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Titelblatt des Textbuchs

Baron Borken

Offiziersdrama in einem Akt

von

Freiherr von Schlicht

Berlin, 1901
 

Personen:

Baron von Borken, ehemaliger Offizier (Mitte Vierzig)
Baronin von Borken (Anfang Vierzig)
Ernst, Beider Sohn (Neunzehn Jahre)

(Siehe hierzu auch die Erzählung „Abseits vom Wege.”)


Elegant eingerichtetes Wohnzimmer. Im Hintergrunde an der Wand Sopha mit Sophatisch, rechts und links je ein Sessel. Vorn rechts auf der Bühne ein Lehnstuhl. Rechts von dem Sopha eine Thür, die auf den Korridor führt, auf der linken Seite der Bühne eine zweite Thür. Alles Übrige nach näherer Angabe der Regie.
(Rechts und links vom Zuschauer.)
1. Scene.
Der Baron.  Die Baronin.
Baronin. (sitzt auf dem Sopha, mit einer Handarbeit beschäftigt).
Baron. (durch Thür links eintretend) Ist Ernst immer noch nicht wieder da?
Baronin. Nein, noch nicht. Er wollte Besorgungen machen, auch noch einige seiner Freunde aufsuchen, die jetzt mit ihm zusammen das Abitur bestanden haben. Ich glaube, der Eine giebt ein Frühstück.
Baron. Aber heute hätte er doch zu Hause bleiben können, heute, am letzten Tag im Elternhaus und noch dazu an seinem Geburtstag.
Baronin. Ernst soll sich doch heute amüsieren, nicht wir, sei nicht so egoistisch, denk' nicht nur an Dich.
Baron. Wir haben doch nur den einen Jungen.
Baronin. Gottlob, daß wir den wenigstens haben.
Baron. Ja, Gotlob - - - Gottlob! (Geht im Zimmer auf und ab und bleibt dann vor seiner Frau stehen.) Weißt Du wohl, Marie, heute sind es genau achtzehn Jahre.
Baronin. Ja, ja, ich weiß, aber laß die Vergangenheit ruhen - - - warum denkst Du gerade heute daran zurück?
Baron. Als wenn es in den achtzehn Jahren auch nur einen Tag, eine Stunde gegeben hätte, in der ich nicht daran dachte.
Baronin. Armer Mann!
Baron. Ich verdiene Dein Mitleid nicht. Daß Du es mir aber trotzdem gabst, daß Du mich nicht von Dir gewiesen hast, daß Du bei mir bliebst, daß Du mich trotzdem noch liebst und mich trotzdem noch - - - achtest, das habe ich Dir die ganze Zeit gedankt und werde es Dir danken bis an mein Lebensende.
Baronin. Fritz, wie kannst Du nur so sprechen, was wäre wohl aus mir und dem Jungen geworden, wenn Du uns damals verlassen hättest.
Baron. (lange Pause) Trotzdem wäre es vielleicht das Richtigere gewesen.
Baronin. (erschrocken) Fritz, Fritz, sag' auch im Scherz nicht so etwas!
Baron. Ich scherze nicht. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber in der letzten Zeit werde ich den Zweifel nicht los, ob ich damals recht gehandelt habe. Jetzt, wo der Junge hinausgeht in die Welt, da wird er vielleicht doch einmal erfahren, - - - und was dann?
Baronin. Ernst liebt Dich über Alles - - - Du bist sein Abgott, Du bist für ihn der Inbegriff eines Ritters, eines Kavaliers. Selbst wenn er etwas erführe, seine Liebe zu Dir würde dadurch nicht im Geringsten erschüttert werden. Und wer sollte es ihm auch sagen - - -
Baron. (bitter auflachend) Wer? Hast Du es in der Einsamkeit und in der Abgeschlossenheit, in der wir nun schon seit achtzehn Jahren leben, verlernt, die Menschen zu kennen? Die Leute, die darauf ausgehen, uns eine Freude zu machen, kannst Du suchen, wie Diogenes einst mit seiner Laterne überhaupt Menschen suchte - - - aber die anderen, die glücklich sind, wenn sie uns ein Leid zufügen können, die braucht man nicht erst zu suchen, die sind da, überall!
Baronin. Du siehst zu schwarz.
Baron. Gebe Gott, daß Du Recht hast, aber ich glaube nicht daran. Und wenn er es erfährt, wenn er sich dann von mir abwendet - - -
Baronin. Sei ruhig, Fritz, Ernst wird Dich nie verlassen!
Baron. Aber wird sein Glaube anhalten? Ich will Dich nicht an die Familie erinnern, mit der wir vor einigen Jahren zusammen in Paris waren; - während der ersten Tage die Freundlichkeit selbst, aber als dann ein gemeinsamer Bekannter erschien, da kannten sie uns nicht mehr.
Baronin. Was liegt daran - - - ich entbehre diese Menschen nicht.
Baron. Du sprichst so, weil Du ein Engel an Liebe und Nachsicht bist. Aber verlangst Du, daß ich Deinen Worten glaube? Meinst Du, ich hätte es nicht oft genug bemerkt, wie Du zusammenzucktest, wenn die Anderen mich nicht grüßten? Glaubst Du, ich hätte es nicht gesehen, wie auch Du es empfindest, daß Niemand, Niemand zu uns kommt? Ich weiß, es giebt für mein Thun keine Entschuldigung, aber es ist doch mehr als grausam, daß keine Spanne Zeit ausreicht, Geschehenes milde und nachsichtig beurtheilen zu lassen. Kein Mensch ahnt, was ich in diesen achtzehn Jahren gelitten und durchgemacht habe - - - kein Mensch - - - und doch ist vielleicht Alles umsonst. Nur die Kugel allein konnte mich damals rehabilitieren, nur sie konnte mir meine Ehre wiedergeben - - - sie allein kann es auch heute noch.
Baronin. Fritz, Fritz, sprich nicht so.
Baron. Der König ließ keine Gnade walten. Es war vorbei.
Baronin. Fritz, mein armer Fritz!
Baron. (fährt sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er die Gedanken verscheuchen.) Und dann das Schwerste, der Augenblick, wo ich zu Haus die Uniform auszog, wo ich sie ausziehen mußte, weil ich nicht mehr würdig war, sie zu tragen. Mit heißen, leidenschaftlichen Küssen habe ich meinen Küraß bedeckt und habe geweint wie ein Kind, wie ein Kind.
Baronin. (hat sich erhoben und legt ihre Arme um seine Hals.) Wirst Du das nie überwinden?
