"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 46 - 47
16. bis 23. Juli 1931


46

Die Hochwohlweisen - Frau Lehmann kann nicht heimkehren - Verödete Lokale - Was man von den Ärzten verlangt - So denkt die Jugend - Stud. bib. - Wochenendfahrt ins Mecklenburgische - Max Schmelings Empfang.

Klug sind unsere Hochwohlweisen. Seit 1918, seit "alle Ketten fielen", ist eine ungeheure Intelligenz ausgebrochen Die Herren hören das Gräschen wachsen, sie sehen die Silberstreifen am Horizont, und wenn sie am 21. Juni die Botschaft Hoovers, so wie einst die Botschaft Wilsons, als "Himmelsgeschenk" preisen, dann ist am 13. Juli der finanzielle Zusammenbruch da, den die Rechte als seit Jahren zwangsläufige Folge der Politik der Hochwohlweisen vorausgesagt hat.

Und wenn es auch noch einen Aufschub vor dem Versinken gibt: wieder verlieren Hunderttausende die Nervenkraft und den Lebenswillen. "Es herrscht überall Ruhe", verkündet selbstzufrieden die Regierung. Jawohl! Man ist vollständig zermürbt. Man bringt keinen Aufschrei mehr fertig. Es ist die Angst, die den Leuten die Kehle zuschnürt. So mancher Kleinrentner fragt sich, ob er im nächsten Monat seine Hungergroschen noch bekommen werde, so mancher Geschäftsmann rennt umher, um vor dem drohenden Ende noch etwas aufzutreiben.

Überall verstörte Blicke. Überall gesperrte Kassen. Überall Achselzucken.

Noch nie haben wir eine solche Woche wie diese dritte Juliwoche 1931 in Deutschland erlebt. Und dabei ist uns jahrelang vom Ankurbeln, vom Wiederaufbau, von der Sanierung erzählt worden. "Gegen die Miesmacher", gegen die nationale Opposition machte immer wieder der Rundfunk mobil. Stört nicht unsere Hochwohlweisen, sie schaffen es!

Ich schaue auf mein Arbeitsjahr zurück, ich habe die Chronik meiner Plauderbriefe vor mir, ich stelle fest, daß es "nichts zu lachen" gab, im Gegensatz zu sogar sehr bösen früheren Jahren. Immerhin: man kann manchmal doch noch schmunzeln. Sogar der Herr Lehmann schmunzelt noch. Er hat seiner Frau das Reisegeld für Wangeroog gegeben und die Pension dort bezahlt, jetzt ist ihre Erholungszeit abgelaufen, sie muß die Fahrkarte für die Heimreise lösen, aber Herr Lehmann kann am Montag bei der allgemeinen Sperre den Betrag nicht abheben. Auch die nächsten Tage nicht.

Er bittet einen Bekannten um 50 Mark. Die einzige Folge ist die, daß es alsbald im ganzen Freundeskreise heißt: "Lehmann ist pleite, pumpt ihm nichts, das Geld ist verloren!" Da gibt Lehmann seelenruhig alle Versuche auf, schreibt seiner Frau etwas von höherer Gewalt und erklärt lächelnd am Stammtisch: "Laß' se verschimmeln!"

Aber auch die Stammtische veröden.

Die Theater und die Kinos sind halbleer. Die Zahlungsstockung wirkt sich so aus, daß niemand mehr etwas verdient. Vor dem Remde-Hausboot im Lunapark, der schon 1930 einen Fehlbetrag von über 130 000 Mark hatte, lockt der Ausrufer: auf alle Speisen und Getränke 50% Ermäßigung der Kartenpreise! Aber es kommt niemand. Eines der sonst besuchtesten Balalaika-Restaurants im Westen ist wegen angeblicher "Renovierung" vorläufig für zwei Monate geschlossen. In der Königin-Bar, in der sich sonst Hunderte von Gästen drängen, sitzen wie erfroren anderthalb Dutzend Menschen. Ich schlendere hinüber zu Roberts, dem amerikanischen Lokal, um ein Glas strawberry-malted-milk zu trinken, eine fabelhaft bekömmliche gänzlich alkoholfreie Sache: die anwesenden Verzehrer bringen nicht so viel Geld ein, um Miete und Personalkosten zu decken. Auch ungezählte Läden haben täglich einen verstärkten Fehlbetrag. Im Kempinski-Betrieb Haus Vaterland hat der Nachmittags-Tanztee aufgehört, gibt es auch keine Kindervorstellung mehr. Gut, gehen wir zu dem Ur-Kempinski in der Leipziger Straße, der bekanntermaßen nachmittags voll ist. Merkwürdig: die Musik spielt nicht. Sie hat aufgehört, weil kein Publikum da ist. Ich will zum Mokka mir Kuchen aussuchen, aber der Kuchentisch ist leer. Der Kellner zuckt die Achseln. Schließlich sind im ganzen mehrstöckigen Hause ein Johannisbeerkuchen und ein Apfelkuchen aufzutreiben. Abends wieder in den Westen. Der Perversen-Treffpunkt Eldorado, gegenüber der Scala, wo sonst jeder Fremde mal hingeht, hat seinen schlauchartigen langen Korridor mit zum Teil humorvollen, zum Teil widerwärtigen Frescomalereien neu aufputzen lassen, aber nichts zieht mehr; die Männer in Weiberkleidung, die Weiber in Männerkleidung, die sich da produzieren, sind klebriger denn je, wenn ein "normaler" Zuschauer Platz nimmt, ernten aber kaum mehr ein nennenswertes Trinkgeld. Im "Tula" in der Grolmanstraße gibt es karnevalistische Impressionen an den Wänden, aber an den Tischen keine karnevalistische Stimmung; man unterhält sich im Flüstertone über die schlechten Zeiten. Vorher bin ich auf diesem Feststellungsbummel bei Roesch eingefallen. Da knallten ehedem Sektkorken. "Herr Ober, ein kleines Helles, bitte!", sagen heute die wenigen Ankömmlinge. Im Café Fürstenhof am Potsdamer Platz fehlen die vielen flanierenden Mädchen, "Himmel und Hölle" an der Kaiser-Wilhelm-Kirche hat seine Pforten geschlossen, das Haus Germania (früher Gourmenia) vegetiert nur noch dank einigen Ausländern bis zum nächsten Konkurs, denn deutsche Gourmands sind selten geworden. Auch in Feinkostläden, die früher jede Krise überdauerten, habe ich mich umgesehen. Der Umsatz ist um 30 bis 45 Prozent gesunken.

Am klarsten können die Ärzte die Bilanz des Jahres ziehen. In aller Unbefangenheit wird an sie in der Sprechstunde das Ansinnen gestellt, die alten Nichtverdiener der Familie zu beseitigen. "Herr Doktor, es ist das beste, wir geben Vater eine Spritze, er hat sich nun 70 Jahre geplagt, was soll er sich länger quälen?"   "Herr Doktor, geben Sie Mutter doch bitte eine starke Medizin zum Sterben, wir können doch nicht mehr so nach ihr sehen und wir brauchen auch das Bett für unsere Große!"   "Herr Doktor, sagen Sie doch dem alten Mann, daß Gas nicht so schlimm ist, die Frau schlägt sich besser alleine durch, als wenn sie für einen noch mitschuftet!" Das ist die sogenannte soziale Indikation, die, wie bei den Verfehlungen gegen den §218 des Strafgesetzbuches, auf das Aussterben der Nation hinwirkt; wir nähern uns den Zuständen wilder Urzeit, wo die Alten und Schwachen erschlagen wurden.

Ja, greift denn da ganz Europa nicht ein? Wo bleibt die Weltsolidarität, das Weltgewissen, die Weltvernunft, wo bleibt Paneuropa? Und ist nicht Amerika moralisch zur Hilfe verpflichtet?

Ach, das ist ja alles Schwindel.

Mit diesem Schwindel sind wir gefüttert worden, um die Marxistenherrschaft zu ertragen, die uns in den Abgrund geführt hat, dank der Unterstützung durch die Mittelparteien. Aber es ist gut so, daß endlich hereingebrochen ist, was wir seit Jahren vorhergesagt haben, denn erst aus der tiefsten Tiefe kann es ein Aufwärts geben.

Unsere Jugend, die man um ihre Zukunft betrogen, der man für zwei Menschenalter die Milliardentribute aufgehalst hat, bringt die Wende. Die Jungwähler, die alljährlich mit 20 Jahren zur Urne heranreifen, fallen auf den Schwindel nicht mehr herein, sie durchschauen ihn mit harten, klaren Augen. Sie bringen es sogar fertig, über den heutigen Zusammenbruch zu lachen, ingrimmig zu lachen, obwohl er sie noch stärker trifft als uns von dem vorhergehenden Geschlecht. "So mußte es kommen!", sagt mir ein junger Werkstudent, der keine Aussicht hat, nach Beendigung seiner Ausbildung eine entsprechende Stellung zu bekommen, und als ich ihm sage, jetzt könne in unsere tiefe Grube das Fundament für das Dritte Reich kommen, da verschränkt er die muskulösen Arme und antwortet, während die Augen glücklich leuchten, ganz kurz:

"Das sowieso!"

Sie verlieren den Mut nicht, diese Jungburschen und Jungmädchen, an die täglich höhere Anforderungen der Auslese gestellt werden. Es ist alles durch immer schwerere Prüfungen verbarrikadiert. Tausend Dinge, deren Kenntnis sich früher in der Familie vererbte, werden heute systematisch erlernt, behördlich reglementiert. Als ich klein war, sagte mein Vater "Schwimm!" und warf mich vom Boot aus ins Wasser; ich schluckte viel, pudelte, pudelte, blieb aber oben. Heute gibt es Schwimmstunde fast in jeder Schule. Unsere Töchter haben auch noch zu Hause flicken, stricken, sticken gelernt, aber heute bringen das den kleinen Mädchen akademisch gebildete Lehrkräfte bei. Alles nach dem neuesten Stande der Pädagogik und Pragmatik. Die Pläne für die Ausbildung der Lehrkräfte werden alle paar Jahre umgeworfen. Wer heute Gewerbelehrerin werden will, für Schneidern, Hauswirtschaft, Handarbeit, der muß Gymnasialreife besitzen und eines der wenigen "Berufspädagogischen Institute" in Deutschland besuchen. Im Berufspädagogischen Institut Berlin, kurz "Bib" genannt, wird allerlei gelehrt, was man später in Berufs- und Fachschulen zum Vortragen braucht, aber auch sehr viel Nationalökonomie, Hygiene, Philosophie, was weiß ich. Da ist irgendeine junge stud.bib., aber keine studiosa bibendi, die ebenso aussichtslos wie die übrigen, da die Stellenzahl gering ist, ihrem Examen zusteuert, von morgens um 8 Uhr bis abends um 9 ihre Vorlesungen besucht und dafür geradezu Doktorarbeiten liefern muß. Demnächst wird man wohl verlangen, daß die jungen Damen, ehe sie einen Kittel vorschneidern, eine Abhandlung über Liberalismus und Baumwollbörse oder eine Denkschrift über die Psychologie des Nachthemdes verfassen.

Ist es im Reiche viel anders als in Berlin? Ich glaube nicht. Nach wenigen Tagen beginnt mein diesjähriger Urlaub, den ich sonst immer zu einer großen Studienreise in die Ferne benutzte. Heute weiß ich noch nicht, ob ich überhaupt ausfliegen kann. Aber ich habe "sicherheitshalber" mir wenigstens wieder eine Wochenendfahrt geleistet. Wer hat, hat. Rheinsberg, das sonst so überlaufene, ist ganz leer. An der Besichtigung des Schlosses am Sonnabend um 11 Uhr nehmen ganze zwei Personen teil, so daß der Kastellan mit Galgenhumor von dem Riesenandrang spricht. Für die herrliche vierstündige Wasserfahrt von Rheinsberg nach Fürstenberg in Mecklenburg - See, Kanal, See, Fluß, See in ständiger Abwechslung - sind kaum Passagier aufzutreiben. Im ersten Hotel von Neu-Strelitz mit seinen 30 Zimmern sind nur fünf besetzt. Sterbendes Land, sterbendes Volk. Das ist überall der Eindruck nach 12 Jahren der Hochwohlweisheit, die nie zugeben wird, daß sie am Ende ist, bis die einmal selber für immer weichen muß.

Dabei erkennt jedermann an, daß wir das arbeitsamste Volk der Erde sind.

Dabei stellen fremde Nationen mit Erstaunen fest, daß unser Lebenswille immer noch nicht ertötet ist.

Wenn überhaupt, dann zeigt sich das im Sport. Den Engländern sind die Augen übergegangen, als nicht nur die Deutsche Cilly Aussem Weltmeisterin im Tennisspiel wurde, sondern auch dieser Titelkampf sich nur zwischen ihr und einer anderen Deutschen, Hilde Krahwinkel, in Wimbledon bei London abspielte; und keine Engländerin oder Französin kam ins Finale. Dazu ist nun auch der Deutsche Max Schmeling jetzt in Amerika Boxweltmeister geworden, was auf die Massen noch mehr Eindruck macht, denn dieser angelsächsische Nationalsport ist bei uns noch keine zwanzig Jahre alt. Germans fassen schnell auf.

Als stämmiger kleiner Kerl von 12 Jahren - jetzt ist er 26 und ein Riese - war Schmeling Laufbursche in einer Hamburger Apotheke. Schon damals wagten sich andere Jungen nur an ihn heran, wenn sie als ganze Horde über ihn kamen. Sie alle übermochte Max; aber er war nie roh, sondern immer, wie sein damaliger Chef erzählt, freundlich-diszipliniert. In harter Selbstzucht ist er geworden, was er ist. Nun ist er für die Berliner, deren Landsmann er abgesehen von der Hamburger Episode ist, das große Wundertier. Das ist doch der Mann mit den Dollars! Er hat wieder 132 000 Dollars gemacht. An die 8000 Zuschauer, meist aus dem kleinen Volk, erwarten ihn im Berliner Flughafen, der schon die festliche Ankunft Köhls und des Freiherrn v.Hünefeld, Elli Beinhorns, des "Grafen Zeppelin", der amerikanischen Erdumflieger sah.

Es gibt auch Skeptiker unter dem Publikum, die über "Heldenverehrung" eine abweichende Meinung haben.

Als der Ansager durch den Lautsprecher verkündet, der "große Moment" sei da, das Flugzeug mit Schmeling an Bord erscheine am Horizont, da lachen sie. Aber das "Heilmax! Heilmax!" der Menge übertönt sie. Ein Vater hebt seinen Jungen auf die Schulter: "Siehst du, der große Schwarze, der da oben steht, das ist Maxe!" Frauen und Mädchen steigen auf die Stühle, schreien Hurrah und wedeln mit Taschentüchern. Schmeling spricht ein paar nette, bescheidene Worte in das Mikrophon. Dann stürzt eine Kavalkade von Hunderten von Fahr- und Motorrädern los, um noch einen Blick auf den im Auto abfahrenden Weltmeister zu werfen.

Jetzt fehlt uns für 1932 nur noch ein Meister in Politik.
16. Juli 1931 (Donnerstag)


47

Noch daheimgeblieben - Der Retter Treviranus - Winke für die Verfassungsfeier - Auf der Rennbahn Grunewald - Leben auf dem Kurfürstendamm - Strafe für Auslandsreisen - Freiherr vom Stein und der Berliner Schulrat.

Etsch, ich bin noch da!

Also nicht irgendwo auf dem Mittelmeer zwischen den Säulen des Herkules und den Pyramiden von Gizeh in Sonne und Bläue wie schon so oft um diese Jahreszeit. Sondern wirklich noch in Berlin, dem im Juli so regenreichen. Daran ist ein längliches Stück Papier schuld, auf dem "Prima-Wechsel" steht, das aber für meine Reisezwecke sich doch nicht als so prima erweist. Ich habe den Wechsel als Zahlung für meinen Bücherertrag bekommen, nur die Banken diskontieren ihn nicht. So wie mir geht es heute Tausenden, die ihre Erholungszeit auch nur verspätet oder gar nicht antreten können; deswegen Gesichter zu schneiden, lohnt nicht, lieber sehe ich in Berlin zu, wo es noch etwas zum Sichfreuen gibt.

So etwas gibt es wirklich noch in all dem Elend vor Banken und Sparkassen und Pfandleihen.

Man braucht bloß in das sonnige Gesicht des Ministers ohne Portefeuille Treviranus zu sehen, dann ist man schon glücklich über so viel jungenhaften Humor. An einem der schwärzesten Tage der vorigen Woche geht Treviranus mit Portefeuille zu seiner Bank und fragt angesichts des verstört nach etwaigen Auszahlungen sich erkundigenden Publikums leutselig, ob die Bank Einzahlungen entgegennehme. Ei, gewiß! Und der Depositenkassenvorsteher erklärt gerührt: "Herr Minister, Männer, die wie Sie handeln, sind Deutschlands Retter!"

Da zieht Treviranus seine Börse und zahlt 16 Reichsmark auf sein Konto ein.

Einfach fabelhaft.

Mit Trevi sind wir Schuß. Schade. Wenn man sonst mit ihm ging, gab es immer etwas zum Lachen. Er rundfunkt jetzt manchmal. Da lacht niemand. Wenn irgendeine provinzielle Landesbank dem Landwirt oder Gewerbetreibenden heute nur noch gegen 18 Prozent Zinsen Kredit gibt, dabei noch nicht einmal die Hälfte des zum Betrieb nötigen Kredites, atmet man schwer. Osthilfe? Fehlanzeige! Wenn man aber den strahlenden Treviranus sieht, ist man getröstet: Nur Mut, die Sache wird schon schief gehen!

Ich möchte so gerne mich mit ihm zusammensetzen und den Entwurf einer Festrede für den Verfassungstag ausarbeiten. Deutschland in der Welt voran! Nämlich in der Rationalisierung und Vereinfachung: aus der ganzen Weimarer Verfassung brauchen wir nur noch den Artikel 48, der die Grundrechte des Staatsbürgers zur Zeit außer Kraft setzt. Mit nur diesem einen Artikel kann man regieren. Und wie! Unter Brüning spielt sich das Exerzierreglement ein, nach dem auch alle späteren Kabinette marschieren können. Es wird eine Lust, zu leben. Die Demokraten und Sozialisten brechen in Jubel über die Einschränkung der Pressefreiheit aus und gewöhnen so ihr Publikum an den Absolutismus, der ihnen früher verrucht erschien. Können wir uns etwas Besseres wünschen? Nein, ich bin für Brüning und Wirth und Treviranus. Sie kneten die ganze Weltanschauung der Linken zu Gummi.

Nur keine Aufregung!

Wer sie für seine Verdauung braucht, der mag zu Pferderennen gehen und wetten.

Wohl seit drei Jahren wieder zum ersten Male bin ich auf der Grunewaldbahn zum Großen Preis. Ich kannte in alten Zeiten jeden Herrenreiter in Deutschland, fast jeden Jockey und die Papierform der meisten Pferde. Heute fesselt mich mehr das Publikum. Es hat sich - auch auf den Tribünenplätzen - stark verändert. Man hat den Eindruck, daß neun Zehntel der Besucher nicht zu den Kreisen gehören, die Freude an reiterlichem Sport oder auch nur an der gesellschaftlichen Parade empfinden, sondern nur wegen des Totalisators kommen. Man will wetten, man will "dem Glück eine Chance bieten". Es gibt auf ein paar Quadratmetern Raum manchmal mehr erregte, angstverzerrte Gesichter als das Jahr über in Monte Carlo oder Ostende oder Zoppot in den Spielsälen. Das Feiertägliche einer erlesen gekleideten Damenwelt fehlt diesmal auf den Tribünen des ersten Platzes und dem Rasen davor. Regenmäntel, nichts als Regenmäntel. Einzig und allein eine - allerdings gräßlich grell bemalte - französische Gräfin, die eines ihrer Pferde um den 40 000 Mark-Preis hier laufen läßt, ist verblüffend schick gekleidet. Ihr Chasseurhütchen mit Federlocke ist köstlich keck. Auch einige Dianen aus Berlin W sind da, fallen aber nicht so angenehm auf. Sich in Szene zu setzen ist nun mal "das" Studium jeder Französin; um Hut und Kleid und Schuh kreisen alle Gedanken. Vor langen Jahren erschien die erste französische Übersetzung von Goethes Faust und kam mir in die Hände. Die Stelle

"Wie sie kurz angebunden war,
Das ist nun zum Entzücken gar!"

ist darin mit den Worten wiedergegeben: "Et sa courte robe etait a ravir" - ihr kurzes Kleid war zum Entzücken! Die Pariser Gräfin auf der Rennbahn Grunewald nun ist weder kurz angebunden noch trägt sie ein kurzes Kleid, sondern sie plaudert wie ein Bergbach und triumphiert in ihrer modischen Toilette. Wer hat heute für so etwas noch Sinn? Oder wer sieht sich noch kritisch vor dem Rennen die Pferde im Führring oder in ihren Boxen an? Jedermann starrt nur die aufgezogenen Tafeln an, um seine Dispositionen für den Totalisator oder den Buchmacher zu treffen. Gestikuliert da nicht mit ein paar anderen mein alter Buchmacher? Ach nein; das ist, zum Verwechseln ähnlich, Pallenberg, der Gatte von Fritzi Massary. Gänzlich unerkannt, weil das Wettfieber die Augen trübt, schieben auch andere Größen von Bühne und Film durch die Menge. Aber einer wird sofort erkannt und stürmisch begrüßt: Max Schmeling. Eine Rennen, das zweite, ist nach ihm benannt, er übergibt dem Sieger den aus seinem Dollarschatz gestifteten Ehrenpreis, eine goldene Zigarettendose. Graf Westphalen, der sonst hier in dem Fürstenbau vor Königen und Prinzen die Honneurs machte, schüttelt Schmeling die Hand und hält eine Ansprache an ihn. Der Gegendruck des sehr verehrten Herrn Sportkameraden erfolgt zum Glück mit erheblicher Untersetzung. Trotzdem knickt der Graf fast in die Knie.

Auf der Tribüne, dritte Reihe, sitzt jemand mit seiner jungen Frau. Sie genießt die Sensation wohl zum erstenmal. Um das zu steigern, läßt er sie auch wetten. Sie hat keine Ahnung, sie wählt ein paar Stutennamen, die ihr gefallen. "Was meinst du zu Courtisane? Oder Pythia lieber?" Er lächelt nur. Die Tickets werden geholt, in drei Rennen gewinnt die Dame hintereinander ein paar Mark. "Habe ich Glück im Spiel, Unglück in der Liebe?", fragt sie schelmisch den Gatten. Meine Gnädigste, wenn Sie mich fragten, würde ich antworten, das sei ein ganz dummer Aberglaube; ich habe immer Glück in beidem gehabt. Nun kommt das vierte Rennen, der Mann erklärt ihr, warum da wohl - wegen des regennassen, zähen Geläufes - eher Sichel, die nur mit 51½ Kilo belastete Graditzer Stute, siegen könne als die schweren Franzosen. "Gut, nehmen wir Sichel." Eine Viertelstunde später, hurrah, Schwarzweiß in Front! Diesmal gewinnt das Ehepaar 46 Mark. Also wirklich hintereinander eine Glückssträhne. Beim fünften Rennen gibt es einen Versager. "Hättest du doch, wie ich sagte, Mannestreue genommen!", klagt die junge Frau und schmollt, nun sei ihr die ganze Freude verdorben. Sie denkt nicht daran, daß die brave Stute Mannestreue - als letzte eingekommen ist; Sieger war der Hengst Amalfi. Und die ganze Freude verdorben? Der Mann wird ernst ob der Unbeherrschtheit und denkt augenscheinlich nach, wie er mit weicher Hand das wieder in Ordnung bringen könnte. Schade, daß ich ihm nicht soufflieren kann. Nämlich das einzig richtige berlinische Wort in derartigen Lebenslagen: "Reg' dir man nich künstlich uff!"

Es dauert lange, bis die Zehntausende, ein gewaltiger Strom, sich nachher verästelt haben. Man hatte auf wenig Besuch gerechnet, aber gerade in schlechten Zeiten ist der Drang, beim Wetten zu gewinnen, riesengroß. Wer dem Tototeufel verfallen ist, der wird mancher Hemmung ledig und greift womöglich auch mal fremdes Geld an.

Die Massen verlaufen sich, aber nicht wie sonst in die Weinrestaurants. Billiger ist - der Bummel. Auf dem Kurfürstendamm hat sich in den letzten Wochen ein Korso entwickelt, der fast schon seinem älteren Bruder in Budapest gleicht. Es ist eine Art Lästerallee. Chasseurhütchen und Stulphandschuh, Wangenbraun und Lippenrot werden kritisiert. "Ach, sieh da, wir dachten, Sie seien in Deauville?"   "Hat sich was, bei den Zeiten!" Aber man schmunzelt trotzdem, man weiß doch auf dem Kurfürstendamm, daß man sich solch eine Reise nicht zu versagen brauchte. Die eigentlichen Leidtragenden, die die 100 Mark Sonderstrafe für eine Auslandsfahrt meist nicht aufbringen können, sind Angehörige des gebildeten Mittelstandes, Lehrer und Lehrerinnen, die zu ihrer Vervollkommnung in Fremdsprachen oder in Geographie oder in Kunstgeschichte in den Ferien auszuschwärmen pflegen, oder Kranke mit bescheidenem Geldbeutel, die natürlicher Höhensonne oder der des Mittelmeers oder einer Kur in Pistyan, in Karlsbad, in Meran bedürfen.

Sind das Verschwender?

Gewiß: der Deutsche ist reiselustiger und bildungshungriger als viele andere. Aber unsere Bilanz wird deshalb kaum passiv. Nach amtlicher Schätzung verreisen Deutsche im Auslande alljährlich 300, Ausländer in Deutschland dagegen 280 Millionen Mark, das Minus ist also kaum nennenswert. Es gibt Länder, die viel mehr von uns haben, als wir von ihnen, darunter vor allem Österreich, Italien, die Schweiz und leider auch Frankreich. Dafür lassen wiederum Holland, die skandinavischen Länder, Jugoslavien, England, Amerika starke Überschüsse bei uns. Schwer geschädigt durch den 100-Mark-Zuschlag werden jetzt auch unsere Reedereien, deren Nordlandfahrten in Frage gestellt sind; dabei kommt doch fast das ganze von den Erholungsreisenden aufgewendete Geld just der eigenen deutschen Schiffahrt zugute, wird auf Landausflügen nur wenig ausgegeben.

Aber selbstverständlich begreife ich den hohen Sinn dieser Verordnung durchaus. Sie dient, bitte sehr, zur Befriedung des Volkes. Den "Reichen" muß das Reisen erschwert werden! Wenn heute 15 000 deutsche Sozialdemokraten in 40 Sonderzügen zum "Arbeiter-Olympia" nach Wien fahren, so ist das etwas ganz anderes. Dann wird die Gebühr von 100 Mark je Person natürlich erlassen.

Man ist viel glücklicher, wenn man sich das Wundern abgewöhnt. Es geht einem viel besser, wenn man freudig zugibt, daß nicht die Verfassung, vor der jeder Deutsche gleich ist, sondern das Parteibuch heute unsere magna charta ist. Es steht doch jedermann frei, sich das für ihn beste Buch auszusuchen. Wir sollten auch unseren Kindern das dumme Feixen abgewöhnen. In einer Berliner höheren Mädchenschule erscheint neulich zur Stein-Feier der Gott sei Dank derzeit unzweifelhaft republikanische Schulrat und sagt in einer Ansprache, was der Freiherr vom Stein für Deutschland gewollt habe, die Freiheit, das habe die Revolution von 1918 ausgeführt und vollendet, vor allem für die Frauenwelt. Warum kichern da die Göhren? Was haben sie einander zuzuwispern? Es sind nur zwei Worte, die von Mund zu Mund reihum gehen:

"Deutschland, erwache!"
23. Juli 1931 (Donnerstag)



Glossen 43 - 45

Jahresinhalt

© Karlheinz Everts