt es gar nicht, ob der Tee gut oder schlecht ist, dazu ist sie viel zu erregt, und, um ihre Nervosität zu verbergen, plaudert sie plötzlich lebhaft darauf los, während sie zugleich voller Interesse und Neugierde seine hübsche Einrichtung bewundert. Und auch ihn selbst muß sie immer wieder ansehen. Wie hübsch er ist und wie ausgezeichnet ihm der Frackanzug steht, den er ihr zu Ehren angelegt hat. Und wie hat sein schönes Gesicht gestrahlt, als er bemerkte, daß sie, um ihn zu erfreuen, dieselbe Toilette gewählt hat, die sie neulich abend trug. Und wie hell und freudig seine Augen auch jetzt noch leuchten, so oft er sie ansieht, und er wendet keinen Blick von ihr ab.
Und wie hübsch und traulich es bei ihm ist. Die dichten Vorhänge sind überall zugezogen, das elektrische Licht verbreitet einen hellen Schein, und so still und so ruhig ist es hier, daß nicht das leiseste Geräusch zu ihnen hereindringt.
Und sie plaudern und plaudern, bis er dann plötzlich aufspringt, sich zu ihren Füßen niederkauert und ihr sagt, wie schön sie ist.
Aus jedem Wort, das er da spricht, hört sie heraus, daß es nicht vorher überlegt ist, daß es keine einstudierte Rede ist, sondern daß der Augenblick und ihre Nähe ihm eingibt, was er sagt. Er besingt, als wäre er ein Dichter, wenn auch nur in Prosa, ihre kleinen Füße, die er in seinen Händen hält, er besingt ihren schlanken Körper und ihre schlanken Glieder, die seine Hände, das Kleid betastend, liebkosen, er besingt ihren schönen Busen, ihren schneeweißen Nacken, ihren süßen kleinen Mund, das ganze süße kleine Gesicht, ihre verführerischen Augen, ihr schönes Haar mit dem berauschenden Duft — ihr ist, als spräche ein wirklicher Dichter zu ihr, als wären seine Worte Verse, als wären sie Musik, die sie berauschen und einschläfern.
Mit geschlossenen Augen hört sie ihm zu. So hat noch nie einer zu ihr gesprochen, so wird auch nie wieder einer zu ihr sprechen, das kann nur einer, der sie über alles liebt, für den sie kein Mensch ist, sondern eine vom Himmel herniedergestiegene Göttin.
Mit geschlossenen Augen hört sie ihm zu, sie hat alles um sich herum vergessen, sie weiß gar nicht mehr, wo sie ist, sie hört nur seine weiche leise Stimme, und ein Gefühl der reinsten und höchsten Glückseligkeit überfällt sie. Stunden und Tage könnte sie so dasitzen und ihm lauschen.
Ein unbeschreiblich süßes Wohlbehagen durchströmt ihren Körper, sie denkt, so muß den Opiumrauchern zumute sein, kurz bevor sie in den tiefen Schlaf versinken.
Und er spricht immer noch weiter, bis er dann endlich schweigt, um gleich darauf zu fragen: „Manon, weißt du jetzt, wie schön du bist?”
Aber sie möchte noch mehr darüber hören, und so bittet sie denn: „Sprich weiter.”
Da springt er auf und stellt sich vor sie hin: „Was mein Mund dir sagen konnte, Manon, das hat er dir gesagt, nun können nur noch meine Lippen sprechen, und ob ich dich küssen darf oder nicht, das mußt du mir sagen.”
Hat er sie zuerst geküßt oder sie ihn? Sie weiß es nicht, sie liegt in seinen Armen und ihre Lippen pressen sich fest aufeinander, bis sie sich selbst und die ganze Welt vergessen, bis sie im Himmel sind.
Und dann — ist sie plötzlich seine Geliebte geworden.
Wie das alles kam, das versucht sie sich erst klarzumachen, als sie wieder zu Hause ist, als sie sich schlafen gelegt hat.
Aber sie kann nicht schlafen, die Erregung zittert noch in ihr nach.
Wie alles gekommen ist, sie weiß es nicht, und sie gibt es auch bald auf, darüber nachzudenken, es genügt ihr, zu wissen, daß sie glücklich ist, namenlos glücklich.
Sie hat mit ihren nackten Füßen auf dem großen Eisbärfell gestanden, er hat ihr die kleinen Füße geküßt, sie hat in seinem großen breiten englischen Bett gelegen, und er hat ihr den kleinen Leberfleck unter der rechten Achselhöhle geküßt.
