"Rumpelstilzchen"

"Sie wer'n lachen"
(Jahrgangsband 1933/34)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 13 - 15
30. November bis 14. Dezember 1933


13

Die englische Miß - Bloß keine Superlative - Greuel in Berlin ? - Wagners "Rheingold" neu - Hitlers Platz - Divisionsabend - Das deutsche Hurra - Auf der Buchmesse.

Gelegentlich muß man sein Berlin durch die Augen von Fremden ansehen.

Da ist eine junge englische Kunstgeschichts- und Gewerbelehrerin auf ein paar Wochen als Gast zu uns hereingeschneit. Die Großmütter waren mal miteinander befreundet, das hat zu der Anknüpfung geführt. Inzwischen ist in England vieles anders geworden. Heute dürfen auch junge Engländerinnen aus guter Familie Alkohol genießen, was früher erst die verheirateten - und dann oft gründlich - nachholten. Der Imperial-Cocktail bei Roberts am Kurfürstendamm mundet unserem Gast jedenfalls gut.

Um sicher zu gehen, hat die Miß, die den schönen Vornamen Fortune trägt, der nur leider Fordschn ausgesprochen wird, sich einen deutschen Satz eingeprägt: "Uo ich kommen Uilelmstraß?" Mehr ist nicht nötig, sagt sie, denn in der ganzen Welt verstünden Gebildete doch Englisch, das habe sie auf ihrer jetzigen Studienreise schon in Schweden und in Dänemark erfahren.

Ja, so haben die Engländer schon immer ihre Lernfaulheit, in der allerdings ein Stückchen Nationalstolz steckt, maskiert.

Geblieben ist auch die englische Scheu vor dem Anerkennen, vor dem Herausgehen aus sich, vor den Superlativen. Einfache Bunzlauer Töpfe im Schaufenster eines Haushaltgeschäfts ziehen unsere junge Freundin magisch an, aber auch ganz gewaltige Dinge entlocken ihr bestenfalls ein "very nice", ein: sehr nett. Nur vor dem Pergamonaltar bricht sie in ein unwillkürliches "Aoh, it's glorious!" aus: o, das ist herrlich. Sie wundert sich pflichtgemäß über die "vielen Soldaten" auf der Straße und läßt meinen Einwand, das seien rein politische Sturmabteilungen und Schutzstaffeln ohne Waffe, keine Reichswehr, nicht gelten. Daß schon die englischen Gymnasiasten des Eton-College und anderer Lehranstalten, wie ich es selbst gesehen habe, frühmorgens mit Maschinengewehren zum Schießdienst ausziehen, will sie nicht wahr haben. Solche Dinge leugnet jeder Engländer instinktiv ab, während im gleichen Falle fast jeder Deutsche damit renommieren würde.

Sehr erstaunt ist die junge Dame über die vielen jüdischen Läden, die es namentlich im Berliner Westen gibt. Sie hat sich daheim erzählen lassen, daß in Deutschland alle Juden sich in grausamster Haft befänden.

Auch im Theater, selbstverständlich im ersten Rang, das zeige ich ihr, kann man Juden sehen. Da, in der Staatsoper, am Mittwoch bei der Erstaufführung des neu inszenierten "Rheingold", sitzt beispielsweise der Staatsminister a.D. Bernhard Dernburg mit Familie. Plötzlich setzt er sich, kurz bevor das Spiel beginnt, die Brille auf und äugt scharf hinüber. Auf der anderen Seite des ersten Ranges ist jemand erschienen, der ihn lebhaft interessiert. Hab' ich mir's doch gedacht, daß es so kommen würde, das habe ich der jungen Engländerin gegönnt, daß sie das erlebt, nämlich ich kann sie nun anstoßen und ihr zuflüstern: "Look, there is Hitler!" Jawohl, sagt sie, sie habe Hitler sofort erkannt, "his little moustache", sein kleiner Schnurrbart verrate ihn. Sonst ist der Führer schlicht wie immer, unscheinbar in schwarzem Zivil, und sitzt - in der hintersten Reihe.

Natürlich könnte er in der großen Mittelloge Platz nehmen, ganz vorn an der Brüstung. Daß er es nicht tut, sondern bescheiden im Hintergrunde bleibt, seitlich im ersten Rang, das "schmeißt einen einfach um", sagt mir nachher in sichtlicher Rührung eine bekannte Dame, die sich bisher innerlich immer noch gegen den Gestalter des neuen Deutschland gesperrt hat. Ja, diesen Mann könne man wirklich lieb haben . . .

Übrigens ist die alte Königsloge in den verflossenen bösen Jahren der Raum gewesen, in dem die roten Bonzen sich auszustellen pflegten. Auch der Vizepolizeipräsident Weiß, "unser Isidor", saß häufig hier, ehe er in den Spielklub ging, sich sein Taschengeld zu holen. Über der Loge hielten einst zwei schwebende Engel die Krone empor. Die wurde wegen Gefährdung der Republik weggemeißelt, so daß von da ab die Putten ihre Arme in die leere Luft streckten, als flehten sie um Hilfe.

Es ist das vierzehnte Mal in meinem Leben, daß ich Wagners "Rheingold" auf mich wirken lasse, und es ist die schönste aller bisherigen Aufführungen. Szenisch ist die Illusion vollkommen. Der erste Akt auf dem Grunde des Rheinstroms einfach unvergeßlich, eine meisterliche Leistung der Maschinen- und Beleuchtungstechnik Kleins. Sehr wohltuend, daß auf der Bühne lauter Deutsche stehen. Rührend die mädchenhafte Freia. Taufrische hier und Wucht dort, nichts störendes, kein Tenor-Schmalzkinn, kein Baß-Bierbauch. Der Regenbogen zur Götterburg am Schluß ist weggelassen. Das war und blieb doch immer eine hölzerne, angepinselte Brücke. Man ist auch in Niflheim ganz ins Märchen versunken. Unter Furtwänglers Stabführung strahlt die Musik auf. Und in der Handlung predigt die fortgesetzte Kette von Schuld und Sühne den alten christlich-germanischen Satz: "Die Sünde ist der Leute Verderben." Er findet sich in der Bibel wie in dem Hyndluliede der Edda. Es ist unbegreiflich, daß es Leute geben kann, die in ihrer Borniertheit von unserer künstlerischen - Semitisierung durch Richard Wagner sprechen.

Diesmal hat Miß McLeod sich wenigstens zu einem "marvellous", zu einem "wunderbar", aufgerafft. Sie ist Engländerin, gehört also dem unmusikalischsten Volk der Erde an, aber die Geschichte unter Wasser mit den Rheintöchtern hat ihr imponiert.

Ob ich schon einmal in einem Submarine, einem U-Boot, Fahrten gemacht hätte, fragt sie nachher. Jawohl, etliche Jahre vor dem Kriege. Die Submarines müßten alle abgeschafft werden, von allen Nationen, sagt sie. Das kann ich aus englischem Munde verstehen, gerade das. Aber bei anderen Waffen ist sie nicht so sehr fürs Abschaffen.

Es ist sehr lehrreich, zu hören, wie verhalten solch ein Girl spricht, wenn es um vaterländische Interessen geht. Darin steckt jahrhundertealte Erziehung. Die hätten auch wir während des Krieges schon haben sollen. Jetzt ist alles Erinnerung, jetzt sind die Trümmer unserer alten Waffen längst verschrottet, nur im Kameradenkreise springt die Tradition noch auf. Es ist Herbst, also wieder die Zeit der Regiments- und Divisionsabende. Es werden da manchmal ein bißchen zu viel Reden gehalten, auch wenn sie herzerfreuend sind. Vier Stunden hintereinander offizielle Begrüßungen, Gefechtserinnerungen vom Pult aus unter strengstem Silentium, gegenseitige Anerkennungen: nein, danke. Das erlösende und erfrischende jeweils am Schluß ist nur immer das dreimalige donnernde Hurra, denn das ist ein urkräftig stoßendes deutsches Wort.

Hurre, hurre, hopp hopp hopp, heißt es in Bürgers "Leonore". Hurren bedeutet im alten Deutschen vorwärtsstürzen, sich tummeln, stürmen. "Hurry up!", mach hurtig, sagt noch heute der Engländer, und das hat er aus friesischem Spracherbe.

"Heil Sieg!" ist zu gegebener Stelle sehr schön. Aber ich freue mich, daß der Soldat sein historisches "Hurra!" behält. Auch das "Grüß Gott!" der Süddeutschen sähe ich ungern ganz verschwinden.

Auf dem letzten Divisionsabend sollte ich einige Kleinigkeiten aus meinen sogenannten Werken vorlesen. Ich habe dringend abgewinkt. Sitzt man mit alten Kriegsgefährten zusammen beim Bechern, dann will man "Weißt du noch?" und "Prosit, Herzbruder!" sagen. Deshalb setze ich dem Festordner auseinander, daß er auf die Lesung verzichten möge. Wenn andere Leute so dächten wie ich, so könnten sie doch nur denken: "Was quatscht der olle Affe da oben immer dazwischen?"

Aber einmal hat es mich, der ich Schreibtischmensch bin, nicht Kathedermensch, doch gehascht. Die erste Buchmesse im Dritten Reich ist im Europahaus eröffnet, die heute wie eine Entladung wirkt, einen geradezu explosiven Charakter hat, und da lassen die Verleger ihre Autoren Bruchstücke aus neuen Büchern vortragen und gegen eine kleine Gebühr zugunsten der Winterhilfe Autogramme geben. Bisher habe ich immer spöttisch gelächelt, wenn Filmkünstler so etwas machen. Nun bin ich selber dazu verdammt, und ich kann nur sagen: es ist viel angenehmer, im Publikum zu stehen und es zu beobachten, als vor dem Publikum und beobachtet zu werden, noch dazu umhüpft von Blitzlichtphotographen. Ich bewundere Rudolf Presber, der in diesen Dingen alter Routinier ist und eine köstliche Geschichte aus seinem eben erschienenen "Ein delikater Auftrag", die Geschichte vom gelben Köfferle, so launig vorliest, daß die Zuhörer Tränen lachen. Da sind wir mit ihm zusammen geknipst worden. Ein nettes Bildchen. So ausgelassen fröhlich habe ich meine Frau lange nicht gesehen, und ich selbst muß mich krampfhaft an meiner Zigarre festbeißen, damit das steinerne Gesicht durch Presbers Humor nicht ganz in Trümmer geschlagen wird. Ich kann nicht alle neun in Berlin gerade aufgetriebenen Autoren des Brunnen-Verlages - Felix Riemkasten, Freiherr v.Kapherr und andere waren zur Zeit "nicht greifbar" - hier herzählen, die an diesem Dienstag lasen. Aber eines will ich zugeben, daß das Einschreiben nachher Spaß gemacht hat.

Man lernt da so manche liebe Menschen kennen. Ich haue nicht nur meinen Namen hin, sondern möglichst etwas "diesbezügliches", und frage deshalb nach Nam' und Art und Wohnung. So habe ich zwei jungen S.A.-Leuten, von denen der eine Student im dritten Semester, der andere ehemaliger Kadett ist, etwas ganz Persönliches eintragen können. Oder einer frischen Untersekundanerin. Oder einer gütigen alten Dame. Ich hatte einleitend erzählt, daß ich noch im Juni 1932 vor den Generalstaatsanwalt ins Kriminalgericht nach Berlin-Moabit zitiert worden bin. Uns als nun eine junge Mutter aus dieser schönen Gegend mir mein Buch vorlegt, kann ich vergnügt einschreiben:

"Sie wohnen in Moabit? Da gehöre ich ja längst hin!"
30. November 1933 (Donnerstag)


14

Kein Protzentum mehr - Gegen die Vereinsweihnachten - Bitte, bitte, Arbeitslager - Baltenball - Wie es in der Mitropa zugeht - Am Kurzwellensender.

Mit Tschingtara ins Neuland, Gleichschritt der Millionen, auf städtischen und Landstraßen, jawohl; aber auch die Kleinigkeiten abseits sind schön, das schier Unvermerkte, wo hier und da ein Schutthäufchen verschwindet, das jahrelang lag, und nun allerlei sprießt.

Denkt euch nur: das Christfest wird wieder das, was es einst für uns war. Die Weihnachtsprotzerei in den Großstadtläden ist nicht mehr, die Schaufenster sehen alle viel inniger aus als sonst. In der Gaststätte "Traube" - nicht die Traube, sondern der Traube, aber er ist längst tot; der dicke große Mann, dessen Herz die Entbehrungen nicht vertrug, klappte im Schützengraben um -, also im "Traube" in der Hardenbergstraße hängen zwar, dem gigantischen Raum entsprechend, der durch drei Stockwerke geht, die nur durch Galerien umsäumt sind, ebenso gigantische Adventskränze hernieder. Aber in den Warenhäusern stehen nicht mehr Riesentannen in Lichterpracht. Eine diesmal wirklich hochwohlweise und volkhafte Regierung hat sich auch gegen die vielen Vereinsfeiern mit Christbaum gewendet, da dieses Strahlen in die Familie gehöre, wo das kleinste Bäumchen mehr wert ist als die ganze Tuerei mit der Vorbescherung in irgendeiner Athletengesellschaft oder irgendeinem Kaninchenzüchterklub. Wir haben früher unseren Kindern nie erlaubt, vor dem Heiligen Abend daheim sich draußen das Gemütstiefe sozusagen im Ramsch einpacken zu lassen.

Die Kleinen werden jetzt nicht mehr durch die Fülle des Schauens und der Feiern blasiert gemacht. Es geht wieder das süßgeheimnisvolle Raunen um die gute Stube zu Hause herum.

Und es sind auf einmal wieder ganz andere Kinder, mit denen es die Eltern zu tun haben; auch da sprießt allerlei Neues aus bisher verschüttetem Grunde empor. Es wohnt unter uns eine Familie, von denen unsereins, aber ohne jeden Neid, zu sagen pflegt: "Ja, die Leute haben noch Geld!" Der Vater hat ein gutgehendes Textilgeschäft, der älteste Sohn, der vor der Reifeprüfung im Gymnasium steht, ist der eifrigste junge S.A.-Mann in unserer Straße, zwei jüngere Mädel, noch in der Schule, spielen den ganzen Tag Klavier.

Sagt die Mutter:

"Kinder, Studium für euch ist Unsinn, ihr sollt keinen Männern das Brot wegnehmen, machen wir also Schluß, ihr könnt aber noch auf ein Jahr in eine gute Pension in der Schweiz!"

Sagen die Töchter:

"Sch-w-e-i-z? Och nee! Und in ein feines Pensionat? Wenn du schon etwas für uns tun willst, dann lieber auf ein Jahr in ein deutsches Arbeitslager!"

Es gibt noch Wunder . . .

Damit ist aber nicht etwa gesagt, daß wir nun alle zu Puritanern würden. Im Gegenteil, es scheint, daß die Lebensfreude einen tüchtigen Auftrieb bekommen hat, wenigstens sind die großen Winterbälle in Berlin auffallend stark besucht. Das baltische Rote Kreuz, das unter anderem das ausgezeichnete, namentlich zum Einfühlen auslandsdeutscher Kinder besonders geeignete Gymnasium samt Internat in Misdroy an der Ostsee unterhält, hat den seinigen bisher immer im Marmorsaal des Hotels Esplanade abgehalten. Diesmal mußten sämtliche Festräume einbegriffen werden, und sie waren fast überfüllt. Vielleicht hat der Umstand dazu beigetragen, daß zum ersten Male die Prinzessin Oskar von Preußen, der alle Herzen zufliegen, das Protektorat über den Baltenball übernommen hat und daß außerordentlich zahlreich reichsdeutsche Herren der jetzt führenden Kreise mit ihren Damen mitmachten; so wird der baltische Titel zu einer Art Aushängeschild, wie ja auch nur ein kleiner Bruchteil der Teilnehmer des Presseballs zur Presse gehört. Aber unter dem Roten Kreuz gibt es keine Kontrebande, man findet da nur gute, wenn auch mitunter verarmte Gesellschaft auf diesem typisch blondesten der Tanzfeste.

Es wird viel getanzt. Auch mir macht ein flotter Paso doble immer noch Spaß. Umlagert ist die Tombola. Der hochragende Prinz Oskar, der mit seinem Bruder Eitel-Friedrich und dem jüngsten Sohne des Kronprinzen dasteht, gewinnt einen kleinen elektrischen Kochtopf. Wer das Motorrad "heimgetragen" hat, weiß ich nicht; das war der Hauptpreis. Ich selber haben mich mit einem Birkhuhn, einer Rehkeule, einem Rehrücken abgeschleppt. Der Tombola-Tisch, der natürlich auch Bücher, Bilder, kleine Kunstsachen, Parfums, Bonbonnieren, Kakteen und allerlei sonst noch enthält, sieht nämlich in der Hauptsache wie ein Wildpretladen aus. Sehr viele Güter haben geschickt, was sie können, auch Berliner Nimrode haben sich nicht lumpen lassen.

Als ich mit meiner Fleischlast mich durchzwänge, heißt es rundum: "Hurra, das Eintopfgericht!"

Nein, sage ich, das ist mein Winterproviant. Den nehme ich in den Rucksack, gehe damit in die Berge und lebe vierzehn Tage davon. Nun schmunzelt alles. Wer trägt denn heute noch sein Essen bei sich? Wer belastet sich überhaupt noch mit viel Gepäck? Die Damen haben ihren Skianzug an und etliche Handvoll Gesellschaftskleider zusammengeknautscht im Stadtköfferchen, allenfalls nebenbei noch ein Butterbrot und einen Apfel. Die Herren aber nehmen womöglich noch weniger mit - und freuen sich schon auf den Speisewagen im Zuge.

Wenn er FD. heißt, kostet das Mittagessen allerdings vier Mark. Das ist für internationale Geschäftsleute. Im gewöhnlichen Schnellzug diniert man für einen Taler. Und das sogenannte kleine Gedeck kostet seit ein paar Jahren sogar nur zwei Mark.

Sieht man wie heute den ersten, richtigen, bleibenden Schnee auf den Dächern, so möchte man schon je früher desto lieber aus Berlin hinaus. Einmal ganz früh am Morgen vom Anhalter Bahnhof. Pennen kann man bis zum letzten Augenblick zu Hause, denn im Zuge seinen Kaffee mit herrlichen frischen Hörnchen dazu zu genießen, ist alleine schon etwas wert. Wie das alles organisiert ist, das habe ich mir schon längst einmal ansehen wollen. Also sause ich zum Schlesischen Güterbahnhof, auf dessen Gelände ein ehemaliger riesiger Lokomotivschuppen für die Lebensmittelzentrale der Mitropa ausgebaut ist, die täglich 82 von Berlin ausgehende Speisewagen mit allem Nötigen versorgt, dazu die Elite-Motorboote, das Fährschiff Saßnitz, die Beamtenküche der Reichsbahnhauptverwaltung, das Expreßflugzeug Berlin-Wien; und die Filialen der Mitropa in München, Frankfurt, Würzburg, Stuttgart, Köln, Altona, Dresden usw. haben einen ganz ähnlichen Dienst.

Saubere Sache. Alle Kühlräume weiß gekachelt. Äußerste Hygiene.

Und alles so praktisch. Ein Anschlußgleis führt mitten in die erste große Halle, da rollt ein ganzer Waggon voll Kartoffeln herein und wird entladen. Ebenso können die Lastautos durch alle Räume zu ebener Erde fahren, halten bei den Lagern für Kolonialwaren, Fleisch, Gemüse, Kuchen, werden bepackt und rasseln zu den Bahnhöfen. Alles ist gewogen und registriert, die Eierkisten oder Fischkörbe bekommen ihre bunten Leitzettel aufgepappt, so "Hannover 40", Potsdamer Bahnhof, schwarz auf grün, oder "Kassel 8", Anhalter Bahnhof, rot auf weiß, und los geht es in einem Affentempo. Für Wein, Bier, Mineralwasser gibt es besondere Lager auf jedem Bahnhof. Die Wäsche (täglich 24 000 Stück!), vom Mundtuch bis zum Bettlaken, von der Kochsmütze bis zum Scheuertuch, kommt aus den Mammutkesseln, Heißlufttrocknern, Mangelmaschinen in der Lehrter Straße in Moabit und macht dann täglich ihre Fahrten durch ganz Mitteleuropa, um nach einmaligem Gebrauch zurückzukehren.

Das Obergeschoß der Zentrale am Schlesischen Bahnhof enthält sozusagen Schwalbennester aus Glas. Steigt man hinauf, so befindet man sich aber in geräumigen Kontoren. Ein ehemaliger Generalstabshauptmann haust hier mit allen Fäden in der Hand. Er hat nach dem Kriege die Verkehrshochschule in Düsseldorf absolviert. Hier ist er, wenn auch ohne Waffe, in seinem Element: Berechnen und Organisieren!

Da könnte ich tagelang zusehen und zuhören. Eine Weile bin ich in der Bäckerei, wo den Köchen gerade Unterricht darüber erteilt wird, wie man den dort angefertigten Pumpernickel, der bei 250 Grad Hitze entkeimt ist, konservieren kann. Bei der Hörnchenwickelmaschine gerät meine Frau in Entzücken. Mir hat es der automatische riesige Knetkessel angetan, der, da wir doch Nachtbackverbot haben, aber die Speisewagen an jedem Morgen 3500 frische Brötchen brauchen, durch ein Uhrwerk bedient wird, das automatisch für die richtige Zufuhr von Mehl, Wasser, Hefe, Salz zu sorgen hat. Um fünf Uhr früh ist jeder Teig fertig, dann beginnt atemloses Schuften, und um sieben haben die Züge schon die fertige Backware. Einen Blick auf die Baumkuchenmaschine, auf das Bataillon von Pergamin-Formen für Sülzkoteletts, schließlich auf den witzigen Entschupper, der - eine Art Staubsauger für Fische - sie einmal mit dem Strich und das zweitemal gegen den Strich rasiert. Die Arbeit am laufenden Bande hat viel Unglück über die Welt gebracht; ich denke noch mit Grauen an Upton Sinclairs Schilderungen aus den Fleischereien in Chicago. Aber imponierend ist sie doch. Besonders hier in der medizinisch einwandfreien Art.

Mir ist nun auch klar geworden, welche Bedeutung der Koch im Speisewagen hat.

Daß er wohlschmeckende Gerichte zubereiten kann, das versteht sich am Rande. Aber er muß auch ein kleines Wirtschaftsgenie sein. Gibt er zu große Portionen und hat er viel Abfall, so schädigt er die Mitropa. Knausert er aber und verwendet er das unscheinbarste Fleischfetzchen, so vergrämt er die Reisenden und schädigt dadurch ebenfalls die Mitropa. Also muß er auf einen gewissen goldenen Mittelweg herauskommen. Die Mitropa führt unwiderlegliche Personalakten und hat eine förmliche Rangliste ihrer Kochkünstler.

Das hätte ich nun erkundet, da ist meine Erkenntnis bereichert. Jetzt suche ich nur noch den Mann, der mir einen Freifahrtschein und Freießschein für Lebenszeit stiftet.

Einstweilen kostet alles Geld, nicht nur das Reisen, sondern auch der Verkehr in der Großstadt selbst. Nachts geht die Untergrundbahn nicht mehr, da muß ich also, wenn ich zum Funkhaus weit im Westen will, eine Droschke nehmen. Ich muß hin. Am 6. Dezember ist auf dem Kurzwellensender für Nord- und Südamerika, für unsere Landsleute über See, im Programm unter anderem ein vergnügtes Gespräch zwischen mir und meinem Buchverleger Willi Bischoff angesetzt. Er kaut schon die ganze Zeit Malzbonbons und raucht seit Mittag nicht mehr. Ich im Gegenteil. Und nun sitzen wir da in einem - nennen wir es so - netten Herrenzimmer, das gar keinen erschreckend technischen Eindruck macht, sitzen an einem Schreibtisch, auf dem ein unauffälliger kleiner Hörkolben steht, und flapsen los, nachdem der Ansager uns auf deutsch, englisch, spanisch vorgestellt hat. Die ganze Geschichte geht so glatt wie ein Messer durch Sommerbutter. Zu ulkig, daß das, was wir aus 15 Jahren gemeinsamen Kampfes und gemeinsamer Freude erzählen, von meinen Bekannten in Buenos Aires, Valparaiso, Sao Paulo, Mexico, Washington, St. Louis, San Francisco mitgehört werden kann. Vorher hat es, in einem großen Senderaum, deutsche Volkslieder gegeben, gesungen von Schülern des Lessinggymnasiums unter Chorverstärkung durch etliche Mädel. Nachher ein Cello-Konzert. Und morgens um ½4 noch ein Hörspiel. Drüben in Amörrikäh ist es zu der Zeit erst Abend.

Die Nachtmenschen des Funkhauses - es ist doch ein großer Beamtenapparat - beneide ich nicht. Aber so einmal ausnahmsweise da seine Stimme über den Ozean schwingen zu lassen, ist eine fidele Sache. Leider muß man sich aus begreiflichen Zensurgründen genau an den vorher eingereichten Text halten. Sonst hätte ich am Schluß unseres Geplauders am liebsten in den Äther gerufen:

"Det is schnieke, det is schnafte, det is dufte, det is knorke! Määänsch . . ."
7. Dezember 1933 (Donnerstag)


15

Neuer Auftrieb für die koloniale Bewegung - Wir begrüßen . . . - "Die Flüchtlinge" - Chinesische und russische Filmproteste - Jedermann bastelt - Auf dem Weihnachtsmarkt.

Der "Clou" in der Mauerstraße, also dicht an der Leipziger, war einst eine Markthalle und ist heute, ganz modern aufgemacht und trotz des Riesenraumes behaglich, das größte Kaffeehaus Berlins, wo die befreundeten Damen, wenn sie in der City eingekauft haben, sich nachmittags treffen. Abends oder Sonntags früh dient das Lokal vielfach zu vaterländischen Kundgebungen, denn dazu hat es sich auch in den Zeiten hergegeben, als man noch seine Existenz in Frage stellte, wenn man schwarzweißrot firmierte.

Man könnte mit Fug und Recht erklären, daß wir zu so etwas heute häufiger Gelegenheit haben, als es dem Einzelnen der Beruf überhaupt erlaubt. Man kann einfach nicht mehr. Es wird etwas abgestoppt werden müssen. Und trotzdem, hoffentlich ohne daß jemand an diesem veränderten Zitat etwas zu meckern findet, darf man von dem vorigen Clou-Sonntag sagen: "Der Kube rief, und alle, alle kamen!" Zu einer Kundgebung gegen die Kolonialschuldlüge. Nicht weniger als 4400 Mann, der Fräuleins nicht zu vergessen, saßen an den Tischen in der kolossalen Halle, die Chargierten der Vereine Deutscher Studenten als farbige Abschlußmauer standen auf der Estrade, alte Schutztruppler und Marinevereine und sonst noch Zugehörige marschierten ein. Ich war in eine der erfreulichsten Gegenden geraten, neben die Weißblusigen mit schwarzer Binde, die vorn durch eine geflochtene Lederschlaufe zusammengehalten wird und hinten als Dreieck über den Nacken hängt, nämlich neben die Kolonialschar der deutschen Jungmädel, und kriegte so die elementarste Begeisterung unmittelbar kredenzt.

Es ist schön, daß man in Berlin bloß auf den Knopf zu drücken braucht, und gleich sind Tausende da. Es tröpfelt nicht, sondern es strömt in den Clou. Der jetzige Oberpräsident Kube hat schon immer, auch als es um Leib und Leben ging, auf einen Schelmen anderthalbe gesetzt, und darum ist es doppelt erfrischend, wenn er diesmal in alter Offenherzigkeit Peters einen der größten Deutschen, Erzberger einen Lumpen, Dernburg einen Nur-Bankier nennt. Und nachher, als der ehemalige Gouverneur Exzellenz Schnee spricht, geht uns wiederum das Herz durch, wenn wir hören, daß ostafrikanische Neger heute noch sagen:

"Die Deutschen haben harte Worte und gutes Herz; Engländer haben gute Worte und hartes Herz."

Die Weltgeschichte hätte wirklich ihren Sinn verloren, wenn wir, das tüchtigste Kolonialvolk der Erde, an dessen Marienburg im Osten Kube mit Recht erinnert, unsere Schutzgebiete nicht wiedererstattet erhielten.

Eigentlich erzähle ich dies alles aber nur als Einleitung zu einer kurzen kulturhistorischen Bemerkung leicht ketzerischen Inhalts. Nämlich ich flehe innerlich um endliche Abschaffung der veralteten Begrüßungsformalitäten bei Kommersen und Verbandstagungen und ähnlichem.

Der bedauernswerte Einberufer, in diesem Fall der Gauführer des Berliner Alte-Herren-Bundes der Vereine Deutscher Studenten, hat immer die herkömmliche Aufgabe, die Ehrengäste und die Befreundeten herzubeten, damit nur ja jeder genügend "ästimiert" wird, und das ist eine trostlose einförmige Angelegenheit, die das Publikum zu unruhigem Schwatz verleitet.

"Ich begrüße den Bruderverein aus . . . Wir haben die Freude, als Vertreter des Ministeriums Herrn Polizeioberst . . . Es ist mir eine Ehre, seine Magnifizenz den Herrn Rektor . . . Als Abgesandten des Heeres begrüße ich . . . Herzlich willkommen heißen wir für das Rote Kreuz . . . Ich begrüße den Chor der Hitlerjugend . . . Es ist uns eine besondere Genugtuung, Seine Exzellenz . . . Unserer Einladung ist gefolgt ferner . . ."

Solch ein Auszug aus dem Adreßbuch kann eine Viertelstunde oder länger dauern. Wieviel schöner wäre es, wenn es einfach hieße: "Allen Mitgliedern und Gästen deutschen Gruß!" Arm hoch, Arm herunter, fertig. Wie man Formalien kurz nimmt, das hat eben erst vorbildlich Göring bei der Reichstagseröffnung gezeigt.

Auch außerhalb Berlins könnte man sich das mal überlegen.

Eine wundervolle Ergänzung zu den erhebenden kolonialen Kundgebungen weiß ich übrigens für jeden Deutschen: er soll in den neuen Großfilm "Flüchtlinge" der Ufa gehen. Während des Krieges und kurz nachher sind Tausende und aber Tausende Kolonialdeutscher und Überseedeutscher in Konzentrationslager gesperrt oder wie die Heringe in Schiffen nach Hause verfrachtet worden, heim zum Volk ohne Raum. Und immer wieder auch nachher dasselbe Bild. Im Jahre 1928 verhungern und verderben mehr als Hunderttausend Wolgadeutsche in Sowjetrußland. Wer noch kann, der versucht der Hölle zu entfliehen, und wenn es über China sein sollte. Aber in den Völkersalat in Charbin in der Mandschurei - von der Filmleinewand her werden wir englisch, deutsch, russisch, chinesisch angebrüllt - krachen Granaten hinein, knattern russische Maschinengewehre. Auf deutsche Flüchtlinge wird Jagd gemacht, die internationale Kommission zuckt dazu die Achseln, denn Deutschland ist weit, und in Berlin machen Stresemann und Breitscheid bescheidene Politik.

Man kriegt die grüne Wut, wenn man diesen Film deutscher Verzweiflung sieht und hört, man fühlt es dem ehemaligen deutschen Offizier, der jetzt in chinesischen Diensten steht, nach, wenn er auf ein solches Vaterland pfeift. Auch auf seine verängsteten Landsleute, auf das ganze aufgeweichte Pack. Aber da ist ein Mädel darunter, Schwester eines deutschen Ingenieurs von der Wolga, das hat Mut. Hans Albers - natürlich ist es Albers - tut einen tiefen Blick in Käte v.Nagys Augen, dann packt er zu, wirft den goldstrotzenden chinesischen Waffenrock ab, geht hemdsärmelig an die Arbeit, kapert einen Zug, flickt die zerschossenen Schienen und haut mit den Deutschen ab.

Ich will aber nicht etwa den ganzen atemraubenden Film erzählen, sondern nur einiges Nette von dem Drum und Dran hinter den Kulissen.

Von dem naturgetreu für mehrere hunderttausend Mark aufgebauten Charbin draußen in Neubabelsberg habe ich schon vor Monaten berichtet, als dort gedreht wurde. Nun kommt die Nagy (sprich nadji, fast nadschi) an, und sie, die sonst Gesellschaftsrollen spielt, hat sich dazu ein paar fabelhaft elegante Breeches, first class ladies fashion, bei einem ersten Schneider bauen lassen. Der Regisseur Ucicky aber sagt nur:

"Hosen runter! Schminke runter!"

Ja, meine Liebe, wenn man, wie aus der Vorgeschichte des Films ersichtlich, auf der Flucht 4000 Kilometer durch Sibirien getippelt ist, dann ist man nicht mehr elegant, sondern abgerissen. Solisten und Komparsen, alle müssen sich diesem Gebot der Realistik fügen, denn hier, wo ein junger Deutscher auf den Schienen erschossen wird, vor Durst halbirre andere Deutsche das Wasser der Lokomotive wegsaufen wollen, nebenan im Viehwagen eine junge Frau in Lumpen einen Buben gebiert, da brauchen wir nicht schöne Kleider und Gesichter. Gut, das wäre gemacht, denn männiglich sieht ein, daß der Meister des Scheinwerfers Recht hat, wenn er Menzels Flüchtlingsroman nicht versüßlichen läßt.

Aber da gibt es noch andere Hindernisse.

Ein Legationsrat von der chinesischen Gesandtschaft in Berlin protestiert täglich. Es dürfe kein Kuli gezeigt werden, der eine Rickschah zieht. Auch kein Straßenhändler mit einem Verkaufsstand, der aus vier Bambusstäben und einer Matte darüber besteht. Auch sind die strohgeflochtenen Flachkegel als Kopfbedeckung dem chinesischen Ansehen sehr abträglich, man wünscht nur steife Filzhüte, europäische sogenannte Melonen. Alles echte und volkhafte soll weg, denn man sei doch zivilisiert.

"Die Kuomintang-Regierung will überhaupt nicht, daß Chinesen in ausländischen Filmen auftreten!"

Haste Worte?

Dabei hat die Ufa eigens 160 Chinesen in Rotterdam im Hafenviertel aufgelesen und gemietet. Es hat dort eine große Keilerei gegeben, weil noch mehr als 160 mitwollten.

Und dann läuft der Pressechef der Sowjetbotschaft in Berlin der Ufa die Türen ein. Protest, Protest! Da schießt ja nach den vorher veröffentlichten Bildern ein russisches Maschinengewehr einfach in die Volksmenge. Unerhört! Man bedeutet dem Herrn lächelnd, so etwa solle ja in Rußland und Umgegend tatsächlich vorkommen, aber er brauche wirklich keine Bedenken zu haben, sondern solle sich nur den ganzen Filmstreifen ansehen. Bitte sehr, nur Schreckschüsse! Denn es falle ja niemand . . .

Und schließlich schütteln auch die Eisenbahner auf dem stillgelegten Güterbahnhof bei Ferch, wo die Wagen und Maschinen auf chinesisch umfrisiert sind, die Köpfe. Da ist von den Ufa-Leuten, den zerschlissenen Komparsen unter Albers Leitung, nach losem Ausfüllen eines Granattrichters ein Notgleis darübergelegt worden. "Das geht ja garnicht, das ist ja Leichtsinn!", sagen die Eisenbahner. "Aber das wollen wir gerade, im Film sind es doch auch nicht Fachleute!", erwidert der Spielleiter Ucicky. Der Ordnungssinn des deutschen Eisenbahners empört sich dagegen, daß eine schwere Lokomotive über so einen fragwürdigen Unterbau laufen soll. Aber allmählich werden sie und die Kameramänner die besten Freunde.

Gerade diese Szene hat dann bei der Uraufführung den größten Eindruck gemacht. Als die Maschine langsam anfährt, die Schienen ächzend sich durchbiegen, einzelne Schottersteine aus der Bettung herausgequetscht werden, der ganze Zug aber richtig darüber wegkommt, braust spontaner Beifall los. Dieser wunderbare rein technische Vorgang hat dem Publikum mehr imponiert als Flucht und Knallerei und Sprachengewirr und Fremdheit.

Bloß kein falsches Parfum! Bloß keine unechte Ordnung! Menschen und Menschentat!

Für Kino und Theater ist kurz vor Weihnachten allerdings schlechte Zeit. Jedermann bastelt zu Hause. Ich selber mache meine einzige alljährliche Handarbeit, ein großes phantastisches Pfefferkuchenhäuschen. Vor Jahren stand es einsam da, davor Hänsel und Gretel. Dann wurde ein Koben angebaut, mit einem Marzipanschwein darin. Auch der Wintervorrat an Brennholz, ebenfalls aus Pfefferkuchenteig, bekommt neuerdings seinen besonderen Verschlag. Die jetzt erwachsenen Kinder futtern noch immer besonders gern das Dach, denn das ist mit Plätzchen und Drops und Mandeln bepflastert. Die Handarbeit der Hausfrau, große Blechbüchsen voll Spekulatius, ist schon fertig. Und wenn man dann am Heiligen Abend von seinem Teller allerlei sonst noch genascht hat, hat man für das Berliner Weihnachtsgericht, Karpfen in Bier, oder sonst etwas Festlich-Reichhaltiges keinen Platz mehr; da ist bei uns nur der Heringsalat - sozusagen als Gegengift - bekömmlich.

Der Berliner Weihnachtsmarkt auf Straßen und Plätzen, wo man sonst um diese Zeit oft über Regen greinte, der die Käufer vertrieb, hat diesmal etwas unter Kälte zu leiden. Bei 12 Grad unter Null bleibt niemand gern zu langem Aussuchen vor einer Bude stehen. Nicht einmal vor der des Japaners am Leipziger Platz, der für je 5 Pfennige überraschende Papiergewebe an Holzstäbchen verkauft, die bei jedem Ruck eine andere Gestalt annehmen, oder kleine Muscheln, die, ins Wasser geworfen, sich öffnen und in wenigen Minuten eine große Blume entsprießen lassen. "Ein Wunder, ein Wunder!", jauchzen die Kinder daheim; und der Vater schweigt und will ihnen die Einbildung durch Fremdworte wie Kapillarkraft und Zellulose nicht zerstören.

Natürlich gibt es wie immer die kleinen beweglichen Spielsachen aus Blech oder Stoff: "'n Jroschen kost' det kleene Aas - Looft un macht forn Daler Spaß!" Oder "Der kleine Wauwau - Macht keinen Radau - Ist stubenrein und steuerfrei!" Ganz einwandfrei sind diesmal die Inschriften der Honigkuchenherzen, währen sie früher das Anstößige mehr als nur streiften. Harmlosigkeiten wie "Olle, brumme nicht!" kann man sich schon gefallen lassen. Am nettesten finde ich, für Verliebte von 17 bis zu 70 Jahren zu Anschaffung empfohlen, das Backwerk mit dem Zuckerguß:

"Dieser Kuchen schmecke dir
Wie der erste Kuß von mir!"

14. Dezember 1933 (Donnerstag)



Glossen 10 - 12

Jahresinhalt

Glossen 16 - 18

© Karlheinz Everts