Manöverschmerzen.

Humoristische Plauderei vom Freiherrn von Schlicht.
in: „Leipziger Tageblatt” Nr. 446 vom 3.Sep. 1896,
in: „Kieler Zeitung” vom 3.9.1896,
in: „Düna-Zeitung” vom 5.9.1896,
in: „Sonntagsblatt” Nr. 37, Jhrgg. 1899,
Beilage zur „Güstrower Zeitung” vom 17.9.1899,
in: „Aachener Anzeiger” vom 18.9.1896,
in: „Alarm”.


„Herr Lieutenant müssen aufstehen, es ist die höchste Zeit.”

Ein Strecken, Stöhnen, Aechzen . . .

„Jetzt schon? Was ist denn heute für Dienst?”

„Herr Lieutenant, wir rücken doch heute ins Manöver!”

Ach Gott, das hatte er bei seinen süßen Träumen ganz vergessen — mit einem Fluch, würdig seines Ahnherrn, eines erprobten Raubritters, streckte er die Beine(1) in die nackte Wirklichkeit und wenig später ist der Lieutenant fertig — beim Militair machen die Kleider wirklich die Menschen.

„Ist der Thee fertig?”

„Herr Lieutenant haben mir doch befohlen, die Theemaschine einzupacken.”

So tröstet sich der Lieutenant mit der Hoffnung, in der Kantine Kaffee zu bekommen, aber als er den Kasernenhof erreicht, ist die Compagnie schon im Begriff abzumarschiren und so muß er „ungegessen und ungetrunken” mit nach dem Bahnhof „strampeln”, wo der Eisenbahnzug wartet, der die Krieger in das Manövergelände führen soll.

Wenn es nur keine Militairzüge gäbe! Zwischen einem solchen und einem D-Zug ist ein Unterschied wie zwischen einem durchgehenden Renngaul und einem hinkenden alten Droschkenpferd(2).

Wenn man mit einem Militairzug doch das Ziel erreicht, so liegt das lediglich daran, daß die Manöver in drei oder vier Wochen beendet sein müssen.

Die Zeit schleicht noch langsamer als die Fahrt dahin, zuerst versucht man zu schlafen, ist einem dies nach endlosen Bemühungen gegelückt, so wird man sofort wieder von den Kameraden geweckt, weil man angeblich geschnarcht hat; de wahre Grund ist natürlich der, daß sie nicht wollen, daß man es besser hat, als sie selbst.

Die nächsten zehn Minuten bringt man damit zu, sich Geschichten zu erzählen(3).

„Kennen Sie das Gegentheil von Frühlingserwachen?” — „Nein.” — „Na dann denken Sie mal etwas nach.”

Man befolgt diesen Rath, natürlich vergebens und dann kommt die geistreiche Auflösung: „Spätrechtseinschlafen.”

Hat man zehn Schock Witze dieser Güte genossen, sehnt man sich nach einer Abwechslung; man entschließt sich zu einer Scatpartie. Karten hat man in der Tasche, ein Tisch ist schnell besorgt, man lehnt sich zum Fenster hinaus und ruft:

„Ein Spielmann soll eine Trommel hergeben. Weiter sagen.”

Von Coupé zu Coupé wird der Befehl weiter gerufen und schon nach wenigen Minuten wandert eine Trommel von einem Fenster zum andern, der Scat kann beginnen(4).

Wenn man dann bei diesem Spiel so müde(5) geworden ist, daß man selbst mit den vier Jungen, vier Assen und zwei Zehnen nichts mehr anzufangen weiß, hält endlich der Zug.

Das Ziel ist erreicht, man ist so steif, daß man weder sitzen, liegen noch stehen kann, die Füße sind angeschwollen, trotzdem muß man noch ein Dutzend Kilometer herunterschlucken, ehe man sein Quartier erreicht hat.

Die Wohnungsfrage ist natürlich für den Krieger von der größten Wichtigkeit. Hätte Jeder für sich selbst zu sorgen, so lägen alle wie im Paradies, leider aber wird für sie gesorgt, da heißt es zufrieden sein mit dem, was der Fourierofficier ihnen bescheert.

Fourier sein ist eine größere Strafe, als skalpirt zu werden.

„Nicht wahr, Sie legen mich zu dem Förster?”

„Ich möchte gerne im Hotel liegen.”

„Sehen Sie doch mal zu, ob Sie für mich nicht ein Quartier finden, in dem hübsche Töchter sind,ja?”

