"Rumpelstilzchen"

"Sie wer'n lachen"
(Jahrgangsband 1933/34)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 4 - 6
28. September bis 12. Oktober 1933


4

Gegen Spießermoral - Das italienische Kronprinzenpaar in unseren Bars - Zur Geschichte des Grußes - Die Theater - Aus Ferdinand Bonns Leben - Erinnerung an Barmat, Gradnauer, Höllein.

Verschiedene Leute atmen hörbar auf.

Schon in Nürnberg ging den Sturmabteilungen und den Schutzstaffeln, gewöhnlich S.A. und S.S. genannt, der Aufruf gegen das Muckertum zu. Der ist jetzt veröffentlicht. Also die Leute sollen nicht "die unsinnigsten Bestimmungen für Badeanstalten oder die Ausrottung aller aus dem Spießerrahmen fallenden großstädtischen Vergnügungsstätten" fordern. Die Aufgabe der S.A. und S.S. bestehe nicht darin, "über Anzug, Gesichtspflege oder Keuschheit anderer zu wachen", sondern revolutionärer Kämpfer zu sein, wird in diesem Erlaß erklärt, und zwar durchaus unmißverständlich. "Bloß keine Mucker, Sittlichkeitsapostel, Moralästheten"!

Nun machen viele verängstete Inhaber von Bars, Kabaretts, Tanzdielen wieder beruhigte Gesichter. Sie hatten schon gefürchtet, daß ihr Gewerbe dem Ruin entgegenginge.

Natürlich bleibt es trotzdem dabei, daß nicht etwa die Nackt-Plastiken bei Tanzvorführungen wieder erlaubt oder die Perversen-Lokale in Berlin erneut eröffnet werden. Alles wirklich Ungesunde soll ferngehalten sein. Aber man wünscht nicht, daß die Braunhemden unberufen jede Lust zensieren. Wir müssen mit Walter von der Vogelweide ruhig und ohne Eifern zwischen Zucht und Wilde unterscheiden.

Jazzmusik ist gestattet. Negermusik wird verboten.

Warum soll nicht das Saxophon ertönen, das schon Wagner in seine Musik aufnahm, warum nicht Trommel und Becken? Aber die Kürbisrassel, die Autohupen, das Katzen-Miauen, überhaupt alles tierisch Aufreizende fällt weg. An diesem Beispiel läßt sich die Richtung ablesen. Dagegen ist nichts zu sagen. Die fremden Berlinfahrer brauchen also nicht zu befürchten, daß Berlin um 11 Uhr abends so ausgestorben aussieht wie etwa das faschistische Rom. Man kann sich bei uns immer noch amüsieren. Nur der ganz tolle Wirbel der Frechheit mit den Höhepunkten 1919, 1923, 1930 klingt ab.

Vor allem wird die Jugend nicht auf Schritt und Tritt verlockt. Die Kioske, in denen Zeitschriften ausliegen, sehen anständiger als vor Jahr und Tag aus. Ausländischer Schmutz wird an der Grenze aufgehalten. Auch die Schaufenster der Leihbüchereien werden sauber.

In den zeitweise verödeten Bars ist wieder Betrieb.

Der Kronprinz von Italien und seine aus dem belgischen Königshause stammende junge Frau haben das jetzt acht Tage lang feststellen können. Sie haben incognito einen Berlin-Bummel unternommen, begleitet von zwei Herren und zwei Damen ihres Gefolges. Also es ist nicht so wie bei dem jetzigen Prince of Wales oder seinem verstorbenen Großvater: ganz allein zum Wochenende nach Paris, und dann über alle Stränge geschlagen. In der "Cascade" in der Rankestraße oder im "Sanssouci" am Kurfürstendamm konnte man die Sechs aus Rom wiederholt sehen. Der Kronprinz in einfachem dunklem Anzuge, seine Frau auch nicht etwa im Abendkleid, fallen nebst Begleitung etwa um ½12 Uhr nachts schon etwas fröhlich-beschwingt ein. Da: da drüben sitzen sie, trinken fidel etliche Whisky-Soda, nachher eine Flasche Mumm cordon rouge, und die Kronprinzessin übersetzt ihrem Gemahl das Schlagerliedchen

"Wenn der Mensch verliebt ist,
  So hat er nichts zu lachen;
  Wenn der Mensch verliebt ist,
  So kann man halt nix machen"

und freut sich an dem Durcheinanderwogen der sogenannten reiferen Jugend, der Herren im Durchschnittsalter von 45 - nur der Geheimrat Duisberg, der auch da ist, ist einen ganzen Batzen älter - und der Damen von 25, tanzt aber selber nicht, was ich gern gesehen hätte.

Es sind ein bißchen viel vorgerückte Semester da, noch mit gutem Beinwerk, aber zum Teil schon spiegelnden Köpfen, so daß man Wilhelm Busch zitieren möchte: "Die Locke wird hinweggerafft - der Mensch wird schließlcih mangelhaft." Dafür sitzen nebenan an der Bar ein paar Jungflieger in ihrer dunkelgrauen uniformartigen Tracht, kleben auf ihrem hohen Hocker und klöhnen mit den alkoholischen Mischerinnen hinter der Lette. Tanzen tun auch sie nicht, nur ihr Führer, der schon den Krieg mitgemacht hat, wie man an seiner Schnalle von vier oder fünf Orden sieht, holt sich gelegentlich eine Barmaid hervor und riskiert einen schnellen Paso doble oder einen langsamen Tango.

Auch bei Tage hat sich das italienische Kronprinzenpaar alles Bemerkenswerte in Berlin angesehen, da hat es also nicht nur dem Vergnügen gelebt. Es hat eine Ahnung von den Berliner alten Museumsschätzen und von der Berliner modernen Arbeitsleistung bekommen. Nur jegliche Politik und alles Offizielle blieb ausgeschlossen. Unerkannt schlenderten die beiden wie auf einer Wiederholung der Hochzeitsreise mit neuem Ziel einher.

Irgendwo flogen aber plötzlich doch die rechten Arme hoch.

Waren es Italiener, die da grüßten, waren es Deutsche? Der Gruß ist drüben und hierzulande der gleiche, so wie ja beispielsweise auch die Melodien von "God save the king" und "Heil Dir im Siegerkranz" dieselben sind oder die der heutigen deutschen und der früheren österreichischen Nationalhymne. Wo haben wir nun das Aufsteilen der Arme zuerst gesehen? Die meisten meinen: sicher bei den Bildberichten von 1922 aus der faschistischen Revolution. Falsch. Viel, viel früher. Es war - lange vor dem Kriege - ein guter Regie-Einfall Max Reinhardts, bei der Aufführung des "Orest" die flutende Menge des Griechenvolkes so, durch die emporgeworfenen Arme, noch lebendiger zu machen. Wer das auf der Bühne sah, dem blieb die Szene unvergeßlich. Und alle illustrierten Zeitschriften brachten sie. Noch früher, so erzählen mir ganz alte Theaterkenner, hätten das die Meininger im "Julius Caesar" gemacht.

Wir haben jetzt in den Theatern zu Beginn der Saison allerlei Erstaufführungen erlebt, aber es scheint nichts Bleibendes darunter zu sein. Das Deutsche Theater in der Schumannstraße ist übrigens immer noch geschlossen, der junge Achaz Duisberg hat seine Viertelmillion unnütz im vorigen Winter verpulvert. An die Fülle dessen, was namentlich in der Vorkriegszeit die Bühne uns bot, denkt man jetzt besonders zurück, wo einer nach dem andern von den Triariern des Rampenlichts dahinscheidet. Neulich starb Hans Waßmann, der ein im Grunde unsterblicher Darsteller Shakespearescher Komikerfiguren war, besser als jeder urenglische Kollege. Und nun ist vorgestern auch Ferdinand Bonn zu Grabe getragen worden, der wild-genialische Mime, voll der merkwürdigsten Schicksale, wie ihn ähnlich kaum ein Jahrhundert sah.

Im Alter von über siebzig Jahren aus der eigentlichen Heimat, Bayern, endgültig noch einmal nach Berlin verpflanzt zu werden, wenn auch - in das "bayrische Viertel", in die Fürther Straße, und da telephonisch nur mit bescheidenem Nebenanschluß, nachdem man jahrzehntelang die Welt in Atem gehalten hat, das ist eigentlich eine etwas melancholische Angelegenheit.

Im Herbst 1931 habe ich einen Brief und ein Buch von Bonn bekommen. Darin stand eine überschwengliche, nicht zutreffende und daher mir peinliche Widmung. Ich habe infolgedessen die Sendung überhaupt nicht beantwortet.

Ich mochte Bonn nicht, seit er, der sich ursprünglich als lohend nationaler Mann gab, nach dem November in einem Film in der Maske des Kaisers aufgetreten war, der darin eine sehr wenig schöne Rolle spielte. Zusammen mit dem "Hauptmann von Köpenick", dem alten Zuchthäusler Voigt. Der Film war ein gefundenes Fressen für das feindliche Ausland. Nun kann man natürlich einen Schauspieler nicht für ein Stück verantwortlich machen, in dem er auftritt, aber hier war Bonn Mitverfasser und - verfocht, weil das gute Publikum die Nase gerümpft hatte, nachher sein vermeintliches Recht. Erstens habe er persönlich noch von früher her mit Wilhelm II. ein Hühnchen zu rupfen, denn der habe die Aufführung von Bonns "Jungem Fritz" in Berlin wegen einer Katte-Szene nicht zugelassen, und zweitens sei dieser Kaiser überhaupt - nun faßt man sich doch wirklich an den Kopf - Ferdinand Bonns und Deutschlands böser Dämon.

So kann verletzte Eitelkeit zu alttestamentarischer Haßorgie führen.

Und doch ist Bonn ein fabelhafter Kerl gewesen. Er gab verschwenderisch und blieb unerschöpflich. Er malte, komponierte, dichtete, spielte. Er sprühte von Geist. Und er ritt hervorragend. Die tollste Parforcejagd war ihm nicht toll genug. Kein Wunder, daß dieser Hochtalentierte nach allem griff. Nicht nur nach jedem Lorbeer, sondern auch nach der Hand einer königlichen Prinzessin.

Das war ein wunderholdes Märchen mit der Prinzessin Klara von Bayern, die so schön war wie die Kaiserin Elisabeth von Österreich, nur blutjung und taufrisch. Ihr Herz gehörte diesem Bonn, der "zwar" nur Schauspieler war, aber immerhin Sohn des Kammerpräsidenten in Regensburg und Reserveoffizier in einem bayrischen Artillerieregiment, ein junger Gott, wenn er in Uniform oder im roten Rock dahersprengte. Und er war bis in die Tiefen seiner Künstlerseele gefangen.

"Ach, daß ich doch ein Königssohn wär',
Rot-Traut, schön Rot-Traut lieb' ich so sehr!"

Er erklettert Hoflogen im Theater, er erklettert Dächer, er reitet immer wieder die gleichen Wege, um einen Blick der Vergötterten zu erhaschen, er gelangt in Uniform mit rasselndem Säbel, weil die Posten den rosigen Jungen für einen Königlichen Prinzen halten, unangefochten ins Schloß und bis in die Räume der Prinzessin. Es hätte eine Toselli-Affäre geben können. Dazu ist Bonn zu bürgerlich, zu wenig Zigeuner. Er denkt ans Heiraten, irgendwo weit weg, in Amerika. Aber er hat nur 200 Mark monatlich und die Prinzessin nur 500, und wenn sie durchbrennen, fällt beides weg, kämen sie ins Lumpenproletariat und würden zum europäischen Gespött. Im dritten Jahr ihrer zartesten, poetischsten Beziehungen kann der Mann in ihm es nicht mehr aushalten, fordert er sie zur Flucht auf: heute Kufstein, morgen Venedig, dann über das große Wasser, man werde wie ein Riese das Geschick zwingen. "Geliebte, sage Ja wie am Altar!" Da füllen der Prinzessin langsam große Tränen die Augen, sie sagt nicht Ja, sondern haucht nur: "Ich liebe Dich!" Nun mischt der Hof sich ein, man appelliert an Bonns Portepee, man erreicht seinen Verzicht. Die Prinzessin Klara hat den jungen Mimen nicht vergessen, hat sich keinem andern angelobt, ist als Äbtissin in ein Kloster gegangen.

Bonn aber wirft sich in Verzweiflung an ein Lärvchen von Schauspielerin weg und legitimiert aus Ritterlichkeit das Verhältnis vor dem Standesamt. Kurze Jahre voll Glück und Elend, bis nach Moskau hin, folgen. Schließlich findet Bonn "die Richtige", die wir noch alle gekannt haben, seine Addy, die als geradezu königliche Gattin des Vielgefeierten den schönsten Pelz von Berlin trägt. Er arbeitet derweil mit zehn Pferdekräften, leitet das Berliner Theater in der Charlottenstraße, schreibt Bücher und Stücke, meist unter Decknamen, inszeniert alles und spielt selber. Hier und da Riesenerfolge, hier und da Riesenskandale. Ein Buch, nach dem Zusammenbruch, widmet er 1920 seiner Frau mit den schönen Worten:

"Was ich hab'und bin, ist Dein -
Soll's dies Schmerzensbuch nicht sein?
Nimm's mit Irrtum, Schuld und Fehle,
- Letzte Liebe meiner Seele!"

Unter dem Kaiserreich hat man ihm zugejubelt und fast immer seine Kassenschalter gestürmt. Nur wo er sich allzu selbstherrlich ins Krasse verstieg, so in der Katte-Szene, wurde er von oben gebremst. Unter der Republik aber hatte man für den Fanatiker des Pathos nur ein Achselzucken, konnte er nur als gelegentlicher Gastspieler sein Dasein fristen oder wurde im Film weit über den eigenen Irrweg hinaus mißbraucht.

vDie Republik der roten Bonzen hat andere Schützlinge gehabt. Sie ließ große Künstler hungern. Aber Barmat konnte die preußische Staatsbank und das deutsche Volk um rund 30 Millionen erleichtern.

Mein und sonstiger Ketzer Verlangen, die sozialdemokratischen Gehilfen Barmats, namentlich Bauer und Gradnauer, wegen Begünstigung des Betruges vor Gericht zu stellen, flog in den Papierkorb. In der Akte der Seehandlung "101. 841 J Amexima" befinden sich die Empfehlungsschreiben der beiden Genossen. Das von Gradnauer tritt sehr warm und ausführlich für Barmat ein und ist mit Namen und "Sächsischer Ministerpräsident" unterschrieben. Sonst hätte die Seehandlung, wie die Preußische Staatsbank damals hieß, sich mit Barmat kaum eingelassen. Ich möchte wohl wissen, was Gradnauer im Dritten Reiche jetzt macht.

Wo sind überhaupt alle die Lieben aus dem vormaligen Reichsidiotenklub am Königsplatz? Im Grunde war der alte Reichstag, dem dann Göring eine Gruppe Freiübungen mit Mundhalten beigebracht hat, nur ein Mistbeet für Stilblüten. Man könnte ein Buch allein aus des Kommunisten Höllein stilistischen Entgleisungen zusammenstellen. Ich höre ihn so, als wäre es erst gestern geschehen, noch brüllen:

"Der Spitzelsumpf hat sich zum Wasserkopf ausgewachsen!"
28. September 1933 (Donnerstag)


5

Beim Eintopfgericht - Erntedankfest - Wie Berlin früher die Bauern empfing - Taubenidyll in der Großstadt - Inflation des Angebots - Im Zirkus Busch - "U.B. 116" - Der neue Horst-Wessel-Film.

Ein junger Korvettenkapitän, jetzt beim Herbststellenwechsel versetzt und auf der Durchreise durch Berlin, klingelt am Sonntag bei uns an. Ob er zum Mittagessen bei uns einfallen dürfe. Aber ja doch, herzlich willkommen! Er werde allerdings buchstäblich nur ein Eintopfgericht vorfinden, es gebe nicht einmal einen Apfel oder eine Birne zum Nachtisch; wenn die ganze Nation exerziere, träten wir nicht aus dem Gliede.

"Etwas anderes habe ich von Ihnen nicht erwartet!", antwortet er froh.

Wir haben uns pickepackevoll gegessen und dabei noch das moralisch sättigende Gefühl gehabt, daß diese allgemeine Kundgebung, dieser durchgehende Verzicht auf den Sonntagsbraten zugunsten jener Volksgenossen, denen der Sonntagsbraten längst zur Sage geworden ist, für unser Volk und seine Verbundenheit sich in Segen auswirken wird. Wenn Mussolini seiner Zeit einen Reistag die Woche verordnete und alle Italiener, vom König bis zum Bettler, auf die bis dahin unumgänglichen Spaghetti oder sonstigen Teigwaren verzichteten, so können wir doch wohl einmal im Monat dem Götzen Magen das Vielerlei an Opfergaben versagen.

Die Frage nach dem Eintopfgericht macht den Berlinern kein Kopfzerbrechen. Dicke Linsensuppe mit Würstchen, fertig. Oder Kohlrüben mit Schweinebauch, das Lieblingsessen des verstorbenen Millionärs Stinnes, das er jedem Diner vorzog. Oder Hammelfleisch mit Bohnen. Oder das sogenannte Schinkenbegräbnis, die vom Knochen abgeschabten Reste, mit Kartoffeln gedünstet. Oder Labskaus, die Freude des Seemanns.

Da gibt es eine ganze Reihe von Rezepten in jedem Lande der Welt. Man kennt doch das Irish Stew unserer Inselvettern. Ebenso die dick eingekochte Minestra Milanese der Italiener. Und vielleicht den spanischen Arroz Valenciana. Wer ganz raffiniert sein will, der kann sich ein freilich nicht so billiges indisches Essen zubereiten, Nassigoreng genannt, das ich einst an der persischen Grenze mir habe munden lassen. "Man nehme" dazu Huhn, Krabben, Reis, Schnittbohnen, Eierstich-Schnippel und würze das Ganze kräftig mit Ketchup oder Picalilli.

So hoch hinauf haben wir uns an dem ersten Oktobersonntag garnicht verstiegen. Wir haben Borschtsch aufgetischt, aber richtigen. In unserem ausgezeichneten Kochbuch, Davidis-Holle, ist dieses russische Gericht das einzige, das nicht ganz korrekt wiedergegeben ist. Die Grundlage ist eine Brühe von Rindfleisch, das nachher stiftig geschnitten wird, ebenso werden in länglichen Schnitzeln Weißkohl und viel rote Beeten hinzugetan, dazu Kartoffeln verkocht, bis alles schön dick ist. Vor dem Auftragen gießt man - die Hauptsache nicht zu vergessen - rohen Rote-Beeten-Saft hinzu, damit die Suppe purpurn wird; und mit einem Eßlöffel voll verrührter saurer Sahne in jeden Teller mildert man schließlich die Farbe zu rosa-orange, - und schon läuft einem das Wasser im Munde zusammen. Eintopfgerichte noch verschiedener anderer Art sind uns jahrzehntelang nichts Fremdes gewesen. Wenn man einen ganzen Haufen Kinder hochzieht, muß man es lernen, wie die Mäuler am bequemsten zu stopfen sind. Das geschieht nicht mit einem Vielerlei von Reizspeisen. Außerdem: wer soll denn immer eine Unzahl von Tellern spülen und trocknen?

Zu dem Essen hatten wir die Tischmusik gratis; so wurde es ein fabelhaftes Festmahl.

Draußen auf der Straße staute sich nämlich in drei Achterreihen die "N.S.B.O." der Berliner Angestellten- und Arbeiterschaft, der Ingenieur neben dem Former und Gießer, der Prokurist neben der Stenotypistin und dem Laufburschen. Und just vor unserer Wohnung hielt, bis der Weitermarsch möglich war, eine halbe Stunde lang, die Belegschaft des Vaterland-Betriebes Kempinski mit der Kapelle aus dem Löwenbräu-Saal, lauter bajuvarisch angezogenen Zwei-Zentner-Männern, die mit runden Backen flotte Militärmusik bliesen.

Überhaupt war ganz Berlin ein einziger Ameisenhaufen.

Erntedankfest!

Zunächst sah der Reichshauptstädter, wie er sonst wohl einem Maharadschah mit Turban nachstarrt, der aus dem Hotel Adlon heraustritt, in langem Wagenzuge Ehrenbauern. Dazu hochgetürmte Gefährte voll Roggenmieten oder eine kleine Hühnerfarm, von netten Maiden betreut, oder sonst etwas "diesbezügliches", alles in allem eine Art fröhlicher Rosenmontags-Auffahrt. Und Rieseninschriften: "Stadt und Land - Hand in Hand!" Da wurde dem Reichshauptstädter ganz wundersam zu Mute. Selbst der verhetzteste Knallrote erkannte, auch wenn er bislang über die vielen Feste geknurrt haben mochte, wie unsere Volkwerdung Fortschritte macht. Weit über alles Erwarten hinaus, weit über das hinaus, was wir darstellen konnten, als wir noch keine Nation waren, sondern nur ein Sammelsurium von Wahlberechtigten waren.

Mussolini hat einmal gesagt, an Projekten habe es in Italien nie gefehlt, wohl aber bis zu ihm an der Faust, die sie durchführt. So haben auch wir viele Menschenalter lang auf den einen Mann warten müssen, der einfach den Befehl gab: "Tritt gefaßt!"

Wie war es doch früher?

Da kamen einmal im Jahre 10 000 Bauern und etliche hundert Gutsbesitzer her, um im Zirkus Busch zu demonstrieren, daß sie auch noch daseien. Und Berlin feixte. Der Arbeiter, der Angestellte, der Kaufmann lasen in ihren Zeitungen, daß die "notleidenden Agrarier" wieder einmal zum Sektsaufen gekommen seinen. Nun hätten auch die Berliner Straßendirnen gute Tage. Zu diesem ewig wiederholten verlogenen Singsang paßten zwar nicht die rissigen Fäuste der Bauern. Einerlei, "immer bleibt etwas hängen", und es blieb die Verhetzung, es blieb das gegenseitige Nichtverstehen. Jetzt zum erstenmal hat Stadt und Land gemeinsam dem Herrgott gedankt, hat gemeinsam geopfert und glückselig-hoffnungsvoll die vierte Bitte des Vaterunsers gestammelt.

Nun sind die Fahnen eingezogen, zeigt Berlin wieder, nachdem auch Hindenburgs Geburtstag am 2.Oktober erhebend verrauscht ist, sein Alltagsgesicht. Überall Betrieb, überall lärmt es, dröhnt es, tippt es, knattert es, rennt es. Abends kreischen die Lichtreklamen wie auf dem Newyorker Broadway. Schier betäubt steht der Besucher aus der Provinz in dem Tohuwabohu. Er fängt an, wie der Engländer sagt, "rot zu sehen", er möchte noch schneller im Auto über die Avus rasen, er möchte in noch tollere Brandung auch des Nachtlebens. Er kann sich garnicht vorstellen, daß dieses Berlin auch idyllisch ist.

Und doch gibt es mitten in der Weltstadt friedliche Winkel, in denen der Besinnliche eine Weile aufatmen kann. Man gehe über Mittag nur in den Lustgarten vor dem Alten Museum und zum Gartenrondell an der Nordseite des Doms. Auf dessen Gesimsen nisten ungezählte Hunderte von Tauben wie an der Markuskirche in Venedig, fliegen herunter, lassen sich füttern, sind ganz zahm, fressen sogar aus der Hand. Ein Mann sitzt mit einer Kiepe da und mit dem Schildchen:

Vogelfutter
10 Pfg.
Tierfreunde, jagt nicht die Tauben!

"Quatsch mit Soße!", kräht ein Berliner Dreikäsehoch und rennt, ganz Lausbubengesicht, mit Hussah in den Taubenschwarm hinein. Eine Selbstverständlichkeit. So wie ein junger Hund kläffend, aus reinem Lebensüberschwang, in eine Entenschar tollt.

Der Bub wird zurechtgewiesen. "Sie sin woll iebajefahrn?", antwortet er. Vielleicht lernt er mal, wenn er in die Hitler-Jugend gerät, Selbstbescheidung und Disziplin. Einstweilen ist das ganze Leben für ihn nur Kampfspiel. "Tun die Tiere selbst es denn anders?", scheinen seine erstaunten Augen zu fragen. Da stibitzen die Sperlinge den Tauben oft das Futter vor der Nase weg, und wenn eine Taube mit einer Erdnuß im Schnabel auffliegt, dann folgt ihr in jedem Zickzack in nur wenigen Zentimetern Abstand solch ein frecher kleiner Spatz. Nie verfolgt umgekehrt eine große Taube den Kleinen, obwohl sie ihn auf ebenem Boden oder in der freien dritten Dimension der Luft tüchtig züchtigen könnte. "Und sieh' mal, Du bist doch noch größer und vernünftiger!", sage ich dem Kerlchen. Es wird nachdenklich. Und dann sagt es freiwillig:

"Sie wer'n lachen, nu bin ick stieke!"

Das idyllische Eckchen habe ich auf dem Wege zum Zirkus Busch, wo ich mir ein paar Eintrittskarten lösen will, aufgestöbert. Dieses alte bodenständige Unternehmen wird zur Zeit von dem Wanderzirkus Krone auf dem Tempelhofer Felde überschrien. Für alle beide ist nicht so viel Publikum da, daß es sie füllte. Wir haben trotz nicht gestiegener Einwohnerzahl noch immer eine Inflation aller derer, die auf das Geldausgeben der Berliner angewiesen sind. Fast doppelt so viel Einzelkaufleute als vor dem Kriege. Bis vor kurzem 4 Opern- und 3 Revuebühnen, dazu 22 andere Theater. Das ist ja jetzt ein bißchen durchgeforstet. Aber wir haben noch immer 14 256 Gaststätten in der Hauptstadt. Auf je 300 Berliner eine Kneipe oder Bar oder Wirtschaft oder Diele. Wir können nicht alle diese Wirte gesund trinken. Viele Unternehmungen werden noch eingehen müssen.

Aber um den Zirkus Busch täte es einem leid, wenn er das Schlechtwetter der Zeit nicht überstünde. Er ist nun mal ein Stück Geschichte Berlins.

Als der alte Kommissionsrat Busch noch lebte, stolz auf seinen "Es ist erreicht!"-Schnurrbart, der ihn entfernt dem Kaiser ähneln ließ, da stellten die Angehörigen von 13 Reiterregimentern aus Berlin und Umgegend den Stamm der Besucher. Die Offiziere, die älteren mit Familie, füllten schon täglich zur Hälfte die Logen, die beurlaubten Mannschaften den Oberring und die Galerie. Das existiert nun nicht mehr.

Die Freude an dem rein Ritterlichen reicht nicht mehr aus. Variétékunst und Schauspiel müssen zum Füllen helfen. Nach den früheren Balletts und Wasserpantomimen ist es jetzt ein vaterländisches Stück, "Königin Luise", mit Carola Toelle in der Titelrolle. Fast schon Sprechtheater, und da natürlich nicht wettbewerbsfähig, sondern eine Art patriotischen Rummels; sagen wir ruhig: eine Geschmacklosigkeit.

Mich zieht etwas anderes hin, Therese Renz, die Schulreiterin.

Wie bitte? Nein, was Sie denken, ist nicht. Therese Renz ist 74 Jahre alt. Aber sie reitet klassischer als die 17jährige Micaela Busch. Der spanische Tritt, das Piaffieren, die Croupade, der Wechselgalopp, ja schon das einfache Schulter-herein-Reiten: wirklich Ia. Diese fabelhafte Frau hat im Sommer eines ihrer beiden Pferde, die ihr ganzes Vermögen sind, verloren. Binnen 6 Wochen hat sie dann ein neues rohes, das ihr zur Verfügung gestellt wurde, zugeritten. Das kostete viel strömenden Schweiß und starken Muskelkater. Noch zäumt das edle Tier sich nicht ganz bei, sondern macht einen Hirschhals, aber es kaut sich lebhaft ab und pariert in allen Gangarten. Als Junge habe ich einst zu der vielgefeierten, so viel älteren Therese Renz begeistert aufgeschaut. Jetzt möchte ich mit ihr, wo sie 74 geworden ist, gern einmal plauschen. Das wäre sicher die älteste jemals von mir interviewte Dame.

Meinen Lesern würde das wohl Spaß machen, aber ihr vielleicht nicht. Also verkneife ich mir die Absicht und will das arbeitsame Thereschen nicht stören.

Ansonsten ist jetzt im Theater und im Film alle Tage was los. Berlin hat endlich, nachdem die Provinz längst vorangegangen ist, Lerbs "U.B.116" als Erstaufführung im Staatlichen Schillertheater erlebt. Eine anständige und gute Sache. Aber ich kann mir nicht helfen: der Tauchboot-Film "Morgenrot" war erheblich besser.

Schon der ganze erste Akt mit dem schwermütigen Herumphilosophieren der Kapitänleutnants und Oberleutnants über die Revolution und über die Tat, die geschehen müsse, wirkt unwahr und ist ermüdend. Man hat 1918 derb und kurz gesprochen, tausend Worte Stacheldraht. Ein Dreißgjähriger, der neben mir im Theater sitzt, empfindet die Unstimmigkeit auch und fragt mich:

"Haben die Offiziere in den Kasinos so geredet? Worüber haben sie überhaupt geredet? Über Weiber doch wohl?"

Ach nein, mein Lieber. Ich bin, 1917 auf ein paar Wochen zu den Marinefliegern auf Helgoland kommandiert, täglich mit den von großer Fahrt heimkehrenden U-Bötern zusammengewesen. Es wurde weder philosophiert noch meines Wissens jemals das Thema Weib berührt, sondern man hob den Humpen, man fachsimpelte über beide Waffen, man fragte vor allem nach Kameraden, wo jetzt wohl dieser und wo jener und wer schon abgeschossen oder abgesoffen sei.

Einen weit stärkeren Eindruck habe ich von der Generalprobe des Hanfstängl-Films "Horst Wessel" gehabt, der am 9. Oktober zur Uraufführung kommen soll, bis dahin in seinen zu oft sich wiederholenden Schlußbildern wohl noch etwas verkürzt werden wird. Abgesehen hiervon ist er das Hinreißendste, Zwingendste, das man heute vor der Leinewand erleben kann. Als es im Zuschauerraum wieder hell wurde, sah man den geladenen Herren die tiefste seelische Erschütterung an, ein Gemisch von Rührung und stolzem Jubel, und die Damen hatten weidlich mit dem Puderquast zu tun, um ihre Tränenspuren zu tilgen. Dieser Film stellt den "S.A.-Mann Brandt" noch in den Schatten.

Vor mir in der Rangloge saß Graf Felix Luckner, der Seeteufel. Unverkennbar. Diese Pranken, diesen Nacken, diese Halsweite 46 vergißt man so leicht nicht. Natürlich war er trotz Rauchverbots mit brennender Pipe hingekommen, die dann eine ältere Dame freundlich zuredend beschlagnahmte.

Ich müßte seitenweis erzählen, wenn ich einzelne Stellen, etwa die Straßenschlacht bei Beerdigung des ermordeten Horst Wessel, schildern wollte. Oder die prachtvolle Szene, wo Horst Wessel aus der Berliner Bar "Chez Ninette" fortstürzt, als dort von Niggern die Wacht am Rhein als Foxtrott aufgespielt wird. Oder das geradezu Heiligkeit atmende stille Defilieren der Mannen Horst Wessels vor der geöffneten Tür seines Krankenzimmers.

Der Text ist nicht etwa nur Hurra und Heil, sondern hat geistiges Niveau. Hier einer der schönsten Aphorismen aus jener schwarzroten Ära:

"In Deutschland ist die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos. In Österreich ist die Lage hoffnungslos, aber nicht ernst."
5. Oktober 1933 (Donnerstag)


6

Ein Film-Verbot - "Marie Louise" - Operetten-Fundus zu haben - Herr v. Tschammer - Beim Kursus im Sportforum - Ein großer Selfmademan - Donna Elena und der Papst - Nach Elli Beinhorns Vortrag.

Von der Generalprobe des Horst-Wessel-Films bin ich wirklich hingerissen gewesen und kann auch heute bei ernster Nachprüfung mein subjektives Werturteil nur wiederholen. Auch die parteiamtliche Zeitschrift "N.S.-Funk" nennt diesen Film "gewaltig, spannend" und sagt, dies sei "die wichtigste Première" im Herbst 1933. Nun ist der Horst-Wessel-Film aber, bei aller Anerkennung einzelner Leistungen darin, als zu dürftig von der Regierung verboten worden. Der zeitliche Abstand von dem Märtyrertode Wessels sei zu kurz, um an ein solches Epos heranzugehen.

Diesen Standpunkt kann man verstehen. Der gefallene junge Vorkämpfer, dessen Lied zur Hymne von Millionen geworden ist, soll im Gedanken zu Persönlichkeit von mythischer Größe ausreifen. Seine Mitstreiter und Führer sehen ihn auf der Leinewand entheiligt. "Das soll unser Horst Wessel gewesen sein, dieser Schauspieler da, dieser gewöhnliche Studiker, verstrickt in Menschliches-Allzumenschliches?", sagen sie. Ein solches Urteil ehrt die Freunde.

Und doch habe ich, der ihn nicht persönlich gekannt hat, kaum so Ergreifendes erwartet.

Es ist doch etwas ganz anderes als unsere trällernden Unterhaltungsfilme wie etwa jetzt "Der Zarewitsch", der dabei ein großer Publikumserfolg ist. Oder gar als das, was nun wieder als Operette von Nachkriegsgeschmack wie "Marie Louise" bei uns auftaucht.

Da fragt man sich, ob wir denn keine Wandlung hinter uns haben, wenn man die Beifallssalven im Metropoltheater in der Behrenstraße erlebt. Das Stück? Ganz so was im Stil des "Weißen Rössels" in der Revuefassung. Nur daß der ins Gebirge verschlagene Berliner Herr Giesecke (hier heißt er Hampe und ist Likörfabrikant) nicht von dem kleinen dicken Komiker Guido Thielscher, sondern von dem langen dürren Komiker Paul Westermeier gegeben wird. Sonst ist "alles da", auch die 16 Paar blanke Mädchenbeine, die in Tanzgirls-Aufmachung plötzlich ausgerechnet auf der Alm daherwirbeln. Dazu die akrobatische Tänzerin Dinah Grace, ein halbes Kind noch in seiner Schlankheit. Dazu die vollsaftige, immer wieder entzückende Marianne Winkelstern zum erstenmal in einer Soubrettenrolle. Aber in was für einer Rolle! Das Unwahrscheinlichste und Unmöglichste, was man sich denken kann, also vielleicht gerade das, was die Leute ins Theater zieht, die für ein paar Stunden die Wirklichkeit vergessen wollen. Auf der Hochzeit ihrer Schwester, die einen Baron von Plessen heiratet, trifft diese jüngere Hampe-Tochter ihren geliebten Rechtsanwalt, Revueverfasser im Nebenamt, der die Geeignetheit ihrer Beine bezweifelt. Da reißt sie sich - man denke, in dem Festsaal eines Berliner Luxushotels - das Abendkleid vom Leibe und tanzt im Hemdhöschen. Bitte sehr! Nun kann jedermann sehen, daß sie reelle, aber sehr reelle Beine hat. Sie singt, sie tanzt. Vor allem das gleich bei der Uraufführung volkstümlich gewordene Kußlied. Es ist ein Walzer, den sie mit ihrem Beau exekutiert, ohne daß die Arme oder die Körper sich berühren: nur mit den Lippen hängen die beiden aneinander. . .

Das Publikum rast natürlich vor Begeisterung.

So ist das Publikum.

Es liegt nicht immer nur an den Theaterpächtern, an den Librettisten, an den Ballettmeistern, an den Komponisten, an den Requisiteuren. Wobei die letzteren die auftretenden Damen möglichst anziehend zu machen suchen, indem sie sie möglichst ausziehen. Alles dies, was in der Inflationszeit bei uns seinen Höhepunkt erreichte, glaubten wir schon ausgespielt. Im Großen Schauspielhaus weiland Charells wird demnächst der Fundus versteigert, die Requisiten und Kostüme der Operetten und Revuen "Madame Pompadour", "Casanova", "Für Dich", "Von Mund zu Mund", "Die drei Musketiere", "Der liebe Augustin" und anderer. Vielleicht ist das also nicht mehr wertloser Pofel, sondern ein Spekulationsobjekt. Noch kauft nämlich in neu erwachter Schaulust das alte Publikum die Theaterkarten. Goebbels und die Seinen werden noch viel zu tun haben, um es umzuerziehen. Die Bühnen sind nicht, wie Schiller sie erhoffte, moralische Anstalt oder auch nur moralische Veranstaltung. Sie müssen mitunter lediglich der Entspannung, dem leichten Unterhaltungsbedürfnis dienen. Aber die vollkommene Sinnlosigkeit könnte ihnen doch fernbleiben.

Man sehnt sich nach einem derartigen Abend, wieder einmal frische Luft zu atmen. Heraus aus der Muffigkeit dieses sozusagen vorgestrigen Vergnügungsbetriebes! Ich habe in alten Zeiten manchmal in bewußter Umänderung der mir verhaßten Redensart "Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will" jungen Leuten als Stammbuchwort eingeschrieben: "Früh reckt sich, was ein Speerschaft werden will!" Wer das heute mit sehenden Augen erleben möchte, der braucht nur zum Sportforum hinauszupilgern, zu den grünen Rasenflächen inmitten der Föhreneinsamkeit hinter der Rennbahn Grunewald. Dort reckt sich unter endlich zielbewußter Führung unsere Jugend für das nächste Olympia.

Für Deutschland.

Für unser Ansehen in der Welt als einer geistig und körperlich gesunden und wettbewerbsfähigen Nation, auch wenn Japaner und Inder und sonstige früher nicht Mitgezählte den alten Sportvölkern heute Weltrekorde entreißen.

Der Reichssportführer v.Tschammer und Osten ist die Seele dieses Betriebes draußen. Ein wirklicher Führer, ein umjubelter Führer, der von Vertrauen getragen ist. Gerade ist ein Olympiakursus von 10 Tagen zu Ende gegangen, eine Auslese unter dem kräftigen, sehnigen, flinken Nachwuchs aus dem ganzen Reiche. Bei der Abschiedsfeier, bei spartanischem Abendbrot im Rennbahn-Restaurant, brandet die Begeisterung um Herrn v.Tschammer hoch auf, die Segler heben ihn auf ihre Schultern, die Tennisspieler bombardieren ihn mit Verschen, alle anderen, es mögen an die 200 sein, drängen sich um ihn und erbitten seinen Namenszug unter ihren Kalender. Unermüdlich schreibt er. Und zwar - mit der linken Hand, denn der rechte Arm ist durch eine Kriegsverletzung unbrauchbar geworden. Der Reichssportführer v.Tschammer und Osten, einst Gruppenführer in Dresden, dann Leiter der S.A.-Schule in, glaube ich, Wernigerode, ist nicht nur ein organisatorisches Talent, sondern auch ein guter Kamerad.

Welch ein frohes Gewimmel da draußen! So kann man sich ein altgriechisches Gymnasion vorstellen. Es ist Oktober, aber die Jünglinge tummeln sich fast nackt, nur in Sport- oder Badehose. Sie springen in das große Schwimmbecken und furchen da ihr Kielwasser. Ein dreizehnjähriger Junge, unsere große Hoffnung, ist darunter. Bei den Tennisspielern wirken Koryphäen wie Cramm, Kleinschroth, Najuch als Lehrer. Der Studenten-Weltmeister Schein, in kurzer roter Hose, sprintet ein paar hundert Meter. Fußball, Handball, Hockey wird mit Verve, aber konzentriert und diszipliniert betrieben. Eine Weile bleibe ich Zuschauer beim Kugelstoßen, wo Meister Hirschfeld, der bisher aktiver Feldwebel war, seine Erfahrung der jüngeren Generation übermittelt.

Ein guter Wurf, fast vierzehn Meter, gelingt. Aber "Übergetreten! Ungültig!" heißt es, denn der Werfer ist nach den beiden Hüpfsprüngen nach vorne gekippt und mit einem Bein aus dem Ring geraten. "Fixieren Sie mal die Phase der Streckung!", wird einem andern gesagt. Oder: "Die Pause in der Mitte war zu groß!" Es steckt ungeheuer viel Fachmännisches, Systematisches in dieser Züchtung unserer Olympia-Mannschaften.

Nur der systematischen Schulung haben wir es ja auch zu verdanken, daß unsere Reiter, während früher die Italiener unerreicht waren, jetzt drei Jahre hintereinander alle Nationen schlugen.

Und heute steckt noch mehr dahinter. Nicht die Ehrsucht von Stars. Sondern eben der Wille für Deutschland.

Nicht etwa, daß es früher keine tüchtigen Kerle bei uns gegeben hätte. Sonst hätten wir doch nicht die 4½ Jahre Krieg gegen die ganze Welt durchstehen können, wären wir auch schon vorher nicht reich und mächtig geworden. Nur war das Wort "Erfolg" der Arbeit Einzelner vorbehalten. Als Gesamtvolk traten wir Individualisten kaum in Erscheinung.

Einen der erfolgreichsten Auslandsdeutschen, der es vom kleinen Lübecker Kaufmannsstift zum Multimillionär in Brasilien gebracht hat und kürzlich im 91. Lebensjahre verstorben ist, den Generalkonsul Anton Zerrenner, habe ich eben auf heimischem deutschen Boden zu Grabe geleitet. Kein großer Pomp. Der hätte dem bescheidenen, ritterlichen Wesen des Heimgegangenen nicht gepaßt. Nur an die 60 wirkliche Trauergäste in der Friedhofskapelle, darunter im Auftrage des Kaisers mit Kranz und Schleifenwidmung ein langjähriger Freund des Hauses, der Oberst a.D. v.Sell. Ich habe schon einmal erzählt, daß Anton Zerrenners Vater, damals junger Theologie-Student, bei Waterloo-Bellealliance noch gegen Napoleon gefochten hat.

Jetzt steht die Witwe des verstorbenen Selfmademan mit mir an der Gruft. Sie hat während des Krieges Außerordentliches für Deutschland getan. Eine königliche deutsche Frau von dem entsprechenden ruhigen Selbstbewußtsein. Eines Tages fragt der jetzige Papst - sie ist katholisch, während ihr Mann evangelisch war - bei ihr an, ob es ihr recht sei, wenn er Zerrenners den Grafentitel verleihe. Und darauf antwortet sie, ich zitiere wörtlich:

"Lieber Heiliger Vater, als schlichte Helene Zerrenner bin ich in Amerika und Europa bekannt, als Gräfin würde ich mich nur unkenntlich machen. Wenn Sie uns aber etwas Liebes antun wollen, falls wir einmal nach Rom kommen, gut. Dann nehmen Sie uns ebenso nett auf, wie wir Sie, als Sie noch Kardinal waren und etliche Zeit in unserem Hause verbrachten."

Es gibt doch noch stolze Deutsche auf Erden . . .

Wir wollen einmal etwas an sich Inkongruentes vergleichen, diese Donna Elena und - Elli Beinhorn. Vor solchen Frauen steht das Ausland innerlich stramm. Es war herzerfrischend, in dieser Woche die schlanke, gebräunte Elli über ihren Afrikaflug berichten zu hören. So ganz ohne Tuerei, ohne jede Selbstbeweihräucherung. Alles für Deutschland, alles für die Kolonialdeutschen. Heimlich-leise schwingt ein Unterton mit: "Und setzet Ihr nicht das Leben ein, nie wird Euch das Leben gewonnen sein."

In Gedanken versunken gehe ich nach Hause. Ich wünschte, jeder Berliner fühlte mir nach, was mich bewegt. In Gedanken überquere ich die Hardenbergstraße, ohne auf die Lichter zu achten. Da streift mich fast, im letzten Augenblick herumgerissen, ein daherflitzendes Fahrrad.

Merkwürdig, kein Schimpfwort ertönt. Der Fahrer dreht sich nur um und ruft:

"Schlaf' ze Hause!"
12. Oktober 1933 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts