"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 37 - 39
13. bis 28. Mai 1931


37

Die Zeit der Reisepläne - Ferien der Berliner für Berlin - Internationale Bauausstellung - Wir zischen eins - Auf Teilstrecke - Muttertag - Bei den Lippennegerinnen - "Bülow und der Kaiser".

So um die Eisheiligen herum beginnt der geographische Schulatlas magisch zu wirken. Den großen Andree kann man nachher wegen der Einzelheiten bemühen, aber zunächst zieht einen im kleinen Diercke die Übersichtskarte von Europa an. Da sind bei mir rundum alle Meere von roten Linien durchfurcht. Von früheren Sommerreisen her. Ostsee, Nordsee, Atlantik, Mittelmeer, Schwarzes Meer, Kaspisee. Wohin soll es diesmal gehen? So viel steht fest: zu einer wochenlangen ständigen Sommerfrische im Gebirge oder an der See ist man, da keine kleinen Kinder mehr da sind, nicht verpflichtet, man kann also, soweit es sich nur um die Zeit handelt, die geliebte große Schiffsreise mit ständigem Szenenwechsel sich wieder gönnen. Hat man aber auch das Geld? Vielleicht kommt beim Kassensturz nur ein kurzer Ausflug heraus, und den Rest des Urlaubs benutzt man dann zu einem Ferienbummel in - Berlin selbst.

Das klingt, wenn ein Berliner es sagt, komisch, aber es lohnt sich. Während der elf Monate Arbeit am Schreibtisch "kommt man doch zu nichts", es sei denn, daß man mal Besuch hat und den ausführt. Beruflich geht man nur "für ein paar Zeilen" zu den Premièren in Theater, Strandbad, Ausstellung, Zoo. So wie ich gestern zur Internationalen Bauausstellung 1931 gepilgert bin und nach drei Stunden flüchtigen Schauens nur den einen Wunsch hatte, hier einmal tagelang wirklich Studien treiben zu können. Das ist man doch einfach seiner Bildung schuldig. Da müssen also diesmal mit einer Woche die Ferien herhalten.

Dieses gepeinigte Deutschland hat soeben im römischen Reiterturnier den Preis der Nationen eingeheimst. Und dieses gepeinigte Deutschland hat soeben auf 160 000 Quadratmetern draußen am Kaiserdamm zu Berlin unter Beteiligung von 22 fremden Staaten eine Bauausstellung hingesetzt, die das Interesse der ganzen Welt erweckt. Es gibt niemand, der nicht erhoben oder erschüttert, niemand, der nicht belehrt sie verließe.

Heinrich Zille hat einmal gesagt:

"Mit einer Wohnung kann man einen Menschen genau so töten wie mit einer Axt."

Es ist daher kein Wunder, daß in der ersten Riesenhalle, die die repräsentative Ausstellung der Nationen beherbergt, die Unglücksländer Deutschland und Österreich am stärksten die soziale Note betonen, am meisten dadurch wirken wollen, was sie gegen das Wohnungselend tun oder häufiger nur - planen.

Viel ist geschehen, mehr ist frommer Wunsch geblieben. Es klingt fast wie Hohn, wenn an einer Wand mit Kolossalbuchstaben der Artikel 155 unserer Verfassung prangt, wonach das neue Reich es für seine Pflicht erklärt, "jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern." Augenblicklich sind die Zeitungen von einer Polemik zwischen dem Stahlhelm und den Roten erfüllt, ob ein Aufruf der "Volksbeauftragten" vom November 1918, der allerlei lockende Versprechungen enthält, echt sei oder nicht. Diese Untersuchung ist ganz überflüssig. Man braucht wirklich nur die unzweifelhaft echte Verfassung vom August 1919 zu lesen, dann weiß man, wie wenig davon in Erfüllung gegangen ist.

Auch noch ein zweiter Artikel, 119, an dieser Ausstellungswand macht einen nachdenklich: "Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staates." Dabei gibt es zur Zeit außer Sowjetrußland keinen Staat in der Welt, in dem so wie bei uns die Mutterschaft erschwert und das Mutterwerden hintertrieben wird, unter staatlicher Duldung einer wilden Agitation für die Verwüstung des Mutterleibes.

Die übrigen repräsentativen Ausstellungen der verschiedenen Nationen in dieser Abteilung betonen mehr den Stolz auf das Erreichte. Frankreich fehlt noch, es ist noch nicht fertig. Schön und stolz zeigt sich Ungarn, stolz auch in der Trauer um Verlorenes in dem schematischen bunten Wandbild "Aus der Geschichte von Budapest"; es ist das einzige Land, das sich nicht scheut, auf die Ursache aller Not zu verweisen, auf die Schandverträge von Versailles und Trianon.

Ob Schweiz oder Estland, ob Chile oder England, überall sieht man Fesselndes von Städtebau, Wohnungswesen, Siedelung. Verblüffend in einer Koje der Vereinigten Staaten die überamerikanisierte "praktische" kleine Küche. Das Stolzeste aber ist in der Abteilung Italien eine mächtige Plastik, in Gips - wohl im Maßstab 1:1000 - bis zu jedem Säulenkapitäl genau die Nachbildung der ganzen Innenstadt Rom vom Colosseum bis zur Piazza Venezia, so wie sich die Ewige darstellen wird, wenn Mussolinis Freilegung des augusteischen Forums vollendet ist.

Da kennen viele Deutsche jeden Weg und Steg. Da stehen sie andächtig davor. Hier lernen sie, was es heißt, an die Größe eines Volkes zu glauben und ihm verschüttete Geschichte zu eröffnen. Ein Italiener, kein beamteter, sondern zufällig hergeweht, freut sich. Er erklärt Fragenden auch dies und das. Da kommt aus der Gruppe der Zuruf:

"Wo is'n der Markusplatz?"

Da wendet der Römer gequält sich ab; womöglich wundert sich der Deutsche noch, daß nicht echte venezianische Gondeln auf dem Tiber schaukeln.