„Um Gottes Willen — nur kein Quartier mit jungen Mädchen — auch imm Manöver Süßholz raspeln, das geht über meine Kräfte.”

„Legen Sie mich blos nicht zum Apotheker — ich habe nun einmal eine unüberwindliche Antipathie gegen die Gifte, die da gebraut werden.”

„Wie ich liege, ist mir ganz gleichgiltig, wenn nur mein Pferd gut untergebracht ist.”

So hat Jeder seinen Wunsch — der arme Fourier läuft sich die Füße wund, um Allen gerecht zu werden und um hinterher die Entdeckung zu machen, daß doch kein Mensch zufrieden ist.

In der Stadt ist der Offcier immer noch ganz gut aufgehoben, gefällt es ihm nicht in seinen vier Wänden, so kann er sich auf eigene Kosten ein besseres Logis suchen und für Geld und gute Worte wird er finden, wonach sein Herz sich sehnt. Aber wehe, wehe, dreimal wehe, wenn man der Stadt den Rücken dreht und auf's Land kommt.

Nach einem endlosen Marsch auf staubiger Chaussee oder auf tiefen Sandwegen erreicht man sein Quartier. Die Mienen der Fouriere, die am Dorfeingang warten, verkünden nichts Gutes, so fragt man gar nicht erst, wie die Wohnung, sondern nur, wo sie ist.

„Herr Lieutenant können gar nicht fehl gehen, da wo der große Misthaufen vor der Thüre ist, liegen der Herr Lieutenant.”

Das klingt recht verheißungsvoll und man sucht seine Stätte auf. Auf der Diele gackern die Enten und Hühner, die Kühe rufen „muh, muh”, die Pferde rasseln mit den Ketten, aus einer offenen Thür dringt starker Rauch hervor. Ein weibliches Wesen, jedes Liebreizes bar, erscheint und nachdem sie uns bewundert, öffnet sie eine kleine Thür.

Das ist also der Raum, in dem man hausen soll: kleiner als klein und so niedrig, daß man nur in gebückter Haltung stehen kann. Eine Temperatur herrscht in der Stube und eine Luft, eine Luft — wie singt doch der Dichter: „So was läßt sich wohl empfinden, aber sagen läßt sichs nicht.”

Man stößt die Fenster auf und sinkt vernichtet auf einen Stuhl; tausende von Fliegen surren und summer um uns herum und krabbeln und kitzeln, daß es kaum zu ertragen ist. Wenig später bringt der Bursche das Essen; als Lieutenant erhält man jeden Mittag, so lange man auf dem Lande einquartiert ist, ein Huhn, — ein wahres Räthsel, wo alle die Hühner herkommen.

Man macht die Augen zu, bildet sich ein, einen Hummer vor sich zu haben und ißt drauf los. Der Bursche, der da weiß, daß Essen und Trinken zusammengehört, hat eine Flasche Bier aufgetrieben, die zur Zeit Alexanders des Großen schon sauer geworden ist.

Das Diner ist beendet, man fühlt in seinen Gliedern eine bleierne Müdigkeit, man möchte so gerne schlafen, aber fragt mich nur nicht: wo?

Sopha und Chaiselongue sind unbekannte Luxusgegenstände, man schläft auf dem Lande im Bett, d. h. in dem, was sie kurzweg Bett nennen: ein viereckiger in die Wand eingemauerter Kasten, der mit Stroh und centnerschweren Kissen und Decken ausgefüllt ist. Man reißt den Strohsack heraus, wirft ihn auf die Erde und legt die müden Glieder nieder. Nun könnte man schlafen, wenn man könnte — nach einigen vergeblichen Versuchen verzichtet man auf die angenehmste aller Beschäftigungen, und ruft den Burschen, um sich umzuziehen. Vergebens späht das Auge nach einem Waschtisch aus, keine Schüssel, kein Wasser, nichts. Der Bursche wird abgesandt, um das Nöthige zu besorgen, nach einer Minute kommt er zutück.

„Die Frau läßt dem Herrn Lieutenant sagen, so was hätten se hier nich(6), wenn der Herr Lieutenant sich waschen wollten, müßten der Herr Lieutenant an den Brunnen(7) gehen.”

So fehlt Einem Alles, was das Leben angenehm macht, und was das Schlimmste ist, man darf in den Briefen an die theure Gattin nicht einmal klagen, „denn,” so hat sie beim Abschied weinend gesagt, „so bald Dir etwas fehlt, komme ich hin und pflege Dich.”

Man vertröstet sich auf eine bessere Zeit — auf Regen folgt Sonnenschein, auf Bauerndörfer folgen Sectquartiere. Da hat man es gut: ein schönes Zimmer, gebildete Wirthe, gut Essen und Trinken, überhaupt Alles das, was zur Leibes Nothdurft und Nahrung gehört.

Aber mögen die liebenswürdigen Wirthe auch noch so liebenswürdig sein, so liebenswürdig, keine Töchter zu besitzen, sind sie selten. Und mögen diese Töchter noch so nett sein, so nett, keine Freundinnen zu haben, sind sie sehr selten. Für junge Damen aber ist ein Manöver ein Fest, auf das sie sich ein ganzes Jahr hindurch freuen, und das ihnen dasjenige Vergnügen bringt, das nach ihrer Meinung das himmlischste von allen ist — das Tanzen.

Wenn der arme Lieutenant Nachmittags zum Diner erscheint und einem Dutzend junger Mädchen vorgestellt wird, weiß er, was ihm bevorsteht — selbst das schönste Diner, die besten Weine vermögen nicht, seine Schmerzen zu lindern. Kaum ist man vom Tisch aufgestanden, so ertönt ein Clavier — armer Lieutenant, wenn man in Dein Inneres blicken könnt, würde man Mitleid mit Dir haben, Dich bewundern, daß Du am Vormittag dreißig Kilometer per pedes apostolorum zurückgelegt hast, und Dir nicht zumuthen, nun mindestens dieselbe Entfernung noch einmal, jetzt aber im Schnellgalopp zu durcheilen. Der Mensch aber siehet nur, was vor Augen ist, und vor den schönen Augen der jungen Damen steht ein junger, schlanker Officier — „und nicht wahr, Herr Lieutenant, Sie tanzen doch gewiß auch schrecklich gern?” darum los — eins, zwei, drei, eins, zwei, drei — — bei der Commode, bei den Verticow, bei der Erdbeerbowle vorbei . . . bis zum Morgengrauen.

Das Signal „Habt Ihr noch nicht lang genug geschlafen” mach Lützow's wilder verwegener Jagd ein Ende — man eilt auf sein Zimmer, steckt den Kopf dreimal recht tief in die Waschschüssel hinein, vertauscht die Lackstiefel mit den „Langschäftigen”, den Salonanzug mit dem des Dienstes, trinkt im Stehen eine Tasse schwarzen Kaffee und ist dann zum Kämpfen bereit.

Der Marsch in der frühen Morgenstunde wirkt erfrischend und wohlthuend und wenn man den Rendezvous–Platz erreicht hat, ist man der Ansicht, daß ein Manöver eigentlich nur halb so schlimm ist, als es immer gemacht wird. Aber diese optimistische Ansicht verfliegt, sobald man den Angriffsbefehl vernommen hat. Der böse Feind ist weit, weit weg — der Leitende will versuchen, den Gegner in der Flanke zu fassen und unwillkürlich stöhnt man: „Lebt wohl, ihr Straßen, ihr geliebten Wege,” denn das weiß ein Jeder, der einmal den bunten Rock angehabt hat, daß man bei einem Flankenangriff nur querfeldein marschiert: über Wiesen, nasse und trockene, über Stoppelfelder und frischgepflügte Aecker — „und das bekommt mich denn so schön,” besonders wenn die Sonne ihren guten Tag hat und uns armen Erdenklößen ihr freundlichstes Gesicht zuwendet und wenn sie dafür sorgt, daß das Wort der Schrift: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen” an uns zur Wahrheit wird.

Und die armen Krieger, die sich vergebens nach einem Strohhalm umsehen, der ihnen etwas Schatten bieten könnte, fluchen so stark, daß die Sonne als zartbesaitetes weibliches Wesen es nicht mehr mit anhören kann. Sie zieht sich in ihre Gemächer zurück und einen dichten schwarzen Vorhang vor sich zu. Sie ist empört über das Benehmen der Soldaten, sie weint und schluchzt, die Thränen netzen ihr Gesicht und ihren Schleier, sie fallen durch das Gewebe hindurch zur Erde nieder und mit wahrer Resignation stöhnt Einer nach dem Andern: „Es regnet — das hat gerade noch gefehlt.” Der Boden wird weich und schlüpfrig, der Fuß findet keinen festen Halt mehr und hat man drei Schritt vorwärts gemacht, so rutscht man zwei wieder zurück. In den Stiefeln steht das Wasser zollhoch, und was durch die Sohlen nicht hindurchdringt, fließt von oben in die Schäfte hinein. Und der rohe Musketier sagt zu seinem Nachbar gewendet: „Nu segg ick goar nix mihr, nu quatscht dat all in mine Stäwel.”

Kam man als Kind mit nassen Füßen nach Haus, so sorgte die gute Mutter dafür, daß man sofort trockenes Schuhzeug anbekam, unter Umständen wurde man auch sofort zu Bett gepackt und bekam Kamillenthee in ungeahnten Quantitäten und Qualitäten zu trinken. Kommt man als Soldat im Manöver naß nach Haus, so zieht man sich auch trocken an und trinkt anstatt des Kamillenthees nie geahnte Quantitäten heißen Grogs, vorausgesetzt, daß dies Haus — kein Biwack ist . . .

Ach, wie freuen sich die Städter, wenn in ihrer Nähe ein Biwack aufgeschlagen wird. Urahne, Großmutter, Mutter und Kind, auf einem Kremser beisammen sind — Alles, was lebt, läuft oder fährt hinaus und sieht sich Wallenstein's Lager an, und die jungen Mädchen wollen sich todtlachen, wenn sie sehen, wie die Soldaten selber die Kartoffeln schälen, die Erbswurst kochen, oder hören, wie die Officiere ihre Burschen voller Ungeduld fragen, ob die Ente denn immer noch nicht fertig sei.

Der armen Soldateska ist gar nicht lächerlich zu Muthe, besonders nicht, wenn es regnet, wenn man keinen trockenen Faden am Leibe hat, wenn die Meldung eingegangen ist, daß der Bagagewagen in den aufgeweichten Wegen stecken geblieben ist und wenn man sich sagt, daß man in dieser Verfassung noch mindestens vierundzwanzig Stunden ausharren muß.

„Ich wollt', es wäre Schlafenszeit
Und Alles erst vorbei”

stöhnt man; aber man hat sich das nicht richtig überlegt, denn eine Nacht im Biwak ist schrecklicher als schrecklich.

Mit mehreren Kameraden zusammen liegt man auf einem Strohlager in seinem Zelt. Eine einsame Kerze brennt in einer Stalllaterne und wirft ein flackerndes, unstätes Licht auf die tief in Stroh eingewickelten Gestalten. Man will schlafen, aber man kann nicht, — woran liegt es, hat man zu viel oder zu wenig Grog getrunken? Die Schnarchmusik der Freunde läßt einen endlich in die Höhe fahren, — man steht auf und stellt sich in den Zelteingang. Schwarz in schwarz liegt vor uns die Welt: unablässig rauscht der Regen zur Erde nieder, schwarze Wolken jagen am Himmel, kein Stern ist zu sehen. Im Lager herrscht Todtenstille: die Mannschaften sind in ihre Zelte gekrochen und schlafen den Schlaf der Gerechten, nichts Lebendes ist zu erblicken, nur zuweilen glaubt man die Gestalt des auf- und abgehenden Postens zu sehen. Das Biwakfeuer, das sonst einen hellen Schein verbreitet, ist dicht vor dem Erlöschen . . .

Da packt den Ruhelosen die Verzweiflung mit ihren scharfen Fängen: er sucht und hat gar bald — — die Flasche Cognac Hennessy extra dry gefunden — er setzt sie an die Lippen und thut einen tiefen gehaltreichen Schluck. Nach dieser „geistreichen” That legt er sich nieder, und bald sind alle Manöverschmerzen vergessen . . . bis Reveille geblasen wird und ein neuer Tag seine Forderungen stellt.


Fußnote:

(1) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „die nackten Beine” (zurück)

(2) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „zwischen einem durchgehenden Renngaul und einer hinkenden alten Jungfer. Dieses Gleichniß hinkt aber doch wirklich.” (zurück)

(3) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „Geschichten zu erzählen, je dummer, desto besser.” (zurück)

(4) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „kann also beginnen” (zurück)

(5) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „so blödsinnig geworden ist” (zurück)

(6) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „hätten se nich” (zurück)

(7) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es hier: „an die Pumpe gehen” (zurück)


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