Hat sie sich selbst entkleidet oder er sie? Und in ihrer ganzen nackten Schönheit hat sie sich ihm gezeigt, und wenn sie sich im ersten Augenblick auch noch so sehr schämte, nachher ist sie doch stolz und glücklich gewesen, daß sie sich ihm so hat zeigen dürfen, daß sie so schön ist, um sich ihm so zeigen zu können.
Und er hat vor ihr gestanden und sie bewundernd angesehen, wie ein Künstler vor einem nackten Marmorbild. Und er hat es nicht fassen und begreifen können, daß die Natur in einem Menschen so viel Schönheit vereinigen könne.
Auf den Knien hat er vor ihr gelegen und ihre Hände geküßt, und auf ihre Hände sind seine Tränen gefallen. Tränen des höchsten Glückes, daß sie bereit ist, sich ihm hinzugeben, daß er sie küssen durfte.
Ach, sie ist ja so glücklich, und das Glück ist so groß und noch so neu, daß es noch gar keine Reue aufkommen läßt.
Sie kommt erst am nächsten Morgen, als sie einen Brief von Hans erhält. Bisher hat sie absichtlich jeden Gedanken an ihn zurückgedrängt, vorübergehend hat sie ihn auch wirklich ganz vergessen, jetzt aber wird sie wieder mit aller Deutlichkeit an ihn erinnert, als sie seinen Brief in Händen hält, und das Unrecht, das sie begangen, wird ihr in seiner ganzen Größe erst klar, als sie die Überschrift liest: „Ma, meine süße, kleine, über alles geliebte Ma.”
Und zum erstenmal erfüllt sie die Angst, die fürchterliche Angst: „Was dann, wenn er jemals etwas erfährt?” Gewiß, mit Wort und Handschlag hat Fritz ihr gelobt, sie dann sofort zu heiraten Aber der Skandal vorher, das Hinaustragen ihrer Liebe zu Fritz in die weitere Öffentlichkeit, die Verhandlungen vor Gericht, die Scheidung — sie zittert und bebt aus Vorfurcht, wenn sie nur daran denkt.
Endlich hat sie sich soweit beruhigt, um weiterlesen zu können, bis sie dann plötzlich aufschreit: „Nein, das ist nicht wahr, das kann ja gar nicht wahr sein,”
Und doch steht es da so klar und deutlich geschrieben, daß sie nicht mehr daran zweifeln kann: Er hat sie betrogen. „Ich habe nicht den Mut, kleine Ma, zu dir zurückzukehren, bevor du nicht alles weißt, ich habe nicht den Mut, dir in deine unschuldigen Kinderaugen zu sehen, ich kann nicht mit einer Lüge auf dem Gewissen ruhig neben dir weiterleben, als wäre nichts geschehen. Dazu habe ich dich viel zu lieb, denn wenn ich es dir in der letzten Zeit auch nicht immer gezeigt habe, ich liebe dich auch heute noch über alles. Aber gerade weil ich dich liebe, muß ich dir alles sagen, selbst auf die Gefahr hin, daß ich dich verliere, daß du von mir gehst, um nie wieder zurückzukehren. Ich habe dich betrogen. Die Sehnsucht nach dir packte mich eines Abends, und ich glaubte wahnsinnig werden zu müssen. Mir ging es an jenem Abend wie dir in der Nacht, als du damals zu mir in mein Arbeitszimmer kamst. Und ich wäre zu dir geeilt, wenn sich mir nur die Möglichkeit dazu geboten hätte. Ich sah dich so deutlich vor mir, alle meine Sinne fieberten und brannten, ich streckte meine Hände und meine Arme voll heißen Verlangens nach dir aus und griff doch immer nur wieder in die leere Luft. Bis ich es dann nicht mehr auf meinem Lager aushielt, bis ich aufsprang, um in den Armen einer anderen meine Glut zu stillen. Aber als ich die küßte, dachte ich nur an dich, der Leib, den ich umklammerte, war dein Leib, ich sah nur dich, dich ganz allein, und dir galten alle Beweise meiner Liebe.”
Nein, das kann und darf nicht sein, er hat sie betrogen mit klarem Verstande, während seine Gedanken bei ihr weilten.
Wenn er sie wenigstens vorübergehend ganz vergessen hätte, wie sie gestern ihn vergaß, wenn er vergessen hätte, daß er verheiratet war, daß er ein Weib hatte, wenn ein wilder Sinnestaumel ihn für die andere ergriffen hätte, wenn er die andere, die er besaß, auch wirklich liebte, wie sie ihren Fritz, dann würde sie ihn verstehen, dann würde sie alles begreifen und verzeihen. Aber daß er sie betrog und dabei an sie dachte, daß er das sogar noch als Entschuldigung anführt, um ihr sein Verhalten verständlich zu machen, das versteht sie nicht. Der Ekel packt sie. An einer Dirne hat er sich vergriffen, an einer käuflichen Dirne, die sich jedem hingibt, der sie bezahlt.
Und in deren Armen hat er an sie gedacht.
Das ist eine Schmach und eine Beleidigung, wie sie ihr größer gar nicht hätte zugefügt werden können.
Und wenn die Öffentlichkeit etwas davon erfährt, daß er sie mit einem solchen Mädchen betrog. Ihr Stolz und ihre Eitelkeit bäumen sich dagegen auf. Niemals darf die Welt etwas davon erfahren.
Deshalb wird sie sich auch nicht von ihm scheiden lassen, sie wird an der Seite ihres Mannes weiterleben, aber sie stellt da eine Bedingung. Ihr Mann darf sie niemals wieder anrühren, in der Hinsicht hat sie seit heute aufgehört, seine Frau zu sein.
Durch seine eigene Schuld, ganz allein durch seine Schuld.
Wie hat er ihr das nur antun können?
Sie versteht ihn nicht, und da sie eine Frau ist, kann sie es auch gar nicht verstehen, daß die Schuld, die er auf sich lud, lange nicht so groß ist, wie die, die sie beging.
Nein, sie versteht ihn nicht, sie wird ihn auch niemals verstehen, und deshalb wird sie bis an ihr Lebensende eine unverstandene Frau bleiben.
Nur ein wahres Glück, daß sie ihren Fritz hat, ihren lieben, süßen Fritz.
Ihr erster Gedanke ist, dem alles zu erzählen, der muß es wissen, was Hans ihr angetan hat — sie ist es Fritz schuldig, vor ihm keine Geheimnisse zu haben, aber nein, selbst er darf es nicht wissen, er am allerwenigsten, denn sie würde ja in seinen Augen an Wert verlieren, wenn sie ihm gestünde, daß ihr Mann sie mit einer Dirne betrog. Nein, der darf am allerwenigsten etwas davon wissen, im Gegenteil, sie muß ihm erzählen, daß ihr Hans vor Sehnsucht nach ihr ganz krank ist, und sie lügt ja nicht einmal, wenn sie das sagt, denn wenn ihr Hans sich nicht nach ihr sehnte, hätte er doch nicht eine andere in seine Arme genommen und dabei an sie gedacht.
Plötzlich erscheint ihr das Vergehen ihres Mannes in einem viel milderen Licht, aber trotzdem darf sie ihm niemals verzeihen, dazu ist seine Tat zu unerhört, für die gibt es überhaupt keine Erklärung und keine Entschuldigung. Wenigstens in ihren Augen nicht.
Und dann kommt ihr mit einemmal der Gedanke, daß Fritz wenn sie ihm alles erzählte, vielleicht doch anders urteilen würde, wie sie selbst, denn wenn er auch noch so gut und süß ist, er ist doch schließlich auch ein Mann, und die Männer — nein, ihr Fritz bildet ganz gewiß eine Ausnahme, aber trotzdem wird sie auch ihm gegenüber schweigen. Das ist sie sich selbst schuldig, sich selbst und ihrem Glück, das sie bei Fritz gefunden hat.
Ach und sie ist ja so glücklich, und ihr Glück wächst von Tag zu Tag, je öfter sie ihren Fritz sieht, und wenn sie auch ohne seine Liebkosungen und Zärtlichkeiten nicht mehr leben könnte, das größte Glück für sie ist doch, daß er sie versteht.
Und Fritz versteht sie wirklich. Erst gestern hat er es ihr gesagt, als er sie in seinen Armen hielt und als sie ihn da ganz plötzlich und unvermittelt fragte: „Nicht wahr, mein Fritz, du verstehst mich?”
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hat er „ja” geantwortet, und so oft sie ihn in Zukunft wieder fragen wird, sie weiß es im voraus, daß er immer wieder „ja” sagen wird. Und seinem „Ja” kann sie glauben, denn Fritz lügt nicht.
Nein, sie braucht Fritz gar nicht erst wieder zu fragen, sie glaubt ihm auch so, denn wenn eine Frau liebt, glaubt sie alles, und eine unverstandene Frau glaubt am allerleichtesten, denn wenn die nicht so leichtgläubig wäre, wie könnte sie dann in Wahrheit glauben, unverstanden zu sein?
Das weiß nur eine Frau — wenn sie es weiß.
(1) „Eine unverstandene Frau” von Marie Luise Mancke, *29.11.1847-†29.8.1926, (Pseudonym auch: Marie von Felseneck), A.Weichert Berlin 1900, (Zurück)
(2) Diese Erzählung ist also wahrscheinlich im Herbst 1911 entstanden, erschienen ist sie ja Ende Januar 1912. (Zurück)