Baron. Nie - nie. (Plötzlich aufwallend) Frau, Frau, warum kamst Du damals mit dem kleinen Ernst auf dem Arm zu mir in mein Zimmer. Ich war im Begriff, die Waffe gegen mich zu richten, um meine Schuld zu sühnen. Aber als ich den Knaben sah, als ich sein helles Jauchzen hörte, als er die Arme nach mir ausstreckte und mit seinen kleinen Kinderhändchen in meinem Bart zauste, da legte ich mit grenzenloser Liebe zu ihm die Pistole zur Seite. Feigheit war es nicht, nur Liebe zu meinem Kinde und das Pflichtbewußtsein, das plötzlich in mir wach wurde und zu mir sprach: des Knaben wegen mußt Du weiterleben, es ist Deine Pflicht, ihn zu erziehen, ihn zu stählen gegen alle Anfechtungen und Versuchungen, die später an ihn herantreten können. Um die Pflicht, die ich damals freiwillig auf mich nahm, zu erfüllen, habe ich in den langen Jahren Unmenschliches erduldet, seinetwegen habe ich bis zum heutigen Tage das Leben ertragen. Und doch - warum kamst Du damals zu mir!
Baronin. Weil ich Dich liebte, damals genau so wie an dem Tage, an dem ich die Deine ward. Und ich that Recht - meine Hoffnung hat mich nicht getäuscht, es ist doch Alles viel, viel besser geworden, als wir damals dachten.
Baron. Gewiß. Ruhelos wie Ahasver sind wir die ersten zehn Jahre durch die Welt gewandert, dann mußten wir uns ja allerdings hier niederlassen, damit Ernst die Schule besuchen konnte.
Baronin. Thaten wir nicht Recht daran? Mit den Hauslehrern allein hätte Ernst sein Abitur doch nicht so schnell erreicht.
Baron. Es ist doch ein eigenthümlicher Zufall, daß derselbe Tag, der uns Ernst brachte, ihn nun auch wieder nimmt, daß sein Geburtstag der letzte Tag ist, den er im Elternhause verbringt. Morgen verläßt er uns nun, um Mediziner zu werden.
Baronin. Warum ist gerade das Dein lebhafter Wunsch?
Baron. Weil es der einzige Beruf ist, in dem ihm die Vergangenheit seines Vaters kein Hinderniß in den Weg legt. Daß er Offizier wird, ist ja ausgeschlossen, kein Regiment würde ihn, den Sohn eines - Verabschiedeten als Fahnenjunker annehmen, die Schuld der Väter rächt sich wieder an den Kindern. Aber Gottlob hat Ernst ja auch noch nie den Wunsch geäußert, den bunten Rock zu tragen. Jetzt wird es schon schwer fallen, ein anständiges Regiment zu finden, das ihn als Einjährigen nimmt.
Baronin. Vielleicht braucht er gar nicht zu dienen. Es kommen ja so Viele frei, die doch noch kräftiger sind als Ernst.
Baron. Ich hoffe bestimmt, daß er genommen wird. Du weißt ja nicht, wie gut das den jungen Leuten thut, wie das den Körper und die Muskeln stählt, ihr ganzes Auftreten bestimmter und energischer macht. Wie oft denke ich zurück an vergangene Tage. Es geht ja nichts über das Soldatenleben. Nur im Felde da ist der Mann noch etwas werth. Ach, Du schönes, Du göttliches Reiterleben. (Pause.) So entschied ich mich für die Medizin. Dort kann er aus eigener Tüchtigkeit ein ganzer Mann werden, und wenn er sich später einen Namen gemacht hat, wenn die Kranken aus aller Herren Länder zu ihm kommen, um bei ihm Heilung zu finden, dann fragt kein Mensch danach, was sein Vater war, und weshalb er den bunten Rock ausziehen mußte. Dann kann er auch meinen Namen wieder zu Ehren bringen.
Baronin. Er wird Dir stets Freude machen. Wie er bisher Dein Glück war, so wird er fortan Dein Stolz sein.
Baron. Gott gebe es. Und doch - ich muß es einmal sagen, oft fürchte ich für die Zukunft. Ich habe Ernst in den letzten Wochen oft kaum noch erkannt, er war so ganz anders wie sonst, schweigsam und verschlossen, dann aber wieder von einer unnatürlichen Lebhaftigkeit. Irgend etwas lastet schwer auf ihm.
Baronin. Kann Dich das wundern? Er hat in den letzten Wochen sehr, sehr viel gearbeitet, der bevorstehende Abschied vom Elternhaus wirkt auf ihn ein. Er weiß, wie schwer es uns wird, ihn ziehen zu lassen, da will er sich und uns über die Trennung hinweghelfen. Das giebt seinem Wesen etwas Unruhiges, etwas Unstätes, das ist Alles, glaube es mir. Was sollte ihn auch sonst wohl bedrücken.
Baron. Glaubst Du nicht, daß er vielleicht doch etwas weiß?
Baronin. (erschrocken) Aber Fritz, wie kommst Du nur darauf?
Baron. Ich habe ja nicht den Muth, ihn zu fragen, aber oft ist mir, als ginge er mir absichtlich aus dem Wege. Er wendet seinen Blick ab, wenn ich ihn forschend ansehe, und gestern zitterte seine Hand, als er sie in die meine legte. Und da durchfuhr mich plötzlich der Gedanke: wenn er etwas wüßte, wenn er vielleicht von einem seiner Freunde etwas erfahren, wenn er eine Ahnung hätte - - - Ach, dieser Gedanke hat mich nie losgelassen, er verfolgt mich Tag und Nacht, nicht meinetwegen, was liegt an mir? Aber ich denke an Ernst - - - die Pflicht für ihn zu leben, mein Wille und die Nothwendigkeit, die Frucht meiner Erziehung in leuchtender Kraft vor mir zu sehen, das läßt mich ihn belügen. Und wenn er nun doch etwas erführe, wenn das Gebäude, das ich aus schrankenloser Liebe zu ihm aus Lügen aufbaute, doch eines Tages zusammenstürzte - - - aber nein, nein, das darf nicht sein, das nicht, so grausam kann der Himmel mich meine Schuld nicht büßen lassen.
Baronin. Sei ruhig, Fritz, und martere und quäle Dich nicht selbst. (Man hört draußen auf dem Korridor ein lustiges Singen.) Ernst kommt, nimm Dich zusammen. Laß ihn nichts merken. Sei froh und heiter, er hat doch heute seinen Geburtstag.
Baron. (setzt sich auf einen Stuhl und sammelt sich.)

2. Scene.

Baron.  Baronin.  Ernst.
Ernst. (lustig und lebhaft durch die Mittelthür hereintretend) Guten Tag - - - guten Tag! (Begrüßt erst die Mutter, dann den Vater.) Seid nicht böse, daß ich Euch so lange auf mich warten ließ, aber ich konnte bei dem besten Willen nicht eher kommen.
Baron. (gezwungen heiter) Wo hast Du denn nur so lange gesteckt?
Ernst. Bei dem langen Scholten. Kein Mensch hat ja erwartet, daß er das Examen bestehen würde, er selbst am allerwenigsten, er wollte ja eigentlich im letzten Augenblick zurücktreten. Da habe ich ihm zugeredet, sein Heil doch zu versuchen. „Schwein muß der Mensch haben”, sagte ich zu ihm, und er hat ein unmenschliches Schwein gehabt, er wäre sogar „beinahe” vom Mündlichen dispensirt worden.
Baronin. Und das „beinahe” habt Ihr natürlich ordentlich gefeiert.
Ernst. Und wie. Scholten hatte zwei Fässer Bier in seiner Bude aufgelegt, sogar echtes Münchener und sein Alter hat ihm zweihundert Cigarren geschenkt. Ihr hättet mal sehen sollen, wie die da rauchten und tranken.
Baron. Und Du? Hast Du etwa nicht mit gekneipt?
Ernst. Ganz wenig, Papa! Ich habe nur drei Glas Bier getrunken, aber dafür habe ich ordentlich mitgeredet, wir haben das ganze Examen noch einmal durchgesprochen, und dann renommirten die Anderen mit den Geschenken, die sie zur Feier des glücklich bestandenen Abitur bekommen haben. Denk' Dir mal, der Böhme hat sogar eine echtgoldene Uhr mit einer goldenen Kette bekommen, und die Uhr repetirt sogar Minuten.
Baron. Unsinn.
Ernst. Nein, Papa, das ist mein heiliger Ernst.
Baron. (lachend) Ich zweifle doch nicht an Deinen Worten, Ernst. Ich meine, es ist Unsinn, einen jungen Menschen so reich zu beschenken, lediglich weil er seine Pflicht und Schuldigkeit that und ordentlich arbeitete.
Ernst. Siehst Du, Vater, das habe ich den Anderen auch gesagt, als sie mich fragten, was Du mir denn geschenkt hättest. Ich antwortete, ich hätte nichts von Euch bekommen, als einen Kuß.
Baronin. Und was sagten Deine Kameraden dazu?
Ernst. Eigentlich kann ich es nicht wiederholen.
Baron. Na, so schlimm wird es wohl nicht gewesen sein.
Ernst. Sie sagten - - - sie fänden das von Dir furchtbar ruppig.
Baron. (lachend) Hörst Du's, Marie? Wir sind gerichtet.
Ernst. Du hättest mich aber sehen sollen, wie ich da hoch gekommen bin. Sie Alle haben das Wort „ruppig” zurücknehmen müssen, denn auf Dich lasse ich nichts kommen, Papa.
Baron. (umarmt Ernst, der neben ihm steht und drückt ihn zärtlich an sich.) Du bist ein braver Sohn, aber so tragisch hättest Du die Sache nicht zu nehmen brauchen. (Einer plötzlichen Eingebung folgend, gezwungen lachend.) Wenn sie Dir sonst nichts gesagt haben, wenn sie Dir weiter nichts erzählten -
Baron. Aber Fritz, was redest Du denn da?
Ernst. (der seinen Vater groß angesehen hat) Ja, Vater, was sollten sie sonst wohl gesagt haben. Ich aber habe ihnen erklärt, einen solchen Vater, wie Du es bist, gäbe es auf der ganzen Welt nicht wieder.
Baron. (nach einer kleinen Pause) Bist Du wirklich so fest davon überzeugt, daß ich der beste aller Väter bin? Glaubst Du, daß ich nicht ebenso wie alle anderen Menschen meine Fehler und Schwächen habe?
Ernst. (lustig auflachend) Du, Vater? Das glaubst Du ja selbst nicht. Einen Fehler aber hast Du doch.
Baron. Und worin besteht der?
Ernst. Daß Du mich so schrecklich lieb hast, daß Du mich so verzogst, mich soviel Gutes und Schönes lehrtest und mir meine Jugend so schön machtest, daß ich nun gar nicht weiß, wie es werden soll, wenn ich nicht mehr bei Dir bin, nicht mehr bei Dir und nicht mehr bei der Mutter. (Er geht auf die Mutter zu und küßt sie.) Ach, Mutter, es ist doch eigentlich sehr, sehr traurig, daß ich schon erwachsen bin. Ich wollte, ich wäre noch ein kleines Kind und ließe mir von Dir noch Märchen erzählen, weißt Du, keine Mutter kann so hübsche Geschichten erzählen, wie Du. Versprich mir, daß Du mir auch heute noch eine erzählen willst, die allerletzte. Und dann will ich zu Deinen Füßen sitzen, wie damals, als ich noch ein Knabe war. Aber weißt Du, traurig muß die Geschichte sein, so traurig, daß wir Beide dabei weinen, und dann mußt Du mir die Thränen fortküssen, wie früher - - - versprichst Du mir das, Mutter?
Baronin. (küßt ihn) Du großes Kind, wenn Dich das glücklich macht, warum nicht.
Baron. Darf auch ich dabei sein?
Ernst. Nein, Vater, Du nicht. Wir schickten Dich ja auch früher immer fort, vor Dir haben wir uns immer geschämt, wenn wir traurig waren.
Baron. Ja, ja, ich weiß, so will ich Euch auch nachher nicht stören, sondern Euch allein lassen. Aber wenn die Mutter Dir dann das Märchen erzählt hat, dann kommst Du zu mir in mein Zimmer, Ernst. Auch ich möchte noch einen Augenblick allein mit Dir sprechen, ehe Du nun hinaus gehst in die Welt, um hoffentlich ein großer, tüchtiger Mann zu werden. Nicht wahr, Ernst?
Ernst. (schweigt.)
Baron. (betroffen) Nun, Du schweigst? - - -
Baronin. Sprich jetzt doch nicht vom Abschiednehmen, Fritz, Du siehst ja, wie schwer es Ernst wird, daran zu denken.
Baron. (sich in einen Lehnstuhl neben dem Sopha setzend) Komm her zu mir, mein Sohn. Ich sagte es vorhin schon zu Deiner Mutter - - - ich habe es Dir angemerkt seit längerer Zeit, daß Dich irgend etwas bedrückt, Du hast vergebens versucht, mich zu täuschen, und auch heute gelingt es Dir nicht. Sag', was quält Dich?
Ernst. (schweigt.)
Baronin. (legt ihre Handarbeit, mit der sie bis jetzt beschäftigt war, bei Seite, und wendet ihr ganzes Interesse dem Gespräch zu.)
Baron. Nun, Ernst, bin ich nicht mehr Dein Freund, Dein bester Freund? Hast Du den Glauben, das Vertrauen zu mir verloren?
Ernst. (lebhaft) Nein, Vater, nein, wie könnte ich das wohl je thun?
Baron. So sprich, was hast Du? Hat die Liebe von Deinem jungen Herzen Besitz genommen?
Ernst. (schüttelt den Kopf.)
Baron. Hast Du Schulden gemacht? Nenne mir die Summe, die Du brauchst, und ich will Dir das Geld geben.
Ernst. Nein, Vater, nein, es ist nichts von alledem, was du vermuthest. Es ist etwas viel, viel größeres, ich fürchte mich, es auszusprechen, weil ich weiß, daß es Euch sehr traurig machen wird, Dich und die Mutter.
Baronin. (erschrocken) Ernst, nun bitte auch ich, daß Du sprichst. So schlimm kann es ja nicht sein, was Du uns verschweigst, etwas Schlimmes wird es doch nicht sein?
Baron. (zuckt zusammen.)
Ernst. (den Kopf stolz emporhebend) Etwas Schlimmes? Wie könnte ich das wohl als Euer Kind - als Dein Sohn, Vater? Aber wenn Ihr es denn wissen wollt, wenn es mir doch nicht gelang, Euch zu täuschen, dann muß ich es Euch ja sagen. Vater - Mutter - seid nicht böse - ich kann nicht Medizin studiren!
Baronin. (erschrocken) Ernst!
Baron. Was sagst Du?
Ernst. Vater, sei mir nicht bös. Ich weiß, seit vielen Jahren ist es Dein Lieblingswunsch gewesen, und aus grenzenloser Liebe zu Dir willigte ich ein, den Beruf zu ergreifen, glaubte auch, Neigung zu dem Studium in mir zu fühlen. Aber von Tag zu Tag sah ich mehr ein, daß ich mich täuschte. Trotzdem, wenn Du es befiehlst, gehorche ich, aber ich bitte, ich beschwöre Dich, zwinge mich nicht, einen Beruf zu ergreifen, in dem ich, das fühle ich, nie etwas leisten werde.
Baron. Und das sagst Du mir Alles erst heute? heute, wo der Abschied vor der Thür steht, wo alle Vorbereitungen für Dein Studium schon getroffen sind?
Baronin. Ernst, wie konntest Du uns das so lange verschweigen!
Ernst. Weil ich es nicht über mein Herz brachte, Euch zu betrüben, auch glaubte ich, daß es mir vielleicht doch noch gelingen würde, meine Abneigung zu überwinden. Aber ich sehe es nur zu deutlich: ich kann nicht Mediziner werden!
Baron. Du siehst mich auf das Äußerste erschrocken. ich hatte für Deine Zukunft große Pläne, große Hoffnungen, nun sinken sie in ein Nichts zusammen. Und doch, wenn es nicht anders sein kann, ich habe Dich zu lieb, um Dich Dein Lebenlang unglücklich zu machen.
Ernst. (springt auf und will seinen Vater umarmen.) Vater!
Baron. (ihn freundlich zurückweisend) Noch eins. Worauf beruht Deine Abneigung gegen das Studium der Medizin? Ist es nur Gefühlssache oder hast Du Dich schon für einen anderen Beruf entschieden?
Ernst. (lebhaft) Ja, Vater, wenn ich es denn sagen darf - schon seit Jahren wußte ich, daß es für mich nur eins auf der Welt giebt. Entsinnst Du Dich noch des Tages, an dem wir vor bald drei Jahren auf einem Jagdausflug in eine Gegend kamen, in der dir großen Herbstmanöver stattfanden?
Baron. (zuckt zusammen und verbirgt nur schwer seine Erregung.)
Baronin. (legt ihre Hand beruhigend auf den Arm ihres Mannes)
Ernst. (ganz unbefangen fortfahrend) Entsinnst Du Dich wohl noch, Vater? Du gabst dem Kutscher den Befehl, so schnell wie möglich zu fahren, um aus dem Gefechtsfeld, in das wir versehentlich geraten waren, wieder herauszukommen. Ich aber bat Dich, halten zu lassen, und schließlich willigtest Du ein. Und da, Vater, sah ich etwas, was ich nie zuvor gesehen und was ich nie vergessen werde: die Attacke der beiden Kavallerie-Regimenter, die auf schnaubenden Rossen mit dem Säbel in der Rechten auf einander losstürmten. Seit der Stunde weiß ich es: es giebt auf der Welt nur eins für mich. Vater, ich beschwöre Dich, laß mich Offizier werden!
Baron. (springt bei den letzten Worten seines Sohnes in die Höhe, sinkt dann aber kraftlos wieder in seinen Stuhl zurück.)
Baronin. (stößt einen halb unterdrückten Schrei aus.)
Ernst. (verwundert die Eltern ansehend) Thut es Euch so weh, daß ich Euch diesen Kummer bereite? Allerdings, ich wußte ja, daß Ihr traurig sein würdet, aber daß meine Worte Euch so erschrecken würden, das habe ich nicht geahnt, dann hätte ich vielleicht doch geschwiegen und uns den letzten Tag unseres Beisammenseins nicht getrübt.
Baron. Den letzten Tag!
Ernst. Aber vielleicht ist es ja doch noch nicht der Letzte, Vater. Wenn Du mir erlaubst, Offizier zu werden, dann bleibe ich doch noch hier. Wir müssen ja erst ein Regiment finden, das mich als Fahnenjunker annimmt. Lange zu suchen brauchen wir ja da allerdings nicht, denn jedes Regiment, an das ich mich wende, wird mich ja schon Deinetwegen mit offenen Armen aufnehmen.
Baronin. Ernst, dringe jetzt nicht weiter in den Vater, Du siehst ja, wie er leidet, wie schwer es ihm wird, seinen Lieblingswunsch aufzugeben. Laß ihm Zeit, sich darein zu finden, bitte ihn heute nicht mehr.
Baron. (der im schwersten inneren Kampf dagesessen hat) Nein, nein, Marie, schieb' es nicht auf. So ist sie doch da, die Stunde, die ich gefürchtet habe.
Ernst. Vater, wird es Dir so schwer, meinen Wunsch zu erfüllen? Hast Du mir nicht selbst immer gesagt, Du wärest nie glücklicher gewesen als in jener Zeit, da Du Leutnant warst? Fühlst Du es mir nicht nach, daß auch ich den sehnlichen Wunsch habe, Offizier zu werden, daß ich am liebsten in Dein altes Regiment eintreten und dieselbe Uniform tragen möchte, wie Du einst, daß auch ich ein tüchtiger Offizier werden möchte wie Du?
Baron. (aufstöhnend) Wie ich!
Baronin. (steht auf und stellt sich hinter den Sessel ihres Mannes.)
Ernst. Ja, Vater, wie Du, denn wer seinen Beruf so liebte, wie Du es thatest, der muß auch in demselben Tüchtiges geleistet haben. Und daß Du später das Unglück hattest, Deinen Gegner im Duell zu tödten, das kann Dir doch die Erinnerung an die vergangene schöne Zeit nicht zu sehr trüben. Du warst doch nicht Schuld, Du sagtest doch, Du wärest bis zum äußersten gereizt worden.
Baron. (stockend) Und hast Du es Dir klargemacht, daß auch Du in eine ähnliche Lage kommen kannst, wie ich damals? Es ist nicht immer leicht, sich als Soldat zu beherrschen. Ein unüberlegtes Wort, eine unüberlegte Handlung haben beim Militär Folgen wie sonst nirgends.
Ernst. Fürchtest Du, daß ich mir dienstlich oder außerdienstlich irgend etwas zu Schulden kommen lassen werde? Nein, Vater, das brauchst Du nicht zu fürchten, denn Du hast mich doch erzogen, ich bin doch Dein Sohn. Und was sollte ich auch wohl begehen. Dienstlich würde ich schon keinen Anlaß zum Tadel geben, denn aus Liebe zum Dienst will ich doch gerade Offizier werden. Und sorgst Du Dich,daß ich außerdienstlich Thorheiten begehe? Glaubst Du, daß ich Schulden mache? Ich habe immer noch von meinem Taschengeld zurückgelegt und werde auch in Zukunft hauszuhalten wissen. Und welche Gefahr könnte mir sonst noch drohen? Das Spiel vielleicht? Das lockt mich nicht.
Baron. Du kennst das Spiel noch nicht.
Ernst. Und ich werde es auch nicht kennen lernen, aber wenn Du es dennoch fürchtest, dann kannst Du mir ja mein Wort abnehmen, daß ich nie eine Karte anrühre, und was ich Dir schwöre, werde ich auch halten.
Baron. Ich will Dein Wort nicht - - - ich habe kein Recht, es Dir abzunehmen, und ich kann es auch nicht annehmen - - - ich nicht - - - ich nicht -
Ernst. Du nicht, Vater?
Baronin. Wollt Ihr nicht doch lieber das Gespräch abbrechen? Warum wollt Ihr gerade heute so Ernstes und Wichtiges besprechen. Auch wird es Zeit, bald zu Tisch zu gehen. Du bekommst auch 'was Extra - Ernst.
Ernst. (küßt die Hand der Mutter.) Wie gut Du bist.
Baronin. (bemüht, das Gespräch abzulenken) Hast Du Dich eigentlich zu Deinen Geschenken gefreut?
Ernst. Wie sollte ich nicht? Habt Ihr doch mit so viel Liebe zusammen getragen, was mir nach Eurer Ansicht Freude machen könnte. Und ich habe mich auch gefreut. Aber doch, so viel Ihr mir auch gabt, einen Wunsch habe ich dennoch, und noch einmal, Vater, bitte ich Dich: laß mich Offizier werden!
Baron. (seine Erregung niederkämpfend, fest und bestimmt) Nie - - - niemals!
Baronin. Ernst, ich beschwöre Dich, füg' Dich darein.
Ernst. Vater, muß das sein!
Baron. (nach langer Pause) Es muß sein.
Ernst. Und willst Du mir nicht wenigstens Deine Gründe nennen, die Dich veranlassen, so hart, so unerbittlich zu sein?
Baron. Ich - - - ich kann nicht.
Ernst. Du kannst nicht, Vater - Du kannst nicht?
Baronin. Ernst, ich bitte Dich, quäl' den Vater nicht weiter.
Ernst. Aber quäle ich ihn denn? Auch ohne daß der Vater sie nennt, fühle ich, daß es schwerwiegende Gründe sein müssen, die ihn veranlassen, so hart, so unerbittlich zu sein. Aber warum soll ich sie nicht erfahren? Drückt Dich irgend ein Geheimniß, das Du mir nicht anvertrauen willst?
Baronin. Ernst, ich beschwöre Dich, frage nicht weiter, Du darfst es nicht erfahren.
Ernst. (ganz betroffen) Ich soll es nicht weiterfragen - ich darf es nicht erfahren? Aber warum denn nicht? (Mit dem Versuch zu scherzen.) So fürchterlich wird das Geheimniß doch wohl nicht sein, um ein Verbrechen wird es sich doch nicht handeln.
Baron. (fährt halb auf, sinkt dann zusammen, krampfhaft die Lehne des Sessels umklammernd)
Ernst. Vater - Vater, was hast Du?
Baron. (stöhnend) Nichts - nichts -
Baronin. Mein Fritz - mein Fritz!
Ernst. Vater - zürne mir nicht, ein schrecklicher Verdacht wird mit einem Mal in mir wach - Vater, das Duell -
Baron. (schweigt.)
Ernst. Vater, Du bist bestraft worden - ich kann Deinetwegen nicht Offizier werden?
Baron. (nach langer Pause) Ja.
Ernst. (aufschreiend) Vater - Vater!
Baron. Marie - sag' Du es ihm - ich kann es nicht. Sag' Du ihm, was ich gethan und wie ich gelitten habe. Ernst geht in die Welt - die Pflicht gegen ihn, die Liebe zu ihm haben mein ganzes Handeln bis zum heutigen Tage bestimmt. Meine Pflicht habe ich gethan, Ernst ist erzogen, - jetzt bleibt nur noch die Liebe. (Steht auf und schwankt gebrochen zur Thür links hianus.)

3. Scene.

Baronin.  Ernst.
Ernst. (auf die Mutter zustürzend) Mutter, Mutter, was ist geschehen?
Baronin. Mein Sohn, mein armer Sohn! Du sollst und mußt jetzt Alles erfahren. Komm, setz' Dich zu mir. (Setzt sich auf den Stuhl vorn links auf der Bühne, Ernst zu ihren Füßen. Mit wehmütigem Lächeln.) Sagtest Du nicht vorhin, ich sollte Dir eine Geschichte erzählen, eine ganz, ganz traurige? Ach, keine ist trauriger, als diese Deines armen Vaters.
Ernst. Mutter, laß mich Alles wissen.
Baronin. (nach langer Pause)Mein armer Sohn, heut sind es achtzehn Jahre. Da kam Dein Vater am späten Morgen aus dem Kasino nach Haus. Es war Liebesmahl für einen scheidenden Kameraden gewesen, und länger als sonst waren die Herren zusammengeblieben. Ich erschrak, als ich Deinen Vater sah, sein Gang war schleppend und taumelnd, seine Züge todtenblaß, und ich wußte, es war ein Unglück geschehen. Ich drang in ihn, mir zu sagen, was vorgefallen sei, und endlich gab er meinen Bitten nach. Es war gespielt worden, hoch, sehr hoch. Dein Vater hatte zuerst große Summen verloren, dann aber einen Theil zurückgewonnen. Und schon hatte er geglaubt, den ganzen Verlust wieder einbringen zu können, da war ein Kamerad auf ihn zugetreten und hatte ihn des falschen Spiels beschuldigt.
Ernst. (aufspringend) Und schlug der Vater den Verleumder nicht mit der Faust zu Boden?
Baronin. (nöthigt Ernst, sich wieder hinzusetzen) Bleibe ruhig, Ernst, wie auch ich es damals blieb. Nein, Ernst, der Vater that es nicht.
Ernst. Er that es nicht?
Baronin. Ernst, der Vater konnte es nicht thun, der Kamerad hatte Recht, - der Vater hatte falsch gespielt.
Ernst. Mutter - Mutter,- sag', daß es nicht wahr ist - mein Vater sollte das gethan haben - Mutter, das kann ja nicht sein!
Baronin. Und doch ist es wahr.
Ernst. (sein Gesicht in den Händen vergrabend) Vater - - - Vater!
Baronin. Auch ich habe es zuerst nicht fassen können, und der Vater selbst weiß es heute noch nicht, wie er sich zu dieser unglückseligen That hat verleiten lassen. Der Wein, die Aufregung des Spiels, die Furcht, mir am nächsten Tag gestehen zu müssen, daß er von meinem Gelde eine große Summe verloren, das Alles raubte ihm die ruhige Überlegung, ließ ihn nicht wissen, was er that.
Ernst. (stockend) Und ist der Vater bestraft worden für das, was er that?
Baronin. Das Ehrengericht trat zusammen, er wurde verabschiedet, er durfte die Uniform nicht mehr tragen.
Ernst. (vor sich hinweinend) Vater, Vater!
Baronin. (seinen Kopf streichelnd) Mein Sohn, mein armer Sohn!
Ernst. Ich kann, ich will es immer noch nicht glauben, es ist zu schrecklich, zu entsetzlich. Aber nun wird mir mit einem Mal Alles klar. Alles - - - jetzt weiß ich, warum wir so einsam lebten, warum nie ein Gast zu uns kam, warum der Vater nie wollte, daß ich mit anderen Kameraden verkehrte, warum nie einer von den Verwandten sich um mich kümmerte, warum wir so lange ruhelos in der Welt herumirrten. Das also war's.
Baronin. Ja, ja, das war's.
Ernst. Und warum habt Ihr es mir verschwiegen bis auf den heutigen Tag?
Baronin. Du hättest es nie erfahren, wenn Du nicht heute den Wunsch geäußert hättest, Offizier zu werden.
Ernst. Ach, wäre doch nie der Wunsch in mir wach geworden, nun ist es auch damit vorbei. Wer nimmt den Sohn eines -
Baronin. (aufschreiend) Ernst, sei nicht so hart!
Ernst. (verbittert) Sprech' ich nicht die Wahrheit?
Baronin. Hast Du nur Worte der Anklage, gar keine Entschuldigung für Deinen Vater?
Ernst. (schweigt)
Baronin. Ernst, ich fühle ja mit Dir, daß meine Worte Dich erregt und erschrocken haben - - -
Ernst. (sie unterbrechend) Erregt und erschrocken, sagt Du, Mutter? Ist das das richtige Wort, wenn mit einem Mal unser ganzes Denken, Fühlen und Empfinden umgestürzt wird, wenn wir das Hohe, Gute, Edle und Schöne plötzlich als schlecht anerkennen müssen? Mutter, Du weißt es ja nicht, was der Vater mir war, was er sagte, was er that, war für mich vollkommen. Wie stolz bin ich auf meinen Vater gewesen, wie war ich glücklich, wenn ich an seiner Seite spazieren ging und die Leute seiner hohen, stattlichen Figur bewundernd nachsahen. Mutter - - - Mutter - - - oder sollten auch d i e Leute gewußt haben, was der Vater that - - - haben sie ihm vielleicht nachgesehen, wie man neugierig einem - - - nachsieht - - - nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Und ich bin stolz auf meinen Vater gewesen, stolz auf einen - - - (Bitter auflachend.) Ha, ha! (Laut aufschluchzend.) Nun ist es aus, nun habe ich keinen Vater mehr.
Baronin. (aufschreiend) Ernst, nimm das Wort zurück!
Ernst. Ich kann nicht, Mutter, ich kann nicht - - - ich habe den Vater zu lieb gehabt.
Baronin. Und wenn Du ihn wirklich so liebtest, mußt Du ihm denn nicht jetzt verzeihen, wie auch ich ihm Alles verzieh? Dein Vater hat Dir, so lange Du lebst, nur Liebe gegeben, und heute, wo sich Dir zum ersten Mal Gelegenheit bietet, zu zeigen, ob Du diese Liebe verdientest, wo Du Gleiches mit Gleichem vergelten kannst, da zeigst Du Dich kalt und herzlos!
Ernst. (in furchtbarem Kampf) Mutter, ich kann nicht - - - ich kann doch gar nicht anders urtheilen, - - ich bin doch sein Sohn, er selbst hat mich doch gelehrt, Recht und Unrecht zu unterscheiden!
Baronin. Denk' doch an Deinen Vater. Er hat die Strafe für seine That erlitten - - - fast zwanzig Jahre hindurch hat er Alles gethan, was er konnte, um die That zu sühnen, um sie vergessen zu machen.
Ernst. Und trotzdem, Mutter, bleibt die That bestehen, und sie wird nicht vergessen. Hörtest Du nicht selbst, wie der Vater sagte, ich könnte seinetwegen nicht Offizier werden. Was hat er gethan - - - nicht nur sein, auch unser Leben hat er zerstört, vernichtet. Was soll nun werden? Was soll ich thun, was soll ich sagen, wenn die Leute mich nach meinem Vater fragen? Ich muß die Antwort verweigern, um nicht die Wahrheit gestehen zu müssen.
Baronin. Ernst, sei nicht so hart, nicht so unerbittlich!
Ernst. Mutter, was soll jetzt aus mir werden? Du weißt es ja nicht, wie mir jetzt vor der Zukunft graut, und ich hatte sie mir so schön, so rosig gedacht. Ich habe nie daran gezweifelt, daß Ihr mir erlauben würdet, Offizier zu werden. Und da wollte ich meine Pflicht thun, wie nur einer, ich wollte arbeiten - - - ach, ich hatte so ehrgeizige Pläne! Und nun ist Alles dahin. Mutter, ist es nicht mehr als grausam, seine ganze Zukunft aufgeben zu müssen, so plötzlich, so mit einem Mal!
Baronin. Ernst, Du bist noch jung, so kommt es, daß Du jetzt mehr an Dich, als an Deinen Vater denkst. Und doch darf das nicht sein. Auch für Dich kann einst die Stunde kommen, in der Du für ein Unrecht, das Du begangen, Verzeihung und Nachsicht forderst. Was würdest Du da wohl sagen, wenn dann auch Du nur kalte Herzen, nirgends aber Mitleid fändest?
Ernst. (mit sich kämpfend, schweigt.)
Baronin. (geht auf Ernst zu. legt ihren Arm um seine Schulter, weich und flehend) Ernst, habe Nachsicht, ich will heute noch mit dem Vater sprechen, auch ihm wird es vielleicht lieb sein, Dir eine Zeitlang nicht zu begegnen, gehe auf Reisen, lerne die Welt und die Menschen kennen, und dann, wenn Du zurückkommst, wirst Du ruhiger denken, milder urtheilen. Gehe jetzt zu Deinem Vater, er hat so Schweres gelitten, gieb ihm ein Wort der Liebe.
Ernst. (zuckt zusammen, versucht, sich aus den Armen der Mutter freizumachen.)
Baronin. Komm, Ernst, geh' hin zu Deinem Vater, sage ihm, daß Du ihm verzeihst!
Ernst. Ich kann nicht, Mutter, ich kann nicht!
Baronin. (auf die Kniee fallend) Ernst, auf den Knieen beschwöre ich Dich - - - gehe hin zu Deinem Vater!
Ernst. Mutter, Mutter, was thust Du. (Will sie emporheben.)
Baronin. Laß mich, nicht eher stehe ich auf, als bis Du thust, was ich von Dir erbitte. Ernst, es ist Dein Vater, verzeihe ihm auch meinetwegen, die ich Deine Mutter bin. Das einzige, was der Vater noch hatte, war seine Familie, wir waren sein letztes Glück. Du und ich. Nimm ihm nicht das Letzte, was er noch hat, treibe ihn nicht zur Verzweiflung, nicht zum Äußersten. Geh' zu ihm, sage ihm, daß Du ihm verzeihst, daß Du ihn liebst, sag' ihm, daß Du freiwillig darauf verzichtest, Offizier zu werden. Sag, aus Liebe zu ihm hättest Du Deinen Entschluß geändert, sonst treibst Du Deinen Vater vielleicht noch so weit, daß er von uns geht, um Dir die Wege zu ebnen!
Ernst. (auf das Äußerste erschrocken) Mutter, was sagst Du da, das soll, das darf nie und nimmermehr geschehen. Ich will zu ihm gehen. (Hebt die Mutter auf.)
Baronin. (Ernst umarmend) Mein Ernst, mein Ernst!
Ernst. (geht nach der Thür links. Als er dieselbe öffnen will, fällt draußen ein Schuß.)
Baronin. (steht einen Augenblick entsetzt, sinkt dann in ihren Sessel; aufschreiend) Zu spät - - - zu spät!
Ernst. (taumelt, als er den Schuß hört, zurück, steht einen Augenblick regungslos, greift dann mit beiden Händen an den Kopf und stürzt mit dem Ruf) Vater - - - Vater! Ich habe Dir ja doch vergeben! (zusammen.)
Der Vorhang fällt langsam.

Pressestimmen

Die „Neue Hamburger Zeitung” schreibt am 1.3.1904:

„Baron Borken”, Drama in 1 Akt von Freiherrn v. Schlicht, kommt am 3.März am Alexandertheater in Petersburg gelegentlich der soeben eröffneten deutschen Schauspielsaison des Direkt. Block zur ersten Aufführung. Adolf Klein wird die Hauptrolle bei dieser Feuerprobe spielen. —


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© Karlheinz Everts