Die eigentliche Bauausstellung auf dem ungeheuren Gelände ist deutsch. Sie enthält alles an Material und an fertigen Bauten, was es vom strohgedeckten Bauernhaus mit ganz modernen Ställen - auch jegliches Vieh ist an Ort und Stelle - bis zum Kirchhof und von dem großen Junggesellen-Boardinggebäude bis zur Wochenendvilla gibt. Überraschend das nicht nur praktische, sondern endlich praktische "und" schöne an Stahlrohrmöbeln für jeglichen Zweck, während man vor Jahr und Tag nur Stühle dieser Bauart kannte. Auf sozusagen Verrücktes - außer einer von Professor Kandinsky entworfenen bunten Keramikwand, für ein Musikzimmer gedacht, in dem diese Wand die Musik erschlüge - stößt man kaum, umsomehr aber auf bisher in weiten Kreisen unbekanntes Material, darunter auf Einfamilienhäuser mit kupferner Außenhaut vom Schornstein bis zur Schwelle. Sind sie erst patiniert, so werden sie nicht übel in die Landschaft passen. Vor den Badezimmern und den Badewinkelchen, vor den Wandplatten aus Glanz-Asbest, künstlichem Marmor, Maserholz, vor den Bautischlereien und den vielen Maschinen des Gewerbes, vor einer enthüllten Zentralheizung oder Beleuchtungsanlage kann man stundenlang stehen.

Draußen aber im geräumigen Freigelände fährt in Schlangenlinien eine Zwergeisenbahn durch die Ausstellung. Die offenen und die überdachten Wagen sind winzig, mit je zwei Sitzplätzen in Fahrtrichtung auf den Bänken, so wie im Lunapark auf der Berg- und Talbahn. Eine äußerst stattliche Dame zwängt sich neben mich, so daß ich denke, ich bin eine gepreßte Ölsardine, aber die Dicken sind, wenn auch beim Tanzen zu selbständig, sonst wegen ihrer Gutmütigkeit und ihres Humors meist sehr angenehme Nachbarn. "'tschulljen Sie", sagt sie, "bei mir hilft nischt mehr, ich habe nämlich, wie es in der Bibel heißt, mit meinen Pfunden gewuchert."

Sie ist fünf Stunden herumgelaufen, ist begeistert, hat dann im schlesischen Kretscham des Ausstellungsdorfes Kaffee mit Kuchen und viel Schlagsahne zu sich genommen und fährt nun mit dem Bähnle immerzu, zahlt jedesmal am "Hauptbahnhof" erneut die 50 Pfennige und freut sich wie ein Schneekönig über ihren Verdauungs-Sitzplatz.

Nachher treffe ich sie noch einmal auf dem Dachgarten des Hauptrestaurants angesichts des Funkturms. Sie glüht und sagt:

"Es ist so heiß, ich muß mal schnell ein großes Helles zischen!"

Gut, zischen wir eins. Nachher verlöten wir eins. Wir kippen, schmettern, picheln, verpassen, gurgeln, zutschen, trillern, tanken eins. Wir nehmen eins auf den Diensteid, wir gießen eins hinter die Binde, wir führen uns eins zu Gemüte. Lieb Kind hat viele Namen.

Aber schon beim dritten Hellen bin ich sachte ausgerückt, denn ich allein kann die 30 Prozent Minderabsatz an deutschem Bier aus dem abgelaufenen Vierteljahr doch nicht wettmachen. Wir alle trinken weniger als früher. Berlin ist eine geradezu nüchterne Stadt geworden. Nur ist das Delirium tremens von dem politischen Delirium abgelöst worden, das ebenso wie früher der Alkohol zu Mord und Totschlag führt. Aber der öffentlichen Meinung ist bekannt, daß der Blutrausch von der Linken ausgeht, von Moskau genährt wird. Schritt für Schritt gewinnt daher die Rechte an Boden. Noch vor wenigen Jahren sah man in Berliner Arbeiterkneipen einfach überall nur die Morgenpost und den Vorwärts; heute ist es vielfach schon der Lokalanzeiger und der Angriff.

"Das sowieso!", sagt mir stolz der Wirt, der früher mit seinen Stammgästen rot wählte, heute mit ihnen schwarzweißrot ist.

Man kann auch nicht erwarten, daß die rund 400 000 Berliner Arbeitslosen noch glauben, daß die jetzige Regierung sie erlösen wird.

Jedermann hat das Gefühl, daß eine neue Zukunft, eine ganz andere, uns erstehen muß. "Es geht so nicht mehr weiter!" Alle sagen es. Jetzt gehen sogar große Abzahlungsgeschäfte in Konkurs, denen es bisher glänzend ging, da immer weitere Bevölkerungsschichten dazu kamen, "auf Teilstrecke" etwas zu erstehen. Schließlich hilft aber die beste Kartothek und die beste Auskunft nichts mehr, da von einem zum anderen Tage Familien, denen bisher noch alles gelang, ins Unglück geraten. Auch verstehen es immer mehr "Ehrenmänner mit Fransen", Männer mit ausgefranster Ehre, den Kaufmann zu schädigen, auch wenn er sich noch so sehr vorsieht. Und wenn die Kaufkraft erlischt, nützt auch kein Schaufensterwettbewerb mehr, wie ihn die Leipziger Straße kürzlich vorgenommen hat.

Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten bringen etwas Auftrieb in das Geschäft, nur nicht mehr so großen wie in früheren Jahren. Man legt neue Feiertage ein, um zu Geschenken zu reizen. So hat der Muttertag seine Schuldigkeit getan. Wenigstens ist da der Absatz in Schokolade und Blumen gestiegen, womit ich alter Skeptiker nicht gesagt haben will, daß dies eine Steigerung der Kindesliebe bedeutet. Vielfach ist es doch so, daß Kinder vom Vater sich Geld erbitten, um der Mutter etwas zu schenken, wovon sie ihnen allerlei abgeben kann, natürlich in erster Reihe Süßigkeiten. Aber doch ist auch das schon Seligkeit für manche Mütter.

Es ist bei arm und reich dasselbe. In einem uns bekannten wohlhabenden Hause sagt ein Kind zum Vater: "Gib mir doch bitte zehn Mark, ich muß Mutti was schenken!" Der Hausherr blickt sein Mädel ruhig und lange an und spricht dann wie zu sich selber: "Ich glaube, ich bin es meinen Kindern schuldig, aus pädagogischen Gründen Pleite zu machen, sonst lernen sie nicht, was Geld ist und erfahren nie, was auch ohne Geld Liebe vermag!"

In Berlin wird der Muttertag allmählich das Gegenstück zum Himmelfahrts-Donnerstag mit seinen Herrenpartien, nämlich ein Ausflugstermin für Mütter und Kinder. "Au, fein, heut ist Muttertag, da können wir in den Zoo zu den Lippennegerinnen!" Das ist eine ganz sonderbare Exotenschau. Diese schwarzen Weiber, vom oberen Uella, denen schon, wenn sie noch kleine Mädchen sind, ein Dorn durch die Oberlippe und die Unterlippe am Ansatz zum Zahnfleisch getrieben und durch immer dickere Pflöcke ersetzt wird, spannen zuletzt große Holzteller von einem Durchmesser bis zu 22 Zentimetern ein, haben somit "die größte Klappe der Welt", auf die doch sonst der Berliner Anspruch erhebt. Eine richtige Futterluke. Auf den unteren Teller wird Essen und Trinken geschüttet und rutscht nach hinten, wenn die Weiber den Kopf heben. Eine unappetitliche Sache. Dazu "sabbern" sie fortgesetzt und müssen dauernd den fließenden Speichel abwischen. "Wenn nun ihr Mann sie küssen will?", fragt eine kleine Wißbegierige. "Dann rutscht er an diesem Lippenäquator in die Runde!", erhält sie zur Antwort.

Wir haben den Muttertag daheim verbracht. Es waren Briefe von den Kindern da, liebevolle Briefe, ohne daß eines durch die Erinnerung an den Muttertag dazu kommandiert gewesen wäre. Und liebe Leute waren bei uns zu Gast, darunter ein paar Auslandsdeutsche aus drei verschiedenen Erdteilen und einer unserer größten Seehelden aus dem Weltkrieg. Es gab sogar eine kleine Première, die Vorlesung eines Kapitels aus einem neuen Buche, das zu Pfingsten erscheinen wird. es heißt "Bülow und der Kaiser" und ist von mir. Noch nie habe ich einer Arbeit so heiße Segenswünsche mit auf den Weg gegeben, denn sie ist die notwendigste und, wie ich hoffe, die beste meines Lebens, die Hunderttausenden die bisher vernebelte Wahrheit offenbaren könnte. Wer sich aber im Giftnebel von 1908 und 1918 wohlfühlt, dem ist nicht zu helfen.
13. Mai 1931 (Mittwoch)


38

Spieglein, Spieglein - Die Enquete des Foxfilms - Erinnerung an einen Hausball - Daisy v. Freybergs Werdegang - Galveston - Die Wahl der Miß Germany - Fräulein Nummer tobt.

Spieglein, Spieglein an der Wand: wer ist die Schönste im ganzen Land?

Die alte tausendfältige Frage aller Evatöchter. Ganz gleich, ob sie 16 oder 60 Jahre alt sind. Die Männer aber seufzen. "Bist du so weit? Können wir gehen?", ruft einer. Aus dem Schlafzimmer, von dem Toilettespiegel her kommt die Antwort: "Ja, Schatzi, ich bin schon fertig!" Aber am Mantel muß noch gezupft werden, der Hut muß eine Neigung von 3½ Grad mehr bekommen. Endlich öffnet sich die Tür. Im hinteren Korridor, an den Schlafzimmern, befindet sich aber ein Garderobehalter mit Spiegel. Da wird wieder gezupft, da wird der Hut noch um ein Millimeterchen weiter gerückt. "Einen Augenblick, ich bin schon da!"

Im großen Berliner Zimmer, allwo sonst gespeist wird, hat die Anrichte eine schmale Spiegelrückwand. Da geht die Hausfrau in die Kniebeuge, schaut hinein und denkt: "Fesch, nicht wahr?"

Sie denkt es freilich nur, sie sagt es nicht. Das Haupthindernis kommt aber noch, der Pfeilerspiegel im Flur. Ginge man glatt vorbei, so wäre alles in schönster Ordnung, aber gerade hier fällt einem immer ein, was man noch vergessen hat. Man "rast" zurück. Schließlich ist auch noch unten im Treppenhaus ein Spiegel in die Wand eingelassen. Generalprobe! Die auf die Minute genau bestellte Droschke hat schon 15 Pfennige extra getickt. Das kennen unzählige Berliner Ehemänner. Soviel Spiegel vom Schlafzimmer bis zur Haustür vorhanden sind, soviel mal zwei Minuten muß man jeder Kalkulation zurechnen. Und dann kommt noch draußen der letzte, prüfende Blick in das Spiegelchen der Handtasche.

Alles für uns.

Für uns Männer, für das dusselige Geschlecht.

Wir wollen es ja gar nicht anders. Wir sind ehrlich gerührt, daß man sich so für uns bemüht. Eine Frau, "die nichts mehr auf sich gibt", will man nicht. Also wir lächeln nachsichtig, wenn ein Mädchen oder eine Frau immer wieder den Spiegel befragt. Im Grunde ist es ein Paschalächeln der Überhebung, meinen freilich manche. Der Engländer nennt ein schönes Kleid "a mans trap", eine Männerfalle. Manche Männer fallen auf ein Grübchen in den Wangen herein, manche schon auf eine Hutagraffe, auf ein Fichu, auf ein bißchen Ringelhaar im Nacken, auf den Ärmelfall.

Das dusselige Geschlecht ist leicht zu fangen. Wenn man nur die Fallen richtig aufmacht.

Ein Großer von dem Foxfilm ist eben in Berlin, nachdem er alle Länder Europas bereist hat. Mit der Spiegleinfrage. Er hat in allen Staaten, in allen Volksteilen, in allen Ständen nach der Schönsten im Lande gesucht. Er hat dann seine Ausbeute an Eindrücken verglichen. Ich bin nicht erstaunt, als er nun sagt:

"Die schönsten Mädchen der Welt hat zur Zeit Deutschland!"

Das sagt ein kühler Rechner, für den Schönheit die "gefragteste" Ware der Filmindustrie ist, kein Schwärmer, der just ein sogenanntes Erlebnis gehabt hat und einfach verallgemeinert. Dieses Schwärmen kennt man. "Ein Mann, der im Frühling nicht zu einer Dummheit fähig ist, ist kein Mann mehr", hat jemand dieser Tage einer entzückenden jungen Dame gesagt. Aber unser Mister aus den Vereinigten Staaten ist sachlich ernst. Er könnte eine Doktorarbeit über seine Enquete schreiben, die dem Professor Günther oder anderen Lobrednern der nordischen Rasse eine helle Freude wäre. In Spanien, dessen Sennoritas doch weltberühmt sind, hat er seine Suche angefangen, bis zur Balkanhalbinsel hat sie ihn geführt, nun reicht er die Palme den deutschen Mädchen. Er hat auch die "Miß Germany 1931" gesehen, die die diesjährige Weltschönheitskonkurrenz in Galveston U.S.A. mitmachen soll, und er sagt, von solchen Misses habe Deutschland hundert auf je eine in England oder Schweden.

Im Winter vor einem Jahre, damals noch nicht 17 Jahre alt, hat diese heutige Schönheitskönigin ein sogenanntes Lämmerhüpfen bei uns mitgemacht, mit unseren Jungens bei uns getanzt. Es ist nicht immer ganz praktisch, eine ausgesprochene Schönheit einzuladen. Die anderen jungen Mädchen, auch lauter liebe, hübsche, quellfrische Dinger, nehmen das leicht für einen bewußt feindseligen Akt.

Als Gastgeber hat man es manchmal wirklich schwer. Bittet man beispielsweise unter vielen anderen einmal auch zwei einander unbekannte Träger adeliger Namen zu einer Gesellschaft, so kann man in neun von zehn Fällen sicher sein, daß sie für eine halbe Stunde sich separieren müssen, um über Dutzende von Familiennamen, Gutsnamen, Regimentsnamen erst festzustellen, ob sie vielleicht von irgendeinem Urgroßonkel von 1828 her miteinander verwandt sind. Das Schlimmste sind aber schöne, junge Mädchen. Sie sind auch Menschen wie wir, auch der frohen Erwartung voll, einen netten Abend mit harmlosem Vergnügtsein zu erleben, aber die Umgebung denkt, sie wollten immerfort "siegen". Da fliegen die ersten argwöhnischen Blicke hinüber. Da sieht man die eigenen Eroberungen gefährdet. Da fühlt man düster Einbrüche in alte Freundschaft.

Diese junge Dame, die heute, achtzehnjährig, zur Miß Germany 1931 gekürt ist, habe ich damals während einer Tanzpause abseits genommen und in einer Sofaecke unter vier Augen, nachdem ich schon früher einmal zum Tee bei ihrer Mutter ihr gegenüber gesessen hatte, eine Zeit lang mit ihr geplaudert. Drüben bei den jungen Damen im Tanzzimmer galt sie, zu Unrecht, als ausgesprochene Kokette mit Filmmanieren. Ich fand in ihr etwas ganz anders, nämlich ein im Grunde schlichtes, im besten Sinne deutsches Mädchen, das auf dem Wege vom Aschenbrödel zur Königsbraut, um im Märchenstil zu bleiben, sich befand. Ich warf ein Senklot in ihre Seele, zu ergründen, wie tief sie sei. Und es war alles Klarheit. Diese Daisy Freiin v.Freyberg ist - ich habe schon vor zwei Jahren hier von ihr erzählt - freilich klug genug, um zu wissen, daß es heute keine Märchen mehr gibt. Für jedes Mädel ist der Weg steinig geworden. Es hat keinen Zweck, einem Prinzen entgegenzuträumen. Die ungeheuer prosaische Frage lautet vielmehr für alle: "Was muß ich tun, um selbst mein Brot zu verdienen?"

Und womöglich für die Mutter oder die Brüder mitzuverdienen.

Daisys Vater ist als Hauptmann im 2.Garderegiment zu Fuß gefallen. Von der schmalen Witwenrente kann die Frau mit den drei Kindern nicht leben. Vermögen ist auch nicht mehr da. Was tut man? Man behält die große Wohnung bei und vermietet Zimmer.

Daisys Laufbahn beginnt vor Jahren damit, daß sie an jedem Morgen schon um 6 Uhr aufsteht, um noch vor dem Weg zur Schule alle Stiefel der "möblierten Herren" zu putzen und sonstige Hausarbeit zu tun. Arbeit schändet nicht. Wie das Kind dann plötzlich photographisch entdeckt wird und die ersten Schritte zum Film macht, habe ich früher schon erzählt. Jede verdienten hundert Mark werden auf weitere Ausbildung verwendet. Man ist arm, man hat Schulden, aber man schafft es, obwohl beim Filmen dann eine Pechsträhne einsetzt, dank den vom Regisseur sehr verstümmelten Streifen in dem Rheinland-Tonfilm. Im Frühjahr 1931 kann Daisy zur Vervollkommnung im Englischen 2½ Monate in London zubringen, im Hause einer Dame, die aus einer deutschen Fürstenfamilie stammt. Nach der Rückkehr Ende April findet sie eine Aufforderung vom Paramountfilm vor, sich im Mai zu einer Probe in Paris einzufinden. Sie siegt im Wettbewerb gegen die viel berühmtere Karin Evans und bekommt die Hauptrolle in Hermann Bahrs "Das Konzert", das augenblicklich dort gedreht werden soll. Das hätte ihre Durchbruchsschlacht werden können, auf dem Wege, der schließlich nach Babelsberg und Hollywood führt. Aber diese Daisy d'Ora, wie das Kino sie nennt, hat noch einmal Pech. Die Herstellung des Films wird verschoben, sie kann bis zum neu angesetzten Termin nicht in Paris bleiben, muß also auf die Glanzrolle verzichten.

Sie wird zur Zeit des neuen Termins nicht in Europa sein können, sie hat bereits die Fahrkarte für Amerika in der Tasche.

Früher schon kamen Kabelgramme aus Galveston, Depeschen und Rohrpostbriefe aus dem Berliner Edenhotel. Man kennt ihre Bilder, man bittet sie, sich an der Schönheitskonkurrenz zu beteiligen, die in jedem Lande vorgenommen wird, um schließlich zu der Wahl von "Miß Universum 1931" zwischen "Miß Europa" und "Miß Amerika" in Galveston zu führen. Sie stopft alles unter ihr Kopfkissen; die Mutter soll's nicht bekommen, den Unsinn mit all der Aufregung will sie ihr ersparen, Miß Universum mit 10 000 Mark Geldpreis wird man doch nicht, also lieber ganz weg damit. Am letzten Tag der Woche der Berliner Vorprüfung findet die Mutter, beim Wechseln des Kissenbezuges, die ganze unbeantwortete Korrespondenz, ist Feuer und Flamme und bewegt Daisy doch noch zum Mitmachen.

Es ist wahr, früher sind diese Schönheitskonkurrenzen eine "finstere Angelegenheit" gewesen. Herr v.Mücke, der Bruder des Emden-Ayesha Mücke, der vier Jahre in Galveston gelebt hat, erzählt mir davon. Da war den ganzen Kai entlang eine schmale Bretterbahn gezogen, zu deren beiden Seiten sich, unendlich lang, fünf Reihen hoch, rohe Holztribünen erhoben, besetzt mit Baumwollbauern aus ganz Texas und sonstigem gemildertem Wild-West. Auf Karren wurden da die Wettbewerb-Mädchen - im Badetrikot - hindurchgeschoben und ließen Zurufe auf sich niederhageln.

Jetzt ist aber diese Attraktion für Galveston, das gegenüber dem aufstrebenden Houston sich nicht leicht halten kann, von der dortigen Handelskammer in die Hand genommen worden und wird ernst und solide gemacht. Heute werden die Damen nicht mehr im Badekostüm einhergekarrt, sondern gondeln im Nachmittagskleid 2½ Stunden lang an jedem Tage der Wettbewerbswoche in Motorbooten am Strande entlang. Sie bekommen vom Komitee für sich und ihre Mutter - ohne Mutter oder ältere Tante ist die Zulassung ausgeschlossen - freie Reise nach Amerika und zurück und freien Aufenthalt in "ersten" Hotels. Diese Organisation hat es vermocht, daß zum ersten Mal wirklich auch viele Töchter aus guten Familien sich in den einzelnen Ländern gemeldet haben.

Also Daisy v.Freyberg geht hin. am letzten Tage der Vorprüfung ins Edenhotel, wo viel Publikum und das Richterkollegium sitzt. Dieses besteht aus je zwei Malern, Photographen, Ärzten, Sportlehrern, Filmkünstlern und einer Anzahl Frauen. Nach Punkten wird Schönheit, Gang, Benehmen und alles übrige gewertet und schließlich in der Entscheidung, die nur das Richterkollegium fällt, unter den Schönsten der "deutscheste Typ" gewählt. Es haben sich 1010 Damen aus ganz Deutschland gemeldet, 860 werden schon auf Grund der eingesandten Photos abgewiesen, der Rest muß im Edenhotel "Spießruten laufen".

Die meisten tun es in großer Aufmachung. Daisy hat nur weißen Kasak und dunkeln Rock darunter an.

Sie hat keine Schminke, keinen Schnittkopf, keine ausrasierten Augenbrauen, ist ganz nur junges Mädchen aus guter Familie.

Etwas schamübergossen, als die Reihe an ihr ist und sie allein defilieren soll. Im letzten Augenblick kriegt sie einen alten würdigen Oberkellner zu fassen und bittet ihn, sie zu begleiten. Daß sie die Siegerin werden könnte, glauben aus dem verbildeten Publikum nur sehr wenige.

Soweit dieses Publikum bei der Vorauswahl mitzustimmen hat, hat es seine Favoriten. Das sind nicht Damen aus der Gesellschaft. Da ist die rothaarige kleine Freundin eines Hotelbesitzers. Da ist ferner mit starkem Anhang "Fräulein Nummer" aus dem Scala-Variété, das Mädel, das allabendlich in kecken Höschen einherschreitet und die nächste Programmnummer anzeigt.

Zur Hauptentscheidung, die von 9 Uhr abends bis 3 Uhr morgens das Punktgericht beschäftigt, sind nur noch 5 Bewerberinnen zugelassen. Darunter die junge Baronesse Freyberg. Kurz nach 3 Uhr wird die Entscheidung bekanntgegeben: als Miß Germany 1931, als der deutscheste Typ unter den Schönsten, ist, und zwar einstimmig, diese Freyberg erkoren. Alsbald drängen sich Impresarios mit Vertragsentwürfen um sie. Sie erklärt kühl, sie sei es nicht gewohnt, um ½4 Uhr morgens schwerwiegende Entschlüsse zu fassen, bedürfe auch juristischer Beratung.

Derweil bemühen sich gute Freunde um Fräulein Nummer. Fräulein Nummer hat Schreikrämpfe, wälzt sich am Boden und schmeißt einen Trostpreis, eine Rosenthal-Vase, wütend in Scherben.

Es gehören auch gute Nerven dazu, um als Mädchen in solcher Lage Haltung zu bewahren.

Daisy v.Freyberg hat gute Nerven. Sie bleibt immer Dame. Sie wird auch nicht als Verlobte eines amerikanischen Schweinefleisch-Millionärs zurückkommen. Sie heiratet einst den Mann, den sie lieben wird, keinen anderen. Sie will viele Kinder haben, deutsche Blondköpfe. Die Episode Galveston ist in unserer verrückten Zeit nur eine Station auf Daisy d'Oras Weg zum Film. Das ist ehrlicher Broterwerb. Früher wäre man vielleicht Hofdame geworden, heute filmt man; auch das führt ins Freie und zur Selbstbehauptung.

Spieglein, Spieglein an der Wand . . .
21. Mai 1931 (Donnerstag)


39

Man möchte Hindenburg sehen - "Deutschland" macht sich frei - Hunderttausende in den Pfingstferien - Auf Berliner Bahnhöfen - Oberspree und Havelseen - Rundfahrt mit "Elite"-Motorschiff - Zeltstadt am Jungfernsee - Die große Theaterpleite.

"Wo kann man Hindenburg sehen?" Es ist immer wieder dieselbe Frage. Und die Antwort: "Am allerwenigsten in Berlin!"

Fahrt nach Neudeck oder Dietramszell, ihr lieben Leute, oder sonst wohin, wo Hindenburg mal zu Besuch auftaucht. Stellt euch irgendwo auf, wo vielleicht Hunderte stehen. In Berlin sind es gleich Zehntausende, wenn der Feldmarschall etwa am Volkstrauertage die Ehrenkompagnie vor dem Reichstage abschreitet. Da steht man eingekeilt und hat, weitab vom Schauplatz der Ereignisse, vielleicht nur den Schweif eines Schutzmannspferdes als ständigen Wedel im Gesicht.

Fährt Hindenburg nicht mal aus? Gewiß, aber nur selten. Wann, weiß man nicht. Dann flitzt, nicht etwa zum Ehrenhof in der Wilhelmstraße, sondern zur Gartenpforte an der Rückseite heraus, das geschlossene Auto; man sieht nichts, und weg ist es.

Dann drücken sich die Fremden am Schmiedegitter in der Wilhelmstraße 73 die Nasen platt und starren auf die beiden Posten, die wie aus Erz gegossen Wache stehen.

Hindenburg besucht kaum je Gesellschaften. Er macht nur das Notwendigste an Repräsentation mit, das seine Stellung erfordert, beschränkt sich also im wesentlichen auf Empfänge bei sich. Ein alter Generalkonsul, hochverdient um das Deutschtum im Auslande, einer der reichsten Männer von Berlin, war einmal bei Hindenburg. Er hätte den Reichspräsidenten dann gern auch bei sich als Besucher gehabt. Ich möchte doch deswegen mal beim Staatssekretär Meißner auf den Busch klopfen. Aber die Antwort lautet wiederum: "Sogar die häufigen Einladungen zu Reichsministern lehnt Hindenburg grundsätzlich ab, da ist gar nichts zu machen."

Weit mehr noch als der Kaiser ist der Reichspräsident durch seine Umgebung abgesperrt von dem Außenvolke und arbeitet nur mit ihr. Dazwischen ergeht er sich unter den alten Bäumen des Gartens; und der ist gegen die Wilhelmstraße durch das Palais selbst, gegen den Tiergarten durch die hohe Mauer jedem Einblick entzogen. Sicherlich haben jüngst in Kiel an dem Tage des Stapellaufs mehr Leute Hindenburg gesehen, als es jemals in Berlin möglich ist. Dort hat übrigens der alte Feldmarschall - und alle Anwesenden mit ihm - etwas symbolisch Herzerfrischendes erlebt, was törichte Zeitungen als peinliches Vorkommnis registriert haben, nämlich das vorzeitige Entgleiten der "Deutschland".

Vorzeitig, aber doch im passendsten Augenblick. Brüning salbadert gerade etwas vom Weltfrieden, sagt ungefähr, daß unsere Feinde es nicht krumm nehmen sollten, wenn wir ein neues Schiff bauten, - da knackt etwas, da birst etwas, da ist "Deutschland" auf einmal frei und geht auf und davon. Brüning bricht die Rede kurz ab, Hindenburg ruft dem enteilenden Panzerschiff den Taufspruch nach und steht im übrigen verdutzt mit der einsamen Sektpulle da.

Eines Tages wird es ja wohl auch in der Politik so gehen. Die Nation ist im Aufbruch. Ihre bisherigen Zügler haben das Nachsehen.

Kurz vor Pfingsten haben einige tausend Berliner Hindenburg ausnahmsweise doch einmal gesehen. Die Abfahrtszeit und der Bahnhof waren nicht angegeben, aber man wußte, daß Hindenburg zu den Ferien "ins Hannoversche" verreise. Wer gewitzt war, der konnte dann am Sonnabend früh die ragende Gestalt mit einem Blick erhaschen. Da Hindenburg eines Hauptes länger ist denn alles Volk, wird er auch einer großen Menge sichtbar, wenn er sie durchschreitet; und wer eine gültige Fahrkarte hatte, und das waren sehr viele, den konnte man doch nicht vom Bahnsteig weisen. So hatten viele Pfingst-Wochenendler das Erlebnis, daß der weißumbuschte kantige Kopf des immer noch bolzengeraden Vierundachtzigjährigen vor ihnen auftauchte.

Man glaubt, in eine Völkerwanderung geraten zu sein, wenn man so vor Pfingsten einige Berliner Bahnhöfe durcheilt. Man wird geschwemmt, geflößt, gedrängt, gestoßen. Kein Koffer scheut Schienbeine. Schultern schieben sich vor, schieben sich ein, gewinnen Zentimeter. Da, ein Schild, ein Plakat, wie bei politischen Demonstrationen: "Scherlfahrt nach Helgoland!" Da ein Hinweis auf den Harz, auf die sächsische Schweiz, auf Swinemünde.

Kinder knuffen, Mütter stöhnen, Väter dampfen.

Das herrlichste Pfingstwetter seit Jahrzehnten lockt, es scheint, daß Berlin wie eine Pesthöhle ausstirbt, weil alles auswandert. Es sind hunderttausende. Die Banken haben wie schon seit Jahren den Sonnabend ganz freigegeben, die Börse ist geschlossen, die Bureaus machen schon zu Mittag Feierabend. Wie aus der Wurstmaschine quillt die Menge durch die Sperren am Bahnsteig in zähem Fluß. Zu einem Nachmittagszuge rast im letzten Augenblicke ein junges Mädel heran, das frühmorgens sich am Wannsee noch ein bißchen hat "sonnen" wollen; aber dann lockte die blaue Weite, und aus dem Sonnen wurde Baden, und Baden macht Appetit, und im Rausch von Luft und Licht dieses schönen Sommertages vergißt man es, auf die Uhr zu sehen. Nun sind alle Plätze im Zuge schon besetzt. Tut nichts. Ins Schlaraffenland muß man sich durchessen, in die Ferien kann man sich durchstehen.

Die Jugend strahlt. Auf dem Stettiner Bahnhof, der zur Ostsee weist, klappert sie mit Sandschippe und Eimerchen. Die Älteren machen zum Teil sorgenvolle Gesichter. Vater zählt immer wieder seine Zwanzigmarkscheine und rechnet. Mutter ruft: "Wenn bloß Müllers das frische Wasser für unseren Kanarienvogel nicht vergessen!"

Auf den Stationen, von denen aus es nach Mittel- und Süddeutschland geht, sind Fähnlein aufgepflanzt, Freischaren von Jungen und Mädchen gehen zum Pfingsttreffen auf große Fahrt. Im ganzen sind von der Reichseisenbahn in Berlin 337 988 Fahrkarten zu diesem Pfingstfest für Fernzüge ausgegeben worden.

Aber im vorigen Jahre, bei schlechterem Wetter, waren es 437 081.

Es sind also rund hunderttausend Berliner weniger ausgeflogen. Die Zeiten sind knapp, Essen und Kleidung sind notwendiger als Reiseerholung. Man sollte nun denken, davon habe der Nahverkehr profitiert. Aber die Stadt-, Ring- und Vorortbahnen haben 300 000, Omnibusse und Untergrundbahn 923 000 Fahrgäste weniger als im Jahre 1930. Über eine Million Berliner, die sich im Vorjahr einen Ausflug leisten konnten, sind diesmal zu Hause geblieben.

Trotzdem wimmelt es rund um Berlin, um die Viermillionenstadt, auf allen Gewässern von besetzten Fahrzeugen.

Wir haben etwa die hundertfache Zahl von Booten im Vergleich zu den Londonern und haben dabei viel mehr Platz, als die drüben auf ihrer schnell zum Wiesenflüßchen sich verengenden Themse. Freilich eckt man sich auch mal an. Die Segler, denen man ausweichen muß, die Paddler, die sich manchmal längelang legen und treiben lassen, die Dampfer, die heulen und qualmen, die Motorboote, die angeblich keine Rücksicht kennen: jeder hält jeden für ein blödes Verkehrshindernis. Wie begnadet ist Berlin dabei durch diese Wasserflächen, durch seine Flüsse, Seen, Kanäle! Überall kann man einsteigen. Mitten in der Stadt, am Bahnhof Friedrichstraße oder sonst irgendwo auf der Spree, oder auch auf dem Landwehrkanal, etwa an der Potsdamer Brücke oder am Halleschen Tor. Von hier aus hat man eine stundenweite Fahrt zunächst wie auf einer breiten Allee, denn links und rechts längs des ganzen die Großstadt in weitem Bogen durchquerenden Kanals stehen Bäume, lassen Kastanien ihre Blütenkerzen leuchten, strahlt Rotdorn, duften Linden.

Nach vier Stunden - für 1½ Mark - ist man in der Neuen Mühle an der oberen Dahme, packt sein Picknick aus und ist dann nach 20 Minuten Waldspaziergang in Königswusterhausen am Fuße der 13 riesigen Gittermasten des Deutschlandsenders. Von dort kann man in einer halben Stunde mit der Bahn wieder heim.

Noch belebter ist es im Westen auf der Havel und den anschließenden Seen. Wer das Gedränge in der Bahn, auf den Dampfern, in den Restaurants nach früheren Erfahrungen scheut, der macht eine "Elite"-Rundfahrt mit, auf den eleganten Autobussen, die Unter den Linden Ecke Friedrichstraße warten und ihre Gäste zum Stößensee auf das Motorschiff bringen, auf dem es keine Stehplätze gibt, aber an schöngedeckten Tischen unter freiem Himmel an Deck ein gutes Mitropa-Essen. Man gleitet dahin und schaut auf die Pracht der Havelberge, auf den mächtigen Lugaus genannt Kaiser-Wilhelm-Turm, auf die entzückenden Wasservillen besonders am Griebnitzsee. Nur die auf deutsch und auf englisch abgegebene Erklärung des Führers, daß hier die reichen Berliner wohnen, ärgert einen. Diese Führer müßten angehalten werden, zu sagen:

"Hier wohnen die früher reichen Berliner; heute steht jede zweite Villa zum Verkauf."

Viele Ausländer, besonders Engländer und Amerikaner, ziehen die Fahrt nach Potsdam mit der Elite-Gesellschaft jeder anderen Berliner Tour vor. Auch unserem spanischen Gast, Frau Maria, leuchten die Augen. "O Deutschland, Deutschland, man sieht blühen Bäumen, und so viel Wasser, o wunderschön!" Die Sennora ist überwältigt. Schade nur, daß "Er" fehlt, um es mitzugenießen, was er seiner Frau jetzt einige Monate gönnt. Wir sitzen nachher an Kaffeetischen auf dem Rasen im großen Park des Hauses am See, und auf einmal werden Frau Marias Augen glasklar und schimmern feucht, und sie haucht: "Mein Mann jetzt ist so ganz allein!" Ja, es ist wahr, auch Sommerglück muß man paarweise genießen. Schon auf dem Motorschiff haben unsere Augen wohlwollend und leise forschend auf einem Paar am Nebentisch geruht. Ein braungebrannter junger Mann mit lachenden Augen, der wie ein Offizier in Zivil aussieht und ritterlich zu einer jungen Dame ist, einer himmelblauen Hellblonden. "Das da bestimmt wird etwas!", wispert mir nachher Frau Maria zu. I wo, sage ich ihr, das sei nicht unbedingt nötig. Tausende von jungen Männern bei uns seien so zart, Tausende von jungen Mädchen so lieb, aber Verlobung und Heirat seien in Young-Deutschland keine immer so einfache Sache.

Paarweise wird vor allem gesegelt, gepaddelt, gerudert. Da gibt es altbeliebte Tagestouren. Etwa nach Paretz zum Landhaus weiland der Königin Luise. Für 30 Pfennige kann man dort auf dem Heuboden übernachten. Es gibt Heuböden für Mädels und Heuböden für junge Männer. Aber nicht jeder kommt zum Schlafen. Es ist so stickig heiß. Und die Frösche quarren so. Und - man denkt zu viel an den andern Heuboden.

Das schönste vom Schönen ist natürlich das Zelten. Am Jungfernsee steht kilometerweit ein Zelt neben dem anderen, bis zu großen Familienzelten mit richtigen Feldbetten, mit Grammophon, Fußball, Kinderspielzeug, Spirituskocher, Flaschenbier. "Wenn der olle Pappa vom dritten Zelt links nur nicht so viel trinken täte, nachher schnarcht er wieder wie eine Kreissäge!" Und Lehmanns schimpfen: "Det soll also freie Natur sind! Det is ja eene Pökeltonne!" Aber außer Lehmanns sind alle vergnügt. Am vergnügtesten die fünf Studentinnen, die vor ihrem Zelt Kartoffeln schälen, während die Vierergig auf dem Ufer liegt. Daneben schnappe ich die Unterhaltung von zwei Gymnasiasten auf, die mit den beiderseitigen Eltern auf einer Wasser-Muckepicke hergekommen sind.

"Ich hab' 'ne Zwei in Mathematik."

"Mensch, ich schreibe immer Fünfen!"

"Wetten, daß diesmal nich?"

"Tafel Schokolade!"

"Nee, lieber um 'ne Backpfeife!"

"Gut, also auf übermorgen!"

"Och, kann ich dir nich gleich eine trillern?"

Das ist die richtige Sommersonnenseligkeit von Berlin. Das ist aber auch die Zeit, wo die Theaterdirektoren sich überlegen, ob sie Konkurs ansagen sollen. Der Dezember dieser Saison, an sich schon einer der schlechtesten Theatermonate, war der ödeste seit zehn Jahren. Das erste Vierteljahr 1931 hat keinen Aufschwung des Besuches gebracht. Da hoffte man auf einen verregneten Mai, der die Leute in Schauspiel und Oper hätte führen können. Statt dessen strahlt die Sonne und läßt einen Spaziergang lohnender erscheinen als das Sitzen vor der Bühne. In der unteren Friedrichstraße zu Berlin hat sich eine Vermittlerstelle aufgetan, die, und noch dazu zu halben Eintrittspreisen, jedem Angehörigen eines Berufsvereins bargeldlos Theaterplätze überläßt. Man gibt die Bons an der Theaterkasse ab, die Kasse präsentiert sie am Monatsersten dem Verein, der bezahlt für das Mitglied und hebt die Beiträge von ihm ein. Aber selbst diese Werbung bleibt ohne großen Erfolg.

Piscator, der bisher mit jeder Theaterpachtung Unglück gehabt hat, wenigstens Unglück für sein "Kollektiv" darstellender Künstler, die stets nach dem Zusammenbrechen seines kommunistischen Zeittheaters hungern mußten, hat schon ganz die Nerven verloren. Er hat als Gast eines sehr potenten Zeitgenossen plötzlich ganz unmotiviert Krach gemacht und dem Gastgeber sogar unzweifelhaft gröblich antisemitische Bemerkungen zugebrüllt. Es geht ein Ahnen durch diese Kreise, daß ihre "kulturelle" Vorherrschaft sich dem Ende nähert, aber noch geben sie sie nicht aus der Hand, regieren weiter nach ihrem Gusto und sagen sich: "Nach uns die Sintflut!"

Auch an den staatlichen Instituten herrscht trotz eifrigen Billetverschenkens Heulen und Zähneklappern, besonders, da die nächste Notverordnung wohl eine weitere Einschränkung der sinnlos hohen Zuschüsse bringen wird, die für den großen Beamtenapparat erforderlich sind. Sich selbst einschränken und etwas für die deutsche Künstlerschaft tun will man nicht. An der Staatsoper ist soeben, während Tausende guter deutscher Musiker im Elend verkommen, ein erst 22jähriger junger Italiener als Solocellist angestellt worden, der in wenigen Monaten sicherlich auch den Professortitel erhält und dann ein gemachter Mann ist. Empfohlen hat ihn der rote Herr Schreker.
28. Mai 1931 (Donnerstag)



Glossen 34 - 36

Jahresinhalt

Glossen 40 - 42

© Karlheinz Everts