"Rumpelstilzchen"

"Mang uns mang . . ."
(Jahrgangsband 1932/33)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1933

Glossen 13 - 15
24. November bis 8. Dezember 1932


13

Wen interessiert noch die Kabinettskrise ? - Ein kleines Theaterskandälchen im Mozartsaal - Marlene Dietrich als Kind - "Blonde Venus" und "Deutsche Zeitung" - Die Gelackten - Hauptmann-Feiern - Zum Fall Klepper - Auf dem Basar der Kaiserin.

Man liest im Vorübergehen an den Zeitungsständen die knalligen Überschriften.

Das genügt.

Merkwürdig, wie wenig Teilnahme der Berliner für die Regierungskrise aufbringt. Nicht eine Zeitung mehr als sonst wird trotz der knalligen Überschriften gekauft; es ist darin grauester Alltag. Ein Händler am Bahnhof Zoo ist den ganzen Tag über nur 56 Stück aller Richtungen losgeworden und sagt: "Als Schmeling boxte, ha'ck 430 vakooft!"

Dann schon lieber Jo-Jo als dieses ganze Kabinettsspiel. Hitler hat auf Grund seiner parlamentarischen Vormachtstellung, auf Grund seines Drittels aller Mandate die parlamentarische Kanzlerschaft verlangt. Nun hat ihn Hindenburg gebeten, diese Möglichkeit festzustellen. Aber aus den Schlagzeilen an den Zeitungsständen ersieht man kein ganzes Ja, kein ganzes Nein. Da kauft man sich also keine Zeitung, um beim Bier darüber zu sprechen, sondern geht lieber ins Kino.

Ja, so ist der Berliner. Ihm hängt die Sache zum Halse heraus.

Schön, gehe ich auch ins Kino. Zu Hause finde ich nachher sowieso ein ganzes Paket verschiedener Zeitungen vor, aber die zwei Stunden bis dahin kann ich ruhig warten. Und im Kino erlebe ich - ein kleines Theaterskandälchen. Zum erstenmal eins, in dessen Mittelpunkt ich selber stehe. Eine Uraufführung des Paramountfilms "Die blonde Venus" mit Marlene Dietrich in der Titelrolle. Das wird ein Fest, denkt der Berliner. Diesen Vamp wieder mal sehen! Wer weiß was von der wirklichen Marlene Dietrich? Kaum einer. Daß nicht nur auf der Leinewand vom "Blauen Engel" der Professor Unrath ihr erlegen ist, sondern daß sie auch im Leben von Josef Sternberg bis Richard Tauber alle Männer, die in ihren Bereich kamen, auf kürzere oder längere Zeit zu sich zwang, raunt man sich zu, ohne zu wissen, wieviel daran Wahrheit ist und wieviel Klatsch. Nicht einmal das wissen die meisten, daß sie als Darstellerin weit mehr kann, als bloß die Vampyrrollen spielen, die man ihr um des Kassenerfolges willen zuschiebt. Oder wer weiß gar etwas von ihr aus der Zeit, da sie noch ein kleines Mädchen war und die Filmbesessenheit über sie kam? Die kleine Marlene war aus Berlin in eine Pension nach Mittenwald gekommen, kletterte nachts aus dem Fenster, nahm den ersten Frühzug nach Garmisch und - brachte dort Henny Porten, die gerade ihren Geburtstag feierte, ein Morgenständchen auf der Geige. Und nun muß Marlene Dietrich die "Blonde Venus" spielen, ein so sentimental-verlogenes Stück, daß sie selber und der Regisseur Sternberg nicht recht heranwollten und daß es auch in Amerika kein großer Erfolg geworden ist. Aber für uns ist ja jeder Pofel gut genug. Auch Paris schickt uns ja seine Ruinen wie die Mistinguette.

Also das Stück? Vorspiel: sechs fröhliche Wanderburschen, darunter ein amerikanischer Student, kommen in einsamem deutschen Walde an einen Weiher, in dem sechs junge Chormädel nackt herumschwimmen. Dann sehen wir den Amerikaner "drüben" verheiratet mit einem der Mädel, mit Marlene. Sie haben einen entzückenden Buben, einen neuen Jackie Coogan. Der Amerikaner ist ein nicht gerade mit Glücksgütern gesegneter Chemiker und hat sich eine lebensgefährliche Radiumverbrennung zugezogen, die nur ein Spezialist in Deutschland heilen kann. Kostenpunkt: 1500 Dollars. Da wird Marlene in Newyork wieder Revuegirl, ein Nabob kauft sie sich am ersten Abend und gibt ihr die 1500 Dollars. Das Schiff mit dem Gatten fährt ab, Marlene winkt noch einmal mit dem Taschentuch und steigt dann ins Auto zu ihrem Galan. Von da ab geht es Stufe um Stufe herunter. Zuletzt nimmt die Landstreicherin und gelegentliche Tingeltangeldirne Marlene für ein Glas Bier jeden fremden Kerl zu sich.

Aber wir müssen doch ein happy end haben, damit die offizielle Moral befriedigt ist. Also der Milliardär, der mit 10 000-Dollar-Schecks um sich wirft, findet sie wieder und - will sie richtig heiraten. Doch sie sieht Mann und Kind wieder, singt am Bette des Kleinen "Ach, wie ist's möglich dann", "Ein Männlein steht im Walde", "Klinge, kleines Frühlingslied" mit ihrem sonoren Alt - lovely, diese Frauen aus Germany - und alles ist hin. Der Mann nimmt sie wieder, der kleine Junge ist glücklich.

Den Ladenmädchen und den Primanerinnen im Zuschauerraum schlägt das Herz. Also so ist das Leben? Man kann im Dreck waten, aber alles wird wieder gut.

Etwa die Hälfte des Publikums klatscht zu diesem unmöglichen, verlogenen Zeug Beifall. Ich als einziger riskiere zwei kurze schrille Pfiffe. Wie aus der Erde gewachsen steht ein Herr vor mir, der betrübend mangelhaft getauft aussieht, und herrscht mich an:

"Sind Sie von der Konkurrenz?"

Da muß ich doch laut loslachen. Von diesem Gesichtswinkel aus habe ich den Premièrenbetrieb noch nie betrachtet. Ein zweiter fragt:

"Warum haben Sie gepfiffen?"

Ich stelle die Gegenfrage: "Warum haben Sie geklatscht?"

Schließlich mischen sich noch einige Paramount-Amerikaner ein, die aber von ihren Damen beschworen werden, keine Szene zu machen. Sie sprechen englisch. Am liebsten sagte ich ihnen: "Von mir aus, meinetwegen, bitte, auch Szene." Dann ist das Skandälchen an der Garderobe zu Ende. Am nächsten Tage lese ich die Kritiken. Sie sind fast durchweg - lobend. Jetzt geht mir wirklich ein Kirchenlicht über geschäftliche Zusammenhänge auf. Am besten hält sich die in künstlerischen Dingen unabhängige und tapfere "Deutsche Zeitung". Nicht in einem einzigen anderen Blatte kann man lesen, was hier steht:

"Eine besondere Feinheit des Manuskriptes soll es wohl sein, daß die sündige ehebrecherische Venus ausgerechnet eine Deutsche ist, während ihr Gatte und der edle Millionär als Vollblutamerikaner charakterisiert sind. Zudem weiß man wieder nicht, was da diplomatisch herausgeschnitten wurde. Der Fußtritt gegen Deutschland sieht im Original vielleicht noch erbärmlicher aus. Alles in allem das jämmerlichste Erzeugnis, das je aus dem Lande des Kitsches kam."

Außer den jungen Dingern aus Laden, Bureau, Plättstube, Hörsaal, die sich da zur göttliche Marlene drängten, habe ich unter dem Publikum der Umgegend auch wieder einmal ein paar echte Berlin-Westlerinnen gesehen. Die Fingernägel (und wohl auch die Zehennägel) wie in Ochsenblut getaucht und das Gesicht zur Maske verschmiert, das ist nichts Neues mehr. Aber - ich sehe da auch die ersten Gelackten! Der enge Schleier über der Frisur genügt nicht mehr, man muß das ganze Kopfhaar lackieren. Als wenn es gegipst wäre. Oder so hölzern wie bei den Schaufensterpuppen in den Läden für Damenkonfektion. Fast alle Negerinnen tun sich Lehm in ihr Haargekräusel. Na also! Übrigens war die erste Lackierte in Berlin (von Paris her) die Mulattin Josefine Baker, die vor ein paar Jahren den Exzentrik-Charleston bei uns exekutierte. Emil Orlik zeichnete sie begeistert. Sie hatte namentlich in ihren hinteren Partien die Beweglichkeit einer jungen Schimpansin. Vielleicht bringt Berlin W es auch noch so weit. Wir verniggern und veraffen zusehends. Und dabei wissen wir doch alle, wer daran schuld ist. Ahasver im Gewande des Rattenfängers von Hameln. Wie der pfeift, so tanzen wir.

"Da müßte doch . . .", sagt mancher.

Aber es fehlt noch an denen, die da tun, was geschehen müßte. Es fehlt nicht an Renegaten aus der bisherigen Welt des Geldes und des Intellektes, die neue Stellungen wittern, aber es fehlt unter den vielen Konjunkturrittern an einem Fichte, einem Schleiermacher, einem Körner, einem Scharnhorst und - an den Menschen, die ihnen folgen würden. Unsere Welt pendelt immer noch zwischen Schmeling und Hauptmann. Wirklich schier zum Auswachsen ist Gerhart Hauptmanns monatelanger 70. Geburtstag, zu dem sich alles drängt, was vielleicht nichts von ihm gelesen hat, aber, und wenn es einen Taler kostet, "dabeigewesen" sein muß, wenn er in der großen Messehalle sich feiern läßt. Sein Sohn Benvenuto, übrigens sozusagen noch ein junges Kerlchen, hat soeben zum drittenmal geheiratet. Zuerst war es eine Prinzessin, mit der die Herrlichkeit schon am ersten Tage zu Ende war, weil beide Beteiligten erkannten, daß sie nicht in die Norm paßten, und diesmal ist es ein Tippfräulein, die den normalen Vorzug hat, schon vorher ein Kind von Benvenuto Hauptmann bekommen zu haben.

Man atmet auf, wenn man als Berliner Chronikschreiber einmal in Kreise kommt, die ganz anders sind, die den Rest dessen umspannen, was man früher die Gesellschaft nannte. Gewiß, gewiß: es hat sich eine neue gebildet, nicht nur die vom Intellekt, sondern auch die vom Amt. "Mir kann keener", sagen die Bonzen.

Da ist der preußische sozialdemokratische Finanzminister Klepper in einer für ihn wirklich nicht angenehmen Sache vor den parlamentarischen Untersuchungsausschuß geladen, denkt aber nicht daran, die Rolle eines Zeugen zu spielen, der von heute auf morgen Angeschuldigter werden kann, sondern setzt sich - bitte sehr, Entscheidung des Staatsgerichtshofs - auf den Ministersessel, unter die Halbgötter. Ob einer von den Anwesenden weiß, daß er schon als Student wegen einer wissentlich falsch abgegebenen Erklärung in einem sozusagen Ehrengerichtsverfahren für immer aus seinem Korps hinausgeworfen wurde? Und ob einer der Anwesenden ahnt, wieviel himmelschreiende Korruption aus der Zeit seines sozialdemokratischen Aufstiegs noch der Aufklärung harrt?

Wie gesagt, man atmet auf, wenn man wieder einmal unter Leuten alten Schlages steht. Da bin ich gerade - vielleicht zum zweiten- oder drittenmal in meinem Leben - im "Gardekavalleriekasino" in der Stresemannstraße, dicht an der Voßstraße, gelandet, wo ein Basar des Herminen-Hilfswerks zwei Tage lang abgehalten wird. Kunstgewerbe, Handarbeiten, Bücher, Majolika. Man trifft da wohl auch manchen Verkalkten, aber an den Verkaufstischen steht auch blühende Jugend. Unter den Kauflustigen oder auch nur Sehlustigen kommt gerade Frau v.Papen herein, vorher ist es ein nationaler Arbeiterführer gewesen, also "gemischt" ist diese Gesellschaft gewiß, aber einig darin, daß sie alles unterstützt, was vom Kaiserhause kommt. Rundum die Bilder der Herrschaften aus alter Zeit. Manchmal ist man verwundert. Der alte Kaiser Wilhelm I. als Leibgardehusar, - nein, den kennt man eigentlich doch nur in Generalsuniform. So habe ich ein Bild von ihm aus dem Jahre 1849 in meinem Zimmer hängen. Aber hier ist eben alles nur Kavallerie . . .

Von der Kaiserin Hermine selbst, die auch in Bargeld sehr viel für dergleichen stiftet, liegen ganze Berge von Handarbeiten da, meist Gestricktes oder Gehäkeltes. Das ist eine von den Frauen, die nie untätig sein können. Sie liest ungeheuer viel, sie schreibt viel, sie dirigiert viel, aber vor allem ruhen die Hände nicht. Ich möchte fast sagen: sie schuftet wie eine Heimarbeiterin im Erzgebirge. Einmal, vor Jahren, habe ich anderthalb Stunden im Zwiegespräch ihr gegenüber gesessen. Ich dachte, überlegte, setzte meine Worte, ihre Antwort war immer sofort da, wie beim Hiebwechsel auf der Mensur. Aber dabei strickte und häkelte sie, ohne aufzusehen, in einer Tour. Zugunsten verarmter anständiger Deutscher.

Ich habe mir auf dem Basar, außer einem Buch, ein Wolljäckchen von ihrer Hand gekauft. Das soll ein Geburtstagsgeschenk für jemand werden, den ich lieb habe.
24. November 1932 (Donnerstag)


14

Der Apotheker möchte was schenken - "Dienst am Arbeitslosen" seit 50 Jahren - Schrippenkirche und Brockensammlung - Wohlfahrtsarzt und Säuglingsfürsorge - Für die kleine Bindernagel - Der gefälschte Flex - Ullsteins platzen fast!

"Ja, wenn man nur wüßte, daß es an die richtige Stelle kommt!", sagt mir der Apotheker, der mal nach Berlin gefahren ist, wie er es immer gegen Weihnachten zu tun pflegt, und mich aufgesucht hat.

Man möchte schon zu Weihnachten - als Dankopfer für die eigene noch gesicherte Stellung - dem oder jenem etwas schenken, eine tüchtige Dauerwurst oder ein gutes Buch oder ein Paar Handschuhe, aber nicht gerade jemand, der nur auf das Signal zur nächsten Kommune wartet, um dann hinter die Barrikaden oder auf die Dächer zu gehen und alles Bestehende zu zerstören. Das kann ich verstehen. Also kriegt der Besucher zunächst 10 Adressen von mir bekannten sehr Hilfsbedürftigen und in seinem Sinne Würdigen.

Vereine für Winterhilfe? Nein, die will er nicht. "Man weiß nicht, wo es hinkommt." Außerdem seien das zum Teil Geschäftsbetriebe. Von der Linken bis zur Rechten: überall Provision für die Sammler.

Schade, ich habe vergessen, zu erwidern, daß es eine Stelle gebe, den Verein "Dienst an Arbeitslosen", Berlin N, Ackerstraße 52, wohin man ruhig Geld und Sachen aller Art, bis zum Gerümpel herunter, schicken und sicher sein könne, daß alles die beste Verwendung finde.

Der Verein ist just vor 50 Jahren gegründet worden, von einem Berliner Lokalreporter Konstantin Liebich, der wirklich nur sein karges Auskommen hatte, aber auch einen tiefen Einblick in Berliner materielle und seelische Not, und dem darob das Herz wehtat. Ich habe ihn vor dem Kriege, als er schon ein alter Mann war, noch kennengelernt. Sein Mitarbeiter ist heute der Kern einer anderen Bewegung geworden, des "Bundes der Aufrechten", die sich nicht vor dem November-Baal gebeugt, sondern von dem Tage der Revolution an Panier für den Kaiser aufgeworfen hat. Aber auch Konstantin Liebichs Werk gedeiht und wächst. Haben Sie schon einmal von der "Schrippenkirche" oder von der "Brockensammlung" des nun lange Entschlafenen gehört? In der Schrippenkirche erscheinen allsonntäglich 400 bis 500 Menschen und bekommen da zunächst heißen Kaffee und zwei Schrippen, das Berliner ortsübliche Weißbrot; in Hamburg ist es das Rundstück, anderswo ist es etwas anderes. Dann gibt es für die Besucher einen Gottesdienst, den sie vielleicht seit Jahrzehnten gemieden haben, jetzt um des Frühstücks willen auch vielleicht nur erdulden, aber - von den ausgestreuten Samenkörnern geht hie und da eines auf, und oft gibt es auch weitere materielle Hilfe.

