"Rumpelstilzchen"

Piept es ?
(Jahrgangsband 1929/30)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1930

Glossen 40 - 42
5. bis 15. Juni 1930


40

Wirtschaftliches Zusammensinken - Vom Europahaus bis zur Gourmenia - Wen Frankreich bezahlt hat - Der schwache Himmelfahrtstag - Vergnügliche Fahrt im Vorortzug - Berlin-Mitte am Sonntag - Krollgarten und Mokkakoje.

Die Elfländerfahrt hat der Automobilklub für dieses Jahr abgesagt. Die nötigen mindestens 50 Teilnehmer, die die Zeit von zweieinhalb Wochen und das Geld für die 10 000 Kilometer hätten, waren in ganz Deutschland nicht aufzutreiben. Das ist ein auch für das verstockteste Ausland sinnfälliges Zeichen unseres wirtschaftlichen Zusammensinkens.

Wir gebrauchen zu häufig das härtere Wort Katastrophe, das doch plötzlichen Zusammenbruch bedeutet. Das gibt es nur in Einzelfällen. Im Berliner Vergnügungsgewerbe zerkracht auch nicht alles auf einmal, aber hier und da geht jemand das Geld aus. Jetzt hat das Europahaus, das dem Publikum aus der Gegend des Anhalter Bahnhofs, wozu man besonders die "reichen" Hotelfremden aus dem Süden rechnete, weltstädtische Genüsse bieten wollte, Konkurs ansagen müssen. Die Fremden gingen nicht in das Europakasino, sondern in die Tanzdielen des Westens. Man behielt nur das eingesessene oder in der Geschäftswelt hier tätige Publikum der Königgrätzer Straße, die vor 1866 Anhaltische Kommunikation hieß und an einem Festungsgraben entlangführte, seit 1930 in Stresemannstraße umbenannt und kleinbürgerlich geblieben ist. Vom Kempinskibetrieb im Haus Vaterland bis zum Hofbräu im Europahaus ist das Ganze ein Entzücken für "die Provinz"; Kurfürstendammaufmachung rentiert hier nicht.

Womit nicht gesagt sein soll, daß sie etwa im Westen selbst immer zu einer Goldgrube wird; auch dort kreist der Geier. Die Hungaria, obwohl königlich ungarisch beliefert, ist ganz eingegangen, die Villa d'Este, als Luxuslokal entstanden, ist einfaches Tanzcafé geworden, ebenso die Ambassadeurs, in denen noch vor zwei Jahren Frau Käte Stresemann mit den jüngeren Herren des diplomatischen Dienstes sich erlustierte, zuletzt die Regina.

Man könnte Dutzende ähnlicher Fälle anführen. Es ist, trotz der vielen einzelnen Zahlungseinstellungen, bei denen manchmal, so bei der Gourmenia-Pleite, Millionen verloren gehen, keine allgemeine Katastrophe. Noch nicht.

Aber es ist, wie gesagt, ein wirtschaftliches Zusammensinken, eine natürliche Folge unserer überdrehten Erfüllungs- und Futterkrippenpolitik.

Dank unseren Tributen schwimmt Frankreich im Geld und hat überhaupt keine Arbeitslosigkeit. Es erntet die Erfolge seines Durchhaltens und des in Deutschland erkauften Landesverrats.

Frankreich war der Geldgeber unserer Revolution Die Memoiren des Vermittlers, des dazu abkommandierten Leutnants Desgranges, sind jetzt erschienen. Der Mann bezahlte die Flugblätter, die Zeitungen, die Geheimreisen, die Versammlungen, die Munitionsstreiks der "unabhängigen" Sozialdemokratie Deutschlands, deren Vertreter noch heute im deutschen Reichstage sitzen. Als Frankreich im Frühsommer 1918 zu erliegen schien, depeschierte er, gerade aus Deutschland zurückgekehrt, von Amsterdam nach Paris, man könne versichert sein, daß im Herbst die deutsche Revolution den französischen Sieg bringen werde; und am 10. November meldete er Poincaré, die Voraussage sei auf den Tag genau eingetroffen.

Es lohnt sich, jetzt daran zu erinnern, jetzt, wo wir in dem Sumpf - Sumpf in jeder Beziehung - versinken. Nicht nur im Leitartikel, auch im Feuilleton müssen wir einmal ernst werden, bis in das letzte Arbeiterstübchen die Erkenntnis der Wahrheit gedrungen ist. Erst dann ist die Befreiung möglich.

Einstweilen kann der Berliner Feuilletonist nur feststellen, wie wir allmählich sinken. Merkwürdig, daß die Korruption so wenig Eindruck macht. Oder ist das, da wir nun einmal so verlumpt sind, ganz natürlich ? Der Stadtrat Busch ist, nachdem er Millionen auf Kosten der Steuerzahler erschoben hat, rechtzeitig für seine Erben gestorben. Die Gebrüder Sklarek, um von Kutisker und Barmat, lauter Sozialdemokraten, nicht erst zu sprechen, hat man schon fast vergessen. Der nächste zur Verhandlung reife ist der Stadtrat Nydahl, der vor der amerikanischen Studien- und Vergnügungsreise des Berliner Magistrats unter Böß sich noch gerade hatte scheiden lassen, so daß er mit seiner feschen Sekretärin als neuer Gattin die Fahrt unternehmen konnte. Das alles fliegt an einem leicht vorüber. Wohl aber hat es ein leises Erschauern gegeben, als jetzt die Berliner Verkehrsinstitute feststellten, daß an diesem Himmelfahrtstage - der nicht verregnet, sondern herrlich war - 800 000 Berliner weniger als im vorigen Jahre ausgeflogen sind. Denn das ist "Volk". Wenn erst das Volk die paar Groschen umdrehen muß, die zum Luftschnappen im Freien gehören, dann steht es schlimm.

Man muß aber zugeben, daß vielfach die Angst vor der erstickenden Enge in der Untergrund-, Stadt- und Vorortbahn, in den Omnibussen und Straßenbahnwagen dazu beigetragen haben mag, den Entschluß zum Daheimbleiben zu erleichtern.

In Amerika hat bald jede Familie ihr eigenes Auto. Da gibt es in der Stadt zunächst eine nur schneckenartig sich vorschiebende Wagenburg, aber man sitzt doch bequem mit dem Himmel über sich, und bald wird es freier und freier, und schließlich verästelt sich der Verkehr, und jedermann findet sein idyllisches Fleckchen Natur, nach Bedarf sogar völlige Einsamkeit. Nicht ganz so, aber fast schon so hat es auch der Engländer in seinen Großstädten. Wir können uns nach dem durch die Revolution verlorenen Kriege viel weniger leisten, wir sind zum Gepferchtsein in Galeerenenge verdammt, und wenn auch das kilometerlange Strandbad Wannsee, in seiner ganzen Länge jetzt mit einem Wandel-Dachgarten über den Auskleidehallen und Restaurants versehen, in Europa nicht seines Gleichen hat, so ist doch das Hinkommen und Heimfahren an Feiertagen wirklich eine Tortur.

Wer alles oder fast alles zu Fuß abmachen kann, sich vor einem Tagesmarsch von 30 bis 40 Kilometern nicht scheut, der spart sich freilich die Erstickungsanfälle im Zuge, bleibt aber im großen Trott und kommt nicht in die Stille. Man schiebt sich auch draußen nur so vorwärts wie auf der Tauentzien während des Hauptbummels.

Und alles wird Jahrmarkt und Rummel. An der Südseite des Schlachtensees entlang kam man früher in die große Andacht. Diesmal am Himmelfahrtstage zählte ich da 42 fliegende Händler mit Schokolade, Obst, Luftballons und anderen Dingen, dazu neun Photographen, an jeder Wegbiegung einen, die gewerbsmäßig ihre Sache betreiben. Zum Teil mit großen Reklameplakaten.

"Ihr neues Kleid, Ihr Hund, Ihr Hut,
Das wird auf jedem Bilde gut!"

verspricht da ein Menschenkenner und verlockt die vorüberschiebenden jungen Mädchen und "reifen" Frauen, ihren Begleiter zu der Ausgabe zu nötigen.

Eigentlich war ich auf der Suche nach den traditionellen Herrenpartien dieses Tages. So unglaublich es klingt: ich habe keine gefunden. Es soll welche gegeben haben; verkrampft lustige. Ich selbst habe nur in der Ferne ein einziges Möbelauto mit Lampions, Bierfaß und voll von Angetrunkenen vorüberrollen sehen. Die Berliner Himmelfahrts-Herrenpartie scheint als Volksfest, mit ihrem Humor und ihrer Derbheit, genau so auszusterben wie der Stralauer Fischzug, der zweihundert Jahre lang "das" Fest des Jahres für den Berliner war.

Auf einer kurzen Strecke habe ich mich dann auch, zu Studienzwecken, der Vorortbahn anvertraut. Siebenundzwanzig Menschen in einem Abteil! Eine Luft zum Zerschneiden! Ich stehe natürlich. Eine hinter mir sitzende Dame, gegen die ich bei jeder Schwankung gepreßt werde, stößt mich, um sich Luft zu verschaffen, wiederholt ärgerlich in die Kniekehlen. Sie kann das. Nur wir Stehenden können uns nicht rühren. Draußen ist es abendkühl, in unserem Abteil aber rinnt beharrlich der Schweiß. Der Raum ist bis zum Äußersten ausgenutzt. Gelegentlich schielt man durch eine Ritze im Leibergebirge hinunter, wie vom Flugzeug aus in die Wolkenkratzerschluchten Newyorks, und, siehe da, tief unten bewegen sich - wahrhaftig, bewegen sich - zwei Knirpse, zwei Dreikäsehochs, und amusieren sich damit, uns lautlos und bedächtig auf die Stiefel zu spucken.

Ein hagerer alter Herr, mit dem ich enge Fühlung habe, ein Herr mit silberweißem Vollbart, entdeckt es und faucht die Buben an. Darauf schaut der eine von ihnen nach oben und piept:

"Biste stille, olle Silberpappel?"

Da lacht man natürlich; für keckes Reden hat der Berliner nun einmal eine Schwäche. Die Knirpse knuffen sich wieder bis zu den Beinen ihrer stolzen Mütter hindurch. Dort werden sie mit Bananen belohnt. Alsbald steht man auf etwas Weichem, Glitschigem. Aber die Bananen duften wenigstens angenehm, jedenfalls ganz anders als der dicke junge Mann neben mir, der zu viel Rettich gegessen zu haben scheint. Ich wünschte, ich könnte meinen Hut lüften und mir die Stirn mit dem Taschentuch abtupfen, aber es geht beim besten Willen nicht.

An dem nächsten Bahnhof wird die Tür aufgerissen, man ahnt eine Atemmöglichkeit. Doch niemand steigt aus. Eine Frau will sogar herein.

"Sie sehen ja, alles besetzt!" wird ihr entgegengerufen.

"Wat den, wat denn, bin schon drin!" antwortet sie.

Sie, die achtundzwanzigste, hat fabelhafte Unterarmmuskeln und Ellenbogen. Mein zweites Hemdknöpfchen bohrt sich mir schmerzhaft in die Brust. Einer Dame wird schlecht. Im Nebenabteil stimmt ein Chorus von Bässen ein Lied an: "Das ist der Tag des Herrn!" Man hat kein Empfinden mehr für Blasphemie.

An solchen Tagen ist es am schönsten - nun raten Sie mal, wo denn - jawohl, mitten in Berlin-Mitte. Die Verkehrsampeln sind abgeblendet, leuchten nicht mehr in ewig nervösem Wechsel rot und gelb und grün vor uns auf, die Straßen sind ausgestorben, man kann sie überall schräg überqueren, nur sehr vereinzelt sieht man ein Gefährt oder einen Schutzmann, manche Restaurants sind tagsüber, "weil ja doch alles ausgeflogen ist", geschlossen, behäbig mit dem schönsten Sonntagsgesicht sitzt hie und da ein Portier vor dem Hause, und man hört - wahrhaftig, man hört - Vögel singen. Aus irgend einem Hause natürlich. Aber man kann sie auch in Freiheit im Tiergarten hören. Ich weiß eine Stelle, die mir ein Reichstagsabgeordneter verraten hat, der häufiger hier als im Plenarsaal zu finden ist, eine Stelle, wo eine weiße Amsel im Baume sitzt. Eine weiße, wirklich, eine weiße. Und Spatzen und Stare lassen sich überall füttern.

vIm Krollgarten tafelt gerade einsam nur ein einziges Paar, der vorige Reichskanzler Müller-Franken mit einer Dame. Ein Heer von Spatzen lauert da auf Bröckchen. Ein ganz frecher entdeckt auf dem Anrichtetisch der Weinterrasse ein reich besetztes Tablett, sichert, hüpft heran, während der Kellner gerade zur Küche ist, und pickt schnell in einen Käsekuchen. Ich halte den Atem an. Nur nicht stören, nur nicht stören!

Draußen "in der Natur" im Menschengedränge kann man das nicht so sehen. Überhaupt: der Krollgarten, die Zelten, der Charlottenhof! Das sind die einzigen Gaststätten im Berliner Tiergarten, während der Pariser Bois de Boulogne ihrer sehr viele und sehr kokette hat. Aber sie sind bieder und gut. Der Charlottenhof - ursprünglich Privatbesitz des Generalstabsarztes Dr. v.Graefe, des Großvaters unseres ehemaligen deutschnationalen Abgeordneten - ist ein Massenlokal für den Mittelstand, der sichs hier unter den Bäumen wohl sein läßt, in den Zelten verkehrt der Kleinbürger, der "bessere" Berliner aber und der Fremde von Distinktion geht zu Kroll. Das Lokal existiert seit 1844, war immer als Sehenswürdigkeit angestaunt, zeitweise ein Variété, zeitweise eine Vergnügungsstätte mit leichtem haut goût, als es von ihr hieß: "Zur Table d'hôte drängte sich die Junggesellenschaft, zu den Aparts die Lebewelt."

Heute gibt es hier in den geschlossenen Räumen nur Festsäle, keine Chambres apartes ("Sehparees" sagt der Berliner), die vielmehr unter dem neuesten Namen als "Mokka-Kojen" mit zuziehbaren Vorhängen sich zu einer Einrichtung vieler Kaffeehäuser demokratisiert haben. Billig, billig, lautet die Parole. Da kann die junge Kontoristin nach Bureauschluß für 2,50 Mark ihren Gent abknutschen, bei Kaffee und Kuchen statt bei Austern und Sekt. Aber Kroll ist vornehm geworden. Noch kurz vor dem Kriege waren die "Alpenbälle" dort berüchtigt, waren sie in den unteren Räumen fast so etwas wie der Silvesterball in der Philharmonie, den man orgiastisch nennen konnte. Heute ist Kroll namentlich an ruhigen Wochentagen eine Stätte anständiger Geselligkeit mit nettem Tanz im Freien und täglicher Militärmusik. Studenten und Studentinnen bezahlen nur 10 Pfennige statt der üblichen 50 Pfennige - vor dem Kriege war es eine Mark - für den Eintritt, und so hat man gebildetes, gutes Publikum hergezogen. Hier haben wir einen der seltenen Fälle, wo es in Neudeutschland besser geworden ist, und daher registriert man ihn gern.

Anderswo entartet alles. Die Krone des ganzen Betriebes: die Gilde der Berliner Mannequins veranstaltete dieser Tage im Rennbahn-Restaurant Grunewald eine Prämierung der Vorführdame, die am meisten - Sex appeal habe, also, rund heraus auf Deutsch gesagt, die am verführerischsten zu tänzeln und zu schwänzeln verstehe.

Im Krollgarten aber hat man Modenschau der zivilen Damenwelt ohne solche Verkrampftheit. Man sieht auch wirklich gut tanzen. Es ist nicht mehr so wie anno 1846, wo ein Berliner Lokaldichter es mit den Worten beschrieb:

"Und sah dann in heitrer Ruh
Wunderbare Landpomeranzen
Mit 'enormer' Grazie tanzen,
Und die Herren, die charmanten,
Stampften wie die Elefanten . . ."

5. Juni 1930 (Donnerstag)


41

Weltmeister Fernando im Lunapark - Wie Regisseure prüfen - Die Tanzrevue im Künstlertheater - Carola Neher - Vom Ehrenmal für die Toten des Weltkrieges - Im Schloß der Frau v. Stein.

Wir übertreiben immer, wenn wir erzählen. Häufig habe ich so schon von Lachkrämpfen gehört, wenn die Wirkung eines Komikers geschildert wurde; aber so etwas wirklich gesehen habe ich erst dieser Tage. Es ging in einem sogenannten Stimmungslokal sehr lustig zu, und eine junge Frau bekam Lachkrämpfe. Es war schrecklich. Sie wand sich schließlich in Schmerzen und mußte weggebracht werden.

Manchmal kommt es einem vor, als bestünde unser ganzes heutiges Leben aus unnatürlichem Krampf. Haben Sie schon den Rekorddauertänzer Fernando gesehen ? Das ist so etwas, aus dem uns die verzerrte Fratze entgegenstarrt. Im vorigen Jahre hat er es auf 150 Stunden gebracht, diesmal will er 7 Tage und 6 Nächte durchtanzen, also noch einige Stunden mehr, obwohl niemand ihm seinen "Weltrekord" streitig macht. Draußen im Lunapark geht das Ereignis vor sich, in einem geschlossenen Raum, in dem trotz Ventilators die Sommerhitze erschlaffend - auf die Zuschauer wirkt. Auch Nante selbst - die Berliner nennen ihn so, denn sie sagen, er sei ja auch Berliner, frisiere sich nur auf Südländer um - hat darunter zu leiden. Alle drei Stunden hat er 15 Minuten Pause, wird massiert und frottiert, trinkt etwas und, vor allem, wechselt die Wäsche.

Außer der Kontrollkommission sind Tag und Nacht in großer Menge Damen jeden Kalibers da, die nach einem Tanz mit ihm anstehen; denn er hat keine Partnerin von Beruf, mit der er sein Honorar doch teilen müßte, sondern schwenkt unterschiedslos jede Begehrende.

In einer Art mütterlichen Instinkts, wenn man diesesWort so profanieren darf, melden sich zumeist leichte, zarte Tänzerinnen, denen man das Bestreben ansieht, ihn nicht anzustrengen. Er selber hat bequeme Hausschuhe an und könnte besser mit salopp als mit elegant bezeichnet werden, hat aber natürlich kein Lot überflüssigen Fetts am Leibe, sondern ist gut durchtrainiert, federnd, ganz Sehne. Unter den anwesenden Damen gibt es manchmal kleine Schlachten um den Vortritt. Es gibt Grausame, die man zurückdrängen möchte: das ist der Typ Nilpferd, die Damen von zwei Zentnern Lebendgewicht an aufwärts. Auch die nimmt Fernando. Er weigert sich nie. Nur das Publikum ist dann mehr empört als belustigt.

"Jehnse doch nach Karlsbad, olle Zicke!"

"Lassense sich mit'n Ziejelsteen massieren!"

"Hier ist keen Bauchtanz, Madameken!"

"Tretense Nante bloß nich dot, Sie Plattfuß-Elfe!"

"Kiek nur det Hektoliterfaß!"

"Jieb ihr Saures, Nante!"

Nachts taucht manchmal eine ganze Gesellschaft fröhlicher Zuschauer auf, die es nach Sensationen juckt, luxuriöse Privatautos stauen sich, die besten Tanzkapellen kommen nach 3 Uhr aus den Hotels und lösen sich ab. Es fehlt nicht an ermunternden Zurufen. In der dritten Nacht zeigte der blasse Fernando Spuren der Ermüdung. Da klatschten die Zuschauer zum Takt in die Hände, und der Dauertänzer war von neuem elektrisiert.

Dieser Krampf liegt sozusagen überall in der Luft. Auch die Bühnen sind davon ergriffen. Neulich meldet sich eine junge Anfängerin, bildhübsch, intelligent, der ich eine glänzende Theaterlaufbahn vorhersage und die ich daher empfohlen habe, bei einem Regisseur. Sie meint, er werde nun sagen: "Bitte deklamieren Sie mir etwas vor!" Sie hat Gretchens Monolog aus Goethes Faust in ihrem Programm. Da lächelt der Regisseur. Er sieht an ihr hinunter und wieder hinauf, geht um sie herum, legt eine Walzerplatte auf das Grammophon und sagt: "Nun tanzen Sie mir bitte etwas vor!" Wie sie ihn fassungslos ansieht, meint er freundlich, sie habe doch sicher ihren Lessing intus und wisse, was der über die körperliche Beredsamkeit des Darstellers schreibe; und heute spreche man eben mehr denn je mit den Beinen.

Ich glaube, die junge Dame wird engagiert; aber klassische Rollen kriegt sie - in Berlin - nicht zu spielen.

Auch das Neue Deutsche Künstlertheater in der Nürnberger Straße hat jetzt, vielleicht durch das Phaenomen Fernando angeregt, eine Revue herausgebracht, mit der es für den Sommer ausgesorgt zu haben hofft. Die Revue heißt: "Ich tanze um die Welt mit dir." Marcellus Schiffer hat den launig berlinischen und dabei, zu seiner Ehre sei es gesagt, sauberen Text beigesteuert, Friedrich Holländer die leichte Musik, und Mac Arley, das ist die Hauptsache, die Tänze. Margo Lion, die groteske Bohnenstange, die schon als Ministerin in Shaws Kaiser von Amerika ein Kabinettsstückchen lieferte, ist zum Brüllen. Ihr Tanzcouplet mit der Verspottung des Schreis nach Sex appeal wird stets zur Wiederholung hervorgejubelt. Aber die eigentliche Zugnummer ist doch Carola Neher, Klabunds junge Witwe, eine Darstellerin von hohen Graden und einer entzückend tänzerischen Unverfrorenheit.

Vor ein paar Jahren war ich erschüttert, als aus der Feder des frühvollendeten Dichters plötzlich in einem Berliner Spät-Abendblatt eine flammende Liebeserklärung an eine junge Schauspielerin in Breslau erschien, so ungeschminkt, so voll Begehrens, wild und doch verträumt, ganz holde Poesie. Er kündigte offen sein Kommen an und warb in Gluten. Ich wußte, wem das galt: Carola Neher. Der trotz alles zigeunerischen Überschäumens im Grunde biedere märkische Apothekersohn hat sie denn auch richtig bürgerlich heimgeführt. Nur eine kurze Zeit der Gemeinsamkeit war dem Paare vergönnt. Immer häufiger mußte Klabund nach Davos, und jetzt, wo man unter der lachenden Schminke hindurch in Carola Nehers jungem Gesicht einige haarfeine, aber harte Striche sieht, wie mit Faberbleistift Nr.3 geritzt, überkommt einen die große Angst: auch sie ? Nein, nur das nicht! Nur das nicht!

Vorläufig entzückt und verzückt sie ihr Publikum, auch wenn sie sich nur leise in den Hüften wiegt und den Mund unter dem spitzbübischen Näschen zu einem spitzbübischen Worte öffnet. Sie hat in der Revue eine kesse Berliner Göre zu spielen, so ein richtiges kleines Balg, die Verzweiflung der Mutter, das aber seinen Weg in die große Welt als Partnerin eines mondänen Tänzers macht, der auch sozusagen aus der Ackerstraße stammt. Nur als Partnerin. Von Sex appeal - man kommt um das abgetriebene Wort heute nicht mehr herum - keine Spur. Wie die beiden den lockendsten Tanz tanzen, lächelnd, mit gelösten Gliedern, und sich dabei lauter Grobheiten zuzischen, das ist trefflich beobachtet. Nur Tante Rosa - natürlich ist es Rosa Valetti, die gräßlichste zwerchfellerschütternde Tante, die der Berliner kennt - ahnt nicht, daß man heute nicht in den verliebt zu sein braucht, mit dem man eingetanzt ist.

Carola Nehers Partner, Ernst Busch, ist auch eine kesse Rübe, fabelhaft echt, und ebenso sind die übrigen Berliner Typen ausgezeichnet gesehen. Eine Konzession an den Zeitgeschmack, für wirklich Geschmackvolle störend, ist nur das Auftreten eines zwerghaften Negerkindes im 14. Bild, der kleinen Mulattin Esther, die als Steptänzerin allerdings Hervorragendes bietet. Man atmet beglückt auf, wenn wieder Klabunds Allerliebste an die Reihe kommt. Man weiß nicht, was mehr bewundert wird, ihr Wesen oder ihre Jungmädchengestalt; und selbst die Umkleideszene, die natürlich nicht fehlen darf, erweckt nur ästhetisches Frohgefühl, nicht faunisches Schmatzen.

Wenn schon Revue: nun gut, dann eine solche. Sie ist leicht und heiter. "Ich tanze um die Welt mit dir" ist jedenfalls nicht so verblödet wie seiner Zeit die Erstlinge von James Klein, ist auch keine Nuditätenschau, sondern in ihren Grundzügen gute Berliner Posse, auf Tanz umgearbeitet. Sie könnte schon die Sommerreisenden locken. Wenn nur die Preise nicht so hoch wären: erstes Parkett 20 Mark . . .

Am Pfingstsonntag Abend habe ich mir den letzten Akt von Richard Strauß' "Rosenkavalier" angehört und angesehen. Eine ganz vortreffliche Aufführung. Und der teuerste Platz, Fremdenloge, kostete nur 8 Mark.

Das war allerdings - in Weimar.

Natürlich bin ich beruflich hingereist. Ich habe Briefe und Besuche aus nicht weniger als elf deutschen Städten im Laufe dieses Winters gehabt, Städten, die alle den Anspruch erheben, daß just in ihrer Bannmeile das Ehrenmal für die Toten des Weltkrieges errichtet wird. Mein Gefühl sprach für Lorch oder Ehrenbreitstein, jedenfalls eine Stelle irgendwo am Rhein, mein historisches Gewissen ließ sich sogar für Ansbach gewinnen, für jeden Ort gab es irgendwelche Gründe, nur das stand für mich fest, daß auch Berlin, die Reichshauptstadt, nicht leer ausgehen dürfe; ich habe in London, in Rom und anderswo es gesehen, was es bedeutet, wenn da ein "Grabmal des unbekannten Soldaten" steht, an dem an Gedenktagen oder bei Besuchen hochgestellter Fremder Kränze niedergelegt werden und sonst, im Hasten des gewöhnlichen Alltags, jeder Vorübergehende einen Augenblick der Besinnung hat und den Hut vor den toten Helden zieht. Also die Neue Wache in Berlin unter den Linden muß ein solches Grabmal bekommen; selbst München hat ja schon eines, und das trägt dort viel zur nationalen Erhebung bei.

Nun war ich baß erstaunt, daß sämtliche Wehrverbände, auch Stahlhelm und Reichsbanner vereint, für einen Ehrenhain in Berka bei Weimar in Thüringen stimmten. Auch, daß Hindenburg dafür eintritt. Berka, Berka ? Ich denke an Kelbra, an das herrliche Kyffhäuserdenkmal dort nebenbei, das doch "abseits" liegt, nicht an einer Hauptverkehrslinie.

Außerdem stört mich der Name Weimar.

Er ist uns durch die Tage der Nationalversammlung gründlich verleidet. Ich sehe noch deutlich vor mir, wie dort auf dem Großherzoglichen Schloß, in dem Ebert haust, wochenlang nicht die deutsche oder die Landesflagge weht, sondern ein roter Lappen, der niemals Nationalflagge war, sondern immer Seeräuberflagge, Symbol der Gesetzlosigkeit.

Ich sitze jetzt wieder im Fürstenkeller, in dessen Fremdenbuch Erzberger am Tage von Versailles einschrieb: "Erst mach' dein Sach', dann trink' und lach'!" Ich sehe auch noch deutlich den hochmögenden Herrn Minister Bauer vor mir, wie er an einem festlichen Tage, um seine nunmehrige Vornehmheit zu zeigen, mit apfelsinengelben Stiefeln zum schwarzen Gehrock erschien.

Ich bin also durchaus als vergrämter Skeptiker nach Weimar hinausgefahren und die Hänge im Hochwald von Berka emporgestiegen, aber als Überzeugter zurückgekehrt: nun weiß ich wirklich in ganz Deutschland keinen besseren Platz, wo alljährlich Hunderttausende sich zu einer Gedenkfeier für unsere Toten versammeln und vor einem ganz schlichten Sarkophag im Waldesdom barhaupt defilieren und einmal im Jahre allen Parteikram lassen können.

Es steckt eine so ungeheure natürliche Feierlichkeit in diesem Gelände, daß sie allen Haß schweigen, nur dankbare Erinnerung aufleben läßt.

Unter denen, die hierher pilgern, wird nicht Schwarzrotgelb wider Schwarzweißrot, Schwarzweißrot wider Schwarzrotgelb sich empören, wohl aber eine Ahnung von deutschem Heldentum aufdämmern. An die Jahre, an die Schlachten, an die Waffen des Weltkrieges - bis zu der Schwesternschaft, bis zu den Schippern, bis zu den Meldehunden - sollen nur einfachste Findlingsblöcke mit einfachster Inschrift am Anstieg zur Höhe - "und in Poseidons Fichtenhain tritt er mit frommem Schauder ein" - unter diesen Waldriesen bis zu 40 Metern Höhe gemahnen.

Neben dieser beruflichen Erkundung noch eine hohe künstlerische Freude.

Weiter ins Land hinein, nach Rudolstadt zu, liegt der Kochberg, ein Wasserschloß aus dem 12. Jahrhundert, zu Goethes Zeiten das Heim der Frau v.Stein. Aus dem Schloß heraus führt eine Brücke über den Graben in den Park, darin stand und verfiel ein hübsches 1805 erbautes Liebhabertheater, in dem damals Karl Frhr. v.Stein mit seinen Dorfbauern manches Stücklein aufgeführt hat.

Die Steins sind wie alle heutigen Gutsbesitzer nicht mehr reich. Unter der Aegide des Weimarer Generalintendanten Dr. Ulbrich wurden daher die paar tausend Mark zur Restaurierung des Theaters sozusagen zusammengebettelt. Nun ist es neu erstanden, aber mit Schonung des Alten. Es sind noch die Troddeln aus Goethes Zeit am Bühnenvorhang, und das Gras, das zwischen den Steinstufen draußen vor den korinthischen Säulen wächst, hat man auch nicht ausgerupft. Zur Wiedereinweihung des Theaterchens, das nur 65 Sitzplätze enthält, ließ Generalintendant Dr. Ulbrich ein von Charlotte v.Stein verfaßtes Lustspiel - bitte: Welturaufführung - von seiner Truppe geben. Eine geistvolle, dichterisch beschwingte Begrüßung durch den Schloßherrn, Freiherrn v.Stein, und ein Prolog von dem Dichter Lilienfein, einem der Mitspender, waren vorangegangen.

Nachher beim Tee im Freien hatte ich eine Weile das Glück, neben Frau Dr. Elisabeth Förster-Nietzsche, der überlebenden 84jährigen Schwester des Philosophen, zu sitzen, dem wir alle unbewußt ein gut Teil unserer Stilbildung verdanken. Auch sonst gab es unter den 65 Eingeladenen einige Menschen, die man nur mit scheuer Andacht nennt. Und dann kam das große Erlebnis. Frau v.Stein führte mich ins Schloß, auf hallende Fliesen, zwischen alte Bilder, Wappen, Sänften, an den Schreibtisch Charlottes, auf dessen Holz Goethe bei jedem Besuch seinen Namen und das Datum gekritzelt hat und wo Briefe von ihm und Karl August liegen und das Tagebuch Charlottes selbst, aus dem freilich etwa zwanzig Seiten - herausgeschnitten sind. Von einem pietätlosen kleinen Kinde, wie die Legende behauptet ? Ach, vielleicht geschah es gerade aus Pietät!

Zum Schluß habe ich noch etwas ergreifend Schönes gesehen, für mich das Allerschönste.

Ein runder Schrank wird aufgeschlossen. Darin das Heiligtum: eine Wachsplastik, von Schadow modelliert, sofort nach der Totenmaske, das Haupt der Königin Luise. Nicht koloriert, sondern wachsgelb.

Das Haupt auf dem Sterbekissen umrahmt von dem originalen Spitzenhäubchen, wie die Königin es trug. An den Seiten quellen blonde Locken natürlichen Haares hervor. Erst vor wenigen Minuten muß Luise gestorben sein. Oder lebt sie noch ? Man vermeint, sie atme.

Und man möchte niederstürzen vor ihrer Schönheit und ihrem Unglück.
12. Juni 1930 (Donnerstag)


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42

Der Zoo auf dem Balkon - Züchtet Schmetterlinge! - Niddy Impekoven, la piccola signorina farfalla - "Die Männer sind scheußlich" - Wieviel Kleider braucht man ? - Moderenntag im Grunewald - Veränderte Gesellschaft - Drum und dran der Weltkraftkonferenz.

Ein Marienkäferchen!

Wir bestaunen dieses Großstadtwunder, das sich in die Bohnenranken auf dem Balkon verirrt hat, wir nehmen es behutsam auf die Hand, wir beschwören es mit dem alten Verschen:

"Flieg', Käfer, flieg', Vater ist im Krieg, Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, flieg', Käfer, flieg'!"

Der Balkon ist für uns Naturverlassene botanischer und zoologischer Garten zugleich. Da habe ich jetzt - das kostete an jedem Morgen eine Viertelstunde früheres Aufstehen - in der letzten Woche an die zweitausend Eintagsfliegen abgestreift und getötet, weil ich sie im Verdacht habe, daß sie mir sonst die grüne Pracht auffressen. "Da mußt du spritzen!", sagt mir überlegen ein anderer Innenberliner. Ja, mit was denn ? Keine Ahnung! Wenn die Feuerbohnen erst blühen, dann kommen Bienen, Wespen, Hummeln, Woher, weiß ich nicht. Spatzen sieht man im Winter, jetzt im Frühsommer abends junge Schwalben. Man ist glücklich über die paar Lebewesen. Eben taumelt auch der erste Kohlweißling daher. Später gibt es noch andere Schmetterlinge. Alles das verdanken wir nur unserem Balkon, dem einzigen Mittler zwischen uns und der Natur draußen, die sonst von der Asphalt- und Steinwüste nichts wissen will.

Da bringt mich ein Büchlein auf einen verwegenen Gedanken: wir müßten Schmetterlinge züchten! "Farfalla, ein Buch der Falter, von K.Longus", im Verlag Brehm in Berlin erschienen. Unter dem Decknamen ("Der Lange") birgt sich, schreibt der Verlag, ein bekannter Arzt. Das Buch ist Niddy Impekoven gewidmet. Nun ist für Eingeweihte das Raten nicht schwer. Mit wem hat Niddy die Reise nach dem östlichen Mittelmeer bis Ägypten gemacht ? O rühret, rühret nicht daran; Wunden wollen von taktvollen Menschen zart behandelt sein.

Das denkbar zarteste ist diese Widmung eines Mannes, der einst alles für Niddy Impekoven war.

Ein Buch mit künstlerisch begeistertem Inhalt und ganz wundervollen Photographien. Nicht nur von Schmetterlingen aller Art, sondern auch von Niddy Impekoven selbst, mit einem mächtigen Falter von 23 Zentimetern Flügelspanung auf dem Schoß oder ein anderes Mal mit einer Actias Luna auf der Schulter oder Attacus Orizaba auf der Hand oder einem Nachtpfauenauge. Man kann sich nichts reizenderes vorstellen, als diese tänzerische kleine Elfe mitten unter ihren selbstgezüchteten Schmetterlingen. Was tut man mit den Raupen und Puppen, wenn man weit weg ins Morgenland fährt ? Sie zu Hause unverständigen Dienstboten überlassen ? Nie! Nie! Also Niddy und der Lange packen alles in eine Kiste mit runden Luftlöchern und nehmen es mit auf die Bahnfahrt. An der italienischen Grenze wittert ein Schaffner und sagt:

"Die Hundekiste muß ins Hundecoupé!"

Frau Niddy Impekoven schüttelt den Kopf. Nein, da sei nichts von der Gattung Canis, sondern - zum Glück fällt ihr das italienische Wort für Schmetterling ein - farfalla, farfalla, farfalla! Der Schaffner sieht nach, überzeugt sich, strahlt die Elfe an und sagt zu ihr:

"Kleines Fräulein Schmetterling!"

Schon diese entzückende Geschichte im Vorwort ist es wert, daß man "Farfalla" von K.Longus dann ganz durchliest. Man kriegt Lust, es ihm nachzutun. Und ich fürchte fast, man verliert sich.

Ich bin schon froh, daß ich aus dem Buche wenigstens gelernt habe, wie man Schmetterlinge anfaßt, ohne ihren Schmelz zu gefährden. Da sind wir Männer sonst genau so plump wie gegenüber den menschlichen Faltern, die uns in Schönheit umgaukeln. Vielleicht gibt es noch irgendwo in der Kleinstadt, vielleicht sogar in Berlin junge Männer, die zart und ritterlich gegenüber Damen sind. Die Mehrzahl aber gibt sich nicht mehr die geringste Mühe, sondern packt brutal zu. Neulich besuchten wir mit einem lieben Mädchen aus guter Familie ein sogenanntes vornehmes Lokal, wo zum Fünfuhrtee im Freien getanzt wurde. Auch unsere junge Dame wurde aufgefordert, kam aber nach dem Tanz stumm und verstört zurück, brach nachher zu Hause in Tränen aus und erklärte:

"Ich will nie mehr tanzen, die Männer sind zu scheußlich!"

Da ist man denn doch erschüttert und schämt sich für sein Geschlecht.

Es wird uns aber auch zu leicht gemacht. Wir sind rar, die Mädchen sind zahlreich, in Berlin mit dem Riesenzuzug junger weiblicher Studierender oder Arbeitsuchender ist das Mißverhältnis besonders groß, und ein Heer von Konfektionshäusern und Modeateliers stattet die Damen so aus, daß eine immer verlockender und farbenprächtiger als die andere aussieht. Einst - wir können in diesem Falle ruhig sagen: in der geschmacklosen alten Zeit - war die Mode weiter nichts als ein Herausarbeiten der sekundären Geschlechtsmerkmale. Die Brust wurde emporgepreßt, die Taille verengert, der Südpol gepolstert. Heute ist alles freier und natürlicher und gibt der Anmut in der Bewegung freie Bahn.

Allerdings wird auch mehr verlangt. Das junge Mädchen aus gebildetem Mittelstande besaß früher die Alltagsbluse, die Sonntagsbluse, das Jackenkostüm und "das" Ballkleid, heute dagegen braucht es für den Wochentag mehrere Fähnchen zum Wechseln, dazu Nachmittagskleider, mehrere Mäntel und neben dem "großen" das "kleine" Abendkleid, womöglich auch in verschiedenen Exemplaren.

Für uns Zuschauer, wenn wir nicht Zahler sind, recht erfreulich.

Zumeist sind die jungen Damen ja berufstätig, sparen nicht mehr für die Aussteuer, sondern geben alles, was sie aufbringen können, für die Mode aus. Diesmal ist der Verbrauch besonders groß, denn alle kniekehlenfreien Kleider vom Vorjahr sind reif für den Müllhaufen. Was die neue Mode will, das sollte uns am vorigen Sonntag auf der Rennbahn Grunewald gezeigt werden. Vor dem Kriege war jeder Renntag dort draußen ein glänzendes gesellschaftliches Bild, weil doch noch Gesellschaft da war; jetzt ist es anders, und da müssen eben - Mannequins aufgeboten werden, gleich ein ganzes Schock, die uns Gesellschaft und Luxus vorzutäuschen haben. Das zieht; nicht um des Podbielski-Rennens willen, sondern wegen der Modenschau, die alljährlich zweimal fortan wiederholt werden soll, gibt es im Grunewald diesmal ein noch kaum je dagewesenes Gedränge.

In dem Text des Programmheftes wird auch die Herrenwelt angefleht, doch einmal etwas repräsentabel zu sein. Ein bekannter Modeschriftsteller erinnert an die vornehmen Erscheinungen in Longchamps oder Ascot und verlangt Glanzzylinder, Knopflochblume, hellen Batistfleck in der Brusttasche, weiße Gamaschen.

Aber nicht einmal er selber ist so gekommen.

Zu allgemeinem Erstaunen hatte nicht einmal der englische Lord Derby, zufälliger Gast auf der Bahn, derartig oder ähnlich Toilette gemacht, sondern sich mit Straßenanzug - Sacco und weichem Hut - begnügt, und das ist bei 32 Grad im Schatten doch kein Wunder. Wir wollen doch nicht Modesklaven sein, wie die Engländer bis vor wenigen Jahren - es waren. Nur gut gekleidet, wenn auch ganz gleich wie; und dazu gehört vor allem das Gebügeltsein und das Unterlassen wirklicher Nonchalance. Das greulichste ist die Parole:

"Hosenriemen um den Bauch, fertig!"

Auch solche Exemplare wimmelten auf dem grünen Rasen. Seit Jahren bin ich auf keinem Rennplatz mehr gewesen, um so mehr mußte mir diesmal das völlig veränderte gesellschaftliche Bild auffallen. Natürlich waren, weil dazu verpflichtet, noch einige von den Alten da, tauchten Namen wie Arnim, Roedern, Borcke, Zobeltitz auf, aber es ist schon bezeichnend, daß unter den 21 000 Besuchern sich nur ganze drei Offiziere in Uniform befanden; und im übrigen ist es so, daß bald nur noch die Rennbahnangestellten und die Kellner Deutsche sind, das gesamte Publikum aber, wenigstens auf dem ersten Platz, halb Kurfürstendamm und halb Grenadierstraße oder Hausvogteiplatz.

Diesmal mag wegen der Teilnahme der Konfektion der Eindruck freilich besonders stark gewesen sein. Auch unter den Rennstallbesitzern nimmt dieser Typ immer mehr zu. Einer dieser Herren kann seit Wochen krankheitshalber der Vorladung zum Offenbarungseide nicht Folge leisten, sitzt aber hier natürlich munter auf der Tribüne, um zu sehen, wie seine einem Familienangehörigen übereigneten Pferde laufen.

Kurz und gut, das Bild hat sich arg verändert. Auch auf dem Geläuf selber. Die Herrenreiten gehen stark zurück, die Jockeyreiten füllen das ganze Programm. Als einzige Entschädigung für alles Verlorene die Mannequins, die immer noch prärafaelitischen Vorführdamen, die uns aber nicht ausgesprochene Rennbahntoiletten, sondern fast durchweg - Abendkleider zeigen, noch dazu mit zum Teil schweren Pelzen. In einer Pause müssen sie, während sie bislang paarweise im Publikum einherstolzierten, auf das Geläuf, werden bestaunt, photographiert, gefilmt, drehen sich, wenden sich, lassen die bis zum Knöchel reichenden Kleider wehen und halten die immensen Hüte fest. Das Publikum macht große Augen, gäbe aber den ersten Preis am liebsten einer jungen Dame, die nicht zu den Mannequins gehört, sondern mit den Herren vom Vorstand des Unionklubs hingeht: gänzlich schlichtes, weißes, anliegendes Kleid, halblang, weiße Kappe, schwarze Stoffrose an der Brust, schwarze lange Handschuhe. Altes Preußen; einfach und vornehm und praktisch. Am Gitter steht ein Fettfleck in knallig orange langem Chiffonkleid und giftet sich.

Natürlich ist auch ein bißchen Theater und Film unter den Anwesenden. Diese Damen haben Geschmack und kleiden sich gut. Wenn es Herren sind, wirken sie zumeist nicht elegant, sondern geckenhaft. Umschwärmt werden die einen wie die anderen, aber diese Wolke besteht fast nur aus Konfektion.

Ganz darnach sind auch die schleimigen Aperçus in dem Programmheft, obwohl die Verfasser, die Gugenheim, Rosen, Marcus, Arno, Stern, Fürstenberg, Morgan, Mendelssohn aus einer anderen Branche stammen.

"Wenn die Frau mit dem Mann und dem Hausfreund zum Rennen geht, ist es nicht gesagt, daß der Mann nur auf Platz wettet."

"Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde, jedoch nicht minder beglücken berückende Frauenrücken."

"Wenn ich zum Rennen gehe, freue ich mich, recht viele Bekannte beisammen zu sehen; wenn ich zu meiner Geliebten gehe, habe ich es weniger gern."

Lauter solches und ähnliches Gehirnschmalz liegt da zu Tage. Der beste Beitrag ist noch von Trude Hesterberg, die in einem Anfall von Erkenntnis schreibt, die Mode überbrücke die Stände, Aristo- und Demi-kratie fänden sich in dieser - Revue de deux mondes. Es ist wirklich eine Revue beider Welten. Nur zieht die erste sich immer mehr davon zurück.

Der Lord Derby wird kaum das Gefühl haben, daß der Reitersport bei uns noch Herzenssache der Nation ist, obwohl unsere Reichswehr auf internationalen Preisreiten zeigt, daß sie von großer Klasse ist. Die Familie dieses Lords hat der berühmten Dreijährigenprüfung ebenso ihren Namen gegeben wie die Lords Sandwich dem belegten Brötchen. Bei uns ist es noch nicht so weit, daß wir etwa den größten Deutschlandflug "das Richthofen" nennen oder ein Sülzkotelett mit Bratkartoffeln "das Humboldt". Übrigens ist Lord Derby nicht zum Rennen, sondern zur Weltkraftkonferenz nach Berlin gekommen, deren früherer Vorsitzender er war.

Im äußeren Bilde der Großstadt kommt diese Konferenz von Wissenschaftlern, Technikern, Großindustriellen, Gewerken nur dadurch zum Ausdruck, daß das Haus der Ingenieure gegenüber dem Reichstag mit den Flaggen aller beteiligten Nationen umsäumt ist, darunter, dank den Dominions, allein mit sieben Flaggen des Union Jack, und durch die vielen Hunderte von fremden Mittagsgästen im Krollgarten, da in Krolls Festsälen getagt wird.

Unsereins als Laie behält von den Verhandlungen nur hie und da eine Einzelheit, so die pessimistische Auffassung über die schnelle Erschöpfung wichtiger Kraftquellen, der Kohle und des Öls, oder die Mitteilung über eine neue deutsche Erfindung, die den Preis des Sauerstoffs auf die Hälfte des bisherigen erniedrigt, oder den Plan, die Wasserkräfte Norwegens durch eine großartige Übertragung zur Elektrifizierung aller mitteleuropäischen Eisenbahnen auszunutzen.

Von Berlin (Kunststück, bei dem Wetter!) sind die Weltkraftkonferenzler begeistert. Besonders auch von seiner Geschicklichkeit, Feste zu arrangieren. Im Sportpalast wurden am Mittwoch Abend 3700 Teilnehmer zu einem untadeligen Diner vereinigt, zu dem an Getränken außer Mineralwasser 6000 Flaschen Wein aufgefahren waren. Es bedienten 423 Kellner, denen 462 Tellerwäscherinnen das Geschirr reichten. Wieviel Zentner Rheinlachs und wieviel Zentner Poularden gegessen wurden, will ich lieber nicht mitteilen, sonst mache ich mich am Ende verdächtig, gegen die Republik zu hetzen, die so viel Geld für die Gäste übrig hat. Gegen würdige Aufnahme Fremder - man kann es aber billiger und doch nett machen - habe ich dabei nichts einzuwenden.

Dazwischen gab es prächtige sportliche, tänzerische, musikalische Aufführungen.

Alles, was "Betrieb" ist, klappt in Berlin vortrefflich. Aber mit ihren Kunstwochen, mit ihrer Festspielzeit, mit ihrer Season ist die Reichshauptstadt auch diesmal wieder abgefallen. Das geht in London, das geht allenfalls in München, aber nicht in Berlin; im Grunde ist diese Stadt trotz aller Zivilisation doch kulturlos geblieben.
15. Juni 1930 (Sonntag)



Glossen 37 - 39

Jahresinhalt

Glossen 43 - 45

© Karlheinz Everts