Als ich neulich zum ersten Male in meinem Leben in Kiel war, mußte ich die Erfahrung machen, daß man dort nicht wie in anderen Städten über Sprossen stolpert, sondern über Sprotten, die milliardenweise geräuchert und zehnpfennigweise verkauft werden, indem jeder Kieler jeglichen Geschlechts und jeglichen Alters jeden Tag für zehn Pfennig Sprotten verzehrt, und nur, wenn er über ein großes Vermögen verfügt, die Sprotten gleich kistenweise kauft, die er aber dann nicht selber ißt, sondern einem Freunde in die Provinz schickt, damit der sie ißt, denn was sollte mit den Kieler Sprotten werden, wenn sie nicht verzehrt würden ? Und abgesehen von diesen Räuchereien stolpert man über Matrosen, die meistens auch stolpern, teils weil sie dazu eine innere Veranlassung haben, teils weil sie infolge der hohen See, auf der sie schwanken, wenn sie auf See schwanken, auch an Land schwanken. Sodaß man nie bei einem Matrosen weiß, schwankt er, weil er schwankt, oder schwankt er nur, weil er schwankt ? Was sich anhört, als wäre es dasselbe, und was doch einen großen Unterschied in sich trägt.
Kiel ist eine schöne Stadt, besonders wenn man nicht in Kiel ist, sondern draußen in Düsternbrook, und wenn man dann das sieht, was eigentlich Kiel ist, unsere große Flotte, von der unser Kaiser schon gesagt hat, daß sie auf dem Wasser liegt. Und bei Kiel ist soviel Wasser, daß alle Flotten der Welt, leider auch die fremden, im Kielwasser fahren können, und das kommt daher, weil die Verlängerung des Kieler Hafens die Ostsse ist, die sich bekanntlich bis zu ihrem Ende erstreckt, wo sie die Nordsee und dann zum Ozean wird. Auf diesen vielen Wassertropfen, aus denen der Hafen besteht, liegt nun das eigentliche Kiel. Es ist ganz aus Eisen gebaut und hat Panzerdrehtürme und Kanonen, große und kleine, leichte und schwere, und in jedem dieser schwimmenden Häuser wohnen viele Menschen, die man in diesem Falle Matrosen nennt. Das ist das Kiel, das den Fremden interessiert, denn an dem anderen Kiel ist nicht viel daran, obgleich es so dicht daran ist.
Ich habe neulich mal das Wort gelesen: Der große Maler, dessen Name mir im Augenblick nicht momentan ist, wäre auch dann der größte Maler aller Zeiten geworden, wenn er gar nicht geboren wäre. Und so sage ich: Kiel wäre auch Kiel geworden, wenn es gar kein Kiel, sondern nur seinen Hafen hätte, und wenn die Häuser gar nicht existierten. Aber sie existieren nun einmal, und die Menschen, die in ihnen wohnen, fühlen sich sehr wohl und glücklich, denn Kiel versteht sich zu amüsieren, dafür sorgen schon die vielen Leutnants. Die beiden größten Sehenswürdigkeiten der Stadt sind der Kieler Umschlag und die Kieler Woche, die ich zwar Beide nicht sah, die ich mir aber, um meine Bildung zu bereichern, habe beschreiben lassen. Was nun zunächst den Umschlag betrifft, so hat er mit dem, was man eben einen Umschlag nennt, nicht das geringste zun tun, er ist weder ein Umschlag um den Hals, noch einer um den Magen, obgleich der letztere nach dem Umschlag ganz angebracht wäre, indem nämlich bei dem Umschlag in der Hauptsache getrunken wird. Aber um es kurz zu sagen: der Kieler Umschlag unterscheidet sich von einem Prießnitz-Umschlag, wie schon erwähnt, dadurch, daß er gar kein Umschlag ist, sondern eine Art Pferdemarkt, auf dem zwar keine Pferde gehandelt werden, auf dem aber die Geschäftsleute aus der ganzen Provinz zusammenkommen, neue Geschäfte abschließen, ihre Rechnungen begleichen und sich dann amüsieren.
Über die Kieler Woche brauche ich mich wohl nicht erst weiter zu äußern; denn erstens weiß ich selber nicht viel mehr darüber, als Sie selber wissen, und nicht alles, was ich weiß, ist für Sie geeignet, womit ich keinen Zweifel in Ihre der meinigen beinahe gleichstehende geistige Beschaffenheit setzen will, sondern womit ich meine, daß man nicht alles sagen kann, was man sagen möchte, wenn man es sagen könnte. Denn das, was ich verschweigen muß, spielt hinüber auf das Gebiet der höheren Politik, indem bei der Kieler Woche auch in dieser Branche viel gearbeitet wird, was ja schon daraus hervorgeht, daß außer unserem Kaiser auch jährlich der Fürst von Monte Carlo dort ist, der dann immer gerade aus dem Norden zurückkommt, wo jetzt die Krise ist, indem sie einen König abgesetzt haben, ohne dafür einen anderen zu haben, den sie noch suchen und den sie vielleicht im Fürsten von Monaco finden, der dann seine Spielbank an Belgien verkaufen würde, das dann auf Korfu eine Filiale errichtete, was die anderen Mächte nicht dulden könnten, und woraus dann leicht ein Weltkrieg entstehen könnte. Welche wenigen vertraulichen Äußerungen Ihnen die politische Bedeutung der Kieler Woche klar genug machen können, ganz abgesehen davon, daß stets die reichen Amerikaner und Engländer kommen, um bei uns ihre Dollars wieder loszuwerden, die sie von uns dadurch verdienen, daß sie keine Handelsverträge machen.
Um aber von den Regionen der höheren Politik wieder in die Holstenstraße zurückzukommen, wie man die Hauptstraße in Kiel deshalb nennt, weil sich dort das große Restaurant von Holst befindet, oder, wie die anderen meinen, weil die Holsten, was soviel wie Holsteiner bedeutet, einmal durch diese Straße gegangen sind, also ich meine, um wieder auf die Erde zurückzukommen, so hat Kiel sehr viele schöne Museen, die der Einheimische nur dann besucht, wenn er drurchreisenden Freunden seine Altertümer zeigen muß. Die größte Sehenswürdigkeit in Kiel ist natürlich der Prinz Heinrich, der allerdings meistens nicht da ist, weil er entweder zur See oder sonstwohin fährt, aber der, wenn er nicht fährt, nicht nur nicht da ist, sondern sich auch viel zeigt und ein großes Haus macht, was man dem verhältnismäßig kleinen Schloß gar nicht ansieht.
Kiel ist übrigens eine holsteinische Stadt, nur wenn es Besuch hat, ist es eine sogenannte internationale Stadt, und Kiel hat immer Besuch von fremden Flotten, und wenn die nicht freiwillig kommen, dann werden sie eingeladen. Gäste zu haben, kostet aber viel Geld, und so klagt denn in Kiel alle Welt über die hohen Preise, und zwar nicht nur über die Schweinepreise, sondern auch über die hohe Mitgift, die dort jede Tochter verlangt, wenn sie einen Marine-Offizier heiratet. Und jede Kielerin will einen Marine-Offizier heiraten.
Was ich sage, ist wahr, und was wahr ist, ist die Wahrheit. Das sage ich, der ehemalige Sergeant Krause, und alles, was ich sage, ist eitel Gold.
In No. 8 von "Nimm mich mit" spricht Krause über Nürnberg.