"Rumpelstilzchen"

"Sie wer'n lachen"
(Jahrgangsband 1933/34)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 10 - 12
9. bis 23. November 1933


10

Anregung oder Entspannung ? - Großstadt-Geselligkeit mit Koryphäen - "Der Leckerbissen" - Luckners Erzählungen - Neue Appartementhäuser - In der Muckepicke - Der Rittergutsbesitzer schickt Rechnungen.

In der Kleinstadt oder auf dem Dorfe bedeutet Geselligkeit eine notwendige Anregung in dem sonstigen Einerlei. Ob man ein Hauskonzert oder einen Skatabend oder einen Kaffeeklatsch veranstaltet, ist gleich; Hauptsache bleibt der Auftrieb, den man dann in die Tagesarbeit herüberrettet. Man ist auf einmal nicht mehr so einsam, wenn man Menschen gesehen und sich mit ihnen "ausgeklöhnt" hat.

Ganz anders ist es in einer Weltstadt, wo man nicht Anregung, die sich bei dem ersten Schritt auf die Straße überall bietet, sondern Entspannung braucht.

Da kommt das tiefe Aufatmen, wenn man allein unter sich daheim ist, einmal ledig aller geselligen sogenannten Verpflichtungen. Man hat jahrelang hin und wieder die Tanzstundenlieben der Kinder zusammengetrommelt und sich für diese Feste abgeschunden und hat sie durch zahlreiche Einfälle verschönt und immer gute Miene gemacht. Man hat selber Besuche von älteren Leuten empfangen und erwidert, immer scharenweise, obwohl die Gespräche selten mehr als das boten, was man selber aus der Zeitung wußte. Wie schön, wenn man sich nun auf wenige wirkliche Freunde beschränken kann, und die ganze Hatz, der ganze Betrieb sachte hinter einem versinkt.

Aber es gibt Häuser mit beruflichem Muß des Sichzeigens oder mit unberufenem gesellschaftlichem Ehrgeiz. Die machen auch in Berlin noch was her. Da wird auf möglichst bunte Zusammensetzung der Gesellschaft gesehen. Wenn ein berühmter Künstler oder ein leibhaftiger Prinz oder auch nur ein Standartenarzt oder eine alte Exzellenz dabei ist, so freut sich das Herz. Natürlich wissen diese Leute, weshalb sie eingeladen sind, und quittieren mit mildem Lächeln. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Wenn es Euch wirklich so viel Spaß macht . . .

Da sitzt ein junger Hohenzoller in einem der beiden Erker des großen Saales und macht mit ein paar anderen Gästen höflich Konversation. Ihm naht nach einer halben Stunde eine Dame, die es sicherlich sehr gut meint und schelmisch-naiv dazu lächelt, und sagt:

"Eure Königliche Hoheit sind nun die ganze Zeit auf demselben Fleck, jetzt muß ich Eure Königliche Hoheit mal als Leckerbissen auch bei den anderen Herrschaften herumreichen!"

Der Prinz schnellt ritterlich empor und geht auf den Wunsch ein. Aber was mag er sich zu dieser Offenherzigkeit denken? Also es hat Tee, Kaffee, Likör, belegte Brötchen, kleine Kuchen und ihn selber als Fraß für die Gesellschaft gegeben. In dem Erker bleiben ein Maler-Professor und drei Damen, darunter meine Frau, zurück und freuen sich, wie liebenswürdig und folgsam der Prinz ist. Aber keiner der Anwesenden möchte mit ihm tauschen. Es ist wirklich nicht leicht, Leckerbissen zu spielen.

Im übrigen war es sehr nett und auch für mich, der ich mit Vorliebe häuslicher Höhlenbewohner und nur von Berufs wegen draußen bin, dann aber nie an Ehrentafeln, sondern als bewußter Beobachter im namenlosen Publikum auf der Galerie, außerordentlich fesselnd.

Ich habe zum zweitenmal in meinem Leben mit dem von mir hochverehrten Potsdamer Theaterintendanten Pehlemann ein wenig über alte und neue Kunst plaudern können, ich habe den jungen Bildhauer Lederer getroffen, von dem eine zum Schreien komische Akt-Statuette des singenden Richard Tauber ("Mädchen, mein Mädchen") mit Hängebauch und Hottentottengesäß stammt, und ich habe wohlig die Suada des Grafen Felix Luckner auf mich herniederprasseln lassen, der einer der besten Erzähler ist, die Berlin kennt.

Für die Reichsmarine war dieser Bombenkerl schließlich ein bißchen zu plattdeutsch, ein bißchen zu sehr Original. Er arbeitet auch jetzt als Privatmann für das Vaterland, mal in Amerika, mal in Schweden. Sehr lieb von ihm, daß er mir bei der Begrüßung nicht den Mittelhandknochen zerbrochen hat. Da er wie weiland August der Starke Taler zusammenrollt, als seien sie aus Staniolpapier, wäre es ihm doch ein leichtes gewesen. Sein Unterarm ist hart wie Eisen und so dick wie der Biceps eines Weltrekord-Gewichthebers. Er läßt es sich, als ich ihn darum bitte, lachend gefallen, daß meine Frau ihn darauf antippt. Mit diesem Unterarm und diesem Handgelenk könnte er den Teufel am geölten Schwanze aus der Hölle ziehen, selbst wenn zehntausend Unterteufel sich dagegen stemmten. Denn die platzen doch schon aus, wenn er von St. Pauli in Hamburg zu plaudern anfängt. Wie er da, als junger Handelsmatrose, mit einem Kameraden, beide vollkommen duhn, von der Polizei gepackt und auf die Wache gebracht wird.

