Humoreske vom Freiherrn von Schlicht.
in: „Kieler Zeitung” vom 25.11.1896,
in: „General-Anzeiger für Hamburg-Altona” vom 29.11.1896,
in: „Leipziger Tageblatt” Nr. 610 vom 1.Dez. 1896,
in: „Marburger Zeitung” vom 6.12.1896,
in: „Düna-Zeitung” vom 14.12.1896,
in: „Trierische Landeszeitung” vom 29.12.1896,
in: „Pittsburger Volksblatt” vom 6.1.1897,
in: „Mährisches Tagblatt” vom 11.6.1897 und
in: „Meine kleine Frau und ich”.
Die Dienstboten hatten uns eine „gute Nacht” gewünscht und die jeden Abend wiederkehrende Frage: „Schläft der Junge auch?” war mit dem stereotypen „Jawohl, gnädige Frau,” beantwortet worden. So stand denn unserem Zubettegehen nichts mehr im Wege und meine Frau erhob sich.
„Sei nicht böse, wenn ich mich zurückziehe, ich bin todtmüde, der Junge war in der letzten Nacht so unruhig. Hast Du noch lange zu arbeiten?”
„Ich will nur noch meine Cigarre zu Ende rauchen, dann ziehe auch ich mich in mein Kämmerlein zurück,” erwiderte ich, „schlaf' wohl.”
Eine Viertelstunde später war die Cigarre erledigt, und wiederum eine Viertelstunde später herrschte in der kleinen Villa eine geradezu unheimliche Ruhe.
Da klangen plötzlich gar seltsame Töne an mein Ohr. Sonderbar! Eine Ziege meckerte ganz in meiner Nähe. Ich hörte ganz deutlich: „Mäh—mäh—mäh—”
Aber dann plötzlich: „Mama, Mama—Meeee—meeee(1a).”
Da wurde mir mein Irrthum klar; der Junge, der im Zimmer nebenan mit meiner Frau schlief, war erwacht.
Ich kenne meinen Buben, er betreibt trotz seiner Jugend — er ist drei(1) Jahre — Alles sehr gründlich, auch das Weinen. Also stecke ich die Hände in die Ohren und kroch unter die Decke, um nichts zu hören.
Vergebliche Arbeit!
Es giebt Leute, die der Ansicht sind, tiefe Töne wären viel deutlicher, selbst auf weite Entfernungen, zu hören, als helle, schrille Töne — daher sie das Nebelhorn viel praktischer, als die Dampfpfeife finden. Ich glaube, diese Leute würden ihre Ansicht ändern, wenn sie in jener Nacht meinen Jungen gehört hätten.
Vergebens suchte meine Frau den Schreier zu beruhigen.
„Wenn Du nun nicht gleich still bist, kommt Vater mit dem Stock!” rief ich drohend aus dem Hintergrund.
Eine wahre Höllenmusik war die Antwort auf meine Drohung.
Was der Mensch verspricht, muß er halten; so sprang ich denn aus dem Bett und gab dem Bengel eine gehörige Tracht Prügel. Nun wußte er wenigstens, warum er heulte.
Die theure Gattin, außer sich über die von mir an den Tag gelegte „Rohheit”, trat auf die Seite des Kindes: „Was fehlt meinem kleinen Liebling denn? Hast Du Dein Mutting denn gar nicht mehr lieb? Hast Du irgendwo Weh-Weh? Sag' was hast Du denn nur?”
„Miiich, — Miiich.”
Der Junge war hungrig und wollte mehr „Miiich ”, auf hochdeutsch: mehr Milch haben.
Jetzt, mitten in der Nacht! Der Bengel war rein toll, aber wenn wir noch schlafen wollten, mußte sein Wunsch erfüllt werden. Meine Frau wollte selbst in die Küche gehen, um die Milch zu bereiten, aber ich widersprach. Wozu bezahlt man denn ein sündhaftes Geld für ein Kindermädchen?
Ich drückte auf den Knopf der elektrischen Glocke, die sich in der Mädchenstube über dem Kopfende der Betten befindet . . . Nichts rührte sich.
Ich drückte noch einmal, energischer, kraftvoller, intensiver . . . Nichts rührte sich.
Ich läutete von Neuem . . . Nichts rührte sich.
Ich zog mich nothdürftig an und trommelte gegen die verschlossene Thür der Mädchenkammer und rief die Jungfrau bei Namen . . . Alles blieb still.
Ich spielte mit Händen und Füßen den Radetzky-Marsch, ich rief den Namen nicht mehr, ich schrie, ich brüllte . . . Alles blieb still.
„Und wenn Du todt bist, ich will Dich schon wach bekommen,” rief ich.
Ich lehnte mich mit beiden Füßen gegen das Treppengeländer, mit beiden Schultern gegen die Thür und eine Minute später flog ich, wie ein geölter Blitz, mit zerschundenen Gliedmaßen in das Schlafgemach der beiden Mädchen . . . Alles blieb still.
Ein Wunder war es allerdings nicht: die Betten waren leer, die Thür, die nach dem Boden führt, stand offen, ebenso die Bodenluke, von der eine Treppe in die Scheune führt. Und in der Scheune stand die Thür gleichfalls offen.
Die Mädchen waren ausgeflogen. Wahrscheinlich botanisirten sie in dem nur wenige Minuten von meiner Wohnung entfernten Gehölze.(2)
So mußte denn meine Frau doch selbst in die Küche hinabsteigen, während ich den schreienden Jungen auf den Arm nahm und ihm auseinandersetzte, er sei das artigste Kind, das je von einem Storch gebracht worden sei.
Am nächsten Morgen meldeten mir(3) die beiden Mädchen mit angsterfüllten Gesichtern, es sei bei ihnen eingebrochen worden, sie hätten den Dieb lange an der Thür arbeiten gehört, sie hätten aus Leibeskräften „Hilfe! Hilfe!” gerufen und als Niemand gekommen sei, wären sie vor Angst aufgestanden und zuerst in den Garten, dann auf die Straße geflohen, wo sie vergeblich einen Wächter gesucht hätten.
Das Leben und das Eigenthum meiner Dienstboten war mir zu theuer, um sie erneut dem Schrecken einer solchen Nacht auszusetzen. So fragte ich sie denn, ob sie nicht geneigt wären, sich zum ersten des nächsten Monats nach einem anderen Platz umzusehen. Sie machten beide einen zierlichen Knix und sagten: „Sehr wohl, gnädiger Herr, es war schon lange unsere Absicht, zu kündigen.”
„Um so besser,” erwiderte ich, „dann wird die Abschiedsstunde ja nicht unsere Herzen brechen.”
„Gott sei Dank, daß wir die Scheusale(4) los werden,” sagte meine Frau, „jetzt will ich es Dir nur gestehen, daß ich mich fast jeden Tag halbtodt über sie geärgert habe, sie sind faul, schmutzig in ihren Arbeiten und unverschämt(5).”
„Behüt' sie Gott, das sei mein Reisesegen,” gab ich zur Antwort, „nun müssen wir aber sehen, daß wir zum Ersten auch neue Mädchen bekommen. Was meinst Du, sollen wir inseriren?”
Aber meine Frau hatte andere Pläne — wir wohnen in einer kleinen Stadt, wo sich auch das unbedeutendste Ereigniß mit Windeseile verbreitet. Heute Abend würde schon die ganze Stadt wissen, daß wir zwei neue Mädchen suchten und morgen, spätestens übermorgen, würden genug Nachfolgerinnen sich melden.
Als nach acht Tagen, mit Ausnahme der Backfrau, kein weibliches Wesen unsere Schwelle überschritten hatte, wurde meine Frau unruhig.
„Was meinst Du, sollen wir nicht doch lieber inseriren?” fragte ich.
Meine Frau bat mich, damit noch einige Tage zu warten, es sei ja noch viel Zeit, heute schrieben wir ja erst den vierzehnten, bis zum zwanzigsten könnten wir es ja noch so mit ansehen.
Als der Morgen des zwanzigsten hereinbrach, war meine Frau ganz verzweifelt.
„Aber, Kind, was hast Du denn nur?”
Endlich kam sie mit der Sprache heraus: „Weißst Du, mir graut davor, daß ich zwei neue Mädchen nehmen soll: wenn man ein neues Mädchen bekommt, kann die Zweite ihr Bescheid sagen, aber so — es ist gräßlich. Sie wissen im Hause nicht ein noch aus, wissen von keinem Stück, wo es steht, das Kind muß sich erst an sie gewöhnen — ach nein, es ist zu schrecklich, am liebsten wäre es mir, die alten Mädchen blieben.”
„Aber ich denke, Du bist froh, daß Du diese Scheusale(6) endlich los wirst, die faul, schmutzig bei der Arbeit und unverschämt sind? Ich gebrauche Deine eigenen Worte.”
„Gewiß, gewiß, so sagte ich,” erwiderte meine Frau, „aber wir können doch Dienstboten bekommen, die noch größere Scheusale(7) sind. Man weiß, was man aufgiebt, man weiß aber nicht, was man wieder ins Haus nimmt.”
„Da hast Du Recht,” pflichtete ich ihr bei, „hast Du schon mit den Mädchen(8) gesprochen?”
„Wie könnte ich wohl!” sagte meine Frau entrüstet, „nie darf in solchem Fall die Hausfrau das erste Wort geben — soll ich mich dem aussetzen, daß die Mädchen mir, wenn ich sie später vielleicht einmal zur Rede stelle, zur Antwort geben: „Pah, warum haben die gnädige Frau uns denn behalten?” Nein, ich kann nicht mit den Leuten sprechen.”
„Ich auch nicht,” erwiderte ich, „ich habe gekündigt. Die Kündigung zurücknehmen, hieße jede Disciplin untergraben. Wir Beide können nicht sprechen — die Mädchen wollen anscheinend nicht sprechen, folglich wandern sie, oder weißt Du einen Ausweg?”
Da zeigt es sich, daß die Frauen manchmal doch schlauer sind als die Herren der Schöpfung.
„Wollen wir nicht heute inseriren?” fragte die brave Hausfrau, „dann werden, dessen bin ich gewiß, sich viele Mädchen melden und wenn unsere dann(9) sehen, daß wir die ernste Absicht haben, sie zu entlassen, werden sie pater peccavi sagen und bitten, hier bleiben zu dürfen.”
Also wir inserirten und wie man zu sagen pflegt: nicht zu knapp. Eine gewaltige Annonce, fett und breit gedruckt, prangte allabendlich(9a) im Wochenblatt.
„Nur solche mit hervorragend guten Zeugnissen(10) wollen sich melden,” so stand klar und deutlich zu lesen.
Es ist unglaublich, wie verschieden die Ansichten über den Begriff „hervorragend gut” sind.
„Absolut unbrauchbar,” lautete das Zeugniß der einen Jungfrau und die nächste hatte gar keins, sie meinte, das wäre immer noch besser als ein schlechtes und wenigstens zehn Mal besser(10a) als ein hervorragend gutes, das doch zusammengelogen sei, denn hervorragend gute Mädchen gäbe es heut zu Tage garnicht mehr, daran wären alerdings nur die Männer Schuld. Und überhaupt die Männer —
Es machte mir Spaß, die kleine Philosophin anzuhören, aber meinen Magen und mein Kind vertraute ich ihr denn lieber doch nicht an, und so zog auch sie, wie so Viele vor ihr und so Viele nach ihr, wieder unverrichteter Weise von dannen.
Wir schrieben den dreißigsten — zum ersten Mal in meinem Leben pries ich den Himmel, daß es auch Monate mit einunddreißig Tagen gab — sonst hatte ich mir immer gewünscht, daß es außer dem ersten nur noch einen letzten Tag im Monat gäbe, unter Umständen wäre ich auch bereit gewesen, auf den letzten zu verzichten.
Vierundzwanzig Stunden standen uns noch bevor: eine Secunde hat schon so oft über das Geschick ganzer Völker entschieden, eine Secunde ist unter Umständen 6o Millionen Mal so lang wie eine Ewigkeit — was konnten da nicht Alles vierundzwanzig Stunden bringen?
Sie konnten Vieles bringen — aber sie brachten gar nichts, nur Thränen.
Meine Frau weinte, mein Junge weinte, Dora, die Köchin heulte und Bertha, das Kindermädchen, gab Töne von sich, als ob ihr Herz von unnennbarem Weh zerrissen würde.
Bei uns ist es Brauch, daß die Dienstboten, die ihre Stelle verlassen, nicht am Abend, sondern Mittags um zwölf Uhr fortgehen, während die neue Donna Uraka erst am Abend ihren Einzug hält.
Um elf Uhr neunundfünfzig Minuten kamen die beiden Küchenfeen in Thränen aufgelöst zu meiner Frau in's Zimmer, ob sie nicht noch wenigstens ein paar Stunden bleiben dürften, sie hätten keine Stellung gefunden, sie wüßten nicht, wo sie ihr müdes Haupt hinlegen sollten, ob sie nicht wenigstens bleiben könnte, bis die neuen Mädchen kämen?
„Aber ich habe ja noch gar keine neuen Mädchen,” schluchzte meine Frau.
„Ach wir würden so gern hier bleiben, wenn die gnädige Frau uns nur behalten thun(10b) thäte, nicht wahr, Bertha?”
„Ach, daß ich meinen kleinen süßen Jung verlassen soll, den ich liebe, als ob er mein eigenes Kind wäre, nein, das überleb ich nicht.”
„Ach, und nirgends finden wir eine so liebe, gute Frau wieder, wie hier, nein, solche Herrschaft, das habe ich immer gesagt, die finden wir nie(10c) wieder, nicht Bertha?”
„So wollt Ihr also bleiben?” frohlockte meine Frau, „das habe ich ja gleich von Anfang an gewußt.”
Die Thränen waren getrocknet.
„Ja, wenn die gnädige Frau uns denn so sehr bitten thun(11), dann wollen wir wohl bleiben, obgleich wir uns eigentlich gedacht hatten, wir wollten zu unseren Eltern gehen. Aber dann bleiben wir natürlich nun, wenn gnädige Frau uns so bitten. Und dann dürfen gnädige Frau uns das nicht übel nehmen, aber wir sind hier nun schon so lange im Dienst und haben immer unsere Pflicht und Schuldigkeit gethan, und da können die gnädige Frau uns das nicht verdenken, daß wir auch gerne etwas höheren Lohn haben möchten, wenn die gnädige Frau uns Jedem zehn Thaler zulegen wollten, das haben wir uns so gedacht, nicht wahr, Bertha?”
„Meine Mutter meinte, zehn Thaler wären eigentlich ein bischen wenig, denn ich wäre nun doch fast all(12) ein Jahr hier und was der Kleine wäre, der gedeihte(13) bei mir so gut, daß ich wohl ein bischen mehr um die gnädige Frau verdient hätte. Was meine Freundin ist, die die gnädige Frau ja auch kennen, die hat elf Thaler mehr gekriegt.”
Meine Frau ist, wie sie mir hinterher erzählte, einer Ohnmacht nahe gewesen, ob solcher Unverfrorenheit — da hat oben in dem Schlafzimmer der Junge zu brüllen gebonnen und aus der Küche drang ein Geruch von zehntausend verbrannten Gerichten . . . .
Da hat die Verzweiflung sie ergriffen und schluchzend hat sie gesagt: „Ich gebe Euch, was Ihr verlangt, nun aber geht an Eure Arbeit.” — — —
Die „Scheusale”(14) sind noch bei mir im Haus, sie haben sich etwas zu ihrem Vortheil geändert und sie werden wohl bis zu ihrem oder bis zu unserem Tode bei uns bleiben. Merkwürdiger Weise brennen die beiden Mädchen nie mehr durch, obgleich sie doch alle Ursache haben, mit dem klingenden Erfolg ihres ersten nächtlichen Ausbleibens zufrieden zu sein.
(1a) In der Buchfassung heißt es hier: „Maaa—maaaa”. (zurück)
(1) Der Sohn Wolf Walter ist am 25.3.1894 geboren und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Erzählung in der „Kieler Zeitung” 2 Jahre und 8 Monate alt. (zurück)
(2) Im „Leipziger Tageblatt” fehlt dieser Absatz. (zurück)
(3) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es: „meldeten mir dann” (zurück)
(4) In der Fassung des „Leiziger Tageblatts” heißt es: „daß wir die Mädchen los werden”.
In der Fassung der fünften Auflage der Buchausgabe heißt es: „daß wir diese Scheusale los werden”. (zurück)
(5) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es: „recht unverschämt” (zurück)
(6) In der Fassung des „Lepziger Tageblatts” heißt es: „daß Du sie endlich los wirst” (zurück)
(7) In der Fassung des „Leipziger Tageblatts” heißt es: „die noch schlimmer sind” (zurück)
(8) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es: „mit den beiden Mädchen” (zurück)
(9) In der Fassung der „Kieler Zeitung” heißt es: „wenn unsere denn sehen”. (zurück)
(9a) In der Fassung der „Marburger Zeitung” fehtl das Wort: „allabendlich”. (zurück)
(10) Ein ähnliches Problem mit Dienstzeugnissen findet sich in der Erzählung „Die neue Köchin”. (zurück)
(10a) In der Fassung der „Marburger Zeitung” fehlen die Worte: „als ein schlechtes und wenigstens zehn Mal besser”. (zurück)
(10b) In der Fassung des „Leipziger Tageblatts” fehlt das Wort: „thun”. (zurück)
(10c) In der Fassung der „Marburger Zeitung” heißt es: „nicht wieder”. (zurück)
(11) In der Fassung des „Leipziger Tageblatts” heißt es: „sehr bitten” (zurück)
(12) In der Fassung des „Leipziger Tageblatts” heißt es: „fast ein Jahr” (zurück)
(13) In der Fassung des „Leipziger Tageblatts” heißt es: „gedieh” (zurück)
(14) In der Fassung des „Leipziger Tageblatts” heißt es: „Die Mädchen” (zurück)