Im Barackenlager

Von Freiherr von Schlicht,
in: „Im Barackenlager und anderes”



Truppenübungsplatz Döberitz

Mit militärischer Pünktlichkeit läuft der Zug auf der Station ein und auf dem Bahnhof, wenn man das ganz einfache Gebäude mit diesem stolzen Ausdruck bezeichnen darf, werden die Herren der Reserve von dem Fourier-Unteroffizier und einigen Soldaten erwartet. Jeder der Herren bekommt, nachdem er seinen Namen genannt hat, ein Quartierbillet in die Hand gedrückt, damit er gleich weiß, wo er sein Heim aufzuschlagen hat, und die Worte, die auf diesem Billet stehen, sind kurz und schmerzlos und lauten ganz einfach: „Herr Leutnant der Reserve So und So, Baracke X, Stube Y.”

In einem Krümperwagen legt man den weiten Weg von dem Bahnhof bis zum Truppen­übungs­platz zurück, dann endlich befindet man sich an Ort und Stelle.

Ein solcher Truppenübungsplatz besteht aus unendlich vielen Millionen Sandkörnern, die auf- und nebeneinander liegen. Im Osten werden diese Sandkörner durch eine Landstraße begrenzt, im westen durch anstoßende Felder, im Süden durch das Wachtgebäude und die anderen Baracken, im Norden aber gibt es keine Grenze. Der Platz dehnt sich bis in die Unendlichkeit und wie groß er ist, merkt man erst, wenn man in glühemder Hitze das Ende zu erreichen sucht und es nicht findet. Man hat Amerika und neuerdings sogar, wenn es wahr ist, auch den Nordpol(1) entdeckt, aber keine Forschungs­expedition wird jemals, selbst wenn sie sich auf Jahrzehnte verproviantiert hätte, das Ende eines Truppen­übungs­platzes erreichen. Wenn man dem Ende zustrebt, ohne es zu finden, hat man die Empfindung, als würde da hinten immer noch ein Stück angesetzt und tatsächlich werden die Plätze auch alljährlich noch vergrößert, soweit der Reichstag die Mittel dazu bewilligt. Ganze Dörfer werden aufgekauft und niedergeleg, Waldungen werden ausgerodet und zu den Milliarden von Sandkörnern, die schon da sind, werden neue Milliarden hinzugefügt. Und das ohnehin schon unerreichbare Ende wird immer noch unerreichbarer. Selbst mit einem Schiff der Wüste kann man den Platz nicht durchqueren, denn so lange hält selbst ein Kamel es nicht aus, ohne zu trinken, und Oasen gibt es hier nicht. Wasser ist in der Gegend ein unbekanntes Luxusgetränk, wohl aber befindet sich hin und wieder an vereinzelten Stellen eine ganz dünne Grasnarbe. Wie die auf diesem Sand hat wachsen können, ist noch von keinem Naturforscher festgesetzt, aber sie ist da und dient als Paradeplatz für Besichtigungen und die damit unvermeidlichen Parademärsche, denn die Gegend, in der ein Soldat keinen Parademarsch zu machen braucht, muß auch erst noch entdeckt werden.

An dem Südrand des Übungsplatzes liegt das Wachthaus. Selbst der ärmste Teufel der Welt wird zwar niemals auf den Gedanken kommen, von diesen Milliarden von Sandkörnern sich ein paar Millionen zu stehlen, aber bewacht muß der Platz dennoch werden. In der Hauptsache aber dient das Wachthaus als Flaggenstation, denn es kommt sehr oft vor, daß gleichzeitig zwei oder drei Regimenter auf dem Platz üben. Bei der gewaltigen Ausdehnung des Terrains ist das natürlich nicht zu übersehen und da zeigen die auf dem Wachtgebäude angebrachten Flaggen den neu ausrückenden Truppen an, welche Teile des Platzes bereits von anderen Regimentern benutzt werden und in welche Gegend man sich nicht hinauswagen darf, wenn man nicht unversehens eine scharfe Infanterie­patrone in den Mund oder eine Granate an den Kopf bekommen will. Nicht nur auf die Dauer, sondern auch für den Augenblick ist das eine ebensowenig zu ertragen wie das andere. Tot ist man auf alle Fälle, selbst wenn man Glück hat, und hat man keins, dann ist man es erst recht.

In einiger Entfernung von diesem Wachthaus erhebt sich das Barackenlager. Diese Baracken sind entweder aus Wellblech oder aus Fachwerk ausgeführt. Es ist das Primitivste, was man sich denken kann, sowohl von außen wie von innen.

Eine einzige Stufe genügt, um von draußen das Innere des „Hauses” zu erreichen, und diese Stufe besteht aus zwei nebeneinander gelegten roten Ziegelsteinen. Man tritt sofort auf den aus Holz bestehenden Korridor — rechts 'ne Tür, links 'ne Tür und grade aus 'ne Tür. Hinter der Tür rechts und links ist eine Stube für je einen Leutnant, hinter der anderen Tür ist ein Raum für die beiden Offiziers­burschen. Das ist eine Baracke und die andere ist genau wie die eine, nur daß die Hauptleute und Stabsoffiziere zwei Zimmer haben und daß auf einigen Truppen­übungs­plätzen die Baracken statt zwei mehrere Leutnants­wohnungen enthalten.

Jede Baracke trägt draußen eine Nummer und jede Zimmertür trägt ebenfalls eine Nummer. So machen sich die neuangekommenen Herren, als sie aus dem Wagen geklettert sind, denn auf den Weg, um ihr Logis aufzusuchen. Da die Burschen, die als Führer dienen, wissen, wohin jeder der Herren gehört, hat jeder schnell sein Ziel erreicht, allein hätten sie viel mehr Zeit gebraucht, denn eine Baracke sieht aus wie die andere und man muß schon ein gutes Orientierungs­vermögen haben, um sich bei Tage, geschweige denn bei Nacht, in einem solchen Lager zurechtzufinden.

Die Herren haben ihre Wohnung erreicht und wenn die meisten die Räume, die einander alle auf das Haar gleichen, ja auch schon von früher her kennen, so bleiben sie denn doch auch dieses Mal ganz erstarrt auf der Schwelle stehen und zerbrechen sich den Kopf darüber, wo der Dekorateur, der diesen Raum einrichtete, wohl sein Handwerk erlernt haben mag. Der Tür gegenüber steht ein eisernes Feldbett mit Matratze, Kopfkissen und einer wollenen Decke in einem blau und weißen Überzug. An der einen Wand ein Kleiderschrank mit drei Beinen, daneben eine Kommode mit zwei Füßen, an der dritten Wand ein Waschtisch, darüber als einzige Dekoration an den weißgetünchten Wänden ein Spiegel. Vor den Fenstern ein ganz einfacher viereckiger Tisch mit einem Rohrstuhl davor. Als Teppich auf dem ungestrichenen Fußboden vor dem Bett ein Bettvorleger, auf diesem der Nachttisch, an den Fenstern blau und weiße Gardinen. Als Beleuchtung dient eine wackelnde Petroleumlampe. Das Waschgeschirr ist aus einem so dicken Porzellan, daß selbst derbe Soldatenhände lange brauchen, bis sie es zerteppert haben. Und der Pot de chambre, den kein sterblicher Mensch entbehren kann, soweit er auf Kultur Anspruch macht, ist sogar aus Fayence.

Der verwöhnte Herr Rechtsanwalt, der in der Bahn bitter darüber klagte, daß er hier sogar auf die Dienste seiner Sekretärin verzichten muß, sitzt ganz verzweifelt auf dem Bettrand und läßt seine Augen über die ihn umgebenden Herrlichkeiten schweifen. Er stöhnt schwer auf und unwillkürlich denkt er zurück an seine mit allem nur möglichen Komfort ausgestattete Jung­gesellen­wohnung, an sein großes Herrenzimmer, an das noch größere Schlafzimmer mit dem breiten englischen Bett, den dünnen seidenen Decken, der hübschen elektrischen Ampel, an die weichen Teppiche, an alles, was den ganzen Raum so verführerisch macht, daß man in diesen Räumen an garnichts anderes denkt als an das Küssen und an das Kosen. Nein, nur ein wahres Glück, daß es hier im Lager an weiblichen Wesen fehlt, hier in dieser Umgebung kann man ja garnicht lieben.

Immer von neuem lüßt er seine Blicke durch den Raum schweifen, während sein Bursche den Koffer auspackt, und da fallen seine Augen auf einen großen Schlüssel, an dem ein Stück Holz befestigt ist und der an einem Haken rechts neben der Tür hängt.

Vorhin packte ihn die Verzweiflung, jetzt aber packt ihn das Entsetzen, denn dieser Riesenschlüssel öffnet die geheimnisvolle Pforte zu jenem stillen Ort, den jeder Mensch, ob König oder Bettler, mindestes einmal am Tag aufsuchen muß, wenn er sich körperlich wohl fühlen soll. Und dieser Ort befindet sich nicht in der Baracke selbst, sondern der Herr Leutnant muß, wie der Bursche ihm jetzt auf Befragen erklärt, rechts zur Tür hinaus, dann wieder gleich rechts um die dritte Baracke herum und dann links in den Gang hinein und da die fünfte Tür — da ist es und wenn er Glück hat, ist es frei.

Allmächtiger! Im stillen hatte er gehofft, daß sich das Barackenlager wenigstens in dieser Hinsicht inzwischen zu seinem Vorteil verändert hätte, und er gedenkt eines Tages im vorigen Jahre, in der er sich hier mit einer zu kalten Bowle den Magen verdarb und die ganze Nacht hindurch, noch dazu bei strömendem Regen, beständig zwischen seiner Baracke und jenem kleinen Häuschen hin und her rennen mußte. Nur ein wahres Glück, daß er damals auch seine Zivilsachen und seinen Regenschirm im Koffer hatte, aber ein noch größeres Glück, daß ihm auf dieser nächtlichen Wanderung kein Vorgesetzter begegnete, denn daß ein preußischer Leutnant, selbst wenn es mit Eimern gießt, in Uniform den Regenschirm aufspannt, das hat es noch nicht gegeben, solange es Offiziere, Regen und Regenschirme gibt.

Allmächtiger! Und er denkt zurück an sein neben dem Schlafzimmer gelegenes W.C. mit der großen, schönen Badeeinrichtung. Richtig, das tägliche Bad muß er sich hier ja auch abgewöhnen, da muß die Abwaschung vom Kopf bis zu den Füßen genügen. Aber diese kleine Waschschüssel! Die genügt höchstens für Kinder, aber nicht für Erwachsene über zehn Jahre, und dann nur eine, Gesicht, Hände, Füße — alles in ein und derselben Schüssel?

Und dann nicht einmal ein Bidet!

Ihm wird schwach auf der Brust und aus der Reisetasche holt er die treueste aller Freundinnen hervor, die Kognakflasche, und tut einen tiefen Trunk und dann noch einen und dann den letzten. Das tut gut und er beginnt, die ganze Sache von der humoristischen Seite aus zu betrachten. Nur schade, daß Emmy ihn hier nicht in dieser Umgebung sehen kann, seine über alles geliebte Emmy, seine neueste Freundin, der er ewige Treue geschworen hat, bis er sie einer anderen schwört. Gestern abend ist sie noch bei ihm gewesen, hat auf der breiten Chaiselongue gelegen, während er neben ihr saß und sie mit Bonbons fütterte, und hat sich halbtot lachen wollen, als er ihr das, was ihn im Barackenlager erwartete, zu schildern versuchte. Wie würde sie jetzt erst lachen, wenn sie alles mit eigenen Augen sehen könnte, und jetzt weiß er auch erst, wie viel er ihr zu schildern vergaß.

Na, überhaupt Emmy! Der Gedanke an die Geliebte verscheuchte alle übrigen Sorgen und gibt ihm seine frohe Stimmung zurück. So macht er sich denn auf den Weg, um sich bei den Vorgesetzten zu melden, und nachdem er sich umgekleidet hat, sucht er das Kasino auf.

Dort findet er bereits die ganzen Leutnants versammelt, — Angehörige aller Regimenter seines Armeekorps. All die Bekanntschaften werden erneuert, neue werden geschlossen, und heute am ersten Abend gibt es so viel zu erzählen, daß darüber sogar das vergessen wird, was nach Ansicht der meisten einzig und allein imstande ist, das Leben im Lager erträglich zu machen: der Skat.

Heute ist zum Skatspielen keine Zeit, man hat zu viel zu besprechen und da das Sprechen durstig macht, wird auch getrunken. Wenn man aber ein gewisses Quantum getrunken hat, wird man abermals durstig und es ist ein weit verbreiteter Abergalube, daß man niemals genug trinken kann. So wird es denn spät, bis man endlich aufbricht, aber gerade als man sich anschickt fortzugehen, stößt der Leutnant der Reserve Martens, ein allgemein beliebter Kamerad, der in seinem Zivilberuf Zahnarzt ist, einen gotteslästerlichen Fluch aus.

„Aber, Kindchen, was haben Sie denn nur?” fragen die anderen. Aber anstatt gleich zu antworten, sucht der in allen seinen Taschen herum, aber vergebens, er findet nicht, was er sucht.

Und von neuem stößt er einen Fluch aus, der einem in Ehren ergrauten Unteroffizier zur Zierde gereicht hätte, dann aber sagt er: „Das ist 'ne schöne Geschichte, die habe ich mir immer gewünscht, noch dazu gleich am ersten Abend. Ich habe mein Quartierbillet vergessen und nun weiß ich nicht, wo ich wohne, nicht mal die Zimmernummer weiß ich und erst recht nicht die von der Baracke. Wie soll ich mich da nun nach Haus finden.”

Das weiß im Augenblick keiner, endlich meint ein Kamerad, nur um überhaupt etwas zu sagen: „Aber seine Hausnummer merkt man sich doch.”

„Mit dem Rat ist mir nicht gedient,” verteidigt Martens sich, „nennen Sie mir lieber meine Nummer.”

Das kann nun freilich keiner und der Kamerad, der mit Martens in derselben Baracke wohnt, ist schon vor einer Stunde schlafen gegangen, sonst könnte der ihn ja unter seine Fittiche nehmen.

Einer der Herren kommt auf den klugen Gedanken, nach dem Fourier-Unteroffizier, der zugleich Quartiermeister ist, schicken zu lassen, aber der ist bis morgen mittag in die benachbarte Stadt beurlaubt, um dort dienstlich Einkäufe zu machen.

„Werden Sie Ihre Baracke wiedererkennen, wenn Sie vor ihr stehen?”

Aber Martens widerspricht dem Frager: „Erstens stehe ich nicht vor ihr und selbst, wenn ich vor ihr stehe, woran soll ich dann erkennen, daß diese Baracke grade meine ist.”

„An der Nummer,” ruft ihm einer zu.

„Aber die habe ich doch gerade vergessen,” flucht Martens ganz nervös und dann schilt er von neuem vor sich hin: „Das ist 'ne schöne Geschichte, nun kann ich womöglich die ganze Nacht hier im Kasino sitzen bleiben, ich sagen sitzen, denn hier gibt es ja nicht mal eine Chaiselongue. Wenn ich mir doch eine von Haus mitgenommen hätte, da habe ich drei, nein sogar vier, die stehen da nur alle nutzlos herum und könnten mir hier so gute Dienste leisten. Na so viel weiß ich, für die nächste Reserve­übung kaufe ich mir ein zusammen­klappbares Schlafsofa und schnalle mir das jeden Abend, wenn ich in das Kasino gehe, wie einen Rucksack auf den Buckel. Zum zweiten Mal soll mir so etwas nicht wieder passieren, aber was mache ich jetzt?”

Das ist zwar keine rhetorische, sondern eine ganz direkte Frage, aber trotzdem erfolgt darauf keine Antwort. Tiefes Schweigen herrscht rings herum, jeder zerbricht sich den Kopf, wie man die Wohnung des Kameraden ausfindig machen soll, da stößt dieser plötzlich einen Freudenschrei aus und schlägt sich gleichzeitig mit der flachen Hand vor die Stirn. Dann ruft er freudestrahlend: „Herrschaften, ich habs, ich habs.”

„Die Barackennummer?” fragen alle gleichzeitig.

„I wo,” meint Martens, „aber die brauche ich auch jetzt garnicht mehr, ich werde mich ohnedem schon nach Hause finden.”

„Wie wollen Sie denn das anfangen?” erkundigt man sich neugierig.

Martens machte ein sehr verschmitztes Gesicht, dann sagte er: „Die Sache ist sehr einfach und ich begreife nicht, daß mir das nicht gleich eingefallen ist. Ich war heute nachmittag, mit Respekt zu sagen, auf dem — na sagen wir mal, auf dem . . . Im Drange der Geschäfte vergißt man ja nur zu leicht den Schlüssel zu der geheimnisvollen Pforte mitzunehmen, besonders weil man das ja von Haus aus nicht gewohnt ist und wenn man dann dort ankommt und wieder umkehren muß, weil man den Schlüssel nicht mitnahm und dann wieder umkehren muß, dann kann es leicht passieren, daß man zu spät kommt. Wenn irgend ein Geschäft auf der Welt nicht zu spät erledigt werden darf, so ist es dieses, und deshalb und darum lasse ich den Schlüssel, damit ich ihn nie vergesse, ein für allemal stecken. Ich brauche jetzt also nur die Tür zu suchen, in der der Schlüssel steckt und dann finde ich mich nach Haus. Links zur Tür raus, dann noch zweimal links um und dann die erste Baracke rechts, da wohne ich. Also meine Herren, ich gehe jetzt auf die Suche, vielleicht ist einer von Ihnen so liebenswürdig, mir zu helfen.”

Alle stimmen ihm lebhaft bei und verlassen dann das Kasino. Es herrscht Mondenschein, die Nacht ist hell, das wird das Suchen erleichtern.

Die Herren lösen sich in kleine Gruppen auf, nachdem man verabredet hat, daß man sich in einer Viertelstunde wieder vor dem Kasino treffen will. Ist Martens dann nicht mehr darunter, dann gilt das als Beweis dafür, daß er selbst seinen Schlüssel fand und sich gleich nach Haus begab. Findet ein anderer den Schlüssel, so soll er ihn ruhig stecken lassen und Martens dann später zu ihm hinführen, damit er sich von dort aus orientieren kann.

Und als man sich zur verabredeten Zeit wieder zusammenfindet, ist auch Martens zur Stelle, er hat seinen Schlüssel nicht gefunden, aber von den anderen Herren ahben sieben einen Schlüssel gefunden und jeder dieser sieben Schlüssel steckt in einer anderen Tür. Welcher von diesen sieben Schlüsseln gehört nun Martens und sind diese sieben Schlüssel absichtlich oder nur versehentlich stecken gelassen worden?

Die Antwort auf die letzte Frage ist im Augenblick gleichgültig. Nun handelt es sich nur darum, welcher dieser sieben Schlüssel gehört Martens.

Er wird zu dem ersten hingeführt, aber als er dann links und dann noch zweimal links nach Hause geht, findet er seine Zimmertür verschlossen und als er sie dennoch zu öffnen versucht, weckt er den Schläfer da drinnen auf. Der stößt keinen schlechten Fluch aus und Martens eilt ganz erschrocken davon: „Nee Herrschaften, da wohne ich nicht.”

Und in den nächsten fünf anderen Zimmern wohnt er such nicht.

Aber die sechste Tür ist unverschlossen: „Gott sei Dank, endlich zu Haus.”

Mit herzlichen Worten des Dankes verabschiedet er sich von den Kameraden, aber als er dann in das Zimmer getreten ist und die Lampe angezündet hat, um sich zu entkleiden, bekommt er beinahe einen Schlaganfall, denn dort im Bett liegt schon einer, der Herr Rechtsanwalt, und schläft ganz fest. Um seinen Mund spielt ein glückliches Lächeln, er muß von etwas sehr Schönem träumen und jetzt macht er mit dem linken Arm plötzlich eine Bewegung, als wolle er jemanden an sein Herz drücken.

Und so zärtlich wie er es im Schlaf nur vermag, ruft er „Emmy”.

„Hier wohne ich also auch nicht.”

Das ist der einzige Gedanke, der Martens beschäftigt, es dauert lange, bis er sich von dieser Enttäuschung erholt hat, dann aber löscht er die Lampe wieder aus und schleicht im Dunkeln zur Tür. Aber er hat Pech, er stößt gegen einen Stuhl und mit lautem Gepolter fällt der um. Allen Erwartungen entgegegen vermag der Lärm den Schläfer doch nicht ganz zu erwecken, aber etwas muß er doch wohl gehört haben, denn er fragt plötzlich im Halbschlummer: „Kommst du endlich, meine kleine Mi.”

„Was miet denn der nur immer,” denkt Martens, dann frägt der Schläfer zum zweiten Mal: „Mi, bist du es?”

Da packt den Anderen der Übermut und mit Donnerstimme ruft er dem Andern zu: „Ja, ich bin's!”

Gleich darauf stürzt er mit einem Satz zur Tür hinaus, hinaus ins Freie und im Davoneilen sieht er noch, wie der Andere aus dem Bett springt, Licht macht und nach dem Spukgeist umschaut.

Wohl noch fünf Minuten überlegt Martens, was er tun soll und wo er sein müdes Haupt zur Ruhe bettet.

Und nirgends in der ganzen Gegend ein Asyl für Obdachlose.

Dann aber kommt ihm ein kluger Gedanke, er sucht das Wachtlokal auf, um dort die Nacht auf einer Pritsche zu verbringen, lieber ein hartes Lager als gar keines, aber als er dem Unteroffizier sein Leid klagt, macht der ein ganz erstauntes Gesicht: „Warum sind der Herr Leutnant denn nicht gleich hierher gekommen? Hier in der Wachtstube liegt doch ein Verzeichnis sämtlicher im Lager anwesenden Herren, nebst Angabe ihrer Wohnung. Wußten denn der Herr Leutnant das nicht?”

Allzu geistreich ist das Gesicht des Herrn Leutnant in diesem Augenblick gerade nicht, ja, wenn er das gewußt hätte?

Eine Minute später befindet er sich in Begleitung eines Soldaten auf dem Nachhauseweg und zehn Minuten später liegt er im Bett, aber als er, bevor er die Lampe auslöscht, noch einmal seinen Blick durch das endlich wiedergefundene Zimmer schweifen läßt, da fallen seine Augen auf den geheimnisvollen Schlüssel, den er absichtlich stecken ließ und der nun an dem vorschriftsmäßigen Platz, an dem Haken rechts neben der Zimmertür hängt.

Er glaubt ein Gespenst zu sehen, er richtet sich in seinem Bett auf und starrt ihn mit großen Augen an. Wie kommt der Schlüssel dahin? Er weiß genau, daß er ihn absichtlich stecken ließ und nun hängt er an der Wand. Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen und doch ist die Aufklärung, die ihm sein Bursche am nächsten Morgen gibt, sehr einfach. Der Herr Leutnant, der gegenüber wohnt, hat den Schlüssel stecken sehen, hat ihn abgezogen und dem Burschen gegeben, weil der Herr Leutnant ihn abzuziehen vergessen hatte.

Martens sieht es ein, da hätte er in der Nacht lange suchen können, und er nimmt sich vor, den Kameraden nachher über seine Vergeßlichkeit aufzuklären, dann zieht er sich an und eilt zum Frühstück in das Kasino. Gerade als er eintritt, ist der Herr Rechtsanwalt dabei, sein nächtliches Erlebnis zu erzählen: „Denken Sie sich, meine Herren, ich liege im schönsten Schlummer, denke und ahne nichts Böses —”

„Umsomehr Schönes und Süßes,” sagt Martens sich im stillen.

„— da höre ich plötzlich ein Geräusch im Zimmer und gleich darauf brüllt mich ein Kerl an, daß die Fensterscheiben zittern, wie ich mir hinterher gedacht habe, um mich einzuschüchtern. Aber das gibt es nicht bei mir und das muß der Kerl auch wohl selbst gemerkt haben, denn ich sage Ihnen, der war plötzlich mit einem Satz wieder zur Tür hinaus und als ich dann Licht machte, war er bereits wieder über alle Berge, obgleich es hier nicht mal welche gibt. Natürlich werde ich die Sache noch heute dienstlich melden, denn daß es auch hier Diebe und Einbrecher gibt, ist doch unerhört. Na, soviel weiß ich, von heute abend an lege ich meinen Revolver neben mein Bett und wenn sich nochmals ein Kerl in mein Zimmer wagt, dann schieße ich ihn erbarmungslos vor den Bauch.”

„Na, seien Sie so freundlich,” meinte Martens und unter allgemeiner Heiterkeitlöst sich die Sache auf. Aber man hat nicht viel Zeit zum Reden, man kann nur in aller Eile frühstücken, der Dienst beginnt.

Erst bei dem Frühstück mittags um zwölf sieht man sich im Kasino wieder und da fragt einer den anderen: „Haben Sie sie gesehen?”

Diese „Sie” sind die beiden Barackenmädel, wie ein junger Leutnant einmal die beiden Töchter des Lager­kommandanten getauft hat. Zwei mittelgroße, schlanke Gestalten, die namentlich zu Pferde eine pompöse Figur machen und die auch heute mit ihrem Vater, einem früheren Kavallerie-Oberst, auf den Übungsplatz herausgeritten sind. Alle haben die beiden jungen Damen gesehen, alle sind von ihnen entzückt und mancher, der ein leicht entzündbares Herz hat, ist sogar verliebt.

„Haben Sie auch die entzückenden Gesichter gesehen?” fragt ein Kamerad seinen Nachbar. „Dieses feingeschnittene Profil, diese großen blauen Augen mit den dichten schwarzen Wimpern.”

Aber der andere unterbricht ihn: „Mensch, machen Sie mir den Mund nicht noch wässeriger, als er es ohnehin schon ist, sonst gibt es eine Überschwemmung und hier gibt es ja nicht einmal einen Rettungskahn. Im übrigen bin ich der Ansicht, wenn man so 'ne hübsche Figur hat, braucht man überhaupt kein Gesicht zu haben.”

„Aber einen Kopf müßten die jungen Damen doch wohl wenigstens besitzen,” neckt ein Kamerad den Sprecher.

Der aber denkt nur an die schönen Figuren, die die Damen zu Pferde machten, und so sagt er denn: „Ist auch nicht nötig, die Figur genügt mir. Und ganz ernsthaft gesprochen, wozu hat 'ne Frau überhaupt einen Kopf? In dem hat sie ja doch nur Launen und vor allen Dingen Wünsche, denn eine Frau ist und bleibt nun einmal der geborene Wunschzettel.”

„Na lassen Sie das nur nicht Ihre Frau Gemahlin hören,” neckt ein Kamerad.

Der Andere lacht fröhlich auf: „Ich habe ja Gott sei Dank gar keine und so viel weiß ich, wenn ich jemals heirate, muß meine Zukünftige genau so aussehen, wie eins der Barackenmädel.”

Wieder fangen alle an von den beiden jungen Damen zu schwärmen und selbst der Herr Rechtsanwalt, der noch in der Nacht so sehnsüchtig seiner Emmy gedachte, schwärmt mit, allerdings nur im stillen. Da aber trägt er sich mit sehr ernsten Gedanken und zum ersten Mal überlegt er, ob nicht doch vielleicht eine standesamtliche und kirchliche Trauung mit einer rechtmäßigen Frau einem freien Liebesleben in der Natur vorzuziehen ist. Und so viel steht für ihn fest, wenn er sich jemals von seiner Emmy trennen sollte, um zu heiraten, dann stolpert er am Altar, um mit dem Simplizissimus zu reden, nur über eins der Barackenmädel.

Die haben allen den Kopf verdreht, sogar „mein Otto” wird den Gedanken an sie nicht los. Er hat den zärtlichen Brief seiner Gattin, der mit den Worten beginnt: „Um Gottes Willen, mein Otto, verändere nur nicht Deine Figur, denn gerade so, wie Du bist, bist Du schön und stattlich, wie ich es bei einem Manne liebe” — er hat diesen Brief, den er vorhin erhielt, noch garnicht zu Ende gelesen, es fehlt ihm dazu jetzt auch an Zeit, denn er streichelt jetzt fortwährend mit beiden Händen jene Körperstelle, die nach seiner Meinung etwas allzu reichlich gewachsen ist. Da muß trotz der gegenteiligen Ermahnung der Gattin ein ganzes Stück fort ud zwar so bald wie möglich, denn wenn er als braver und treuer Ehemann von den beiden hübschen jungen Damen natürlich auch nichts will, so möchte er doch schon um seiner selbst willen einen möglichst guten Eindruck hervorrufen, wenn er später das Glück haben sollte, ihnen einmal vorgestellt zu werden.

Endlich ist das Frühstück beendet und unter dem Vorwand, sich noch etwas die Beine vertreten zu wollen, bevor der Nachmittagsdienst beginnt, in Wirklichkeit aber in der stillen Hoffnung, etwas von den beiden jungen Damen zu erblicken, bummeln die Herren, ihre Zigarre rauchend, durch die sogenannten Parkanlagen des Barackenlagers. Der Park besteht nur aus wenigen Bäumen und an besonders sonnigen Stellen aus einigen schönen Rasenbeeten, aber trotzdem hat auch er, wie jeder Park eine Sehenswürdigkeit. Hier heißt sie „Die Generalsbaracke” und in ihr wohnt der Herr General, so oft er zu einer Besichtigung kommt.

Im Gegensatz zu den anderen Baracken macht diese den Eindruck eines kleinen schwedischen Landhauses und macht auch schon von außen einen hübschen und sauberen Eindruck.

Keiner der Herren, selbst diejenigen nicht, die schon früher mit ihren Regimentern zu einer Übung hier im Lager waren, hat jemals seinen Fuß über die Schwelle gesetzt, keiner weiß, wie es da drinnen aussieht, aber man erzählt sich Wunderdinge: Im Schlafzimmer soll ein Steinersches Reformbett stehen, der Pot de chambre ist aus wirklichem Porzellan und der Spiegel soll sogar keinen Sprung haben. Im Wohnzimmer ist ein Teppich, an den Wänden hängen Bilder und ein Gerücht behauptet sogar, es gäbe da eine Badewanne. Allerdings findet diese Botschaft wenig Glauben, aber immerhin gilt das, was man hier vermutet und was man zuhause als etwas ganz Selbstverständliches betrachtet, als ein unerhörter Luxus und in den Augen der draußen Stehenden erscheint diese Generalsbaracke ihnen allen immer mehr wie ein Märchenschloß aus Tausend und einer Nacht oder zum mindesten ebenso sagenhaft wie die Bayrischen Königsschlösser.

Ach ja, so 'n General hat es doch gut auf der Welt, oder wenigstens im Barackenlager.

Das ist die Erkenntnis, zu der sich alle ohne große Mühe durchringen und dem gegenüber tritt sogar die Erinnerung an die beiden jungen Damen für einen Augenblick in den Hintergund, umsomehr, da selbst das schärfste Späherauge noch nichts von ihnen entdeckt hat.

Und wie in diesem Augenblick der zu ihnen herantretende Adjutant des Kommandanten erklärt, werden sie auch in Zukunft die beiden jungen Damen stets nur aus weiter Entfernung sehen. „Denn meine Herren,” setzt er hinzu, „wenn der Kommandant die Besuche von all den vielen hundert Offizieren, die im Laufe eines Jahres hierher kommen, entgegennehmen und alle Herren bei sich bewirten wollte, dann müßten hier für diesen Zweck große Festhallen erbaut werden. Und da der Kommandant nicht mit allen fremden Offizieren verkehren kann, empfängt er niemanden mit alleiniger Ausnahme der dauernd hierher kommandierten Herren.”

Dabei macht er ein Gesicht, als wolle er sagen: „Seht mich an, ich bin ein solcher Champion des Glückes,” und er erreicht seinen Zweck auch vollständig. Voller Neid blicken die Anderen ihn an, der hat es gut, der kommt täglich mit den beiden jungen Damen in Berührung und wenn er noch mehr Glück hat, führt er eines Tages die eine der beiden Schwestern als Frau heim.

Das sind so die Gedanken, die alle beschäftigen, als der Adjutant sie wieder verlassen hat, bis dann plötzlich in die Stille die Worte hineinklingen: „Und wenn er sie hat, möchte er sie vielleicht gerne wieder los sein, denn mit 'ner Ehe wird das immer 'ne unsichere Sache.”

Niemand weiß, wer die Worte gesprochen hat, aber die stellen die fröhliche Stimmung wieder her. Da schlägt auch schon die Kasinouhr und mahnt daran, daß es höchste Zeit wird, wieder zum Dienst zu gehen.

Abends um sechs Uhr vereinigen sich die Herren wieder im Kasino zum Mittagessen und kaum ist es beendet, da beginnt ein männermordendes Skatspielen. Im Speisesaal, im Lesezimmer, ja selbst auf der Veranda steht ein Spieltisch neben dem anderen und die Spielbegeisterung ist zum mindesten so groß wie in den Sälen von Monte Carlo. Zu drei und zu vieren wird Skat gedroschen, mit und ohne Chikanen, mit und ohne Gucki. Das Soldatenleben, die Generals­baracke, die beiden jungen, schönen Reiterinnen, Weib und Kind, Zivilberuf und geschäftliche Sorgen, Sonne, Mond und Sterne, alles was es auf der Welt gibt, ist vergessen, jetzt interessiert es sie nur, was im Skat liegt, ob man mit der langen Farbe ohne Aß und nur mit zwei Jungs einen Grand riskieren kann oder nicht, ob man Schwarz ansagen oder sich nur mit dem Schneider begnügen soll und was dem ähnliche Fragen mehr sind.

Am Anfang herrscht tiefe Stille, aber nur zu bald beginnen die „Leichenreden”.

Mit erregter Stimme ruft plötzlich ein Kamerad: „Scholten, nehmen Sie mir das nicht übel, aber wenn Sie die Cœur-Zehn haben, da mußten Sie die schon lange wimmel, die mußten Sie schon längst hineingeben, noch dazu, wo ich die ganze Piqueflöte habe, stattdessen behalten Sie die bis zum letzten Augenblick zurück. Nehmen Sie es mir nicht übel, Sie sind sonst gewiß ein sehr befähigter Mensch, aber von Skatspielen —”

Er hält mitten im Satz inne, um den Anderen durch das Urteil, das ihm auf der Zunge liegt, nicht zu beleidigen, aber schon was der Andere zu hören bekam, genügt, um dessen Blut in Wallung zu bringen. Jeden Vorwurf hätte er ruhig hingenommen, selbst den, im gewöhnlichen Leben ein Dummkopf zu sein, aber daß er nichts vom Skat verstehen soll, er, dessen Wiege in den Nähe von Altenburg stand. wo das Spiel zuhause ist, er, der gewissermaßen nicht mit Milch, sondern mit Skatkarten großgezogen ist — das darf er nicht auf sich sitzen lassen. Und mit immer lauter werdender Stimme sucht er dem Anderen klar zu machen, warum er die Cœur-Zehn gerade bis zu diesem Augenblick zurückhielt und daß es ein hanebüchener Fehler gewesen wäre, sie auch nur einen Stich früher aus der Hand zu geben.

Aber eher ist ein Kamel davon zu überzeugen, daß es seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, endlich einmal durch ein Nadelöhr zu gehen, um die Worte der Schrift Lügen zu strafen, als daß ein Skatspieler dem Anderen Recht gibt. So wird das Streiten immer lebhafter und lauter, bis es schließlich den Anderen zu viel wird und von allen Seiten die Rufe ertönen: „Ruhe im Lande”, „Herschaften seid friedlich und liebet Euch untereinander.”

Aber plötzlich verstummen die Zurufe und ganz verwundert blicken alle auf einen Kameraden, den sie sonst als einen in jeder Hinsicht geistig gesunden und völlig normalen Menschen kennen. Aber in den muß jetzt der Teufel oder sonst ein böser Dämon gefahren sein, er ist von seinem Stuhl aufgesprungen und hüpft wie ein Berserker im Zimmer herum, während er sich gleichzeitig mit beiden Händen auf die Knie und die Beine schlägt.

„Aber Müller, seid[sic! D.Hrgsgb.] wann sind Sie denn unter die Schuhplattler gegangen,” ruft ihm endlich einer zu.

Aber Müller läßt sich nicht beirren, er schuhplattelt ruhig weiter.

Die Anderen sehen sich schließlich ganz ängstlich an, sollte der Kamerad statt von einem Schuhplattler von einem Veitstanz befallen sein? Da hält er plötzlich mit seinen Glieder­verrenkungen inne und freudestrahlend ruft er den Anderen zu: „Das soll mir erst mal einer nachmachen! Grand ohne Vier, noch dazu 'ne blanke Zehn und nicht nur gewonnen, sondern geschnitten habe ich die Brüder, nicht mal den Schneider haben sie.”

Und von neuem fängt er mit seinem Freudentanz an, bis einer der Herren ruft: „Ordonnanz, halten Sie mal Herrn Leutnant Müller die Glieder zusammen, sonst fliegen die uns noch an den Kopf.”

Aber als sich die Ordonnanz dem Herrn Leutnant nähert, macht dieser, wenn natürlich auch nur im Scherz, drohende Boxer-Bewegungen und gibt fauchende Töne von sich, wie eine Lokomotive, die Dampf ausläßt.

Ganz erschrocken prallt die Ordonnanz zurück und fliegt dabei gegen einen Spieltisch. Einer der Herren ist gerade bei dem Geben. Fünf Karten hat jeder schon in der Hand, voller Erwartung sehen sie den letzten fünf entgegen, da wirft die zurücktaumelnde Ordonnanz den Spieltisch um und die Karten, die schon gegeben waren, und noch gegeben werden sollten, liegen auf der Erde.

Wie von der Tarantel gestochen springen die Herren in die Höhe und schelten auf die Ordonnanz los: „Mensch, haben Sie denn keine Augen im Rücken, machen Sie die Glotzdinger doch auf, wozu haben Sie diese denn sonst?”

Die arme Ordonnanz steht da wie ein begossener Pudel, der Mann kann ja schließlich nichts dafür, das sehen die Herren denn auch schließlich ein und hören mit dem Schelten auf.

Aber dann beginnt ein großes Klagen wie an dem Grab des geliebten Toten. Jeder weint den fünf Karten, die er schon hatte, und den fünfen, die er noch bekommen sollte, heiße Tränen nach.

„Wenn das so weiter gegangen wäre, hätte ich ein Grand mit Vieren gehabt,” sagt der Eine.

„Aber auch, wenn es nicht so weiter gegangen wäre, hatte ich ein Treffsolo,” sagt der Zweite.

„Und ich hätte einen Null ouvert gehabt, wenn ich von unehelichen Eltern war(2),” sagt der Dritte.

Jeder beklagt das Spiel, das er bekommen und doch ganz sicher gewonnen hätte, wenn der Tisch nicht umgefallen wäre und es dauert lange, bis die Klagelieder Jeremiä verstummen und bis an diesem Tisch das Spiel weiter geht.

Und es wird spät, bis endlich an allen Tischen das Ende naht. An dem einen hat man schon vor einer Stunde die letzte Runde angesagt, und ist jetzt glücklich bei der dreizehnten angekommen. Und an einem anderen Tisch meint man, für die letzten drei Runden sei es immer noch Zeit. Alle finden immer einen neuen Vorwand, um noch sitzen zu bleiben, und nicht der letzte ist das gute Bier. Alle trinken viel, aber „mein Otto” trinkt am meisten, denn nach den aufklärenden Worten des Adjutanten, nun, da er weiß, daß er keine Aussicht hat, jemals den jungen Damen vorgestellt zu werden, ist es ja zwecklos, seine Figur zu verändern. Er darf es ja auch garnicht, wenn er die Gattin, ach die Teure, nicht betrüben darf. Die liebt ihn ja gerade so, wie er ist, und vielleicht wird sie ihn noch mehr lieben, wenn er sogar noch ein wenig stärker nachhause kommt. So läßt er sich denn das Bier von Allen am besten schmecken und als endlich mit dem Skat und mit dem Bier für heute definitiv Schluß gemacht wird, da steht mein Otto nicht mehr ganz fest auf seinen Piedestalen. Dafür hat er aber auch 17.50 Mark im Skat gewonnen, da kann man schon einmal einen über den Durst trinken.

Als der Aufbruch erfolgt, erkundigen sich die Herren bei dem Kameraden Martens, der gestern obdachlos war: „Werden Sie denn nun heute Abend sich nach Hause finden? Wissen Sie jetzt ihre Barackennummer?”

„Na und ob,” sagt der sehr stolz und freudestrahlend, „so etwas konnte mir gestern passieren, von heute ab kann ich mich aber auf mich verlassen. Ich habe mir ein Zahlen­gedächtnis angeschafft, das es mit jeder Konkurrenz aufnimmt,” und gleichzeitig holt er aus der inneren linken Brusttasche seiner Litewka eine mittelgroße, viereckige Tafel aus schwarzem Blech. Und auf diese ist mit weißer Farbe gemalt:

Baracke 18
Zimmer 2.

und darunter steht geschrieben „Links, — zweite rechts — dritte links. „Das heißt,” klärt er die Kameraden auf: „Vom Kasino aus habe ich links zu gehen, dann die zweite Barackengasse rechts hinein und dann die dritte Baracke links — da wohne ich. Aber nun sagen Sie selbst, ist mein künstliches Zahlen­gedächtnis nicht glänzend? Und dabei ist es so billig, selbst bei Wertheim hätte es mehr gekostet. Ich habe dem Büroschreiber eine Königl. Preußische Reichsmark in die Hand gedrückt und ich glaube, anstatt Akten voll zu schmieren, sitzt der Bengel immer noch da und freut sich. Nicht wahr, meine Herren, die Idee ist gut?”

„Sehr gut,” stimmen die Anderen ihm bei, „aber was dann, wenn Sie Ihr Gedächtnis nun einmal zuhause vergessen, wenn Sie es auf dem Tisch oder sonst irgendwie liegen lassen?”

Leutnant Martens lacht lustig vor sich hin und macht ein ganz verschmitztes Gesicht: „Ach so, Sie meinen, ich habe nur diese eine Gedächtnis­tafel? Nein, da irren Sie sich sehr, ich habe mir für jeden Rock eine machen lassen, in jeder Brusttasche steckt eine und damit ich unterwegs die Tafel nicht verliere, habe ich meine Gedächtnis­tafel durchlochen lassen, eine Strippe durchgezogen und trage sie als Perlenkollier um den Hals. Nun aber gute Nacht, ich gehe zu Bett, der Schlaf vor Mitternacht ist der gesündeste.”

„Die ist doch schon längst vorüber,” meint ein Kamerad, „es ist gleich zwei Uhr.”

Aber Martens verteidigt sich: „Es gibt doch mehr Mitternächte. Heute abend kommt die neue an die Reihe, bis dahin sind noch zweiundzwanzig Stunden Zeit, schde, daß man die nicht alle im Bett verbringen kann, denn wie gesagt der Schlaf vor Mitternacht — na, gute Nacht.”

Die Herren suchen ihre Behausung auf und als sie sich am Morgen bei dem Frühstück wiedersehen, hat „mein Otto” schwer Kopfweh. Auch sonst ist ihm garnicht so, namentlich nicht in der Magengegend und selbst die Freude darüber, daß er gestern 17.50 Mark im Skat gewann, kann sein Wohlbefinden nicht wieder herstellen und außerdem ist er der festen Überzeugung, trotz des Gewinnes mit einem Defizit abgeschlossen zu haben. Er muß wenigstens für 20 Mark Bier getrunken haben, denn sonst könnte ihm, mit Respekt zu melden, nicht so speiübel sein.

Und dabei kann er nicht mal speien, das ist das Allerschlimmste.

Während die anderen Herren sich ihr Frühstück ausgezeichnet schmecken lassen, geben sie dem armen Otto gute Ratschläge, wie er sein Befinden bessern könnte. Jeder weiß ein anderes untrügliches Mittel, bis schließlich einer sagt: „Lassen Sie sich mal schnell drei Spiegeleier braten, aber ganz fett, so fett, daß gar keine Butter mehr hineingeht. Die schlucken Sie herunter und dann trinken Sie unmittelbar darauf drei Flaschen möglichst heißes Selterswasser — aber Mann, wo wollen Sie denn hin?”

Alle Mittel hat „mein Otto” ruhig mit angehört, aber bei dem, was er da jetzt vernimmt, wird ihm schlechter als schlecht. Mit einem Satz springt er empor und stürzt, sich das Taschentuch vor den Mund haltend, hinaus.

Ein schallendes Gelächter folgt ihm und der Kamerad, der das Rezept verordnete, wirft sich in die Brust und sagt ganz stolz: „Ja, ja, das hat schon manchem geholfen, aber heute hilft es zum ersten Male, bevor es eingenommen wurde.”

Nach fünf Minuten kehrt „mein Otto” zurück, er sieht zwar noch sehr blaß und angegriffen aus, aber sonst geht es ihm sehr viel besser, er hat jetzt auch Appetit und läßt sich das Frühstück gut schmecken. Dann aber meint er doch: „Na, so viel weiß ich, heute abend spiele ich keinen Skat.”

„Nehmen Sie sich doch lieber vor, kein Bier zu trinken,” ruft man ihm zu.

Aber der macht ein ganz erstauntes Gesicht: „Ist das denn nicht ein und dasselbe, oder haben Sie im Barackenlager schon einmal eine Skatpartie gesehen, bei der kein Bier getrunken wurde?”

Alle denken darüber nach, um aus dem reichen Schatz ihrer Erfahrungen und Erinnerungen einen derartigen Fall an das Tageslicht zu befördern, und während der allgemeinen Stille holt er einen Brief seiner Gattin hervor, den er zwar vorhin auch schon zu lesen versuchte, den er teilweise auch sogar schon las, aber von dessen Inhalt er trotzdem nicht die leiseste Ahnung hat.

Die Gattin, ach die Teure, schreibt: „Und nicht wahr, mein Otto, eins versprichst Du mir, es ist mir ganz unbegreiflich, wie ich es vergessen konnte, Dich nicht schon früher darum zu bitten. Trink nicht zu viel, mein Otto, es bekommt Dir nicht. Dein Magen ist ohnehin sehr empfindlich und selbst kleinere Quantitäten schaden Dir.”

„Das Quantum von gestern nennt die gute Frau „kleinere Quantitäten”, denkt der Gatte, „wenn die 'ne Ahnung hätte! Nee, lieber nicht.” Dann liest er weiter:

„Nicht wahr, mein Otto, das versprichst Du mir und wenn Du einmal mit Deinem Magen nicht ganz in Ordnung sein solltest, vergiß nicht, Dir die Flanellbinde umzulegen (ich habe sie Dir eingepackt) und stecke sie Dir mit großen Sicherheits­nadeln, die ich ebenfalls in die Handtasche legte, ganz fest um den Leib, damit sie sich nicht verschiebt, dann sollst Du mal sehen, wie schnell alles wieder gut ist.”

Der Gatte liest den Brief nicht zu Ende, sondern steckt ihn in die Tasche. Er ist von der Güte und der Fürsorge seiner Frau derartig gerührt, daß er sich schämt.

Und er gelobt sich, weder heute noch morgen noch übermorgen wieder Skat zu spielen, überhaupt nie wieder.

Aber dann kommt der Sonntag!

Ein Sonntag im Barackenlager! Sonne, stehe nicht still im Tale Gibeon, sondern mach, daß du weiter kommst, denn sonst bekommst du vor Langeweile einen Gähnkrampf, kannst dich dort oben nicht mehr halten und fällst zur Erde nieder.

Vom Morgen bis zum Abend wird die Frage aufgeworfen: Was macht man nur?

Und darauf wissen selbst die klügsten Köpfe nur eine Antwort — „nichts”.

Man sitzt in seinem Zimmer, man sitzt in den Anlagen, man sitzt in und vor dem Kasino, man sitzt bei Tisch, man sitzt bei dem Kaffee, man sitzt und sitzt herum, raucht eine Zigarre nach der anderen, man gähnt, man dößt, man schläft mit wachenden Augen, man sitzt, man ißt, man trinkt und langweilt sich bis zur Erschlaffung.

Die einzige Zerstreuung ist der Spaziergang nach der Generalsbaracke. Die hat jetzt ein erhöhtes Interesse dadurch erhalten, daß Ende der nächsten Wochen der Herr General eintreffen wird, um die Herren, bevor sie zu ihren Regimentern reisen, um dort Dienst zu tun, zu besichtigen. Dann werden sich die Pforten des Märchenschlosses eröffnen. Jetzt sind sie noch fest verschlossen, welche Schätze mögen sich nur hinter ihnen verbergen.

Lediglich aus Langeweile möchte man zu gerne einmal über die Schwelle treten, aber das darf nicht sein. So besieht man sie sich von außen, man lagert sich ihr gegenüber auf dem Rasenplatz und aalt sich dort eine Stunde nach der anderen. Und wenn es dann mit Gottes Hilfe nach endlosen Stunden, allen Erwartungen entgegen, zum Zeichen, daß auch dieser Tag ein Ende hat — wenn es endlich Abend geworden ist, dann herrscht grenzenloser Jubel und hellste Begeisterung. Alle sind in der übermütigsten Stimmung, allen ist zu Mute, als müßten sie, um ihrer Freude Ausdruck zu geben, irgend einen dummen Streich begehen. Aber dazu fehlt es an jeder Gelegenheit, so greifen sie denn zu den Karten, um einen Jubelskat zu dreschen.

Und „mein Otto” drischt mit, der drischt sogar feste.

Nur wer selbst einmal einen Sonntag in einem Barackenlager erlebte, werfe den ersten Stein auf ihn, weil er sich selbst und seinem Gelöbnis nicht treu blieb. Selbst ein Mensch, der in der tödlichen Langeweile des Sonntags im Barackenlager, lediglich um eine Beschäftigung oder eine kleine Zerstreuung zu haben, einen Menschen ermordete, müßte von den Richtern freigesprochen werden.

„Mein Otto” spielt Skat und trinkt dazu Bier, sogar viel Bier. Aber um nicht in seinen alten Fehler zu verfallen, trägt er den Mahnbrief seiner Gattin beständig in der Rocktasche. Bisher hat er seine Schuldigkeit getan, aber heute darf er es nicht, denn das Ende dieses Tages muß gefeiert werden.

Aber vergessen kann er den Brief nicht, ganz unwillkürlich fühlt er sogar von Zeit zu Zeit mit den Händen nach ihm hin und das geniert ihn. Er kommt nicht in Stimmung. Da faßt er einen männlichen Entschluß. Er holt den Brief hervor und zerreißt ihn in tausend Fetzen.

Gott sei Dank, nun ist er den lästigen Mahner los und als er jetzt die Karten aufnimmt und einen Grand mit drei Jungs hat, ruft er glückstrahlend der Ordonnanz zu: „Ein Glas Bier, nein gleich zwei, denn mit dem einen bin ich ja doch gleich wieder fertig.”

Und den Treffjungen ausspielend und gleichzeitig einen fast zärtlichen Blick auf die vor ihm stehenden zwei Glas Bier werfend, sagt er gleich darauf: „So meine Herren, jetzt sollen Sie mal was erleben.”

Die erleben auch wirklich was, er verliert sein Spiel, er hat zu lange mit den Karten gefastet, er ist aus der Übung, woraus man von neuem ersieht, daß die Enthaltsamkeit nicht immer eine Tugend ist, die sich bezahlt macht. Im Gegenteil, manchmal kommt sie sehr teuer zu stehen, denn als die Skatpartie ihr Ende erreicht, hat er mehr als 30 Mark verloren und die drei Trostrunden, die ihm angeboten werden, um den Stand seiner Finanzen zu verbessern, kosten ihm weitere 12 Mark.

Da hat er in des Wortes verwegenster Bedeutung mehr als genug und von neuem schwört er sich: „Nie wieder, nie.”

Am nächsten Morgen erscheint der Dienst allen in der Erinnerung an die Schrecken des gestrigen Tages wie ein Geschenk des Himmels und im ewigen Einerlei des Dienstes und des Kasinolebens gehen die Tage dahin, bis es dann plötzlich heißt, morgen kommt der Herr General.

Man hat das nicht nur lange gewußt, sondern seit einigen Tagen auch schon gesehen, denn in der Generalsbaracke herrscht Großreine­machen und es ist allen eine willkommene Abwechslung, diesem Reinemachen zuzusehen.

Wieder lagern alle auf dem Rasenplatz vor dem Märchenschloß und zum ersten Mal sehen sie nun mit eigenen Augen die Herrlichkeiten, von denen sie träumten, aber in Wirklichkeit sind die ganz anders, als ihre Phantasie es ihnen vormachte. Im Verhältnis zu der Einrichtung der eigenen Baracke sind die Möbel bis zu einem gewissen Grade elegant, aber wenn man sie mit den Sachen vergleicht, die man zu Hause in seinen eigenen vier Wänden hat, dann sind sie doch mehr als einfach. Und viele gestehen sich offen ein: Da hast du es selbst viel besser, auch wenn du kein General bist, der zur Besichtigung kommt.

Alle sind enttäuscht. Märchenschlösser enttäuschen immer, aber dem Großreine­machen sehen Sie trotzdem weiter zu, denn wenn man gar keine Abwechslung hat, ist selbst die kleinste willkommen.

Endlich ist das Reinemachen beendet, der Herr General kann kommen, und am Vorabend der Besichtigung trifft er ein, um sich sofort zur Ruhe zu begeben.

Mit dem Gewehr unter dem Arm geht ein Doppelposten vor der Baracke auf und ab. Der Schlaf des hohen Vorgesetzten ist heilig und darf schon im Interesse der Untergebenen, die unter der schlecht verbrachten Nacht eines hohen Herrn zu leiden haben, nicht gestört werden. Die Posten haben strengen Befehl, niemanden näher, als bis auf eine genau angegebene Entfernung heranzulassen. Der Herr General ist müde und will schlafen.

Aber als er am nächsten Morgen zur Besichtigung erscheint, sieht er müde und abgespannt aus und die Herren hören, wie er mit scheltender Stimme zu dem Lager­kommandanten sagt: „Die verdammten Mäuse haben mich die ganze Nacht hindurh nicht einen Augenblick schlafen lassen, das wird ja von Jahr zu Jahr schlimmer. So viel weiß ich, in die Baracke gehe ich in meinem Leben nicht wieder. Reservieren Sie mir bei meinem nächsten Besuch einen anderen Raum, ganz einerlei, welchen, meinetwegen eine leere Arrestzelle.”

Die Generalsbaracke ein Mäuseturm! Mit Donnergepolter fällt der letzte Rest des Märchen­schlosses in ein Nichts zusammen. Für einen Augenblick erleben alle eine große Enttäuschung, dann aber beschäftigen sie sich wieder mit ihrer eigenen Person. Der Herr General hat nicht geschlafen, wie wird da die Besichtigung ausfallen?

Der hohe Herr ist am Anfang in keiner allzu rosigen Stimmung, das merkt man ihm genau an, aber je länger die Besichtigung dauert, desto mehr verbessert sich seine Laune und als es dann zum Schluß der Kritik kommt, hält er mit seiner wärmsten Anerkennung nicht zurück. Alle bekommen ein hohes Lob zu hören und der Herr General gibt nicht nur der Hoffnung, sondern seiner festen Überzeugung Ausdruck, daß die Herren der Reserve, wenn sie morgen zu ihren Regimentern fahren, dort ihren Platz auf das allerbeste ausfüllen werden.

Das Lob macht alle stolz und glücklich, denn man braucht kein Streber zu sein, um lieber Lob als Tadel zu hören. Aber in die Freude mischt sich gleich ein Schmerz. Die Kritik ist der Anfang vom Ende, morgen geht es fort von hier, morgen heißt es scheiden. Der Abschied von dem Barackenlager fält nicht schwer, aber es heißt auch von den Kameraden Abschied nehmen. Die Herren, die bisher ein zusammengehöriges Ganzes bildeten, verteilen sich nun auf die verschiedenen Regimenter des Armeekorps und wenn naturgemäß auch einige Herren zusammen bei ein und demselben Regiment stehen, kann doch nur ein Zufall sie alle wieder einmal im Laufe des Jahres zusammenführen, und man hat sich in der Zeit, die man hier ganz aufeinander angewiesen war, so aneinander gewöhnt, daß man sich gegenseitig vermissen wird.

Aber an das Abschiednehmen zu denken, ist morgen früh noch Zeit genug, heute heißt es lustig sein und am Abend vereinigen sich alle im Kasino zu dem Abschieds­liebesmahl. Es ist genau dieselbe Tischgesellschaft wie immer, die Herren sitzen in derselben Reihenfolge wie sonst, es gibt hier im Lager keine Musik, keine Blumen und nichts, was irgendwie einen feierlichen Eindruck machen könnte, und doch erscheint dieses Mahl allen ganz anders, als die sonstigen Mittagessen. Das macht lediglich die Einbildung und die Stimmung, in der sich die Herren befinden.

Heute werden bei Tisch einige offizielle Toaste gewechselt und nachdem der offizielle Teil des Programms erledigt ist, geht es an das Trinken.

Und man trinkt und trinkt, weil es so gut schmeckt und weil es so heiß ist und weil es alles in allem doch sehr schön im Lager war und weil es nun morgen fortgeht und weil man nicht weiß, wann man sich wiedersieht, und weil kein Mensch sagen kann, wie lange man noch lebt und weil es doch unverantwortlich wäre, wenn man sich in seiner Todesstunde sagen müßte: „Du hast die Gelegenheit, dir noch einmal im Barackenlager ganz gehörig die Nase zu begießen, unbenutzt vorübergehen lassen.

Der Fall darf nicht eintreten, denn die Selbstvorwürfe sind die schlimmsten.

Man trinkt und trinkt, man trinkt auf die Kameradschaft, auf das gegenseitige Wohlergehen und auf das eigene, man trinkt auf alles mögliche und plötzlich schlägt ein Kamerad an sein Glas, um eine Rede vom Stapel zu lassen. Er weiß selbst am besten, daß er schon etwas reichlich getrunken hat, und er amüsiert sich selbst am meisten darüber, daß er einen Schwips hat: „Aber, meine Herren,” entschuldigt er sich, „wem der Magen voll ist, dem fließt die Rede über die Zunge und ich bin voll und wenn ich voll bin, da muß ich reden, das ist mir angeboren und schon wenn ich als Kind zu viel Milch getrunken hatte, hielt ich lange Reden, aber natürlich nur im stillen, denn reden konnte ich damals noch nicht und darum, meine Herren: Singe, wem Gesang gegeben, aber ich kann nicht singen, ich habe von jeher nur einen Sington in meiner Kehle gehabt und als ich meine Stimme brach, da brach auch der Ton mitten durch, kaput, ganz kaput. Er ist überhaupt garnicht mehr da, wollen Sie mal hören?”

Kein Mensch hatte bisher auf den Unsinn geachtet, den der Kamerad da redet, alle werden erst wieder auf ihn aufmerksam, als der Redner plötzlich einen wahrhaft grausigen Ton von sich gibt. Von allen Seiten ertönen Protestruf, alle halten sich die Ohren zu, aber der Kamerad läßt sich nicht beirren, sondern blickt ganz stolz um sich: „Habe ich es nicht im Voraus gesagt, daß ich keine Singstimme habe? Aber um nun endlich auf den Zweck meiner Rede zu kommen — meine Herren, haben Sie eine Ahnung, wem die gilt? Nein, die haben Sie nicht und darum will ich Ihnen sagen, wen ich feiern will: Die Sonne, aber nicht die Sonne, die uns täglich auf den Schädel brannte und uns den Buckel versengte, sondern die andere Sonne, die aber nicht nur eigentlich, sondern wirklich eine doppelte Sonne war, die uns allen aus der Ferne leuchtete, ich meine den doppelten Sonnenblick, der unser Herz und unsere Sinne erfreute, wenn wir durch den Sand dahinzogen, wie das Kamel durch die Wüste Sahara. Meine Herren, wissen Sie nun, wen ich meine? Haben Sie 'ne Ahnung? Nein, Sie haben keine, weil Sie kein Herz in der Brust haben, aber ich habe eins und darum gilt mein Hoch den beiden jungen Barackenmädeln, in die wir alle einmal verliebt waren und es zum Teil wohl heute noch sind. Deshalb meine ich, daß wir den beiden jungen Damen ein Huldigungs­telegramm —”

Aber weiter kommt er nicht, die neben ihm sitzenden Kameraden ziehen ihn mit Gewalt auf seinen Stuhl hernieder und reden ernsthaft auf ihn ein. Der ist aber von seiner fixen Idee nicht abzubringen und auch als man vom Tisch aufgestanden ist und in zwanglosen Gruppen herumsteht, läuft er beständig von einem zum anderen und bemüht sich, Unter­schriften für sein Huldigungs­telegramm zu bekommen. Endlich gibt er es auf, aber er ist den Anderen böse, weil sie kein Herz in der Brust haben. Schmollend zieht er sich in einen bequemen Lehnstuhl zurück, läßt sich eine Flasche Sekt bringen und leert ein Glas nach dem anderen auf das Wohl der Barackenmädel, bis das Glas schließlich seinen Händen entsinkt und er in einen tiefen Schlaf verfällt. Glücklicherweise schnarcht er nicht, so werden die Anderen durch ihn nicht gestört, und die trinken ruhig weiter. Jeder hat schon zu viel, das wissen sie ganz genau, aber genug haben sie noch lange nicht. Es ist ja erst zwölf Uhr und der Zug geht erst um zehn Uhr, das sind, wie ein Kamerad mit vieler Mühe ausrechnet, noch beinahe 72 Stunden und wer wird denn schon um zwölf mit den Hühnern zu Bett gehen? Und darum und deshalb: „Ordonnanz, noch 'ne Flasche Sekt.”

Man trinkt weiter und weiter, aber nach und nach drückt sich doch der eine und der andere in der richtigen Selbsterkenntnis: So, nun ist es nicht nur genug, sondern mehr als genug.

Auch „mein Otto” macht sich auf den Nachhauseweg. Die Gattin, ach die Teure, ist ihm plötzlich wieder eingefallen, zwar etwas unklar und verschwommen, sodaß er sich im Augenblick auf ihr Äußeres nicht mehr ganz besinnen kann. Ist sie groß oder klein, dunkel oder dick oder dünn? Aber das ist ja ganz nebensächlich. Plötzlich glaubt er ihre Stimme zu hören: „Mein Otto, trink nicht zu viel.”

„Wenn du mir den Rat vor drei Stunden gegeben hättest, wäre es besser gewesen,” schilt er im stillen die Gattin, dann aber befolgt er doch ihren Rat.

Als er das Kasino verlassen hat, trifft er unterwegs einen Kameraden. Der steht an einen Laternenpfahl gelehnt und wenn die Petroleumlampe auch nicht brennt, so versucht er dennoch bei dem Schein der Laterne etwas zu lesen. Neugierig tritt er mit etwas sehr unsicheren Schritten näher und erkennt in dem anderen den Kameraden Martens, den Mann mit dem künstlichen Gedächtnis und ganz erstaunt fragt er: „Nanu, was machen Sie denn hier?”

Der will sich totlachen: „Was ich hier mache? Seit einer halben Stunde warte ich auf einen Menschen, der mir das hier vorlesen kann — geschrieben steht da was, aber was? Können Sie noch lesen?”

Und ohne die Antwort des Anderen abzuwarten, reic ht er ihm das Blechschild, das er beständig in seinem Rocke bei sich trägt, damit er seine Wohnung nicht wieder vergißt.

Der Andere nimmt das Schild zur Hand, dann sagt er: „Da steht ja gar nichts.”

Einen Augenblick ist Martens sprachlos, dann aber fängt er an zu schelten: „So 'ne Gemeinheit, da hat mir das einer aus Niedertracht ausgewischt, damit ich nicht nach Hause finden kann, und dabei hat der Schreiber mir geschworen, die Farbe ginge nie wieder ab. Na, den Kerl verklage ich wegen Meineid, den bringe ich ins Zuchthaus und wenn ich den Kameraden erwischen, der mir den Streich spielte, den bringe ich um.” Wieder steht er einen Augenblick nachdenklich da, dann sagt er plötzlich: „Jetzt weiß ich auch, wer die Schrift ausgewischt hat, das haben Sie getan, Sie ganz allein, denn wenn ich auch nicht mehr lesen kann, drauf gestanden hat vorhin noch was, das habe ich ganz deutlich gesehen, das habe ich sogar doppelt gesehen, gestanden hat da vorhin noch was, Sie haben es ausgewischt.”

Aber der Andere hatte es wirklich nicht ausgewischt, sondern er hält nur die unbemalte Seite des Schildes vor seine Augen und als er das Schild nun umwendet, ist die Schrift wieder da.

„Na, habe ich es nicht gesagt,” ruft Martens freudestrahlend, „gestanden hat da vorhin etwas und es ist nur gut, daß Sie das wieder hingemalt haben. Nun lesen Sie mir das mal vor.”

Und wenn es ihm auch nicht ganz leicht wird, so liest der Andere: „Baracke 18 Zimmer 2. Links — zweite rechts — dritte links.”

Aufmerksam hört Martens zu, dann fragt er nach einer langen Pause: „Sagen Sie mal, können Sie mir nicht sagen wo links ist?”

Er überlegt eine ganze Weile, dann meint er: „Nee, so genau weiß ich hier im Lager auch nicht Bescheid, ich wohne gradeaus.”

Gleich darauf erscheint ein Kamerad, der verhältnismäßig noch nüchtern ist, der erbarmt sich des guten Martens und bringt ihn nach Hause, ja noch mehr, er bringt ihn sogar zu Bett, aber als er eben das Zimmer verlassen hat, hört er den Kameraden laut um Hilfe rufen.

Von Furcht befallen, daß dem plötzlich ein Unglück zugestoßen ist, eilt er mit schnellen Schritten zurück und reißt die Tür auf: „Um Gottes Willen, Martens, was fehlt Ihnen denn?”

Der gibt zunächst gar keine Antwort, sondern klammert sich mit beiden Händen an die Bettpfosten fest, dann aber sagt er mit mehr als vorwurfsvoller Stimme: „Sie haben doch versprochen, mich zu Bett zu bringen.”

„Das habe ich doch auch getan,” verteidigt sich der Kamerad.

Da richtet sich Martens halb auf, sieht den Anderen ganz entsetzt an und sagt mit lallender Stimme: „Das hier soll ein Bett sein? Wissen Sie, was es ist? Ein Schiffskarussel ist es. Das verfluchte Ding dreht sich wie verrückt und nirgend 'ne Haltestelle. Halten Sie es doch mal fest, damit man wenigstens aussteigen kann.”

Aber das Bett dreht sich weiter und weiter und der arme Martens dreht sich mit, bis er plötzlich in weitem Bogen aus dem Bett fliegt.

Als er am nächsten Morgen auf dem Fußboden erwacht, hat er schwer Kopfweh, aber wenn der Kater auch noch so groß ist, schön war es doch.


Fußnoten:

(1) Zur Datierung dieses Textes:
Offiziell wurde der geographische Nordpol erstmals von den US-amerikanischen Forschern Robert Edwin Peary und Matthew Henson sowie den Inuit Sigloo, Eghingwah, Ooqueah und deren Anführer Uutaaq am 6. April 1909 erreicht. (de.wikipedia.org/wiki/Nordpol) (Zurück)

(2) Wer selbst Skatspieler ist oder war, weiß, daß es hier heißen muß: „der nicht von unehelichen Eltern war.” Der Setzer war offensichtlich kein Skatspieler.(Zurück)


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