"Wie heißen Sie?"

"Ick heet Schiller!"

"Und Sie?"

"Ick heet Joethe!"

"Na, denn man rin, da findet Ihr den Kloppstock!"

Man könnte jedesmal, wenn man mit Luckner beisammen gewesen ist, ein ganzes Anekdotenbuch mit seinen geschnurrten Erzählungen füllen. Manchmal sind sie auch ernst, und dann von einem lodernden Patriotismus. Und alles ist einem neu und unerhört. "Wat, dat weeten Sei nöch?" Nein, wirklich nicht. Also in Japan, da hingen jetzt in allen Schulen Weltkarten in Merkator-Projektion, in der Mitte Deutschland als weißer Fleck. Und aus allen 26 Staaten der Erde, die gegen Deutschland Krieg führten, zielten eingezeichnete rote Pfeile auf diesen Fleck. So verherrliche Japan unseren Heldenkampf. Darunter stehe:

"Deutschland 2 Millionen Tote; die Gegner 14½ Millionen Tote."

Und noch ein paar ähnliche Notizen, die das junge Japan anstachelten, ebenso tapfer gegen eine ganze Welt sich zu behaupten.

Na, na . . .

Es wird schwerer und schwerer, für dieses Urbild von Kraft und Laune, für diesen Grafen Luckner, den geeigneten Rahmen zu finden. Die passenden Gesellschaftsräume hören mehr und mehr auf. Sogar schöne Grunewaldvillen, von ihren bisherigen Inhabern aufgegeben, werden heute in 3- und 2-Zimmer-Mietwohnungen umgebaut. Junge Paare der sogenannten besseren Schichten heiraten heute in 2 Zimmer hinein. Bei Tage sieht das eine wie ein Speisezimmer aus, das andere wie ein Herrenzimmer, das genügt also für kleine Geselligkeit. Nachts wird das Liegelang (die "Couch") in dem einen und dem andern Raum in ein Bett verwandelt. Nun gibt es in Berliner Neubauten aber auch 1-Zimmer-Appartements mit Alkoven, in den gerade zur Not zwei Couches oder Betten passen, einer puppenhaft winzigen Küche und Badestube, alles ungemein praktisch mit eingebauten Schränken eingerichtet. Miete - Fahrstuhl, Heizung, Warmwasser und sogar Automaten-Fernsprecher eingeschlossen - 85 bis 100 Mark monatlich. In der Fridericia-Straße, dicht am Kaiserdamm, habe ich mir solch ein "Appartement-House", wie es der Engländer nennt, angesehen. Sämtliche 48 Wohnungen sind vermietet. Ein weiteres gleiches Haus daneben wird gerade fertig und ist auch schon zur Hälfte besetzt. Es ist wirklich sehr bequem, besonders, da gegen eine kleine Gebühr auch Bedienung gestellt wird.

Wo man aber etwaige Kinder unterbringen soll, das ist ein unlösbares Rätsel. Diese Häuser sind der dernier cri der abgelaufenen Periode, in der die Nation sich zum allmählichen Selbstmord rüstete. Mit der Freude am Kinde und am Wachstum des Volkes müssen die an sich fein ausgeklügelten Bauten wieder verschwinden.

Heute ist es noch so, daß 1-Zimmer-Wohnungen - mit Garage die gesuchtesten sind. In der Jahresklasse, in der sich beispielsweise unser Jüngster befindet, lautet die Parole: entweder schafft man sich eine Braut oder ein Auto an. Beides kostet ungefähr gleichviel.

Ich habe nie zu träumen gewagt, daß ich je ein eigenes Auto besitzen würde. Ich habe, wenn ich einmal in einer Droschke hin und her rase, so viel unterwegs zu lesen oder durchzudenken, daß ich schon weiß: besäße ich einen eigenen Wagen, so müßte ich auch einen Chauffeur haben, und das kann ich mir nicht leisten. Aber siehe da, nun kommt am Sonnabend plötzlich irgendwo von der Ostseeküste her eine Muckepicke dahergeraschelt, und darin sitzt als stolzer Besitzer ("auf Stottern") unser Jüngster und lädt uns zu einem Ausflug nach Potsdam ein. Gar nicht so dumm. "Der kleine De-Ka-We läuft wie ein Wiesel", sagt und beweist Monsieur am Steuer.

Am Abend sind wir im Theater, in dem köstlichen "Krach um Jolanthe". Der Wagen wird gegen 50 Pfennige Wachgebühr auf einem Parkplatz abgestellt.

"Mensch, warum denn 50 Pfennige", sage ich zu unserem Sohn, "hättest du das Dings doch in der Garderobe abgegeben, da kostet die Aufbewahrung nur 30 Pfennige!" Anderthalb Tage lang - am Sonntag Vormittag geht es nach Döberitz zu dem älteren Jungen - amüsieren wir uns bei dem Neckspiel. Ein bekannter, der einen großen Wagen hat, fragt: "Sagen Sie mal, können Sie mit Ihrem Apparat Paris hören?" Und wir erklären unserem Jungen, er könne ruhig bei Rotlicht eine Straßenkreuzung überqueren, denn ohne Feldstecher werde doch kein Schutzmann ihn sehen. Aber es ist doch wirklich eine feine Sache, man saust in dem Wägelchen bis zu 80 Stundenkilometer herunter, und dabei frißt es nur ganz bescheiden Benzin und Öl.

Es gibt ja auch Leute, die sich heute noch einen großen Mercedes oder gar Maybach zulegen. Sogar Leute vom Lande, denen jetzt nach der Tortur der letzten Jahre eine Atempause gegönnt ist.

Vielleicht würde ich an Stelle dieser Herrschaften etwas zurückhaltender sein.

Man kann nichts dagegen einwenden, wenn alter Besitz - Kapital ist doch nur aufgespeicherte Arbeit, Arbeit etwa auch der Eltern und Voreltern - oder neue Kunst sich so etwas gönnen. Aber es wird einem übel, wenn man sieht, wie noch in unseren Tagen, über denen das Wort "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" leuchtet, zuweilen in kleinlichster Weise das Geld zusammengescharrt wird. Wer mich kennt, der weiß genau, daß ich nie in die Schimpfereien der Asphaltpresse auf die "Großagrarier" einstimmte, weil es in der Mehrzahl Menschen sind, die von unendlich viel größerer Bedeutung für Volk und Vaterland sind als die Intellektuaille. Nur die Ausnahmen darf man nicht unzerzaust lassen, und von einer solchen krassen Ausnahme möchte ich heute erzählen.

Also eine Filmgesellschaft machte sich aus Berlin mit den Darstellern und dem ganzen Stabe auf, um auf einem Rittergut eine Sache zu drehen. Der Besitzer bekommt als Entschädigung dafür, daß er seine Felder und seine Herden und einen alten Schafstall für die Aufnahmen hergibt, das anständige runde Sümmchen von 20 000 Mark.

Der Mann müßte einen Luftsprung machen, nicht wahr?

Aber nein, er setzt sich an seinen Schreibtisch und diktiert der Gutssekretärin Rechnungen für "Extras". Also 3 Rehböcke, die er sonst geschossen hätte, seien ihm durch den Betrieb der Kurbler vergrämt, macht so und so viel. Dann sei das Schoßhündchen der Filmdiva verpflegt worden, macht 50 Pfennige pro Tag. Und schließlich habe er die leitenden Herren und einige Damen einmal zum Kaffee eingeladen (mit Weißbrot, Butter und Honig, bitte), macht justament 19 Mark.

Da müßte doch wirklich die "Faule Grete" wieder einmal abprotzen!
9. November 1933 (Donnerstag)


11

Der saubere Wahlsonntag - Schuldschein-Inflation bei den Gewerkschaften - Jedermann weiß heute Witzchen - Eintopfgericht und Vegetarier - Bernhard Etté im Exzelsior.

Eine Stadt, die am Wahlsonntag Sauberkeit atmet, erscheint uns als Wunder. Nirgends der Unrat der gehäuften, zerknüllten, zertretenen Flugblätter wie ehedem, wo 23 Parteien wie weiland die Altkleiderhändler am Mühlendamm uns ansprachen und beschworen und am Rockknopf packten. Nicht einmal der Regen der gestanzten kleinen Hakenkreuze aus Papier. Auch knattern keine Lastautos, bepackt mit Hoch- und Niederrufern, von denen jeder 3,50 Mark dafür erhält, durch die Straßen, werden keine Stöße von Aufrufen von dort unter die Fußgänger geschleudert.

Es ist ganz unsagbar feiertäglich.

Wie zu einem Weiheakt, innerlich erhoben, gehen wir mit unserem Dienstmädchen zum Wahllokal. Der Bräutigam unserer Martha, ihre Schwester und deren Mann, dann der uns bekannte Fabrikant aus einem Vorort, eine Gräfin und ihre Muhme, der Portierssohn, der Blumenhändler drüben, die Verkäuferin in unserem Fleischerladen, überhaupt jedermann, der für das Wort erreichbar ist und etwas darauf gibt, ist für das doppelte Ja von uns angegangen worden. Dazu habe ich zwei öffentliche Aufrufe an die lieben Freunde im Lande gerichtet. Nun marschieren wir alle im Geiste miteinander für ein gesäubertes Deutschland und auch schon in einem gesäuberten Deutschland, das ganze Volk hat sozusagen sein Sonntagsgewand an, es geht zu einem gemeinsamen Fest. Hoch und Gering nebeneinander, das gleiche Gefühl in jedem Herzen, aus dem niemand eine Mördergrube gemacht hat, denn man hat ganz offen geworben.

Nur ganz wenige Leute habe ich getroffen, die das zweite Ja, unter die Einheitsliste für den Reichstag, nicht ankreuzen mochten, sondern lediglich das erste, das die Billigung der Außenpolitik der Regierung ausspricht.

Leute mit zusammengekniffenen Lippen.

Soweit es Arier sind, wirkliche Deutsche, gehören sie zum Teil zu den entlassenen bisherigen Rotbonzen, denen die ganze Gefolgschaft heute den Rücken dreht. Zum Teil zu denjenigen Nationalgesinnten, denen, um ein Bild aus Indien zu gebrauchen, der Wagen des heiligen Dschaggernaut über die Knochen gegangen ist. Während das Volk ringsum in Ekstase ist, sind sie, die ursprünglich selber begeistert mitgetan haben, auf der Strecke geblieben.

Hier müssen helfende Hände eingreifen. Ich kann so bald den verbitterten Mund des ehemaligen Leutnants, jetzigen abgebauten Schriftstellers und Parteiredners, nicht vergessen, der 1923 mit unserem Ältesten und etlichen hundert anderen Aktiven zusammen den Hitlerputsch in München mitmachte. Heute geht er als Arbeitsloser stempeln.

Um so erfreuter ist man über die Millionenscharen der früher von den Roten verführten, verhetzten, betrogenen Arbeiter, die heute in einer ganz freien und geheimen Wahl sich bewußt auf die nationale Seite geschlagen haben. Von je zehn haben neun für das Dritte Reich der Sauberkeit und der Hoffnung gestimmt, nachdem sie die Republik der Schmutzigkeit und Trostlosigkeit wirklich erkannt haben. Was für eine Erkenntnis es ist, das steht nicht an den Anschlagsäulen und in den Zeitungen, das läuft aber in der Arbeiterschaft jetzt von Mund zu Mund.

Nämlich: was die Gewerkschaftsführer verbrochen haben.

In der und jener Ortsgruppe, fast scheint es, in jeder, hat der Kassierer einen Teil der Mitgliedsbeiträge oder gar alle unterschlagen, manchmal mit den übrigen Vorstandsgenossen Kippe gemacht. Als der Umschwung kam, waren die Kassen in heilloser Unordnung, waren verschiedene Gewerkschaften bankerottreif. Um öffentlichen Skandal zu vermeiden, legte man den Kassierern, Vertrauensmännern, Vorständen entsprechende Schuldscheine (auf Abzahlung bis zu einer Mark wöchentlich herunter) zur Unterschrift vor, um diese Scheine als "Vermögenswerte" ins Depot zu nehmen.

Anfangs wurden die Scheine auf der Maschine geschrieben. Aber der Bedarf an diesen Unterschlagungs-Vertuschungszetteln war zu groß. Da ließ man sie tausendweise formularmäßig drucken.

Vor einem halben Jahre haben die Arbeiter sich noch vielfach widerwillig - "Der Bien muß" - in die neue Front einreihen lassen. Heute treten sie aus Überzeugung ein. So ist das Wunder der 92,2 Prozent zu erklären. Nur einmal in der Weltgeschichte hat es eine ähnliche Volksabstimmung gegeben. Das war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, als die Franzosen keine Nation zweiter Klasse werden wollten. Im Januar 1852 fand das Plebiszit statt, wo Napoleon III. 7,8 Millionen Stimmen gegen nur 253 000 Gegner erhielt. Stärker ist noch der Eindruck des vorigen deutschen Sonntags. Denn bei uns war jedes Mogeln ausgeschlossen.

Freilich ist es nicht so, daß die Wähler nun etwa mit jeder Einzelheit des heutigen Systems einverstanden wären; ein schlechter Chroniqueur, der das behaupten wollte. Gegen manches Neue sträuben sich auch Jasager, besonders, wenn es den lieben Geldbeutel trifft. So kann man bei den Gastwirten kein lautes Entzücken über das Eintopfgericht erwarten, das ihnen ein Sonntagsgeschäft im Monat wegsteuert. Andere Leute nehmen umgekehrt Anstoß an der oder jener Pomphaftigkeit und kolportieren Geschichten von dem einfachen Auftreten etwa des Königs Friedrich Wilhelm III., der die große Hofkarosse mit den Worten ablehnte: "Bin ich eine Kanone, daß mich sechs Pferde ziehen müssen?" Aber im allgemeinen wird Ungewohntes humoristisch genommen. Jedermann, dem man begegnet, und wenn es ein hoher Ministerialbeamter ist, lächelt und sagt: "Kennen Sie schon den neuesten Witz über meinen Chef?" Es hat nicht einmal so viele Serenissimus- oder Frau-Pollack-Geschichten gegeben, als heute an erheiternden und dadurch erleichternden Anekdoten umläuft. Sie sind ein gutes Ventil.

Es wäre schön, wenn alle Menschen Spaß verstünden und eine Sammlung des ganzen Ulks erscheinen könnte, angefangen von der Erzählung, daß der liebe Gott größenwahnsinnig geworden sei und glaube, er sei zum Sturmbannführer ernannt, über hundert Ministeranekdoten hinweg zu der netten Geschichte von dem Volksschullehrer, der die neuen Abc-Schützen nach den Vornamen fragt, zu "Erwin" und "Dietrich" bemerkt, das seien ja prächtige deutsche Namen, dann den kleinen Goldberger aufruft und von ihm hört:

"Sie wer'n lachen, Herr Lehrer, ich heiße Adolf!"

Schon mit solchen Harmlosigkeiten könnte man ein artiges Bändchen füllen. Eigentliche Bissigkeiten habe ich bei all dem schmunzelnd Weitergegebenen überhaupt nicht bemerkt. Oder sie sind zu dumm, als daß sie noch für humoristisch gelten könnten. So der Ausruf "Gemeinheit geht vor Eigennutz", den ein Wirt in dem Augenblick ausstößt, als ihm die - natürlich falsche - Nachricht überbracht wird, fortan gebe es an jedem Sonntag, nicht nur am ersten im Monat, das Eintopfgericht. Die Aufgeregten können sich wirklich beruhigen. Nicht ganz leicht hat es nur manchmal die Hausfrau, wenn Gäste am ersten Sonntag kommen, die Vegetarier oder gar Rohkostler sind.

Also schmackhaft wird nach meiner freilich unmaßgeblichen Auffassung ein Eintopfgericht nur auf der Grundlage einer Fleischbrühe. Die ist für Vegetarier und Rohkostler unantastbar. Sicherheitshalber bringt sich also einmal ein junger Mann, der über Mittag bei uns sein soll, einen Kopf rohen Blumenkohls mit, dazu eine Bürste zum Abstauben und einen Klecks Butter.

Der Besucher kratzt, ohne daß wir als höfliche Menschen einen Ton sagen, mit der Bürste seinen Blumenkohl ab. Da kann ich mir eine Warnung denn doch nicht verkneifen, während ich bislang still war, und ich rufe dem jungen Mann zu:

"Menschenskind, die Bürste hat doch Schweineborsten!"

Da guckt der Gast mich an wie ein Karpfen am Angelhaken, blöde und entsetzt. Er hat also, das wird ihm erschreckend klar, Tierisches in seinen Blumenkohl hineingebürstet. Er macht ein Gesicht wie unsereins, wenn Freunde im chinesischen Restaurant sagen, in dem aufgetischten Ragout seien Regenwürmer.

Wir essen viel Krautsalat, Mohrrübensalat, auch Wirsingkohl roh, und tun in gekochten Sauerkohl ungefähr die Hälfte nur kurz überbrühten. Aber wir haben gemischte Kost. Ich nehme mit Wonne ein Stück gute Rinderbrust oder ein Scheibchen Huhn oder ein Schweineschnitzel zu mir. Das heizt das Gehirn, meine ich. Der berühmteste Ernährungsphysiologe der Welt, Professor v.Noorden, ist auch für zweierlei, nicht bloß für Pflanzenkost, die, wie er erklärt, besser den Affen im Urwald anstünde. Ich sage nichts gegen die Vegetarier, die es aus Überzeugung sind und denen es gut bekommt, ich weiß auch, daß sie vor Jahrzehnten einmal, als sie alles für ihre Lehre einsetzten, einen Dauermarsch gegen Beefsteakesser gewonnen haben. Aber es macht mir viel Vergnügen, daß ich in einem soeben durchschmökerten köstlichen Nietzsche-Buch von Luise Marelle, "Die Schwester", im Brunnen-Verlag erschienen, folgende Stelle aus einem Brief Nietzsches an seine Mutter über seinen nach Paraguay ausgewanderten Vegetarier-Schwager Dr. Förster lese:

"Ein Kunsthistoriker, ein Gymnasialprofessor als Kolonisator erscheint mir einfach lächerlich. Pflanzennahrung, wie Dr. F. sie will, macht solche Naturen nur noch reizbarer und verstimmbarer. Man sehe sich doch die fleischfressenden Engländer an, das war bisher die Rasse, welche am besten Kolonien gründete. Phlegma und Roastbeef war bisher das Rezept für solche Unternehmen."

Das Dritte Reich ist zum Glück nicht so spartanisch, daß es uns allen dieselbe Blutsuppe vorschreibt, sondern es gönnt uns jeden Genuß, den wir uns erarbeiten. Man höre und staune: es schafft jetzt sogar die Schaumweinsteuer von einer Mark je Flasche ab. Diese Steuer brachte sehr wenig ein, weil die Erhebungskosten zu groß waren, ließ aber den Konsum und damit die Beschäftigung in den Sektfabriken nicht genügend hochkommen. Am Tage des Erlasses fragt schon ein Gast im Café Exzelsior, ob er eine halbe Flasche unversteuerten Henkell trocken bekommen könne . . .

Dieses Hotelcafé ist nach langen Monaten der Öde jetzt wieder pfropfenvoll. Der Besitzer hat sich wie Gerhart Hauptmann gleichgeschaltet. Das al-fresco-Bild des Herrn Böß ist aus den Bierhallen verschwunden, dafür prangen im Café die Ölgemälde von Blomberg, Frick, Hindenburg, Hitler, Goebbels, Göring; letzteres mit dem breiten grünen Bande des Mauritiusordens über der Brust. Und nicht zu vergessen: Bernhard Etté spielt zum Tanze auf. Dieser semmelblonde Refugié-Abkömmling sieht zwar - das war im abgelaufenen Jahrzehnt, bevor jetzt der militärische Haarschnitt wieder aufkam, so Mode - wie ein Friseurgehilfe aus, geigt und dirigiert aber wirklich hinreißend.

Dabei in einer unnachahmlich lässigen Art. Er wedelt nur so ein bißchen mit der Hand wie ein Seekranker, der den mit voller Schüssel nahenden Steward an Deck abweist. Sein Mund ist wehmütig verzogen, die Kniekehlen wippen leicht im Takt. Aber gelegentlich wird Etté lebendig, lacht die Leute an, redet auf seine Musiker ein. Und das ganze Publikum, darunter die ernsthaftesten Generaldirektoren, die zu einer Konferenz nach Berlin ins Hotel Exzelsior gereist sind, schunkelt mit, wenn es ertönt:

Mit dir, Erika,
Möcht' ich mal wandern,
Mit dir, Erika,
Und keiner andern!

16. November 1933 (Donnerstag)


12

Zum Skagerrakball - Uniformen, Uniformen, Uniformen - Was der Prinz der Niederlande erzählt - Admiral v. Lans - Kube als Kommersredner - Das Theater der 50000 - Mit Reinhard bei der Kaiserin - Herminen-Hilfswerk.

Tüt, tüt, tüt!

Vorne klar. Achtern klar. Alles klar.

Nach den drei kurzen Hupensignalen der Verständigung sausen die drei Kleinautos in Kiellinie los. Zum Skagerrakball in den Zoo natürlich. Sie sind von der Wasserkante gekommen und haben so viel Menschenfracht gebracht, daß alle unsere Gastbetten besetzt sind. Allerdings erst von morgens 6 Uhr ab, denn selbstverständlich, das ist Ehrensache, sind die jungen Leutnants bis zum Kehraus auf dem Ball geblieben und haben dann noch erst verschiedene Damen nach Hause gebracht.

Die Marinierten staunen Bauklötze. So hätten sie sich das nicht vorgestellt. Nein, gegen dieses Berlin sei sogar Kiel nur ein elendes Kaff. Hand aufs Herz: auch wir Berliner haben gestaunt. Einen solchen Skagerrakball haben wir noch nie erlebt, einen solchen Ball überhaupt seit Vorkriegszeiten nicht. Die Damen ausgesucht beste Gesellschaft, kaum ein eingeschmuggeltes Mäuschen darunter, viel blühende Jugend, ausgesprochen geschmackvolle Abendkleider. Die Herren überraschend viel in Uniform, mehr, als man seit 1918 je gesehen hat, vor allem Flotte und Heer, demnächst Polizei, Luftfahrt, Schutzstaffel, dann der türkische Militärattaché und sonstiges zweierlei Tuch. Und von vornherein Stimmung, Gelöstsein, Beschwingtheit.

Der letzte Presseball Ende Januar, dem die gerade zerplatzte vorige Regierung ferngeblieben war, ist demgegenüber wirklich eine popelige Sache gewesen.

Im Marmorsaal, Bankettsaal, Gartensaal, auf den Galerien und in der roten, grünen, gelben Veranda, die auch Riesensäle sind, ist kein Platz frei. Wir haben ein Tischchen im Bankettsaal mit nur vier Stühlen bestellt, denn die Jungs sitzen doch kaum, sondern tanzen zumeist oder gehen mit ihren respektiven Damen schnell an die Bar in der grünen Veranda einen zischen. Aber zu den vier Stühlen müssen noch ein paar andere, schließlich auch noch ein weiteres Tischchen hinzu, denn auf diesem Ball kommen so viel Bekannte auf einen kurzen Plausch heran. Da ist der famose alte U-Böter, jetzt rechte Hand Görings im Luftfahrtministerium, mit seiner lieben Frau, mit dem muß man schnell etwas klöhnen. Da kommt ein Fregattenkapitän aus der alten Kaiserlichen Marine, der kürzlich zum ersten Male in seinem Leben eine Jagd mitgemacht hat und stolz erzählt:

"Ich habe einem Hasen einen Volltreffer ins Heck gesetzt, so daß er mit Schlagseite nach Backbord ausschor!"

Da kommt - eigentlich gehört er in die Ehrenloge im Marmorsaal - der Prinz der Niederlande und sitzt gute anderthalb Stunden bei uns und ist so "menschlich" wie der Herrgott im Auftakt zu Goethes Faust, indem er ohne Gêne das gerade volle Glas eines unserer Flottengäste leert und ein Kreuzfeuer von Anekdoten und Witzchen mit mir austauscht. Es ist ganz toll, aber wahr: ich kann dem Gemahl der Königin von Holland nichts Neues erzählen, er kennt schon alles. Umgekehrt muß ich lächeln, wenn er sagt: "Das können Sie drucken!", denn was er erzählt, das kenne auch ich. Natürlich geraten wir auch in die Politik, und da sagt der Prinz der Niederlande:

"Die Völker Europas können Hitler auf den Knien dafür danken, daß er einen Damm gegen den Bolschewismus aufgeworfen hat. Das ist keine chinesische Mauer, die man zerschießen kann, das sind 42 Millionen lebendiger Menschen mit glühenden Herzen. Wer da glaubt, die bolschewistische Welle hätte ohne Hitler an den Grenzen Deutschlands Halt gemacht und wäre nicht in die Nachbarländer geschlagen, der ist ein Ochse."

"Gestatten Eure Königliche Hoheit, daß ich das weitererzähle?"

Ich begehe nicht gern Indiskretionen ohne Erlaubnis. Der Prinz Heinrich aber erklärt sofort: "Das können Sie jedem sagen!" Nun, dann ist es gut. Einmal, nach langer Zeit zum ersten Male, tanze ich auch. Mit der Frau Oberst Schmidt, der Gattin des Thesauriers-Schatzmeisters (es sind da aber keine großen Schätze zu verwalten) und Adjutanten des Prinzen der Niederlande. Die beste Tänzerin an unserem Tisch, Frau v.Krosigk, habe ich lieber unserem Kind Nr.7, dem Pflegesohn bei der Artillerie, überlassen, denn der hat die Musik leibhaftig im Leibe. Meine Frau wird derweil von Oberst Schmidt und drei Leutnants geschwenkt; der eigene Sohn ist anderweitig stark engagiert, darunter mit ehemaligen Tanz- oder Ruderkameradinnen, von denen die eine jetzt verheiratet, die andere hochgradig verlobt ist.

Es ist ein herrliches Fest. Sonst saßen auf dem Skagerrakball die Herrschaften meist jahrgangsweise vereint. Die Konteradmiräle und die Kapitäne zur See von derselben Crew immer zusammen. Ihre Töchter mopsten sich unter der Gesellschaft der alten Leute. Diesmal ist es anders, diesmal ist alles gut durcheinander gewürfelt.

Eine besondere Freude zu vorgerückter Stunde: Admiral v.Lans setzt sich zu uns. Einmal vor langen Jahren war ich zu seinem Lehrgeschwader kommandiert, ich, die Landratte. Aber schon vorher habe ich jeden Logiergast bei uns immer in das Museum für Meereskunde geführt, in dem der zerschossenen Schornstein des Kanonenbootes "Iltis" steht, das unter Lans' Kommando 1900 die Takuforts am Peiho unterlief, während französische und englische Kriegsschiffe im Hintergrunde blieben. Die Kommandobrücke des "Iltis" wurde zusammengeschossen, Lans stürzte mit zerschmettertem Oberschenkel herunter, gab aber liegend seine Befehle weiter. Der 73jährige frische Herr hat noch heute 26 Sprengstücke im Leibe, die sich eingekapselt haben. Er zeigt uns auf meine Bitte seine rechte Hand mit der schwarzen Stelle an der Wurzel des Mittelfingers: da steckt auch so ein Stahlfetzen zwischen den Knochen.

Ehrfürchtig starren wir von da hinauf bis zum Pour le mérite unter dem weißen Knebelbart.

Weltgeschichte weht uns an. Jawohl, die hat es schon vor 1914 gegeben. Und vor 1918. Und, liebe Hitlerjugend, auch vor 1933. Aber unsere Zeitgeschichte wird Weltgeschichte. Paßt auf, ihr Buben und Mädel: wenn ihr einmal Kinder und Enkel habt, werdet ihr ihnen vielleicht vom 18.Januar - 1934 erzählen. Hoffentlich erleben ihn noch alle unsere heutigen "Hundertsemestrigen", nämlich die alten Herren aus akademischen Berufen, die just vor 50 Jahren in der Universität immatrikuliert wurden. Einer von ihnen, der Pastor Julius Koch, wird auf dem Antrittskommers der Berliner "Vereine Deutscher Studenten" besonders herzlich gefeiert. Der hat da draußen in seiner Pfarre in der Gegend des Zentralviehhofs, wo jüdische Kommissionäre und rote Fleischergesellen einander Gutenacht sagten, immer seinen Mann gestanden, auch in der Berliner Stadtverordnetenversammlung ein schwirrender, glühender Brandpfeil gegen alles Anationale. Ja, sagt er in seiner Dankesrede, aber sein Leibbursch, der ein Semester mehr habe, behandele ihn noch immer als krummen Fux. Auch der Führer der Vereine Deutscher Studenten im ganzen Reiche, Oberpräsident Kube, gedenkt warm dieses alten Herren, dessen - studentisch gesprochen - Leibururenkel er ist. Natürlich kommt Kube auch auf die Zeitgeschichte, wo sie schon Weltgeschichte zu werden anfängt, zurück und erzählt von 1928, wo im Preußischen Landtage nur 6 Nationalsozialisten unter 445 anderen Abgeordneten saßen, erzählt mit seiner Donnerstimme:

"Da sagte ich meinen Parteigenossen, wir sind freilich nur 6, aber jeder von uns ist 100 andere wert, also sind wir 600 und haben die Majorität! Und die 445 anderen haben sich eine entsprechende Behandlung durch uns auch gefallen lassen!"

Nun ist der Jubel unter dem akademischen Jungvolk wirklich hemmungslos.

Ein bißchen viel Kommerse, Feiern, Festspiele, Bälle, Gesellschaften prasseln in diesen Tagen auf uns Berliner nieder, aber man freut sich, daran doch das Ende der früheren Hoffnungslosigkeit feststellen zu können. Cornelis Bronsgeest hat zu einer Matinee ins Theater des Westens eingeladen, wo er für sein geplantes "Freilufttheater der 50 000" am Großglienicker See wirbt. Soll man wirklich Wasser in den Wein dieser Begeisterung schütten? Darf man sagen, daß, wenn der Plan gelingt, in unseren Breiten sehr häufig auch 50 000 - Regenschirme zu dergleichen gehören? Das Programm der Werbevorstellung ist überreich und strotzt von Talenten, unter denen der Sänger Walter Kirchhoff, der immer noch seine Wagnerpartien hinreißender vorträgt als der gesamte junge Nachwuchs, den stürmischsten Applaus erntet.

Unter den Jungen befindet sich eine fabelhafte Entdeckung, das ist die große blonde Koloratursängerin Meliza Korjus, Tochter eines schwedischen Vaters und einer russischen Mutter, wie ich untrüglich an ihrer doppelsprachigen Antwort konstatieren kann, als ich sie frage, ob sie "svenska flicka" oder "rußkaja djewuschka" sei; sie wird bald weder das eine noch das andere sein, sondern die weltberühmte deutsche Nachtigall.

Und unter den Jüngsten befindet sich der nun sechzehnjährige Hitlerjunge Quex, der Original-Filmjunge, der uns die Hand gibt und frisch und munter Rede steht.

Unter den rauschenden Festen auch etwas Erhebendes in ganz kleinem Kreise. Im Palais Kaiser Wilhelms I. Unter den Linden. Die paar Zimmer im westlichen Teil, wo früher immer die Großherzogin Luise von Baden bei ihren Eltern abstieg, bewohnt jetzt, wenn sie in Berlin weilt, die Kaiserin Hermine. Wir sind, sie eingerechnet, nur acht Personen zum schlichten Mittagessen da. Ich bin beschämt, weil ich immer wieder erkennen muß, daß die Kaiserin viel mehr gelesen hat als ich und daß ich in Kunst und vielleicht sogar in Politik ein Waisenknabe dieser klugen Fürstin gegenüber bin.

Aber meine Frau kriegt einen Rippenstoß von mir:

"Du, da ist der Oberst Reinhard und seine Frau! Der, unter dem unser Hans als Leutnant 1919 in Berlin Ordnung machen half. Mensch! Das ist der Oberst Reinhard, dessen herrliches Buch über die Wehen der Republik du gerade gelesen hast! Jetzt ist er Admiral Schroeders Nachfolger im Nationalverband Deutscher Offiziere."

Natürlich sind wir auch wieder auf dem Bazar der Kaiserin im Kasino in der Hermann-Göring-Straße gewesen und haben allerlei Kleinigkeiten erstanden: Gestricktes, Keramik, Papierwaren, Photographien. Es kommt dem Herminen-Hilfswerk in der Rankestraße zugute, von dem viele arme Menschen leben. Besonders schön sind diesmal die Stände mit Cadiner Erzeugnissen, Aschbechern, Vasen, Tiergruppen, darunter faszinierend echt die Elche. Aber auch eine ganz vortreffliche kleine Büste Adolf Hitlers wird auf diesem Hofgut hergestellt. Das Herminen-Hilfswerk ist nicht etwa nur ein Stelldichein für Potsdamer alte Gesellschaft, sondern findet überall freudige Mitarbeit. So führt die altbekannte Zigarrenfirma Boenicke - Frau Boenicke ist übrigens eine mattschwarze Spanierin, hat aber einen hellblonden Jungen - erhebliche Beiträge von dem Erlös einer bestimmten Zigarette ab, die das große deutsche "H" mit der Krone darüber trägt.

Die Kaufleute machen nicht mehr ganz so griesgrämige Gesichter. Berlin schwimmt auf den Wogen großer Veranstaltungen. Das Geld fängt endlich wieder an zu rollen. Nur wir Statisten in diesem Trubel ziehen zuweilen eine krause Stirn. An jedem Sonnabend beispielsweise soll man gleichzeitig vier oder fünf Sachen mitmachen.

Man schielt schon nach ein paar Tagen Ski-Urlaub.
23. November 1933 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts