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Ein buntes Blatt für Alle und Alles
No. 44 vom 24. Juli 1905


Krause in Zivil

Herausgegeben von Freiherrn von Schlicht

IX.
Krause über den Geldpostboten.

Indem ich meinen Antrag auf Anstellung bei der Eisenbahn zurückgezogen habe, nachdem mir in schonender Weise beigebracht worden ist, daß wegen Überfüllung bei der Bahn in den nächsten Jahren keine Aussicht auf Anstellung vorhanden ist, und indem ich ferner neulich mal einen früheren Eisenbahner getroffen habe, der zwar im Vollbesitz seiner vollen Pension, aber dagegen nur im teilweisen Besitz seines verkrüppelten geistigen Denkvermögens war, indem dieser das, was er früher hatte, was er aber jetzt nicht mehr hat, dadurch verlor, daß er in unermüdlichem Diensteifer fünfundzwanzig Jahre hindurch dieselbe Strecke gefahren ist und somit keine andere Gegend unseres schönen Vaterlandes kennen lernte, indem er im Gegensatz zu anderen Menschen seinen alljährlichen Urlaub nicht dazu benutzte, um zu reisen, sondern um zu Hause zu bleiben, weil er sonst ja nie zu Hause war, sondern immer reiste – also ich meine, aus diesen und aus tausend anderen Gründen habe ich mich entschlossen, wegen der mir angetanen ablehnenden Haltung von meiner Bewerbung zurückzutreten, und habe die Absicht, Geldbriefträger zu werden.

Ich bemerke das vergnügte und frohe Lächeln, das allein schon dieses Wort in Ihnen hervorruft, und ich hoffe und wünsche, daß es mir später oft vergönnt sein möge, die Treppen zu Ihnen hinaufzusteigen und Ihnen große Summen auszuzahlen; denn darüber, meine Herren, müssen wir uns doch einig werden, was für die Kinder der Weihnachtsmann, das ist für uns Erwachsene der Geldpostbote. Das Wort allein schließt schon einen geheimnisvollen Zauber in sich ein. Alles, was das Kinderherz wochenlang bewegt und wie es sich wochenlang den Kopf zerbricht, was der Weihnachtsmann wohl bringt, das spielt sich in unseren erwachsenen Gehirnen innerhalb weniger Sekunden ab, die der Beamte gebraucht, um aus seiner geheimnisvollen Mappe die Postanweisung hervorzuholen. Der Geldpostbote ist gewissermaßen der Mann, der unsere Zukunft in der Tasche hat, denn je nach dem, was er uns bringt, gestalten sich für uns die kommenden Tage. Mit einer Ausdauer, die wir sonst nie beweisen würden, können wir stundenlang zusehen, wie er uns ein Geldstück, einen Hundertmarkschein nach dem anderen auf den Tisch des Hauses zählt, und selbst der eingefleischteste Sozialdemokrat, der da nicht will, daß ein Mensch auch nur eine Sekunde länger als acht Stunden arbeitet, würde die Einführung der zwölfstündigen Arbeitszeit segnen, wenn der Geldpostbote so lange gebrauchte, um ihm einen Lotteriegewinn oder so etwas Ähnliches auszuzahlen.

Der Geldpostbote ist der einzige Mensch, der durch seinen Beruf und durch seine Tätigkeit Anderen nur frohe Stunden bereitet, keinem Anderen wird beim Scheiden so aus tiefstem Herzen zugerufen: "Kommen Sie bald wieder!" Er weiß, daß das keine leere Redensart ist, und es entspricht auch der Wahrheit, wenn er sagt: "Ich komme wieder, sobald ich kann." Das sagt zwar jeder Besucher, der uns verläßt, ohne sich etwas Ernstliches dabei zu denken, aber der Geldbriefträger kommt wirklich, wenn er kann, und er kann, wenn er kommt, ja, er muß sogar, wenn er kann, und kann, wenn er muß, was ja eigentlich alles dasselbe ist, was aber doch immerhin einige nicht unbedeutende sprachliche Finessen enthält.

Von allem anderen ganz abgesehen, ist der Geldpostbote der einzige Mensch, der wirklich unentbehrlich ist. Gäbe es keinen Schuster, dann gingen wir barfuß, gäbe es keine Eisenbahnbeamten, dann würden wir nicht reisen, und gäbe es keinen Gerichtsvollzieher, so würden das nur die wnigsten Menschen beklagen, ebenso wie das Verschwinden der Scharfrichter kaum einen Menschen betrüben würde, diejenigen am wenigsten, die er am meisten angeht, weil er die Angewohnheit hat, die Leute, mit denen er in Berührung kommt, selbst wenn sie ein noch so steifes Rückgrat haben, dahin zu bringen, daß sie sich vor ihm beugen und ihm das Haupt in des Wortes verwegenster Bedeutung vor die Füße legen.

Also ich sage, jeder Mensch ist zu entbehren, nur der Geldpostbote nicht. Machen Sie sich das bitte einmal an Ihrem eigenen Leibe klar. Sie sitzen in Ihrem Zimmer und erwarten den Geldpostboten; Sie haben schon eine Zigarre bereit gelegt, mit der Sie das Herz des pflichtgetreuen Beamten erfreuen wollen, aber der Mann kommt nicht, und doch muß er kommen, denn wenn er nicht kommt, kommt er nicht, und wenn er nicht kommt, hat er seinen Beruf verfehlt und sein Dasein hat gar keine Existenzberechtigung. Nun frage ich Sie: "Was tun Sie, wenn der Geldpostbote nicht kommt ?" Sie zucken mit den Achseln, was soviel sagen soll, als: wir wissen es nicht. Ich aber weiß es: Sie warten weiter. Bei jedem Rendezvous gibt man schließlich das Warten auf, und selbst, wenn es sich um das schönste Mädchen der Welt handelt, wird man des Wartens schließlich überdrüssig und sagt sich: wenn nicht, dann nicht, und wer ein Philosoph ist, setzt hinzu: wer weiß, wozu es gut ist. Der einzige Mensch, auf den man zu warten nicht müde wird, ist der Geldpostbote. Auf den warten Sie nicht nur stunden-, sondern tagelang. Sie gehen gar nicht zur Haustür heraus, ja, Sie wagen es sogar kaum, Ihr Zimmer zu verlassen, damit Sie auch gleich da sind, wenn er kommt, und damit er nicht gezwungen ist, auf die Postanweisung den Vermerk zu machen: nicht zu Hause angetroffen. Sie warten auf ihn Tag und Nacht, aber was dann, wenn er selbst dann nicht kommt ? Sie rufen mir als Antwort zu: "Wir warten dann weiter." Sehr schön, aber was dann, wenn er auch dann nicht kommt ? Sie sagen, einmal muß er doch kommen, wobei ich mir die Bemerkung erlaube, daß ich mir diese Bemerkung bereits selbst erlaubte.

Aber, meine Herren, ich frage Sie, was dann, wenn er trotz alledem nicht kommt ? Wenn er überhaupt nicht kommt ? Weder heute, noch morgen, noch in einem Jahr ? Was dann ? Sie wissen es nicht, aber ich will es Ihnen sagen: "Wenn der Mann trotz alledem nicht kommt, dann bleibt er eben fort." Und wenn er fortbleibt, dann ist es aus mit uns, dann erleiden wir den finanziellen Tod, der viel schlimmer ist als der leibliche, denn erstens merken wir von dem leiblichen Tod sehr häufig gar nichts, und zweitens ist es mit dem leiblichen Tod vollständig aus, während es mit dem finanziellen Tod erst anfängt, indem wir dann alles erleiden, was man überhaupt nur erleiden kann: Hunger und Durst, und was noch viel schlimmer ist, die Verachtung unserer Mitmenschen, die Verstoßung aus der menschlichen Gesellschaft, die Entkleidung unseres menschlichen Körpers, um es kurz zu sagen: aus der Höhe, aus der wir mit einem mehr oder weniger gefüllten Portemonnaie stolz einherwandelten, stürzen wir hinab in die Versenkung. Wir werden verachtet und verspottet und man weist mit Fingern auf uns. Und auf jemanden mit Fingern zu weisen, ist der Beweis einer schlechtgenossenen Erziehung, aber auf sich selbst mit Fingern weisen zu lassen, ist schimpflich und erniedrigend.

Das sage ich, der ehemalige Sergeant Krause, und alles, was ich sage, ist eitel Gold.



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© Karlheinz Everts