Und nun die Brockensammlung. Sie besteht aus allem Überflüssigen, das von irgendeinem Hausrat abgestoßen wird, alten Möbeln, Kleidern, Bildern, Restgedecken usw., um die Bodenkammern zu räumen. Man gibt, wenn man die Sachen wegschenken will, sie auf einer Postkarte dem Verein an, er läßt sie umsonst abholen und von etlichen Dutzend bei ihm beschäftigten, sonst arbeitslosen Tischlern, Sattlern, Schlossern, Schneidern, Schuhmachern so weit in Ordnung bringen, daß sie (besonders wenn es sich um Kleidung handelt) weggeschenkt oder sonst für einen Spottpreis an kleine Leute verkauft werden können; und dies Geld kommt wieder der Vereinsarbeit zugute.

In der Brockensammlung in der Ackerstraße gibt es in drei Stockwerken die Verkaufsräume. Woher das nur alles kommt! Das da ist "sein" Bett, das der bisherige Junggeselle, der bei seiner Verheiratung ein neues Schlafzimmer bekommen hat, herschenkte. Da ist eine Rohrmöbelgarnitur, die eine andere Familie, welche statt bisher vier jetzt nur noch drei Zimmer bewohnt, dem Verein stiftete. Da ist ein altmodisches Vertiko nebst drei bei Einlieferung ganz ausgefransten Sesseln, die den Platz auf dem Hausboden nur beengten.

Und da ist - neben Weckgläsern, Kaffeemühlen, Anzügen, Stiefeln, Bettdecken, Vasen, Lampen - unendlich viel, was bisher an der Wand hing oder stand. In barockem Rahmen ein mächtig großes Bild der Sixtinischen Madonna; der Rahmen, 18 Zentimeter breit, ist an einer Stelle stark lädiert, aber die Käuferin, die Bild mit Rahmen für 4 Mark ersteht, sagt: "Macht nischt, darieber tu ick eene Seidenschleife mit japanischem Fächer." Für 40 Pfennige ist schon eine kleine Schiller-, Goethe-, Schubert-, Beethoven-Büste zu bekommen. "Jroßartig, lauter Pangdangs, wie jemacht vor zwee Sofaecken!" Für 3 Mark kauft sich eine Frau eine meterhohe Gipsfigur, " 'n echt jriechischer Philosoph", und erklärt: "Wird wetterfest anjestrichen, kommt vor de Laube in'n Jaarten!"

Es ist für gewöhnliche Pennbrüder nicht ganz leicht, den eigentlichen Verein - im Nebenhof der Verkaufsräume und Werkstätten - aufzusuchen, denn schon im Wartezimmer hängt das Bild von der Wiederaufnahme des verlorenen Sohnes. So etwas paßt nicht jedem. Und dann die Zusprache, die Aussprache! Man richtet sich hier nach dem Pauluswort im Galaterbrief: "So ein Mensch etwa von einem Fehler übereilet würde, so helfet ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist!" Da sind 40 Betten, in denen für zwei bis vier Wochen Einsame, die sonst auf der Straße lägen, beherbergt werden. Meist versucht man ihnen eine Arbeitsstellung auf dem Lande zu vermitteln. Aber was soll der studierte Physiker dort? Oder der feinfingrige gelernte Kaufmann? Dieser platzt gerade herein, als ich da bin. Was er machen solle? Er könne eine Stellung mit 170 Mark monatlich in Dresden bekommen. "Aber meine Braut ist doch in Berlin!" Da bedarf es vielen, warmen Zuredens.

Oder es kommt plötzlich aus einer großen Stadt in Westfalen frühmorgens, pikfein angezogen, mit tadellosem Koffer, ein Untersekundaner her und sagt, seine Mutter lese die Hefte "Aus dem dunkelsten Berlin" des Vereins, daher wisse er, daß hier Hilfe sei.

"Meine Mutter hat 'n blauen Brief vom Gymnasium bekommen, ich werde nicht versetzt, da habe ich das Fahrgeld aus ihrer Wirtschaftskasse genommen, nun bin ich hier; bitte besorgen Sie mir eine kaufmännische Stellung!"

Mit äußerster Ruhe wird der Junge behandelt und innerlich geknetet, wird drei Tage lang verpflegt, dann holen Verwandte ihn ab und bringen ihn wieder nach Hause. Nach ein paar Wochen schreibt er glückselig an den Verein:

"Vielen Dank, ich habe mich feste auf den Hosenboden gesetzt; ich schreibe Ihnen wieder, wenn ich Primus bin!"

Selbst wenn man das Gefühl hat, nur noch ein Tropfen auf den heißen Stein zu sein, darf man von seiner Arbeit nicht lassen. Es ist klar, daß im alten Deutschland Bodelschwingh und Liebich und ähnliche Männer prozentual viel mehr Elend linderten. Heute haben wir aber das Massenelend. Und Staat und Stadt greifen mit Mitteln ein, die imponieren, aber nur einen Stand nach dem anderen in die Not stoßen. So waren die Ärzte und die Kranken viel glücklicher, als es noch festangestellte Armenärzte gab, die übrigen aber von ihren Patienten ordentlich bezahlt wurden. Wenn ein mir bekannter Wohlfahrtsarzt in einem der inneren Bezirke Berlins (für ein Gehalt von rund 200 Mark) im Monat 1100 Wohlfahrtspatienten sieht, so müssen sie selbstverständlich fabrikmäßig abgefertigt werden: sie klagen ihre Schmerzen, kriegen was aufgeschrieben, fertig; eine genaue Untersuchung ist unmöglich.

Und die für Wohlfahrtspatienten zugelassenen, nicht mit Gehalt angestellten Ärzte? Da hat einer am Tage 19 solcher Besuche, davon 6 Neuerkrankte, die in dem laufenden Monat noch nicht bei ihm waren. Gesamtentschädigung für diesen Tag: 1 Mark 67 Pfennige! Das reicht nicht einmal für Heizung und Licht. Soll da am Ende ein Arzt sich auch noch Gummihandschuhe kaufen? Und die Krankenkassen machen neuerdings die Ärzte schadenersatzpflichtig, wenn sie "teurere" oder nicht im Arzneibuch genehmigte Medizin verschreiben. Ein Arzt gibt einem dreivierteljährigen Kinde, weil die Eltern bei einem Säugling das Einspritzen eines krampfstillenden Mittels scheuen, dieses Mittel in Tablettenform. Rums, die Rechnung: er muß der Krankenkasse 1,35 Mark bezahlen! Auch sonst wird durch Ambulanzen dem Arzt sein Brot genommen. Und in der Säuglingsfürsorge, die früher nur der Beratung Unbemittelter diente, gibt es heute neben der Beratung auch Behandlung, und zwar jetzt - für jedermann, angeblich auf Veranlassung des Stadtmedizinalrates Dr. Drygalski, eines der noch heute leuchtenden Sterne am ehemaligen Böß-Himmel. Also da kommt eine Dame, deren Mann monatlich 900 Mark Einkommen hat, mit ihrem Kindchen zur Fürsorge. Kostet ja nichts. Und eine andere Dame rauscht sogar mit einer Nurse heran, die das Baby im Luxuswagen betreut. Kostet ja nichts. Wenn die Stadt keinen Bedürftigkeitsnachweis verlangt, ist ja alles in Ordnung; Ärzte und Schwestern tun ja ohne Ansehen der Person bis zum Umsinken ihr Bestes.

Nachher kann man um so stolzer zum Damenklub gehen und das nächste Wohltätigkeitsfest beraten. Für die Tochter der ermordeten Opernsängerin Bindernagel. Man wäre vielleicht in der Lage, ganz allein das Kind zu sich zu nehmen. Aber das macht doch Last; also wird lieber die öffentliche Wohltätigkeit angerufen. Und man ist wieder Komiteedame, von der gesprochen wird.

Wer hat, hat. Aber man sagt es nicht mehr. Oder wenn es herauskommt, dann ist es nach drei Tagen vergessen. Jetzt haben sie den "Spanier" Maurice Metal am Wickel gepackt, weil er die Miete von über 200 Häusern, die ihm in Berlin gehören, ins Ausland verschoben hat. Die spanische Botschaft wehrt sich. Der Mann sei gar nicht Spanier, sondern heiße Moritz Metall und sei nach Polen zuständig. Wie viele Zeitungen wagen das abzudrucken? Überall das Versteckspiel. Auch der Rundfunk (und ich dachte doch, wir hätten "neue Ära"!) bringt Fälschungen. Da wird am Totensonntag die Gedächtnisfeier für die Kriegsgefallenen aus dem Plenarsaal des Reichstages auf alle deutschen Sender übertragen, darunter Dichtungen des auf Ösel gefallenen Walter Flex. In einem der Gedichte - "Wildgänse" - ruft Flex den grauen, in der Nacht daherrauschenden Wildgänsen zu:

"Wir sind wie Ihr ein graues Heer
Und fahren in Kaisers Namen!"

Schrecklich, schrecklich. Da wackelt die Müller-Brüning-Papen-Republik oder wie sich nennen möge. Also wird sinnentstellend deklamiert: "Und fahren in Gottes Namen". Da zeigen einige Leute mit dem Sowjetstern oder den drei Sklarekpfeilen heute noch mehr Mut. Sie hissen ihre Flagge; - "warte nur, balde" . . ." Und ein entlassener Regierungspräsident, dessen Vater Professor und Protégé des Kaisers war, will als Novembersozialist am Verfassungstage wenigsten Schwarz-rot-gelb hochziehen. Daß es Gelb-rot-Schwarz wurde, amüsierte alle Nachbarn, aber tat der Tat keinen Abbruch. Wie sagte doch die Vossische Zeitung? "Wir sind eine Republik ohne Republikaner."

Gut, sehr gut.

Im Jahre 1919 hatten die Demokraten noch 75 Abgeordnete. Im neuen Reichstage verfügen sie nur über 2 Sitze. In diesen 13 Jahren haben die um Ullstein also über 97 Prozent ihrer Mandate verloren.

Noch haben sie freilich eine Presse. Wenn man die liest, könnte man ein Buch über die Psychologie der Verärgerung schreiben. Wie einen das freut, wenn der Gegner sich ärgert und für einen Reklame macht! Als Adventsgeschenk ist mir da ein wütender (ich selbst halte mir den Bauch vor Lachen!) Artikel der Ullsteins auf die Bettdecke gefallen: "Rumpelstilzchen, Porträt eines Zeitgenossen." Die Leute wissen, daß jedes Jahr, mit immer steigender Auflage, das Sammelbuch meiner Plauderbriefe vor Weihnachten herauskommt, in dem auch das steht, was eine Zeitung etwa aus Platzmangel nicht abgedruckt hat. Mein Porträtist, dem der diesjährige Band ("Nu wenn schon") von Rumpelstilzchen in die Hände gekommen ist, schreibt selbstverständlich, alles darin sei Quatsch mit Sauce oder Verleumdung; wobei mir nur unklar ist, weshalb er mich nicht wegen Verleumdung der Staatsanwaltschaft anzeigt. Aber am Anfang und am Schluß schreibt er Sätze, die auch noch die letzten Demokraten kurz vor ihrem Aussterben neugierig und zu Rumpelstilzchen-Lesern machen könnten, nämlich:

"Nein, das kann man sich nicht länger gefallen lassen! Wer da glaubt, man brauche ihn nicht so wichtig zu nehmen und es genüge, ihn schweigend zu übergehen, der irrt sich gewaltig, - so einer ist gefährlicher als eine Kompagnie von Feld-, Wald- und Wiesendemagogen . . . Seine Leser schlürfen begierig das Getränk, ohne zu merken, daß seine fade Süßigkeit fein verteilte Giftstoffe verbirgt. Dieses Gift aber ist von besonderer Sorte: es setzt sich im Bewußtsein fest, kristallisiert zu kaum mehr lösbaren Urteilskomplexen und Ressentimentsklumpen; es haftet noch, wenn der Anlaß längst vergessen ist. So macht man Leute zu Proselyten, die gar nicht wissen, daß sie bekehrt werden."

Wirklich liebe Leute, diese Ullsteins. Ich habe sie nie so gelobt, im Gegenteil. Aber in der Verärgerung vergißt man leicht, was man will. Jetzt haben die Demokraten noch 2 Abgeordnete, über kurz oder lang vielleicht gar keine Zeitung mehr. Tröstet, tröstet mein Volk! Vielleicht fällt mir gelegentlich ein Geschenk als Gegenleistung ein.
1. Dezember 1932 (Donnerstag)


15

Ein großes Hakenkreuz wird angeschafft - Jeder Partei ihr Mosaik! - Der Wahrsager-Fimmel - Bei der Chirologin - Auf dem Ball der Nationen - Die Diplomaten im Adlon - Ich soll nach Kopenhagen fliegen.

Die Wirtschaft wird wahrhaftig angekurbelt, und zwar diesmal nicht autoritär, sondern parlamentarisch. Wie meinen Sie? Nein, da sind Sie im Irrtum. Die Mitglieder des Reichstages haben nicht etwa beantragt, daß ihre Arbeitslosenunterstützung von 600 Mark monatlich eingezogen und dafür so und so viele Familien in Lohn und Brot gesetzt werden.

Das wäre wohl auch nicht das Richtige. Wenn jedermann auf sein Einkommen verzichtet, kann er von niemand mehr etwas arbeiten lassen.

Nein, ich meine etwas ganz anderes unter Ankurbelung der Wirtschaft durch den Reichstag. Bitte bemühen Sie sich einmal nach Berlin-Treptow zu den Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Puhl & Wagner (Inhaber Gottfried Heinersdorff), wo ein saftiger Auftrag ausgeführt wird: ein riesiges Mosaik-Hakenkreuz für das Palais des Reichstagspräsidenten. Seht ersch, da habt ersch; jede Schuld wird einmal gerochen.

Vor Jahren notierte ich mit Vergnügen, daß das alte urarische Heilszeichen, das Hakenkreuz, heute Abzeichen der Tedeschissimi, im Mosaik-Bürgersteig vor dem Preußischen Abgeordnetenhause am Ost- und Westausgang eingelassen sei. Da ich mich so diebisch über diesen architektonisch schönen Abschluß einer schwarzen Mäanderlinie freute, ließ der sozialdemokratische Präsident Bartels im August 1928 die Symbole aus dem Bürgersteigpflaster entfernen.

Dafür wird nun, vielfach vergrößert, für das Reichstagspräsidium das neue Hakenkreuz gebaut.

Nun bitte, auch wieder die alte Mosaikarbeit für die beiden Stellen vor dem Landtag!

Und vor das Berliner Rathaus eine große rote Platte mit drei weißen Pfeilen!

Nur bitte ein bißchen plötzlich, damit die Wirtschaft auch hier, wo noch das rote System herrscht, vor Toresschluß angekurbelt wird. Und was dem Reichstagspräsidenten recht ist, muß den anderen billig sein. Wozu staatliche Hoheitszeichen? Das schwarzrotgoldene in der Kuppelhalle des Reichstages, das so schlecht zu dem architektonisch schönen weißen Raum paßt, könnte ich gut und gern entbehren. Das ehemalige Schwarzweißrot wird jetzt sowieso vielfach von Leuten, denen man es nicht zutrauen sollte, abgerissen und verbrannt. Also nehmen wir nur noch Parteisymbole. Wenn der nächste Präsident des Reichsgerichts zufällig Mitglied der Bayerischen Volkspartei sein sollte, so käme über das Portal in Leipzig der weißblaue Löwe mit der Unterschrift: "Bayern wacht!" Umgekehrt erhielte, falls ein Deutschnationaler zur Leitung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts berufen würde, dieses den Gardestern mit dem Adlerkopf in der Mitte. Das bringt doch was ein. Das kurbelt das Geschäft doch an.

Es gibt buchstäblich unzählige Leute in Berlin, die heute, wenn ein Geschäft angekurbelt zu werden scheint, zunächst nicht ins Lager oder in die Fabrik oder zum Arbeitsamt laufen, sondern - zur Wahrsagerin. Ob Kartenlegen, ob Kaffeesatz, ob Hellsehen, ganz egal: soll ich oder soll ich nicht? Nachdenkliche Leute gehen mit dem Angebot zum Handschriftendeuter, damit der einem sage, ob "der Kerl" vertrauenswürdig sei. Das ist schon etwas anderes. Kartenlegen ist immer Mumpitz, wirkliches Hellsehen eine schwere Krankheit, geschäftliches Hellsehen ein Trickschwindel. Aber die Handschrift berichtet.

Keine Wirkung in der Welt ohne Ursache. Wenn ich also, ohne es mir absichtlich (wie manche Damen die großen steilen Buchstaben) angewöhnt zu haben, just so und nie anders schreibe, kann meine Herkunft, mein Erleben, mein Charakter etwas damit zu tun haben. Nur ist Handschriftenlesen eine Kunst. Wer nur eine der vielen graphologischen Grammatiken durchgebüffelt hat, der deutet Handschriften so, wie wir als Tertianer französisch zu sprechen pflegten. Und nun erst die Chirologen, die Handlinienleser! Neunundneunzig unter hundert sind es nur wert, daß man ihnen die geballte Faust zeigt. Nur jeder Tausendste oder Zehntausendste unter ihnen ist vielleicht ein Künstler. Oder vielleicht, besser gesagt: ein besessener Mensch. Ein Mensch, dem der innere Dämon sagt, was los ist, wenn eine geöffnete Handfläche auf dem stecknadellosen Stecknadelkissen sich zur Untersuchung ausbreitet.

In Berlin sind die Chirologen und Chirologinnen gerade große Mode. Man "hat" sie wie seine Schneiderin, seinen Steuerberater, seinen Terrier, seinen Rechtsanwalt, seinen Cicisbeo, seinen Hausarzt. Zwei von diesen Künstlern, ein männlicher und ein weiblicher, von der ich noch erzählen will, haben "die Krebslinie" entdeckt. Wer die hat, der hat halt Karzinom, da ist nichts zu meckern. Die Handlinien lügen nicht, sagen einem schon die Zigeunerinnen, die in ihrer vererbten Grammatik höchstens bis zur Seite 4 oder 5 gekommen sind. Und da ist die Lebenslinie (die Vitalis), und da die Ehelinie, und da ist die Zahl der Kinder eingekerbt, und dort hat sich eine frühere Ruhr manifestiert, und hier sind die Seitensprünge verewigt.

Also gehen wir schon mal ruhig zu Fräulein Adele Doneux in der Bayreuther Straße 43, das ist jetzt die überlaufenste. Manchmal hat sie nicht einmal eine Mittagspause. Da schickt ihr gerade ein Arzt eine Patientin, um (noch über Röntgen hinaus?) mehr Sicherheit zu haben. Sie sieht sich die Handflächen der Dame an, lächelt verbindlich, sagt, es scheine nichts Schlimmes zu sein, und schreibt dem Arzt: "Karzinom der rechten Brustdrüsen, Tuberkeln im rechten Hüftgelenk". Es ist richtig, auch die Hüfte ist krank, seit einigen Tagen hinkt die Dame leicht, nur wird es sich da wohl um eine Krebsmetastase handeln. Ich sehe Haufen von Handabdrücken und von derlei Meldungen an Ärzte. Adele Doneux leidet unter ihrem Beruf, denn sie sieht täglich zu viele Menschen, die vom Tode gezeichnet sind. Und trotzdem ist sie von ihrem Berufe besessen.

Aber sie braucht Freiheit von Beeinflussung, von Voreingenommenheit, sieht am liebsten gänzlich Fremde, denen sie aus Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft etwas erzählen soll; sie soll Ehen kitten, sie soll zu Geschäften raten oder von ihnen abraten, sie soll - was sie natürlich ablehnt - Kuren verordnen und anderes mehr. Bei mir hat sie es etwas schwer, denn da sie seit ihrem 16. Lebensjahr allsonntäglich den Eltern das Berliner Allerlei vorgelesen hat, weiß sie zu viel von mir, und positives Wissen stört künstlerische Phantasie. Die Linien, na schön, die ergeben nicht viel anderes, als man jedem Manne von meinem Alter und von meinem bekannten Herkommen und Beruf erzählen kann. Ich habe den großen Spaß, daß ich ihr neben vielem richtig Gelesenen auch einen falschen Tip auf den Kopf zusagen kann; unfehlbar ist ja niemand. Aber ich habe ein böses Gewissen, denn wir plaudern schon eine ganze Weile, und seit ich da bin, sind schon fünf Neue zur Sprechstunde erschienen und verschiedene ärztliche Korrespondenzen eingelaufen. Und dieses sensible Geschöpf, das sich so abarbeitet, ist erst 25 Jahre alt und hat in den zwei Jahren seiner Praxis sich schon eine ganze große Wohnungseinrichtung - nicht Stahlmöbel und dergleichen, sondern alte brave Sachen, sogar mit vielen Deckchen, Teddies, Hundchen - erworben, und falls die junge Dame es so weitertreibt (wenn nur die Gesundheit den seelischen Anstürmen standhält), kann sie in wenigen Jahren ein Vermögen schaffen.

Wie gesagt: Chirologinnen sind zur Zeit große Mode in Berlin. Ich selber nippe immer nur einmal von so etwas. Ich schaue beruflich in Mode und Kultur hinein. Dann wirft mich die Arbeit womöglich an das entgegengesetzte Gestade.

Endlich einmal habe ich am vorigen Sonnabend, zum erstenmal in dieser Saison, auch zwei "große" Bälle (eigentlich sollten es drei an diesem Tage sein) mitgemacht. Das ist heute furchtbar leicht. Man denke: ich habe auf beiden Bällen nicht einmal eine einzige halbe Flasche Wein erstanden, und trotzdem waren die armen Kellner höflich und freundlich. Nur ein Glas habe ich einmal genassauert. Also zuerst hin zum "Ball der Nationen", worunter man deutsche und ausländische Studenten versteht. In der Hauptsache schienen sie im zweiten Semester zu stehen, diese rund 3000, und zum erstenmal in ihrem Leben den ersten Smoking ihres gesellschaftlichen Daseins zu tragen. Die zur Ergänzung nötige Weiblichkeit - sämtliche Zooräume sind schließlich gut gefüllt - ist auch da, nur sind es verhältnismäßig wenig Studentinnen. Die Japaner, Inder und sonstiges farbiges Volk sind wohl zumeist mit ihren filiis hospitalibus, etliche Balkanstudiker mit ihren Freundinnen aus Berlin Mitte gekommen, das überhaupt ein großes Kontingent stellt. Es ist alles schlicht und einfach. Ein paar alte Damen und Herren, diese sogar im Frack, bevölkern die Ehrenloge im Marmorsaal, im allgemeinen ist alles vergnügt und lustig, ohne viel auszugeben.

"Dies Bild, wie anders wirkt es auf mich ein", deklamiere ich, als ich dann im Hotel Adlon gelandet bin. Alles Gala, die Herren in Frack und Orden, die Damen in großem Abendkleid, obwohl es auch hier schon etwas einfacher geworden ist als im vorigen Jahre; für das unauffällige Hängerchen - wenn mit weitem Rückenausschnitt, dann allerdings mit Taille - entschädigt manchmal kostbarer Schmuck. Es ist das Fest der "Ausländischen Presse", der zur Zeit der Holländer Blockzyl vorsteht, und es ist herkömmlich, daß die ganze Diplomatie der Fremden daran teilnimmt. An dem Tisch vor mir sitzt der amerikanische Botschafter Sackett mit seiner Frau. Etwas weiter der neue argentinische Gesandte mit seiner Gattin, die ihren Rückenausschnitt - das hätte man noch vor wenigen Jahren verborgen - weit über ein faszinierendes Muttermal auf dem linken Schulterblatt ausdehnt. Außer den vielen Diplomaten und Publizisten sind auch in Mengen Vertreter der verschiedensten freien Berufe erschienen; es ist buchstäblich alles bis zum letzten Stuhl in sämtlichen Festräumen des Hotels Adlon besetzt.

Gerade walzt einer unserer bekanntesten Anwälte, Dr. Sack, an uns vorüber. Dann kommt Jan Kiepura, der berühmte Sänger, an unseren Tisch und erzählt, nach pünktlich 15 Minuten werde er seinen populärsten Schlager schmettern; erzählt es in fast fehlerlosem schnellem Deutsch und wie berauscht vom Luxus der Stunde. Und da drüben, da hat auch Frau Marek Weber den zu ihrer Figur passenden Tänzer gefunden. Hie und da taucht der weißhaarige, aber jünglingshaft schlanke und geschmeidige Louis Adlon im Gewühl auf und schwenkt irgendeine Dame im Tanze, die dies trotz aller anwesenden Exzellenzen und Großkreuzinhaber als Ehre empfindet; seine Frau selbst macht inzwischen unermüdlich die Honneurs an ihrem Tische.

Es ist, als sei man bei einem Schloßherrn zu Gast. Ich will nicht gerade sagen: wie bei Max Schmeling, der sich soeben ein Schloß mit 80 Zimmern billig hat aufhängen lassen. Sondern wie bei einem englischen Lord. Man kriegt hier keine 4-Pfennigs-Zigaretten wie auf dem Ball der Nationen als Herrengabe, aber man kann in der endlich wieder zugelassenen Tombola - sie fand jahrelang nicht statt, weil die Amerikaner sie als Lotterie für unsittlich erklärten - ordentlich was gewinnen. Ich kaufe nur ein einziges Los, für 2 Mark. Dafür kriege ich den 3. Hauptgewinn, eine freie Luftreise nach Kopenhagen und zurück, oder den Hin- und Rückflug nach irgendeinem ebenso weit entfernten Flugplatz. Gültigkeitsdauer fünf Monate!

Noch in derselben Nacht sitze ich zu Hause mit dem Lineal über der Karte Deutschlands und schlage Bogen. Also dahin kann ich! Und dahin! Und dahin! In Kopenhagen bin ich schon wiederholt gewesen, finde "Tivoli" (unserem Lunapark entsprechend) schrecklich popelig, die Umgegend - die ganze dänische Riviera - wunderschön und habe nach zwei Dingen immerzu Sehnsucht: nach dem Sinding-Saal im Museum und vor allem nach der bronzenen Nixe, die an der "Langen Linie" auf einem Felsblock im Wasser kauert. Da werden Erinnerungen wach, da ist die Gegenwart auf einmal rosig übergoldet . . .
8. Dezember 1932 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts