"Rumpelstilzchen"

Nun wenn schon!
(Jahrgangsband 1931/32)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1932

Glossen 16 - 18
17. Dezember 1931 bis 7. Januar 1932


16

Schneelicht in der Großstadt - Adventsfeier - Ich mime Empfangschef im Laden - Neues Kunstgewerbe - Die Frau braucht Fingerbowls - Quartier Latin - Wie Operettenpersonal zusammengestellt wird.

Das weiße Schneelicht von den Dächern drüben erhellt den Schreibtisch. Am liebsten legte man die Feder hin und begänne zu träumen, von früherer Weihnacht aus der Kinderzeit und den Wanderjahren bis in den Krieg hinein. Der liebe Gott hat das festliche weiße Tafeltuch über die Erde gedeckt. Nur auf die Straße hinunter soll man nicht sehen, denn dann ist es mit den schönen Vorstellungen zu Ende, weil der braune Matsch gar so grämlich ist.

Haben wir in der Großstadt noch die Möglichkeit einer Adventstimmung?

Von Amerika her ist der Christbaum, den das deutsche Haus der ganzen Welt geschenkt hat, als öffentliches Mahnmal der Liebe zu uns zurückgekommen. Die Yankees bauen ihn auf den Straßen auf, je riesiger, desto besser, und lassen ihn überall mit tausend elektrischen Kerzen in die Gemüter strahlen. Nun machen wir es nach. Auf dem Kemperplatz, auf dem Wittenbergplatz und anderswo. Das macht nicht die Stadt, die grundsätzlich religionslos und lieblos ist, sondern das geht von einzelnen Kaufhäusern oder von der Heilsarmee aus.

Wenn man dadurch in die Häuser selbst etwas Weihnachtsvorfreude trüge, ja, das wäre was! Aber man kann stundenweit durch die Häuserschluchten wandern, ohne daß irgendwo, etwa in der anheimelnden Schummerstunde, in irgend einer Wohnung irgend ein Weihnachtslied von Kinderlippen erklänge. Grammophone, jawohl, die hört man; und sie schmalzen: "Das gibt's nur einmal, das kehrt nicht wieder . . ."

Diesmal haben wir uns eine Adventsfeier gegönnt. Es gibt, o Wunder über Wunder, selbst in Berlin doch noch Häuser mit Hausmusik. Da draußen im Westen wohnen im 4.Stock in bescheidenen Räumen drei uns sehr liebe Damen, von denen die eine noch bis vor wenigen Jahren ein Schloß mit 24 Zimmern besaß. Da sitzen wir, jeder mit einem Lichtchen in der Hand, und singen mit Harmoniumbegleitung "Wie soll ich Dich empfangen" und "O du fröhliche, o du selige" und "Tochter Zions, freue Dich". Dann singen die Frau Gräfin und die Frau Oberförster zweistimmig, nachdem etliche Schriftwort rezitiert worden sind, unter Klavierbegleitung allerlei geistliche Volkslieder. Die Lichtstümpfchen verflackern schon, da nimmt der Student - ein junger Altphilologe - seine Geige, die Malerin ihr Cello, und Bachs Ave Maria in der Bearbeitung durch Gounod schwebt durch den Raum.

Schweig' stille, mein Herze. Es ist auch ganz still. Aber die Uhr tickt und sagt: losreißen, aufbrechen.

In den Beruf. Auf den Beobachterstand. In einen Laden.

Er steht am Ende der Kleiststraße, kurz vor dem Wittenbergplatz. Es ist ein Kunstgewerbehaus, in dem erfahrungsgemäß um diese Zeit die meisten Ratlosen zusammenströmen, die etwas Eigenartiges schenken möchten, aber nicht wissen, was es sein soll. Auch wohl dem eigenen Geschmack nicht viel zutrauen. Hier, so meinen sie, sind sie sicher, wirklich guten Rat zu finden, nicht irgend etwas Dummes aufgehängt zu bekommen. Der Inhaber ist ein Mann von Fach. Er hat in Iserlohn in einer Bronzefabrik allerlei zu entwerfen gelernt, er hat in Düsseldorf die Kunstgewerbeschule besucht, er hat sich in München weiter ausgebildet, er ist bei Professor Bruno Paul in die Lehre gegangen, er hat ein ganzes Vierteljahrhundert im Kunstgewerbe gelebt und gewebt. Mir erlaubt er, daß ich einige Tage lang ein paar Stunden bei ihm den Türsteher und Empfangschef spiele, um so meine Beobachtungen machen zu können.

Die erste Feststellung kann ich schon am silbernen Sonntag machen, nämlich die, was für harte Beinarbeit das Verkaufen bedeutet. Bisher habe ich immer die Briefträger bedauert. Aber nun weiß ich auch, wie todmüde jeder Ladenangestellte, von der Verkäuferin über den Packer bis zum Grußaujust, sein muß, wenn er den ganzen Tag auf den Beinen gewesen ist. Herrschaften, die Ihr zum Kaufen oder gar nur zum Sehen kommt, seid freundlich und lieb zu ihnen allen, denn sie schinden sich gründlich für Euch!

An sich habe ich zum Kunstgewerbe keine rechte innere Stellung. Wer durch die Zeiten des Kinkerlitzchenstils und dann des Jugendstils hindurchgegangen ist, den schmerzen noch die Wunden. Halb gläubig, halb zweifelnd habe ich dann die Wiedergeburt erlebt, durch die sogar Paris entthront wurde und Berlin und Wien an die Spitze kamen. Der Deutsche wurde wieder, wie in versunkenen Jahrhunderten, zum Geschmacksbildner der Welt. Aber manches, namentlich in der Keramik, stieß mich erneut vor den Kopf. Gelegentlich habe ich verbittert gesagt:

"Kunstgewerbe ist, wenn eine Gazelle Elefantenbeine bekommt."

Hier auf meinem Posten an der Tür und an den Verkaufsständen und im Lagerkeller kriege ich nun noch einmal Mut und Zuversicht.

Gelegentlich auch eine gelinde Empörung. Aber nicht mehr gegen das Kunstschaffen, sondern gegen die Kunstkäufer. Kommt da eine Dame herangerauscht, vor der ich die Tür aufreiße.

"Gnädige Frau wünschen?"

"Ach, eigentlich weiß ich nicht, was. Sehen Sie, es soll etwas schönes für einen älteren Herrn sein. Etwas, woran er sich immer, immer freut. Etwas von bleibendem Wert. Es kann bis zu zwei Mark kosten."

Da stehste machtlos visavis, möchte ich am liebsten antworten. Aber das geht ja nicht. Also wird die Dame verfrachtet und weitergegeben. An den Stand der Glasfigürchen, zu dem Raben, zu der Katze. An die Notizbücher, an Sächelchen aus Leder und aus Holz. Natürlich können es nur "Sächelchen" sein. Die Dame wühlt länger als eine Stunde, während das jüngste Ladenfräulein mit erloschenen Augen mechanisch Bescheid gibt, und geht kauflos von dannen.

Da lobe ich mir die Herren, die einer Dame etwas schenken wollen. Sie halten Ausschau nach der hübschesten und am geschmackvollsten gekleideten Verkäuferin, warten, bis die frei ist, fragen sie etwa: "Was würden beispielsweise Sie sich wünschen? Was finden Sie wirklich schön?", und dann ist in zwei Minuten der Kauf abgeschlossen; nach der Wahl lassen sie sich vielfach erst den Preis nennen und zahlen anstandslos.

Am meisten halten junge Paare das Geschäft auf, weil sie sich gegenseitig in das liebende Auge sehen und einander auskundschaften, ob er oder sie nur aus Rücksichtnahme auf den Geschmack des anderen etwas schön findet oder "wirklich" dafür ist, und diese Unschlüssigkeit wird schließlich chronisch, während die Verkäuferin mit hängenden Armen dabeisteht und doch nicht sagen darf, man möge doch endlich zugreifen, es geb tatsächlich nichts Geschmackloses in dem ganzen Laden.

Nun prescht ein fabelhafter Austro-Daimler heran, da packt mich der Jagdeifer, ich stürze vor die Tür und reiße den Schlag auf. Ein bekanntes Schauspieler-Ehepaar entsteigt dem Wagen, der Mann drückt mir, ohne mich anzusehen, 10 Pfennige in die Hand, die beiden werden wie königliche Hoheiten empfangen und beschäftigen alsbald zwei Verkäuferinnen. Die eine muß Schreibtischlampen aus wundervoll gemasertem Holz, die andere muß große schwere Vasen dauernd hochhalten. Bis zum Erlahmen. Immer wieder neue Lampen und Vasen. Gekauft wird schließlich nur ein kleiner Glasteller.

Es wird überhaupt allgemein "billigeres" bevorzugt als im Vorjahre, aber es kommen mehr Käufer, weil das geschmacklich Gute Trumpf ist, und so ist der Gesamtumsatz derselbe.

Eine Dame von neureichem Typ verlangt Fingerbowls, die kleinen Wasserschalen für den auch mit Obst gedeckten Tisch, "aber, bitte, gehämmert, mit Glaseinsatz". Das Ladenfräulein, das genau weiß, daß es solche hier nicht gibt, macht den Vorschlag, die Dame möchte doch reine Metallbowls nehmen, wie sie überall üblich seien:

"Auch wir bei uns zu Hause, gnädige Frau, haben solche Schalen!"

Da trifft sie ein vernichtender Blick.

"Wat, Sie wollen Fingerschalen zu Hause ham'? Frollein, det gloobense doch selber nich!"

Das Fräulein wird flammend rot, schweigt aber. Es ist eine von den vier Helferinnen, die für das Weihnachtsgeschäft auf drei Wochen eingestellt sind. Das sind zwei geprüfte, aber nicht angestellte Gewerbeoberlehrerinnen, eine Studentin, eine Witwe eines Berliner Theaterdirektors, alles Damen aus gutem Hause. Wohl auch aus ehedem wohlhabendem Hause. Sie alle haben auch schon manches Krebsessen hinter sich, nach dem sie sich die Finger benetzt und abgerieben haben. Doch die Neureiche ist empört und murmelt: "Wat so 'ne Gänse sich einbilden!" Und walzt davon.

Ich schnell in den Mantel und hinterher. Sie geht zur Nürnberger Straße, an die Ecke, wo früher das italienische Restaurant Aida sich befand. Es ist eingegangen, so wie ja auch Traube in der Leipziger Straße, Rheingold in der Bellevuestraße und andere gute und große Gaststätten längst geschlossen sind, so daß das Publikum auf die verbliebenen zusammengedrängt wird und der Ausländer über deren starken Besuch erstaunt sein kann. Aber die günstige Aida-Ecke ist neubesetzt, da haben wir jetzt - das fehlte noch - zu den zahlreichen italienischen, russischen, chinesischen, österreichischen, jiddischen, amerikanischen Restaurants das erste "nach französischem Muster" in Berlin bekommen. Es heißt Quartier Latin und hat Luxuspreise dafür, daß die ganze Langwand von einer fortlaufenden Bank eingenommen ist, zu der man sich durch eine schmale Tischlücke hindurchzwängen muß. Dort nimmt meine Neureiche Platz und versenkt sich in einen Hummer. Jetzt sehe ich erst, wie notwendig Fingerbowls für sie sind. Zum Glück sitzt Conrad Veidt mir gegenüber, das ist ein erfreulicherer Anblick. Die Kellner im Quartier Latin sind international, selbstverständlich. Mich bedient ein Italiener. Ich frage ihn, wer der Besitzer sei, ob es wirklich ein Franzose sei. Er verweist auf das Geschirr, das den Namen "Dajou" trägt", und sagt: "Er ist aber ein Spanier". Auf dem Heimwege kaufe ich mir ein Berliner Wochenblättchen, in dem einiges aus der Geschichte des Hauses erzählt wird, und da lese ich, daß dieser Spanier nicht Dajou, sondern Kohn heißen soll. Jedenfalls scheint er vorerst gute Geschäfte zu machen. Die Parisschwärmer des Berliner Westens gehen hin. Und man sieht da auch viele Leute vom Film, die zumeist mit Herr Direktor angeredet werden. Diese Herren sind klein und schwarz, ihre Damen lang und blond. Das ist an allen Berliner Luxusstätten die im jetzigen Reiche übliche Zusammenstellung.

Der Luxus selbst hört nicht auf, wenn auch der Teilnehmerkreis sich verkleinert. Es gibt eben Leute, die auch bei schlechtester Konjunktur nicht Pleite machen. Oder wenn sie Pleite machen, so verdienen sie daran. Oder wenn ein Artikel nicht geht, nehmen sie einen andern. Die Hauptsache ist nur, daß man nicht das eigene Geld riskiert. Auch der kommunistische Theatermann Piscator ist nicht verarmt, nach dem er die halbe Million Katzenellenbogens verwirtschaftet hatte. Nur seine Schauspieler litten unter elenden Löhnen und stärkster Beanspruchung.

Jetzt rüsten sich alle Theater, sobald der Dezember überstanden ist, auf die eigentliche Schlacht der Saison, soweit sie nicht einen Reißer für Dauerbetrieb schon haben. Im Metropoltheater in der Behrenstraße hat die Blume von Hawaii ausgeduftet, da muß eine neue Operette - unter Richard Tauber tut man's nicht - die Kassen füllen. Die Stars hat man schon beisammen, aber die Massen müssen noch geholt werden. Also erscheint in einer Berliner Tageszeitung neulich die kleine Anzeige:

"Junge Tänzerinnen, Figurantinnen, Sängerinnen, nur hübsche Erscheinungen, gesucht. Meldung Metropol, Behrenstraße, Freitag 3 bis 4 Uhr nachmittags."

Das macht Spaß, da mit der Menge durchzuschlüpfen. Wohl an die 1000 Mädchen drängen sich zur Auslese, junge, alte, hübsche, miese, vom Backfisch bis zur Greisin. Alles von Hoffnungen geschwellt. "Hüte runter!", kommandiert einer der Herren vom Theater. Also die Hüte fliegen herunter. Kamm und Spiegel fliegen heraus, es rauscht durch tausend Bubiköpfe. Eine knurrt:

"Warum denn die Köpfe, ich denke, die Beine müssen Sie sehen!"

Natürlich, das käme noch, sagt der Angeredete. Eine Fünfzehnjährige, Typ Zille, kommt und sagt:

"Hach, Herr Direktor, werfen Sie doch eine Pupille auf mich, können Sie mich nicht gebrauchen?"

Er reißt ihr den Rock hoch, läßt ihn wieder fallen und ruft:

"Nischt zu machen, weg, nach Hause!"

Eine Ältliche wird angeherrscht: "Marsch, Mensch, Sie kommen doch nicht in Frage!"

Einzelne werden vorgerufen und, wenn sie Gnade finden, registriert, mit einem oder zwei oder drei Kreuzchen hinter dem Namen und der Adresse.

"Halloh, Sie da, die große Schwarze da hinten, kommen Sie mal her!"

Eilfertig springt sie nach vorn und hebt die Röcke hoch:

"Bitt' schön, Herr Direktor! Singen kann ich, Tanzen kann ich, Spagat kann ich! Und 18 Jahre bin ich alt, Herr Direktor!"

Es kostet Mühe, in die unruhige Gesellschaft einen geordneten Betrieb hineinzubringen. Einzelne Gruppen geraten sich fast schon in die Haare. Kampf ums Dasein. Nur etwa jede Zehnte wird vornotiert und erregt den Neid der Abgewiesenen. "Wat wollen Sie denn hier, Sie mit Ihre Ixbeene?", kriegt eine zarte Blutjunge von den Erbosten zu hören. Immer wieder müssen die Beauftragten des Theaters hart - fast möchte man sagen: roh - eingreifen. Es ist wie auf dem Viehmarkt. Die Tiere werden besichtigt, taxiert, beklopft. Bein hoch, Mund auf!

Eine Enttäuschte will nicht weg. Sie stemmt die Arme in die Seiten und kreischt:

"Jebense nich so an, Herr Direktor, der Schönste sind Sie ooch nich!"

Nur langsam leeren sich Bühne und Parkett nach stundenlangem Palaver. Und jetzt schreien und kommandieren täglich schon vom Morgen an die Ballettmeister. Es ist ein wahres Kreuz mit den Angekreuzten, sagen sie. Diese aber atmen auf, denn das Brot für vielleicht drei Monate ist doch gesichert.
17. Dezember 1931 (Donnerstag)


17

Kein Bildungshunger? - Rotes Kabarett - Im Mausoleum - Wie denkt das junge Geschlecht? - Nur nichts von "verlangen" - Das Filmjahr - Lilian Harvey auf der Probe - Zum neuen Jahre.

Ein Münchener ist über Weihnachten in Berlin, ja, so etwas gibt es wirklich, nicht nur Berliner zu Weihnachten in Oberbayern; ist in einer Gesellschaft eingeladen und bemerkt höflich, das sei freilich bekannt, daß die Berliner sehr bildungshungrig seien, worauf der Hausherr hoheitsvoll erwidert:

"Wir sind nicht bildungshungrig, sondern wir haben Bildung."

Ei weih. Etwas ist sicherlich richtig daran: bildungshungrig ist man wohl in Zielenzig oder in Meseritz. Das schöne Zeißsche Planetarium am Zoo sollte schon geschlossen werden, weil kein Mensch hingeht, um am Sternenhimmel ein wenig heimisch zu werden. Und als in Berlin-Pankow zu einem volkstümlichen physikalischen Experimentierabend neulich 600 Freikarten an Erwerbslose verteilt wurden, kamen nur 148. Wenn man die Bildung "hat", braucht man sie sich natürlich nicht mehr zu erwerben. Wer hätte sie mehr als der sozialdemokratische Studentenbund Großberlin? Der hat kurz vor Weihnachten an einem Adventssonntag ein "Rotes Kabarett" veranstaltet, in dem ein Stück aufgeführt wurde, das unsere Niederlage von 1918 pries. Zum Glück hätten wir den Krieg nicht gewonnen. Andernfalls -

"Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,
Dann wären wir ein stolzer Staat
Und preßten noch in unsern Betten
Die Hände an die Hosennaht.
Die Frauen müßten Kinder werfen,
Ein Kind im Jahre. Oder Haft.
Der Staat braucht Kinder als Konserven,
Und Blut schmeckt ihm wie Himbeersaft."

Solchen Krampf selbstverständlich nichtdeutscher, artfremder Intellektueller, die übrigens im "Roten Kabarett" auch das Christfest veralberten und verhöhnten, was dem Laubhüttenfest nie geschähe, brauchen wir uns nun nur noch wenige Monate gefallen zu lassen. Im neuen Reich kommen diese Leute unter Minderheitenrecht, das immer noch toleranter sein wird als das für die Deutschen in Polen, Tschechien, Jugoslawien, Elsaß, Tirol, aber bestimmt der Begeiferung von Nation und Religion ein Ende macht.

Wir treten in das entscheidende Jahr unserer inneren Geschichte ein. Vor großen Entscheidungen sucht man gern die Ruhestätte derer auf, deren Erbe und Willensvollstrecker man ist. Als König Wilhelm 1870 ins Feld gegen die Franzosen zog, verbrachte er vorher eine halbe Stunde am Sarkophag seiner Mutter, der Königin Luise. So pilgern heute viele zum Antikentempel in Sanssouci, in dem Kaiserin Auguste Viktoria beigesetzt ist. Aber auch das Mausoleum in Charlottenburg, wo Friedrich Wilhelm III. und Luise, Wilhelm I. und Augusta vereint sind, wird nicht leer. Und es vergeht kaum ein Tag, wo nicht irgend ein Namenloser den Marmorfiguren auf dem Sarkophag ein bescheidenes Sträußchen auf die Brust oder an den Saum des Gewandes legte. Wenn man dies sieht und die Weihe der Ruhestätte auf sich wirken läßt, ist man gerührt und erschüttert; und in dem Herzen fast jedes Besuchers schluchzt das "Herr, mach' uns frei!" des Niederländischen Gebetes flehend und doch auch wie Gelöbnis empor.

Nicht jeder empfindet so. Manchen jungen Menschen von heute "sagt das nichts". Sollen wir darob verletzt sein? Unsere Schuld, unsere große Schuld! Das deutsche Haus hat seine Pflicht nicht getan. Sonst wüchsen die Kinder nichts so auf.

Wir selbst sind noch mit dem Nimbus der alten Zeit aufgewachen, der im November 1918 zerstoben ist. Wir können nicht verlangen, daß dieser jetzt unsichtbare Nimbus allein unsere Kinder, die hart in den Lebenskampf hineingestoßen sind, auf die Knie zwingt. Wir müssen ihnen das wirkliche Wesen des früheren gewachsenen Staates im Vergleich zu dem jetzigen gemachten Staate innerlich klarmachen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn das junge Volk, das zu sachlichem Beobachten der Arbeit und nicht zum Nachempfinden ungekannter Gefühle erzogen ist, in dem Charlottenburger Museum die Sträußchen kaum beachtet, dagegen etwa erklärt:

"Das blaue Oberlicht sticht. Der Faltenwurf der Königin ist maniriert."

Das ist doch nur der Erfolg der angeblich voraussetzungslosen heutigen Schul- und Berufsausbildung. Keiner unserer heutigen Pädagogen weiß mehr Goethes Wort zu schätzen, daß das beste an der Weltgeschichte der Enthusiasmus sei, den sie errege; und die Eltern sind der Ansicht, daß ihr Enthusiasmus ohne weiteres auf die Kinder übergehen müsse. Das "könne man von ihnen verlangen". Nein, verlangen können wir nichts, wir, die wir 1918 verloren haben und von dem neuen Geschlecht erwarten, daß es, härter als wir, unsere Fehler wieder gutmache. Wir können die heranwachsende Generation nur auf dem Wege über den Verstand gewinnen, von dem sie eben so viel im Übermaß besitzt, als wir im Übermaß an Gefühl besaßen. Wenn mir im Charlottenburger Rauch-Museum ein junger Mensch etwa erklärte, der Klassizismus der Bildhauerei sei für moderne Menschen unerträglich, außerdem sei hier der griechische Peplos auf der falschen Schulter befestigt, da der Chiton nicht natürlich im fließenden Fall, da würde ich stillschweigen, denn so Unrecht hat dieser Mensch garnicht, dem ja der Sinn für die Antike fehlt und der auch unsere hemmungslose Begeisterung über das "Thalatta!Thalatta!" der 10 000 Griechen Xenophons nie begreifen würde. Wenn mir aber ein Junger von heute, Knabe oder Mädchen, oft sogar Nationalsozialist, also sicherlich in gewisser Weise begeisterungsfähig, kaltschnäuzig sagt:

"Kaiser und Reich habe ich nicht erlebt. Das sagt mir nichts. Wie sollte ich mich dafür einsetzen?", so antworte ich ruhig: "Die Freiheit hast Du auch nicht erlebt. Also sagt sie Dir nichts? Also kannst Du Dich auch nicht für sie einsetzen?"

Und das wirkt sofort auf den Verstand dieses eiskühlen Geschlechts, reizt zum Nachdenken und bringt als Ergebnis des Denkprozesses, in den man gar nicht einzugreifen braucht, fast immer das hervor, was bei uns Alten mühelos aus dem Gefühl erwächst. Probatum est. Ich rate allen meinen Zeitgenossen, ähnlich zu verfahren, dann haben sie die Jugend eher gewonnen, als wenn sie von ihr "verlangen", daß sie sich für das Volksbegehren einträgt, vor Schwarzweißrot strammsteht oder beim Fridericus-Marsch des Militärkonzerts im Zirkus Busch losheult vor Ergriffensein. Das Jahr 1932, in das wir jetzt vielfach ohne Verantwortungsbewußtsein, nur in der dumpfen Hoffnung auf das Dritte Reich eintreten, "in dem alles anders wird", bringt die Entscheidung darüber, ob wir nationalistisch oder sozialistisch werden. Sie liegt im wesentlichen bei denen, die heute in dem Alter zwischen 20 und 30 Jahren stehen, und ist im wesentlichen abhängig davon, wie wir, die zwischen 50 und 60, den Weg zum Verstande der Nachwachsenden finden.

Wir müssen uns auch daran gewöhnen, daß Schule und Bühne uns dabei so gut wie garnicht helfen. Beide stehen zumeist im Dienste der undeutschen Intellektuaille, auch wenn es da manche erfreuliche Ausnahme gibt. Das Berliner deutsche Nationaltheater am Schiffbauerdamm - aber wer weiß, ob es dauert - ist solch eine Ausnahme. Aber der "Bork" hat tatsächlich sehr bald wieder abgesetzt werden müssen, weil die - zahlende - alte Generation das Theater nicht mehr füllte; ein Lustspiel ist an die Stelle getreten, denn - nichtwahr - man will doch amüsiert werden, das Leben selbst ist so schon elend genug.

Noch mehr gilt diese Richtlinie für den Film. Das Tippfräulein kriegt den Generaldirektor in "Arm wie eine Kirchenmaus". Die Reporterin kriegt den Millionär in "Nie wieder Liebe". Die Handschuhverkäuferin kriegt den Zaren in "Der Kongreß tanzt". Je nüchterner das wirkliche Dasein ist, desto märchenhafter muß es auf der Flimmerleinwand zugehen. Das neueste in dieser abgebrauchten, immer wieder kaum variierten Art ist "Ronny", die Modezeichnerin, die ihren Fürsten von Perusa kriegt, den schlanken und eleganten Willy Fritsch, der ganz unköniglich dem Kleinbahnzug nachrennt und richtig Käte v.Nagy aus ihm noch herausholt. Ich habe einmal einem Filmdirektor gesagt, das alles sei doch so geschmacklos. Und er antwortete mir:

"Was wollen Sie. Die kleinen Ladenmädchen müssen Rotz und Wasser heulen! Dann ist das Geschäft erst richtig."

Das sehe ich ein. Also es muß auch solche Stücke geben, obwohl ich fürchte, daß der Film mit diesen Operettenmotiven allmählich sich in einer Sackgasse festfährt. Ein wahrer Segen schon, daß gelegentlich den Kassenfüllern ein wirklich wertvolles Stück an die Seite gesetzt wird. Daß uns in diesen Weihnachtstagen "York" mit Werner Krauß in der Titelrolle beschert wurde, gehört zu dem Aufwühlendsten des Filmjahres.

Kürzlich habe ich wieder einen Blick in die Werkstätte dieser Volksnahrung tun dürfen. In Neubabelsberg gibt es Darsteller und Regisseure, um die Hollywood uns beneiden kann. Nur habe ich auch hier - anderswo freilich noch mehr - den Eindruck, daß die Kunst stereotyp zu werden beginnt. So wie Marlene Dietrich, die sicherlich mehr kann, immer nur zu Vampyr-Rollen verdammt ist, so wie Harry Liedke, der doch auch ein starker Darsteller ist, immer den Schwerenöter mit schmalzigem Siegerlächeln geben muß, genau so ist Hans Albers jetzt von dem Draufgänger-Modell nicht zu lösen, genau so werden für Lilian Harvey, obwohl sie das Zeug zu mehr hat, immer nur Stücke geschrieben, in denen sie ein bißchen zu jauchzen, ein bißchen zu weinen, ein bißchen zu tanzen hat.

Beim Drehen von "Zwei Herzen und ein Schlag", das wohl Ende Januar herauskommt, habe ich etwas zugesehen. Natürlich ist das ein entzückendes Stück, denn sie ist ja entzückend. Ist überhaupt in ihrer Liebenswürdigkeit und in ihrem Arbeitseifer, so ganz ohne Starlaunen, neben dem gleichgearteten Willy Fritsch der Liebling nicht nur des Publikums, sondern schon aller Regisseure. Sie ist wirklich unermüdlich. Von 8 Uhr morgens bis 11 Uhr abends steht sie da und probt, probt, probt, ohne je ungeduldig zu werden. Deutsche Fassung. Französische Fassung. Englische Fassung. Lilian kann alles und arbeitet für Dreie. Armes blasses Gesichtchen! Manche Stelle, mancher Tanzschritt wird ja hundertmal geprobt, ehe die wirkliche Licht- und Tonaufnahme kommt. Wie ein Automat bewegt sich schließlich die junge Frau. Gerade hat sie sich vom Tischchen nebenan ein Stück belegtes Brot in den Mund gestopft, zum richtigen Essen hat man ja doch keine Zeit, da sagt der Regisseur:

"Lilian, komm' mal her!"

Sie antwortet: "Jawohl, mein Fürst!", tänzelt mit vollen Backen nach vorn, hebt die Arme, wirft die Beine und klappert mit den Augen, daß es den anwesenden Laien ganz warm unter dem Brustlatz wird.

Um sie herum auf der Mittelbühne eines zirkusartigen Variétés 32 Tanzmädchen, die für einen Monat des Festangestelltseins je 500 Mark bekommen, was recht viel für einen Monat ist, aber nicht viel, wenn man vielleicht nur 3 solcher Monate im Jahr hat. "Ihr seht ja alle so dick aus!", sagt der Regisseur. Ja, daran sei das Kostüm schuld. Und nun wird gezupft und gerafft, so und anders, und das gibt wieder ein Dutzend Arrangierproben. Da wird man schließlich todmatt. Und von den Regisseuren, obwohl sie wie etwa der dicke Kurt Gerron eher wie ein Bankdirektor aussehen, gilt nach so einem langen Tage das aus der Vorkriegszeit bekannte Scherzwort: sie schwitzen wie ein Reserveoffizier. Es ist wirklich nicht leicht, Diener der Augenlust zu sein.

Auf das Ergebnis aber freut sich schon ganz Berlin. Es ist nicht bildungshungrig, aber schauhungrig. Und es glaubt, die Belohnung verdient zu haben, nachdem es sich durch Notverordnung und Weihnachtsgeschäft hindurchgearbeitet hat. Es hätte noch schlimmer werden können, sagt jedermann. Man hat eben rationalisieren müssen, und es ist gegangen. Auch daheim bei uns hat es auf den 14 Weihnachtstellern diesmal keine Traubrosinen und keine großen Marzipanherzen gegeben, aber man "war doch beieinander und man hatte einander so lieb".

Nur der Silvesterpunsch fällt diesmal wirklich aus. Nicht als ob der Berliner, der Deutsche, der Weltbürger von heute allen Freuden der Welt abschwören müßte. Die erhalten die Vitalität und verlängern, auch wenn sie noch so bescheiden sind, das Leben. Ich halte es - mit einer kleinen Änderung - nach dem alten Spruche: "Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang, der bleibt ein Narr - und lebt nicht lang." Ich gedenke noch recht lange zu leben, und so wie ich denken Gott sei Dank noch viele. Denn noch ist uns die Zukunft nicht ganz verbaut, noch erhoffen wir die Lösung des deutschen Rätsels von dem beginnenden neuen Jahre.

"Was wird es uns bringen?" fragt mancher. Fragen wir uns lieber, was wir ihm bringen!

Wir selber schmieden das Glück.
31. Dezember 1931 (Donnerstag)


18

Weniger Silvestertrubel - Neujahr im Gebirge - Der Divisionsführer an seinen Stab - Der Mensch wird wertlos - Inventur-Ausverkauf - Von Seitensprung und Treue - Die Wende naht.

Die Erde ist rund, habe ich gelernt; so rund, daß beispielsweise der Bodensee in der Mitte 24 Meter höher ist als an seinen beiden Enden. Wäre die Erde flach, so hätte ich an dem Neujahrsmorgen dieses Jahres, dem herrlichsten seit Jahrzehnten, Berlin sehen müssen. Eine wundervolle Klarheit rundum, alles deutlich und scharf abgezirkt, tiefblauer Himmel, weiß verschneite Berge, dann die weite, weite Ebene. Es ist, als suchten sich die Hände. Wenn jemand neben einem steht, möchte man ihm verstohlen die Rechte drücken, und man denkt: in dieser schönen Gotteswelt kann man einander und sein Land nur liebhaben, sind alle guten Geister lebendig, werden die besten Vorsätze stark und groß. Jedes Atmen ist ein Aufspeichern von Kraft.

Und wenn man dann über den knirschenden Schnee heimwandert und nach den paar Tagen Ausspannung wieder gen Berlin rollt, ist das Herz voll von Dankbarkeit über die erlebte Gnade. Dazu gehört aber, daß ich auch zum ersten Mal seit Jahrzehnten keinen Silvestertrubel mitgemacht habe. Am Altjahrsabend schlief ich schon bald nach 10 Uhr traumlos und fest, etwas ganz neues und ungekannt erquickendes. So habe ich diesmal meine Leser ausnahmsweise um ihre Chronik vom Jahreswechsel an der Berliner Kranzlerecke und in den großen Hotels gebracht.

Nur von Hörensagen kann ich berichten. Also: man hat sich, wenn auch wiederum etwas bescheidener als im Vorjahre, erneut Mut eingeredet und angetrunken. Es hat, wiederum etwas weniger als im Vorjahre, auch diesmal Leute gegeben, für die die Neujahrsnacht mit der Feststellung endete: wes das Glas voll ist, des geht der Mund über.

Aber es war eigentlich nirgends ein Bacchanal wie früher, geschweige denn eine Orgie. Der Berliner Fasching hat nicht am ersten Januar begonnen. Die überschäumende Lustigkeit soll wohl erst mit dem Reimann-Ball oder einem andern der Kostümfeste einsetzen, und vorerst überwiegt noch der Ernst.

Noch nie war die Zahl von polizeilichen Sistierungen der landesüblichen Krakehler so gering wie diesmal.

Außerhalb Berlins, in jenen Luxushotels der Berge, in denen die Stämme der Diskontomanen, Schieberonen, Prolongobarden sich zu ihrem Thing (trockenes Gedeck: 15 Reichsmark) zu versammeln pflegen, soll es allerdings fast wie in der Inflationszeit hergegangen sein. Übertäuben, überschreien, überdröhnen! Den Pleitegeier durch Lärm verscheuchen! Nur nicht von der Not der anderen sprechen! Denn wer weiß, ob man nicht selber bald darin sitzt. Aber dort, wo es schlichter zuging, Menschen mit schmalerem Geldbeutel oder mit mehr Verantwortungsgefühl dem neuen Jahre entgegensahen, war man harmlos, wenn man fröhlich war. Am letzten Altjahrstage habe ich noch einer Madonna mit dem Jesuskinde von Lukas Cranach in die tiefen, gläubigen Augen geschaut, habe manches in den letzten Monaten Durchlebte wie einen wüsten Traum abgeschüttelt und mich mit neuer Hoffnung für mein Land, für mich und für alles mir Liebe erfüllt. Dann hatte man ein glückhaftes Gefühl, wenn man frohe Menschen traf, die wohl zu einem Scherzwort aufgelegt waren. Oder gibt es an der Jahreswende auch Tragödien? "Meine Braut ist durchgegangen!", schreit einer auf, mitten im Gedränge vor der Bergbahn. Alles wendet die Köpfe zu ihm. Aber da schmunzelt er schon wieder und sagt: "Na ja, eben durch die Drehtür!" Die Zeiten sind schlecht, gewiß, aber deshalb ist es doch nicht nötig, daß wir alle ein Gesicht machen, als wenn wir Sodbrennen hätten. Im Felde liebten wir abgöttisch einen Generalmajor, dem unser ganzes Herz seit seiner ersten, kurzen Ansprache gehörte, mit der er die Division übernommen hatte. Es war in der Zeit eines üblen "Schlamassels". Unter dem vorigen, einem Generalleutnant, waren wir hineingesaust. Jedermann machte ein todernstes, finsteres Gesicht. Die paar Sätze des Generalmajors aber lauteten:

"Meine Herren, Vertrauen kann nur die Tat schaffen. Ich liebe den Dienst, ich hasse den Kommiß. Noch eine Bitte: ich habe gern fröhliche Menschen. Ich danke Ihnen, meine Herren."

Wo solle aber heute in unserer furchtbaren Lage die Fröhlichkeit herkommen, fragt mich manch einer. "Ich mag meinen Vater nicht mehr sehen, so unfroh und zersorgt ist er!", sagt ein junges Mädchen. "Ich weiß nicht, ob ich den Assessor machen kann, mein alter Herr hat nicht die paar Mark für meine Reise nach Berlin!", sagt ein begabter Referendar. "Meine große Bibliothek habe ich um einen Monat Essen verkauft, das Nichtarbeiten macht mich noch wahnsinnig!", sagt ein Doktor der Philosophie. "Was soll Ostern werden, ich habe keine Stelle!", sagt eine blonde Gewerbelehrerin. Und sie war doch wie eitel Sonne, wenn sie früher bei uns war.

Um bei ihr zu bleiben: seit Jahr und Tag suche ich schon vergeblich nach ausreichender Beschäftigung für das junge, liebe Ding. Es gibt immer nur kurzfristige Aushilfsarbeit. Das Mädel hat viel Geschmack und kann köstliche Damenkleider nähen, ist kunstgewerblich ausgebildet, hat viel Erziehertalent für Kinder bis zu 10 Jahren, lernt jetzt auch noch Maschinenschreiben und Stenographie, könnte auch als Haustochter (nur bitte: nicht "schlicht um schlicht", denn der Mensch braucht doch auch Kleider und Schuhe) jede gute Familie frohmachen. Nichts zu wollen. Eine Kollegin von ihr steht als Fahrkartenknipserin am Untergrundbahnhof Inselbrücke und hat wenigstens vollen Tagelohn. Eine andere Kollegin, auch Gewerbelehrerin mit gutem Examen vom Vorjahr, ist im Warenhaus Karstadt im Puppenlager gelandet, wo es nur Puppen zu 45, 65 und 95 Pfennigen gibt; letztere reagieren auf Druck schon mit "Papa" und "Mama". Die verkauft sie nun unablässig und orgelt dazu jedesmal die Preiszettel aus ihrer Registrierkasse. Das sind noch die Glücklichen. Wer aber von den jungen Leuten von heute, übrigens beiderlei Geschlechts, bestenfalls nur hin und wieder für kurze Zeit Gelegenheitsarbeit oder gar keine findet, wie soll der nicht fahl im Gesicht werden? Früher lernte man was und wußte: dafür werde ich dann und dann angestellt. Heute aber ist Arbeit der große Lotteriegewinn. Mit geschwellter Brust drängt die Jugend in das Leben, muß aber überall hören, daß man sie nicht brauchen könne; die Wertlosigkeit des Menschen sich so plakatieren zu lassen, das ertötet doch schließlich den Lebensmut.

Ein wenig gehoben hat er sich bei den Berliner Kaufleuten. Im Durchschnitt hat vor Weihnachten jeder Käufer nur 5 Mark, nicht 8 Mark wie 1930, im Laden gelassen, aber es sind mehr Käufer gekommen, sodaß es sich ausglich. Und nach Neujahr haben die Inventurausverkäufe mit gewohnten Ungestüm großen Absatz gebracht. Hinter einer dicken Dame trippelte ich in ein bekanntes Seidenhaus. Da prallt sie, erschreckt durch die Riesenmenge der Besucher, zurück, tritt mich auf den Fuß und ruft fassungslos:

"Hier kommt man ja richtig als Leiche wieder raus!"

Selbstverständlich stürzt sie sich trotz dieser Gefahr doch in das Gewühl und rafft und reißt alsbald ihrerseits an den auf den Tischen ausgelegten billigen Herrlichkeiten. Es ist nicht die sonstige Wollust, gute Seide langsam über die Hände rieseln zu lassen, der unsere Damen so gern fröhnen. Dazu ist die Bewegungsfreiheit im Ausverkauf zu gering; und allzuviele Hände strecken sich vor. Oft genug zerren zwei, drei Damen gleichzeitig an einem Stück. Noch schlimmer ist das Gedränge in den Warenhäusern.

"Sie, Fräulein, was kostet das?", schmettert eine Stimme aus der zweiten Reihe der fünf Reihen starken Menschenmauer, und eine Hand hebt etwas schwarzen mit weißen Glasperlen bestickten Stoff empor.

"Erlauben Sie mal, was fällt Ihnen denn ein?", erwidert scharf eine ganz fremde Stimme.

Die Fragerin hat nämlich durchgelangt und versehentlich nicht etwas vom Tisch, sondern das Kleid einer davorstehenden Käuferin emporgerissen . . .

Die einzige Parole: billig! Was billig ist, wird gekauft, auch wenn man es noch nicht oder überhaupt nicht gebraucht. Reißend geht Fleurette zu 1,95 Mark das Meter ab, dieser großgeblümte florähnliche Stoff, den man doch erst im Sommer tragen kann. Mit lüsternen Augen angelt auch eine stattliche Frau danach und seufzt erst entsagend, als die erwachsene Tochter ihr laut erklärt:

"Für Dich ist das nichts, Mutti, das ist zu bunt für Dein Alter!"

Die beiden verschwinden und gestikulieren erregt. Offenbar erhält die Tochter eine Vorlesung über Taktfragen; aber in Geschmacksfragen scheint sie der Mutter doch über zu sein. Man wird überhaupt unfreiwillig Zeuge so manchen Dialogs.

In einem weiteren Seidenhause der Leipziger Straße. Eine Tochter aus kleinbürgerlicher Familie meint: "O Jotte nee, hier is sowat Scheenes, rosa mit Blumen!", während die Mutter warnt: "Aber da kannste Dein' ollen Trikotrock nich unter tragen!"

Für 90 Pfennige prima Kunstseide, das lockt anderswo, das "muß man sich hinlegen"; oder für 1,90 Mark das Fiffi-Hütchen oder für 3,85 Mark den Regenschirm oder für 13,90 Mark das Nachmittagskleid, Marke Rührmichnichtan Sonstgehichkaputt. Männer sind in dem Trubel kaum zu entdecken. Die wissen: hier treffen sie feindselige Blicke, denn sie stören nur und vom wahrhaft billigen Einkaufen verstehen sie nichts.

So wie in der Tierwelt der männliche Pfau immer wieder sein glänzendes Rad aufschlägt und damit vor der Henne stolziert, so wird man in der Menschenwelt immer wieder der Frau ihre Freude an dem Sichzeigen in lockendem Behang lassen müssen. Oft ist es wirklich nur die reine, ästhetische Freude, in den meisten Fällen aber wohl Kampfmittel. Man sagt: gegen die anderen Frauen. Manchmal, das ist dann sehr erfreulich, zieht die Frau sich für den Mann, für den einen Mann gut an, um ihm zu zeigen, daß sie gegen andere nicht abfällt. Oft ist es aber tatsächlich nur das Lockmittel, um eine Auswahl von Männern heranzubekommen; und dann berührt sich das Gehaben mit dem von der Tierwelt.

Wer will mich? Wer fängt mich? Wer behält mich?

Es hat einmal einer eine Enquête unter den käuflichen Großstadtmädchen veranstaltet, um festzustellen, wie sie auf die abschüssige Bahn geraten sind. In den wenigsten Fällen war äußere Not oder das Verlassensein durch einen Geliebten der erste Anlaß, sondern fast immer - die Sucht nach schönen Kleidern. Da ist ein anderes Dienstmädchen oder eine andere Fabrikarbeiterin, irgend eine Freundin, etwa mit einem in die Augen stechenden Pelzmantel aufgetaucht, und das war der Anfang der Verblendung. Das übrige besorgt der sogenannte Zeitgeist, der heute ein lockerer Vogel ist und, lange schon vor Lindsey und seiner Empfehlung der wechselnden Zeitehe, das Gefühl für Treue das Leben hindurch verflüchtigt hat. Und das auch in einzelnen gebildeten Schichten. Manche Mondäne erklärt, zweierlei Moral für Mann und Frau sei ein Irrsinn, und da man den Mann doch nicht dazu bekomme, daß er sich für "die eine" unberührt erhalte, so dürfe man das auch von der Frau nicht verlangen. Wenn sie es nur durchkämpfe, nachher sage und zurückkehre.

"Was ist den dran an solchem Seitensprung?
Stillhalten heißt heut' die Devise.
Dem fremden Kuß folgt Läuterung,
Und überwunden ist die Krise."

Wer so mit dem Dichter Ziegenpeter des Kurfürstendamm-Publikums spricht, der überlegt nur nicht, daß er sein eigenes und fremdes Leben damit zertrümmert. Zum Glück für uns und unser Volk sind aber auch solche Perioden leichtherziger Auffassung nur Wellenbewegungen. Aus den Tälern kommen wir immer wieder auf die Höhen, Rokoko wechselt mit Biedermeier, kaltschnäuzige Sachlichkeit wird abgelöst von neuer Romantik, und wenn nicht alles täuscht, bringt 1932 uns auch den Anfang der Wende in den Beziehungen der Geschlechter zueinander, wird die Garçonne und die Dritte im Bunde bald nichts weniger als modern mehr sein. Nicht zuletzt deshalb, weil auch der Mann von heute an Stelle des Sichauslebens das Sichhineinleben wieder als das Köstlichste seines Daseins erkennt.

Daß die Zeit überall trächtig ist, kann man mit Händen greifen. Wo man hinkommt, die Frage: Was wird? Es gärt auch in den Köpfen und in den Herzen. Da gibt es in Potsdam zwei alte konservative Familien, deren Kinder sich zum Lebensbunde gefunden haben. Er war junger Fliegeroffizier und ist jetzt Geschäftsmann, ist politisch aus Verzweiflung über die Nachkriegszeit nach links abgerutscht. Die begabte Frau ist Zeichenlehrerin, auch unzufrieden, auch wilde Republikanerin mit kommunistischem Einschlag geworden. Der Kronprinzessin ist die junge Dame für den Unterricht ihrer beiden Töchter empfohlen und dann auch angestellt worden. Seit wann geht eine überzeugte Knallrote zu Hofe? Ach, wenn es gut bezahlt wird! Und leise, ganz leise kommt in der neuen Umgebung der Umschwung. Leise, ganz leise kommt die Erkenntnis. Und so wie hier in einem Einzelfalle, geht es draußen im Lande mit Tausenden, mit Hunderttausenden, bald mit Millionen, die ihren Tag von Damaskus erleben und dann aus einem Saulus zu einem Paulus werden, schwarzweißrot werden.

Wer auch nur fünf Tage von Berlin abwesend ist und dann heimkehrt, der merkt es, wie die Lawine, deren Donnern man vorerst nur wie aus unterirdischer Ferne hört, im Daherstürzen riesengroß wird und bald alles Verrottete fortreißen wird.
7. Januar 1932 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts