"Rumpelstilzchen"

Piept es ?
(Jahrgangsband 1929/30)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1930

Glossen 37 - 39
15. bis 28. Mai 1930


37

Straßenbettel und Margueriten-Wohltätigkeit - Deutschlands Muttertag - Unser Kerlchen wird besprochen - Gute Fetische - Zum Zeileis-Prozeß - Evchen Luthers Friseur - Die neuen Tanzrondells im Zoo - Große Panne.

Die Schüttler, die in den ersten fünf Jahren nach dem Kriege an den Straßenecken auf die Mildtätigkeit spurteten, sind verschwunden. Bedenklich nimmt aber wieder in Berlin die Zahl der irgendwie, wirklich oder angeblich, Verkrüppelten zu, die mit ausgestreckter Hand an den Hauswänden kauern, ein Bild, wie Reisende es nur aus dem vorfaschistischen Italien oder aus dem verlumpten Orient kannten.

Überall der Appell an das gute Herz der verschämten Geber. Besonders lästig waren etliche Jahre hindurch die sogenannten Margueritentage für alle erdenklichen wohltätigen Zwecke. Wer nicht in die Büchse der einem auflauernden jungen Helfer und Helferinnen seinen Obolus warf und sich dafür zum Anstecken die weiße Papier- oder Stoffblume erstand, sobald er morgens auf die Straße trat, der wurde immer wieder aufgegriffen und verfolgt, bis er doch zur Strecke gebracht war. In der Untergrundbahn, im Postscheckamt, in den Museen, in den Hotels, in der Straßenbahn, auf dem Omnibusverdeck, in den Kaffeehäusern; man war verblüfft und unangenehm berührt, wenn sogar abends zu sehr vorgeschrittener Stunde halberwachsene Schulmädchen in den Restaurants auftauchten, um mit mehr als freundlichem Lächeln ihre Margueriten anzubieten. Nicht etwa aus Liebe zu den Armen. Sondern aus Ehrgeiz und Eifersucht. "Soll etwa Nachbars Ida, diese häßliche Zicke, mehr Blumen loswerden als unsere Inge ?" Auf den so gesammelten Beiträgen mochte nicht allzu viel Segen liegen, denn auch gegeben wurde nicht aus Liebe, sondern unter dem Zwange einer Art Erpressung. In Dänemark, woher der Brauch wohl stammt, ist es etwas anders. Da feiert ein reiches Volk so seinen Frühling, und es ist ein wirkliches Volksfest erschlossener Herzen.

Etwas fürs Herz müssen natürlich auch wir haben. Da erfand man den Muttertag.

Am letzten Sonntag ist er auch über Berlin verrauscht, ohne daß davon viel Wesen gemacht worden wäre, denn er gehört zum Glück nicht auf die Straße. "Einmal im Jahre wenigstens" sollen die Kinder daran denken, was sie der sorgenden Mutter verdanken, einmal im Jahre "nett zu ihr sein", und da rechnen die Blumenfrauen und die Konfitürenhändler auf verstärkten Absatz von Sträußchen und von kleinen Tafeln Schokolade.

Sollen wir darüber Rührung empfinden ? Etwas in uns - schämt sich.

Wenn irgendein Backfisch, der das Jahr über die Mutter halbtot geärgert hat, nun ausnahmsweise einmal ein gnädiges Geburtstagsgesicht aufsteckt, um die Mode mitzumachen, so finde ich das nicht besonders lieb und entzückend. Das Jahr muß für uns nicht einen, sondern 365 Muttertage haben, und auch das langt noch kaum. Außerdem wird alles viel zu sehr geschäftlich aufgezogen. In Zeitungsanzeigen werden Muttertagsgeschenke angepriesen wie früher Wochenendpakete. Es ist wirklich schon eine kleine Modeseuche geworden.

"Gehorsam ist besser denn Opfer"; ein bißchen Freundwilligkeit mehr denn Taschengeldgeschenk. Der Dank muß aus dem Herzen kommen, nicht aus dem Geldbeutel.

In ganz prachtvoll-berlinischer Form hat das in einem Gedicht "Mutterns Hände" der sonst so fanatische Hasser alles Deutschen und Guten zum Ausdruck gebracht, Kurt Tucholski, alias Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel, wie ja auch Heinrich Heine, den man sonst nur mit der Feuerzange anfassen mag, manchmal etwas ganz Reines und Tiefempfundenes gelang:

"Hast uns Stullen jeschnitten
Un Kaffee jekocht,
Un de Töppe rübajeschohm -
Un jewischt un jenäht
Un jemacht un jedreht . . .
Alles mit deine Hände.

Hast de Milch zujedeckt,
Uns Bonbons zujesteckt
Un Zeitungen ausjetragen -
Hast de Hemden jezählt
Un Kartoffeln jeschält . . .
Alles mit deine Hände.

Hast uns manches Mal
Auch 'n Katzenkopp jejeben.
Hast uns hochjebracht,
Wir wa'n Sticker acht,
Sechse sind noch am Leben . . .
Alles mit deine Hände.

Heiß warn se un kalt,
Nu sind se alt,
Nu bist du bald am Ende.
Da stehn wa nu hier,
Un den komm' wir bei dir
Und streicheln deine Hände.

Dieses schlicht-schöne Gedenken steht in Tucholskis frechstem und höhnischstem Buch, das er "Deutschland, Deutschland über alles" nennt und das in meiner Bücherei - natürlich ebenso fehlt, wie jeglicher Band Heine. Und doch gibt es von diesem ein Gedicht, das ich immer wieder vor mich hinsumme: die beiden Grenadiere. Im Nachempfinden sind diese Leute ja Meister, vom Satanischen bis zum Engelhaften; mitunter gelingt ihnen sogar das Männliche.

Und nun, Mutterns Hände, da können wirklich Hunderttausende Deutscher sagen, so sei es, genau so sei es. Auch wir, deren Mutter vielleicht nicht ganz so vielseitig ihre Hände gebrauchen mußte, fühlen es.

Wir zu Hause sagten übrigens immer "die Mutter", wenn wir von ihr erzählten, nicht "Mutter" oder "unsere Mutter", auch wenn Fremde uns darob verlachten. Es gab eben nur die eine.

Inzwischen hat man längst selber Vater und Mutter sein gelernt und etwas von der Liebe ausgestrahlt, die man einst empfangen. Dann reißen moderne Berufsschichtung, moderne Freizügigkeit Eltern und Kinder wieder auseinander. Jetzt müssen wir auch das kleine Kerlchen wieder abgeben, bei dem wir just einen Monat lang, in Regen und Sonnenschein, Eltern spielen konnten. Hunderte alter Erinnerungen, hundert alte Spiele, hundert alte Künste, hundert alte Märchen werden wieder wach, man ist wieder Zeichner, Pferd, Papierbootbauer, Hampelmanndoktor, Bahnschaffner, Ballspieler, Tierstimmenimitator, Führer, Entdecker geworden. Wenn man doch nicht nur schon so viele Verschen vergessen hätte! Wie war das doch, hatte die Mutter nicht immer "Heile, heile, Segen" und noch was Schönes gesagt, wenn wir uns wehgetan hatten ? Ich liege auf der Couchette mit der unvermeidlichen Zigarre, da kommt das Jungchen getrippelt, umfaßt mich - "Auah!" - . . . die böse Zigarre hat gebrannt! Was tut man da um Gotteswillen ? Ich springe auf, als wenn ich mich selber verbrannt hätte, blase dem Kleinen aus vollen Backen Rauch auf die rote Stelle und improvisiere in meiner Not:

"Heile, heile, Tabakrauch,
Gleich lachst du über'n ganzen Bauch!"

Und, wahrhaftig, schon ist's wieder gut, schon lacht das Bübchen, schon weiß es den Notvers auswendig. Ich aber schäme mich. Eigentlich ist es doch Heidenkram, eigentlich ist es doch Aberglaube; ich habe ja wahrhaftig eine Wunde "besprochen".

Und wie konnte ich noch tapfer schmälen, als vor wenigen Tagen eine Dame der Gesellschaft mir ihre Fetische zeigte, wie verzog ich da spöttisch den Mund! Es war etwas ganz Besonderes. Kein gekauftes kleines Amulett, kein winziges Fabrikpüppchen, sondern: ein Karpfenschuppen, am Silvesterabend eigenhändig in der Küche abgezogen, und ein Elefantenhaar, von dem Mann der besten Freundin aus Ostafrika mitgebracht. Wenn das nichts hilft!

Natürlich hilft es nichts, aber es hebt die Stimmung, und das ist auch wohl bei dem Besprechen der Hauptzweck der Übung.

Nur daß wir Großstädter, wir Lichtstädter immer noch dumm genug sind, an irgendeine Art Zauberei zu glauben, genau so wie bei dem Wunderdoktor Zeileis in Gallspach, dessen Prozeß gegen Professor Lazarus jetzt Tagesgespräch in Berlin ist. Von Zauberei keine Spur; nur, neben vielleicht irgendeiner Strahlenwirkung der Geißlerschen Röhren, die ungeheure Suggestion. Eine Bekannte von uns, eine hochgebildete adlige Dame, bittet mich, ich möchte nur ja nicht diese Sache verspotten. Ihr Mann habe seit zehn Jahren eine immer stärker werdende Drüsenschwellung gehabt, habe zuletzt den Hals nicht mehr bewegen können, und jetzt, jetzt, jetzt - sei er in dem Berliner Zeileis-Institut nach 30 Bestrahlungen so gut wie geheilt. Und auch Männer, Männer von Bildung und Urteil in Berlin, sagen mir ähnliches. Gut, ich schweige ja schon; auch Dr. Hartmeyer in Hamburg gehört ja zu denen, die dem Professor Lazarus nicht beistimmen. Und dennoch: ich selber würde, auch wenn die gesamte eigene Verwandtschaft mich bestürmte, zu keinem Wunderdoktor gehen; das ist nichts für so unverbesserliche Skeptiker, wie ich einer bin.

Mein Barbier freilich "hält nichts von der Schulmedizin" und behauptet, so wie er dächten fast alle seine Kunden. Und er habe, abgesehen von mir, sehr feine Kundschaft. Weiß ich, weiß ich. Sogar das Töchterchen des Reichskanzlers a.D. Reichsbankpräsidenten Luther gehört zu diesen Kunden. Das Kind kam einmal - das ist freilich schon einige Jahre her, da war es noch wirklich ein kleines Kind - in der Begleitung von Luthers Hausdame - er ist verwitwet - hin, um sich die Haare schneiden zu lassen. "Wie heißt du denn ?" fragt der Bubischneider. "Eva Maria Luther". Nun geht ihm ein Kirchenlicht auf. "Da bist du ja die Tochter eines großen Vaters!" sagt er dienernd. Aber das Kind lacht hellauf, dreht sich um und ruft:

"Tante, der kennt unseren kleinen, dicken Vati nicht!"

So sind Kinder. Sie wissen noch nichts von Europens übertünchter Höflichkeit.

Wenn man Kinder in Berlin studieren will, kann man es entweder auf Hinterhöfen tun, wo man aber als Fremder nicht immer Seide spinnt, oder auf den Spielplätzen im Zoologischen Garten, wo sie so ganz bei der Sache sind, daß sie auf den Fremden nicht achten. Junge Eltern stellen gern ihre Kinder dort ab und gehen derweil - tanzen. Endlich hat sich nämlich der Zoo fügen müssen, um nicht ins Hintertreffen zu geraten und das Volk in den Krollgarten abwandern zu sehen: er hat zwei Tanzrondells im Freien geschaffen.

Gestern wurden sie während einer Regenpause - die neugierige Sonne wollte sich des Ereignis nicht entgehen lassen - feierlich im Sinne des genius loci eröffnet, indem man ein paar vielbewunderte und vielgestreichelte Löwen-Babies darüber hintappen ließ, nachdem vorher die Tanzgruppe Terpis von der Staatsoper einiges Leichtbeschwingte darauf exekutiert hatte. Dann "durfte" endlich das Publikum.

Hinten im Musikpavillon spielt eine Militärkapelle vor andächtigen Tausenden der Gartenterrassen, die beim Kaffee sitzen und die "Verlobungsallee" beobachten, den Gang vor ihnen, auf dem die eigenen Töchter mit jungen Herren, über die man sich erkundigt hat, promenieren.

Das wird demnächst wohl stark nachlassen, denn diese Pärchen werden selbstverständlich das Tanzrondell aufsuchen. Lautsprecher vermitteln dorthin die Weisen der Musik. Schon wieder höre ich das nachgerade unerträgliche:

"Hast du nicht 'ne abgelegte Braut für mich ? Ich tröste Frau'n so gern!"

Wenn solche Schlager auf irgendeiner Tanzdiele gespielt werden und der Stehgeiger mit schmalzigem Lächeln den Refrain dazu singt, will ich Fünfe gerade sein lassen, aber ich kann mir nicht helfen, unsere Militärkapellen sind mir dafür zu schade. Im Krollgarten spielen sie auch nur gute Musik und schöne Märsche; die Jazztänze sind dort Sache einer besonderen kleinen Zivilkapelle.

Aber man muß sich bescheiden. Andere Zeiten, andere Sitten. Es ist vieles anders geworden. Neulich ist Besichtigungsreise in einem Regierungsbezirk. Der Präsident, acht Landräte, ein hoher Herr aus einem Berliner Ministerium sind daran beteiligt. Die Autos fegen die Chaussee entlang. Plötzlich eine Panne bei dem ersten. Die Chauffeure murksen daran herum. Langer Aufenthalt. Schließlich verliert der hohe Herr aus Berlin die Geduld und ruft:

"Da stehen nun acht Landräte hier herum und sehen bloß zu; es wird doch wenigstens einer von ihnen gelernter Schlosser sein ?"
15. Mai 1930 (Donnerstag)


38

Die da aus Dummsdorf - Böß verurteilt - Feldmarschall v. Mackensen in Hermannswerder - Geschorene Mädchen - Kappe und Hut - Die Damenwelt in Hosenrollen - Maiverliebtheit - Girl, Flapper, Vamp - Maria Orskas Ende.

Die Stadtverwaltung von Hannöversch-Münden hat es abgelehnt, ein Begrüßungswort an Generalfeldmarschall v.Mackensen zu richten, als er kürzlich dort war. Die Schildbürger hätten es vielleicht auch abgelehnt; und sicherlich die von Dummsdorf. Es sind immer dieselben Mehrheiten, die solche Beschlüsse fassen, und zwar nicht etwa erst seit 1918. So hat doch einst auch der Deutsche Reichstag dem 80jährigen Fürsten Bismarck ausdrücklich den Geburtstagsgruß verweigert.

Dabei macht der Generalfeldmarschall, der in einem stillen Landhause unweit von Stettin als friedlicher Pensionär lebt, nicht etwa Politik. Er mischt sich nicht in den Tagesstreit. Aber es genügt, daß er 54 Dienstjahre im alten kaiserlichen Heere hinter sich gebracht und große Schlachten im Weltkriege für uns ersonnen und geschlagen hat, um ihn den Roten und Rötlichen mißliebig zu machen. Die 54 Jahre waren harte und ehrliche Arbeit in der Front und im Generalstab. Daß Mackensen dafür jetzt an seinem Lebensabend eine Pension bezieht, finden die heute Maßgebenden unerhört.

Nun das Berliner Gegenstück.

Der Oberbürgermeister Böß, der in anderen Zeiten dem Strafrichter kaum entgangen wäre, ist nur disziplinarisch abgeurteilt worden, wobei ihm bescheinigt wurde, daß er durch sein dienstliches sowie außerdienstliches Verhalten sich der Achtung, die sein Amt erfordere, unwürdig gemacht habe.

Trotzdem sind ihm zwei Drittel seiner Pension belassen worden, und schon diese zwei Drittel sind mehr als die Gesamtpension, die Generalfeldmarschall v.Mackensen erhält. Die Steuerzahler von Berlin, die die durch die Schiebereien unter dem Regime Böß verlorenen Hunderte von Millionen Mark doch allmählich ersetzen müssen, sind es aber anscheinend zufrieden, daß der gewesene Oberbürgermeister so vergoldet wird. Denn Böß gehört doch zur Clique der zuverlässigen Republikaner, ist zum Glück nicht königlicher Generalfeldmarschall wie Mackensen.

Manchmal kommt Mackensen als Privatmann nach Berlin. Dieser Tage besuchte er mit seiner Frau die Hoffbauer-Stiftung auf Hermannswerder bei Potsdam, diese prachtvolle Erziehungsanstalt und Siedlung, mit deren längst verstorbener Stifterin er persönlich befreundet gewesen war. Hei, gab das eine Freude für alle die kleinen und großen Mädchen! So schlank, so federnd, so ritterlich hatten sie sich den berühmten Reitergeneral doch nicht vorgestellt.

Nur die ganz kleinen wußten nicht genau, wer er sei, immerhin fand eine Qunitanerin doch die Antwort: "Ganz so etwas ähnliches wie Hindenburg!"

Daß man den Kindern eine Stunde freigab, damit sie den Generalfeldmarschall, überdies den Freund der Stifterin, bei der Feier von deren 100. Geburtstag sehen konnten, ist etlichen Neuregierern in die falsche Kehle gekommen. Das sei unstatthaft! Aber daß der Schulrat Kawerau - Genosse Kawerau - am 1.Mai wegen des Arbeiterfeiertags das Berliner Köllnische Gymnasium ganz schloß und jeglichen Unterricht ausfallen ließ, selbstherrlich, ohne Ermächtigung, darnach kräht kein Hahn. Bei dem Rundgang auf Hermannswerder lugte natürlich aus jedem Busch der frühlingsfrohen Insel ein Mädchenkopf, ein Photoapparat, denn diesen lieben Generalfeldmarschall mit den buschigen Brauen über den gütigen Augen wollte jedes Mädel schnell noch "knipsen". Frau v.Mackensen freute sich besonders darüber, daß sie so viele flatternde Zöpfe sah, und machte ihren Mann auf jeden aufmerksam; er selber strich darauf einem ganz großen Mädel, das mit Bubikopf dastand, durch das Haar und sagte bittend:

"Warum nicht lang wachsen lassen ? Zöpfe sind doch so schön!"

Ein Moment Stille. Dann platzt ein Mädel heraus:

"Das ist doch - unsere Lehrerin!"

Nichts für ungut. Laßt doch Mackensen seinen Geschmack.

Übrigens darf man wohl ruhig verraten, daß in Berlin der Schnittkopf endlich anfängt, als nicht mehr notwendig zu gelten. Nur noch Friseusen oder solche Mädchen, die aus Niedertreba frisch in Berlin eintreffen und "weltstädtisch" erscheinen wollen, drei Jahre zu spät, tragen Bubi und bestehen darauf. In der Gesellschaft nehmen, noch langsam, aber ersichtlich, die "Halblangen", die "Eingeschlagenen" zu, was natürlich eine nicht angenehme Übergangsperiode bedeutet. Aber sie halten durch. Auch wenn sie sich nicht in eine monatelange Einsiedelei zurückziehen können, sondern wie beispielsweise Treviranus' Schwägerin, die ihm als Sekretärin dient, täglich im Reichstag zwischen Hunderten von Männern sich bewegen. Mit unordentlichen Zotteln! Tapfer, nicht wahr ?

Bei uns in Deutschland tauchte der Schnittkopf, der schon in verschiedenen Jahrtausenden bei verschiedenen Völkern gelegentlich Mode gewesen ist, bei den Germanen infamierende Strafe für Ehebrecherinnen war, vielfältig zuerst 1919 in Düsseldorf und sonstwo im besetzten Rheinland auf. Mädchen, die sich mit Franzosen eingelassen hatten, wurden von deutschen Burschen überfallen und geschoren. Vielleicht hat mich diese Genesis etwas beeinflußt, wenn ich früher schrieb, einem besonders hübschen Gesicht stehe jede Frisur, aber eines schicke sich nicht für alle; mit langem Haar könne man jedenfalls viel mehr machen, eine fast unendliche Zahl schöner Linien hervorbringen und vor allem die individuelle eigene Linie pflegen.

Das hat mir eine Menge von Zuschriften, eine Menge von Bildern eingetragen. "Steht mir der Bubi nicht entzückend ?" Gewiß, meine Gnädigste! Ich habe auch noch nie in meinem Leben etwas gegen Mady Christians' oder Niddy Impekovens kurze Locken gesagt.

Wer Zeit und Geld hat, mag sie züchten.

Ganz scheußlich habe ich nur immer den reinen Herrenschnitt gefunden, der in Berlin jetzt nach anfänglich tropischer Verbreitung als völlig überholt und geschmacklos gilt. Das sagen die besten Freundinnen von dir Schnittköpfigen, wenn du - nicht anwesend bist. Im deutschen Sprachgebiet gibt es nur einige wenige Städte, die die Mode nicht mitgemacht haben. So Zürich mit seiner etwas hochnäsigen Patrizierschaft. Bitte, ihr Schweizreisenden, paßt auf, wenn dort Schulschluß ist: von 20 Primanerinnen, die euch entgegenkommen, haben 18 lange Zöpfe, die ihnen vorn über die Schultern herabhängen. Und jeder freut sich.

Auch sonst haben wir in der Reichshauptstadt zur Zeit Modewechsel. Diese Art Badekappe zum Trotteurkleid, die den Kopf so eng umschloß wie bei Josefine Baker ihr lackiertes Haar, weicht wieder dem großen Hut. Die Kappe stand jungen, frischen, vollen Gesichtchen nicht übel. Die großen Hüte aber können als Rahmen jedes Gesicht verschönern. Es ist derselbe Vorgang wie bei der Frisur.

Und das Höschen weicht der Hose. Einst mußte der Pyjama eng und hauchzart sein. Heute ist er derber und viel weiter; und heißt dann nicht mehr Schlafanzug, sondern Strandanzug. Die Seglerdreß bildete dazu schon seit einigen Jahren den Übergang.

In den Villengärten am Wannsee, am Schwielowsee, am Griebnitzsee, am Scharmützelsee und sonstwo kann man zum Frühstück oder sogar zum 5-Uhr-Tee die Damen in Hosen sehen, die, bei einem Umfang des Hosenbeins (bitte, selber gemessen!) von 90 Zentimetern schon fast dem geteilten Rock ähneln. Es ist eine legere und hübsche Tracht; vorausgeahnt für das Ende unseres 20. Jahrhunderts schon in der Reinhardtschen Inszenierung des "Kaisers von Amerika" nicht nur für die platonische junge Geliebte des King, sondern auch für die längst über das kanonische Alter hinausgediehenen Ministerinnen. Hosen machen unternehmungslustig. Das ist eine alte Erfahrung, die unsere Damen auf den winterlichen Kostümbällen immer wieder erproben, obwohl ich auch gefunden habe, daß manche Unternehmende sich eigens mit langem Rock in Szene setzt. Der Strandanzug von heute, nicht immer aus Seide, oft schon aus Leinen, "hat es in sich". Womit ich wiederum nichts gegen das Zeitalter der Krinoline gesagt haben will, das doch als besonders galant uns überliefert worden ist.

Es wird wohl schon so sein, daß die Frauen jeder Zeit, ganz gleich, in welcher Kostümierung, einen Erobererdrang gehabt haben; nur daß man heute in der Großstadt ihn nachsichtiger belächelt als ehedem in der Kleinstadt, und daß im allgemeinen die Mütter heute noch viel ahnungs- und argloser sind, als es einst ihre Mütter waren. So gegen Pfingsten beginnt die hohe Zeit für die Paddelpartner, Wochenendausflügler, Zeltgenossen, und schon der vorige Sonntag sah alle Seeufer rund um Berlin gespickt mit Damen in Hosenrollen. Nicht nur jungen, sondern Damen jeden Alters. Bis gegen Abend war es sonnig und warm. Jegliche Unternehmungslust wurde befeuert.

Da steht am Mast der schönen Kajütjacht mit über dem Kopf verschränkten Armen ein vollerblühtes junges Mädchen und jauchzt:

"Ich bin ja so verliebt!" Wie aus der Pistole geschossen ein vierfaches Echo: "In wen ?"

Da sagt das junge Mädchen: "Das weiß ich doch nicht!"

O Maiensonne, o Maienwonne. Wir gleiten langsam an manchem verträumten Herrensitz über glucksendes Wasser hinweg, sind selber verträumt vor lauter Sonnenglück; Berlin ist - aber selbstverständlich draußen, nur draußen - eine der schönsten Städte der Welt. Man denkt an die Seen und Schären und Buchten vor Oslo, Stockholm, Helsingfors. Dort ist es auch schön, aber einsamer und herber, nicht so warm und lachend wie bei uns. Einst sah ich dieses Leuchten nur in Italien. Aber da traf ich eines vormittags beim Schlittschuhlaufen im Sportpalast einen Norweger, der mir auf meine Komplimente über die prächtigen Fjorde erwiderte:

"Ach was, Norwegen! Lieber bei Sonne in Deutschland! Wir haben Nebel und Dunkel!"

Diese Norweger, ebenso einige Engländer, die ich gesprochen habe, sind um so lieber in Deutschland, in Berlin, als es hier, wie sie sagen, wieder mädchenhafte Mädchen zu geben beginnt. Der amerikanische Flapper-Typ der Mädchen paßt den jungen Männern nicht mehr. Auch das schnippisch-kecke "Girl" hat den Höhepunkt seiner Erfolge schon überschritten. So geht es ja allen Moden, sobald sie demokratisiert sind, und das geschieht mit Hilfe von Presse, Rundfunk, Film heute schneller als je. Jedes kleine Portiermädchen tut sich wie eine aus dem Film.

"Wat denn, wat denn; ick bin doch schon imma so jewesen. Erst war ick Jöre, nu bin ick Jörl. Nur een Buchstabe hat sich vaändat."

Nein, die Sorte mag man nicht mehr. Auch wenn sie nicht berlinert, sondern richtig hochdeutsch spricht. Am Ende dauert es nicht mehr lange und - der "seelenvolle Augenaufschlag" wird wieder Mode wie zur Zeit der Großeltern. Umgekehrt fängt bei den Damen der Typ "the ladies' man" wieder an, beliebt zu werden, der Typ des Mannes nach dem Herzen der Frau, des Mannes, der den Geburtstag, die Lieblingsblume, die Lieblingsfarbe, das passende Buch, die Stimmung, die kleine Schwäche nie vergißt und ganz aus unauffälliger Ritterlichkeit und Rücksicht besteht.

Ich sehe schon, ich bin heute in eine richtige Modeplauderei hineingeraten. Da muß ich auch von dem bis vor kurzem noch so hochmodernen weiblichen Typ sprechen, dem "Vamp", wie die Angelsachsen ihn nennen, dem dämonischen Weibe, dem Vampyr. Den wird es immer geben, nur ist er zur Zeit "nicht mehr gefragt".

Der letzte Vamp, den ich in Berlin kennen lernte, das war Maria Orska, die dieser Tage ihrem Leben ein Ende gemacht hat.

Orska war ihr Künstlername. Eigentlich hieß sie Rahel Blindermann, stammte aus Odessa, war eine Delila für viele Männer, bis sie an einem, Bleichröder, zerbrach, der jetzt, nobel bekümmert, aber doch als Sieger, neben ihrem Onkel, dem Herrn Frankfurter aus Wien, an ihrem Grabe stand.

Einmal in meinem Leben habe ich, ganz zufällig, ohne darauf hingewirkt zu haben oder ihr auch nur vorgestellt zu sein, in größerem Kreise eine kleine Weile neben ihr gesessen. Ganz kalt. Der Typ Rahel Blindermann ist mir ungefährlich. Aber ich sah, wie den Männern die Glut ins Gesicht schoß, wenn sie auch nur ein wenig - eine ihrer unnachahmlichen Bewegungen - die Oberlippe über den Zähnen schürzte. Mehr als nur ein Mann hat die Leidenschaft für diese Delila mit Vermögen und Leben bezahlt. Sie war sich dessen bewußt. Sie war die Inkarnation einer Pandora, sie war die beste Lulu, die je in Wedekinds "Erdgeist" über die Bretter gegangen ist. Dieses kleine, züngelnde, schillernde Geschöpf, im Grunde gutmütig und oft hilfsbereit, war im Rausch der Bühne und des Lebens - und den Rausch zwang sie immer häufiger durch Gifte herbei, die sie schließlich noch in jungen Jahren ruinierten - der bewußte Vampyr, von dem inneren Dämon dazu bestimmt, den Männern das Blut auszusaugen. Darum konnte sie auch Wedekinds oder Strindbergs Frauengestalten so gut verkörpern. Sie spielte wie im Rausch ihr und der Männer Verhängnis.

Im Parkett und in den Logen des Hebbeltheaters aber - jetzt heißt es Theater in der Stresemannstraße - saßen die Leute atemlos, stierten auf die Bühne und hatten Schweißperlen auf der Stirn. Das feingliedrige kleine Weibchen da vorne dehnte sich und reckte sich und züngelte und schillerte. Die Schlange im Paradiese, die leibhaftige Schlange ? Oder nur eine betörte und betörende Eva mit dem Apfel ?

Das waren, vor knapp acht Jahren, jene Zeiten, wo die Männer in Berlin in den Nächten erschauernd aufwachten, wenn sie am Abend zuvor im Theater gewesen waren, und in die einsame Stille hinaus riefen:

"Maria Orska! Maria Orska!"
22. Mai 1930 (Donnerstag)


39

Hallo, Max! - Das drahtlose Wunder - Politik im Rundfunk - Unmoral und Presse - "Partnerin gesucht!" - Ausstellung Alt-Berlin.

"Hallo, hier Frau Schmeling, Berlin! Ist dort Newyork ? Max! Max! Trainierst du fleißig für dein' Kampf ? Hallo, Max! Ich verstehe dich nicht! Max! Hallo, Max! Hier Frau Schmeling, Berlin!"

"Ja, Mama ? Wie geht es dir ?"

"Hallo, hier Frau Schmeling, Berlin! Max! Max! Wie geht es dir gesundheitlich ? Alle Freunde sind hier bei mir und lassen grüßen. Hallo, Max! Max, bist du da ? Hallo, Max! Trainierst du fleißig für dein' Kampf ? Hallo Max!"

Dieses Zwiegespräch setzt sich so ähnlich noch einige Minuten fort.

Dazwischen greift in behaglichem, verständlichem, deutlich akzentuiertem Schwäbisch der Mann vom Stuttgarter Sender ein und vermittelt zwischen Newyork und Berlin. Max solle reden, immerfort reden, damit man die Lautstärke abstimmen könne; es sei ganz gleichgültig, was er rede, nur reden, dann werde seine Mutter ihn nachher um so besser verstehen.

Dem armen Max fällt aber gerade nichts ein. "Bilde, Künstler, rede nicht!", sagt schon Goethe; und Max Schmeling weiß praktisch mit Kinnhaken, rechtem Schwinger, Uppercut, linker Geraden, Lebermassage und Hieb auf den Solarplexus besser Bescheid als mit diesem verdammten drahtlosen Gerede. Er bringt zwar hin und wieder noch ein paar Worte heraus, aber sie sind nicht gerade besondere Literatur. Immerhin: es ist doch eine tolle Sache, daß wir da zuhören können, wie zweie zwischen Newyork und Berlin sich unterhalten. Statt Newyork könnte es auch Buenos Aires oder Melbourne oder Bangkok sein. Man kommt sich schon fast wie der liebe Gott vor, der durch dickste Mauern und schwärzeste Nacht einem in das Herz sehen kann. Es ist höchst erstaunlich und ein bißchen rührend.

Nach der Verblüffung durch solch ein Husarenstückchen der Technik kommt nur wieder der Alltag. Da hören wir, wie alltäglich der Rundfunk ausgenutzt wird, um uns im Novembersinne zu beeinflussen. Im Programm steht: aktuelle Stunde. Wer sie mit uns abhalten will und worüber, das erfährt man vorher nicht.

Diesmal überrascht uns der sozialdemokratische Berliner Stadtverordnetenvorsteher Haß durch sein Eingreifen in ein schwebendes Verfahren, indem er für den Oberbürgermeister Böß plädiert. Das Disziplinarurteil gegen diesen hochverdienten Mann werde - allgemein als ungerecht empfunden!

In Björnsons "Über unsere Kraft", in der Generalversammlungsszene, kreischt ein Empörter fortgesetzt: "Rede Se nix vom Kapital! Rede Se nix vom Kapital!" So ist es auch heute: wir sollen nicht von Korruption reden. Die Novemberleute mit ihrer neuen Moral sind alles fabelhafte Kerle, rührend besorgt um Seine Majestät das Volk, das ist es, was wir glauben und sagen sollen. Jetzt ist es schon so weit, daß der junge Toller im Rundfunk seine Lebensgeschichte erzählt, der rote Räte-Toller, der während der Müchener Sowjetzeit dort General spielte, dann aber, als es schief ging, sein tapferes Makkabäerherz verlor, sich einen falschen Bart anklebte und in ein Versteck kroch.

Der Berliner Rundfunk, künstlerisch sehr mäßig, in der Hauptsache eine Honorar-Versorgungsanstalt für die Intellektuellen östlicher Herkunft, will uns nebenbei und unvermerkt politisch modeln, damit wir immer mehr für die Roten und Rötlichen gewonnen werden.

Eigentlich soll er parteilos sein, so steht es in den Richtlinien. Um das zu gewährleisten, ist der interfraktionelle Aufsichtsrat da, dem, soviel ich weiß, von der Rechten der Abgeordnete Mumm angehört. Kämpft er gegen die rote Verseuchung an ? Jedenfalls erfährt man davon nichts; vielleicht hat auch solch ein vielbeschäftigter Reichsbote, der mit dem Kampf gegen die "unmoralische Hugenbergpresse genug zu tun hat, nicht die Zeit dazu.

Die Presse ist immer ein Spiegelbild. Auch deutschnationale, nationalsozialistische, volksparteiliche Zeitungen sind nicht unmoralisch, wenn sie die Gegenwart widerspiegeln. Etwas ganz anderes ist es, wenn Mosse- und Ullsteinblätter und ähnliche Organe bis zu den knallroten hin bewußt für die Auflockerung der Sitten eintreten, die Zeitehe empfehlen, den Ehebruch bagatellisieren, den Mörder sentimental nehmen. Lindsey, Freud, Vandevelde, Hirschfeld und andere "Sexualforscher" gelten da als Propheten.

Die Presse der Rechten hebt sich grundsätzlich davon ab. Selbst wenn sie es nicht wollte, so würde sie dazu schon durch die Empfindlichkeit der Leser gezwungen werden, die einen moralisch einwandfreien Inhalt verlangen. Aber freilich: den Bericht über einen Blutschande-Prozeß auch nicht etwa missen wollen. Man muß doch im Bilde sein, nicht wahr ? Und so kommt es, daß wir um unserer Kinder willen gegen jede Frivolität aufbegehren, daß aber trotzdem aller Schmutz der Zeit offen breitgetreten wird.

Früher war alles heimlicher. Aber es war auch schon alles da.

Von der Harmlosigkeit bis zum Raffinement, von der Leidenschaft bis zum Verbrechen: alles da. Nur nicht in den Zeitungen. Der Tratsch ging nur mündlich. Also da gingst du vielleicht in Köln in der Hohestraße einher und übersahst zufällig einen dir begegnenden Bekannten. Nachher stellt er dich und sagt:

"Du bis mich 'ne schöne Dong-Schewang, du läufs immer om Trottewar de Weiter noh!"

Und schon am selben Abend wußte man drüben in Mülheim in jedem Hause, daß du ein Wüstling seist. In dem heutigen Häusermeer verschwindet der einzelne natürlich mehr; für ein paar Straßenbahngroschen ist man in der Großstadt in einer anderen Welt, in der niemand einen kennt. Außerdem hat man ja den Anzeigenteil der Zeitungen als Mittler. Das ist auch ein Spiegelbild der Zeit. Die maskierenden drei Worte "zwecks späterer Heirat" verlangt die behördliche Moralaufsicht gar nicht mehr. Also erlassen wir folgende Annonce:

P a r t n e r i n.

Fünfziger, nach Aussehen u. Wesen Dreißi-
ger, blond, akad. geb., ehem. Offiz., genügend
bemittelt, sucht Partnerin f. Motorbootsport,
Wochendausflüge, Sommerreise Schweiz-
England, Winter Theater u. Bälle, erbittet
genaue Zuschriften, Bild wird zurückgesandt.

Die Ausbeute ist derart, daß man eine Romanfabrik damit anfangen könnte. Ein moderner Zola hätte jedenfalls das Personenverzeichnis für 10 Bände beisammen. Ich habe die Bilder und sogar die Briefe selbst zurückgeschickt, soweit Namen und Adresse genannt oder "postlagernde" Chiffre genannt war. Immer mit der kurzen Notiz: "Mit bestem Dank zurück, da bereits anderweit gebunden." Ich will die Zuschriften ja nur statistisch verwerten.

Meine Statistik ergibt 18 Prozent junge Damen mit höherer, zum Teil akademischer Bildung. In 2 Prozent der Briefe lagen Aktphotos mit unkenntlich gemachtem Gesicht bei, in 60 Prozent Paßbilder oder kleine Momentaufnahmen, in 4 Prozent Kabinettformat. Berufstätig, meist in Bureaus, waren auch genau 60 Prozent der Schreiberinnen. Die Mehrzahl von diesen Mitte der zwanziger Jahre; und, nach den kurzen Lebensabrissen zu urteilen, die Mehrzahl aus einfachsten Kreisen hervorgegangen. Motto fast immer: "Lebenshunger". Oft vielleicht - auch wirklicher Hunger. Nur 6 Prozent ohne Altersangabe; und diese Damen versichern, daß sie "ebenfalls" wie Dreißigerinnen wirken und "ebenfalls" genügend bemittelt seien, was doch jedenfalls eine Garantie gegen Ausbeutung sei. Eine kleine Kontoristin schreibt:

"Einmal muß es ja doch sein, also wollen wir es versuchen, wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht."

Auch unter den angeblich Besterzogenen scheint die Filmbildung die Hauptsache zu sein. In 11 Prozent der Briefe wird auf Filme Bezug genommen. Die eine sagt, sie sei der Typ Lil Dagover, aber nicht so kalt; die zweite meint, sie habe das Zeug zu einer Lilian Harvey; die dritte schreibt, sie hoffe (o Gott, nur das nicht, trotz seines Talentes!), daß ich Konrad Veit ähnele; die vierte nennt einen Film, in dem sie - die dritte Dame von rechts - als Statistin an einer Festtafel sitze; da könne ich sehen, daß sie die gesellschaftlichen Formen beherrsche. Der sachlichste und nüchternste Brief ist von einer Französin, die einfach fragt, ob ich ihr "une situation de 300 M. par mois" zu bieten imstande sei, damit sie das Unterrichterteilen aufgeben könne; dafür sei sie zu jeder "volupté de Paris" zu haben. Ähnlich eine 25jährige Berliner engagementslose Schauspielerin, die da schreibt:

"Kurz und bündig und offen gesagt, ich brauche nämlich einen Freund, der mich von Fall zu Fall materiell unterstützt."

Eine 22jährige erklärt, wenn ich noch - andere Wünsche hätte, als in der Anzeige angegeben, nun, sie sei nicht schwer zu erziehen. Eine andere 22jährige ist mit Freuden zu Wochenend- und Auslandsreisen, falls gegenseitige Sympathie sich herausstelle, bereit, bittet aber um äußerste Diskretion, da sie Rücksicht auf die Stellung des Vaters nehmen müsse. Das sind so einige interessante Auszüge, aber sie allein ergäben ein falsches Bild. Ich kann es nicht in genauen Ziffern angeben, sondern nur schätzen: etwa 20 Prozent der Briefschreiberinnen sehen die Dinge so an, etwa 50 Prozent dagegen denken sich die Kameradschaft ganz harmlos, und vielleicht 30 Prozent - sind heiratslustig. Darunter einige Damen mit eigenem Boot, eigener kleiner Wasservilla. Als "schuldlos geschieden" bezeichnen sich 12 Prozent der Damen; sie sind meist reiferen Alters.

Gut 30 Prozent der Partnerinnen heben ihre Bescheidenheit hervor. Für Kleidung und Essen brauchten sie sehr wenig, aber ein Vergnügen müsse man in dieser Welt doch auch haben, und dazu lange es nicht. Eine erzählt:

"Wenn Sie mich in meinem neuen Crêpe-Georgette-Kleid sehen, glauben Sie, es kostet 125 Mark, aber ich habe es selbst gemacht, kostet mich nur 42 Mark."

Verschiedentlich der Stoßseufzer, daß man von den jungen Leuten von heute genug habe, heiraten täten sie ein armes Mädchen doch nicht und Geld hätten sie auch nicht. Die sentimentale Note ist vorherrschend,aber als falsch leicht erkennbar; im Grunde haben alle diese mehr oder weniger jungen Damen - die jüngste ist sechzehneinhalb und schreibt unorthographisch - sich von der Sentimentalität längst freigemacht. Man muß die Zeiten nehmen, wie sie sind, schreibt eine trotzig; ihr wäre das auch nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie durch die Zeitung einen Kameraden finden werde, denn die Verwandten aus der vorigen Generation seien alle gut versorgt und in Stellung, aber jetzt "sieht es mies aus", und von der Arbeitslosenversicherung könne man nicht ewig leben.

Einen Rest, rund 4 Prozent, habe ich gleich zur Seite gelegt; das waren Ulkbriefe. "Haben Sie am Ende eine Glatze ? Dann melden Sie sich erst nach einer Silvikrin-Haarkur wieder!" schreibt eine Dame. "Wir sind drei Freundinnen und zu dritt bereit, Ihnen das Leben zu versüßen, wenn sie vorher eine Einkleidungsgebühr von 600 Mark an untenstehende Adresse schicken", schreibt eine andere. Außerdem geben einzelne lustige Mädel die merkwürdigsten Erkennungszeichen und die unmöglichsten Treffpunkte an. "Pappnase mit Glühlicht, um 1 Uhr nachts auf dem Funkturm." Und, selbstverständlich, etliche Angebote von "Privathotels", gedruckte Karten, sind auch dabei; dazu der Prospekt eines Detektivinstituts, das sich erbötig macht, die neugewonnene Partnerin unauffällig zu beobachten.

Da haben wir also ein kleines Spiegelbild. Die Schlüsse daraus zu ziehen erspare ich mir; ich bin bloß Chroniqueur. Die Technik des Sichfindens ist jedenfalls wandelbar. Aber ganz ähnliche Anzeigen, nur mit "zwecks späterer Heirat", standen schon vor 100 Jahren in Berliner Zeitungen. Die Sache bleibt dieselbe. Nur, wie gesagt, technisch erneuern wir uns.

Wie wir geworden sind, wie Berlin aus kleinbürgerlichen Anfängen zur Weltstadt sich entwickelt hat, das will die diesjährige Sommerschau in den Ausstellungshallen am Funkturm, die vom 23. Mai bis zum 3. August dauert, uns zeigen. Vielleicht wird sie in der Reisezeit von Fremden überflutet. Vielleicht. Die Berliner tröpfeln vorerst nur spärlich hin. Das ist begreiflich. Wenn in Berlin etwas ist, woran sich der Lokalpatriotismus oder die Familiengeschichte klammern möchte, dann ist es nach zwei Generationen doch nicht mehr da. Man sucht Chamissos Wohnhaus: da ist heute eine Fabrik. Man weiß Humboldts Hausnummer: da ist heute ein Warenhaus. In der ganzen Innenstadt, wo früher Patrizier hausten, sieht man jetzt Läden und Bureaus. Die Wohngegend hat sich verschoben. Hauptsächlich nach dem Westen. Charlottenburg, das einst als Dorf - damals hieß es Lietzow - 180 Einwohner hatte, zählt heute 1 100 000 Einwohner. Kaum ein Urberliner wohnt noch im Hause des Großvaters, und wenn es überhaupt noch steht, dann ist es um- und ausgebaut.

Ein Alt-Berlin, so wie es beispielsweise ein Alt-Frankfurt gibt, ist also mit Ausnahme von drei oder vier gänzlich uninteressanten kasernenartigen Gassen gar nicht mehr vorhanden. Wir müssen es schon in einer Ausstellung uns vorführen lassen. Aber diese Ausstellung Alt-Berlin, die sich "Fundamente der Großstadt" nennt, ist im Grunde eine Fälschung. Die Fundamente haben die preußischen Soldatenkönige gelegt. Von den Königen wird hier, denn wir sind doch seit Erschaffung der Welt Republik, nichts erzählt. Und von den Soldaten so gut wie nichts. Daß von den 11 000 Freiwilligen, die sich auf den Aufruf des Königs hin 1813 zum Kampfe gegen Napoleon meldeten, 6400 Berliner waren, dürfen wir natürlich nicht erfahren. Blücher, Papa Wrangel, Haeseler, um nur drei in Berlin populäre Soldaten zu nennen, fehlen. Was an "militärischen" Ausstellungsstücken vorhanden ist, ist folgendes: In dem Diorama der alten Anatomie das Skelett eines Riesengrenadiers; im Raum der jüdischen Gemeinde das Bildnis des "Königlich preußischen Majors Burg"; und in der Polizeiabteilung die Wachsfigur des - Hauptmanns von Cöpenick in voller Uniform.

Sonst ist natürlich allerlei da.

Da draußen in der Sommerschau sind zwei Dioramen zu sehen, Parochialstraße und Brüderstraße, noch mit richtigem altem Pflaster und richtig rieselndem Wasser im Rinnstein, auch manche alte Handwerksstätte bis zum Laboratorium des Alchimisten herauf, alte Zunftfahnen und Embleme, alte Bilder, Originalstudierzimmer berühmter Berliner Gelehrter und sonst noch vielerlei, was einem begreiflich macht, weshalb dieses tätige, eifervolle, strebende, forschende, organisierende Berlin Hauptstadt und - vieles in uns sträubt sich dagegen - Weltstadt werden mußte.

Und doch, und doch: das alles ist für uns nur Museum.

Wir haben keine familiäre Beziehung mehr dazu, keine lebendige Verbindung. Man atmet auf, wenn man die ungezählten Säle, Kojen, Vitrinen hinter sich hat und in die Sonne hinaustritt, in das moderne Leben, auf das riesige jetzt von den Ausstellungshallen völlig umbaute Forum, in dessen Mitte sich der Funkturm erhebt. Man denkt an den Markusplatz in Venedig, der viel kleiner ist, aber doch auch so eine Art Freilichtsaal. Nur hat man dort an den Seiten die schönen alten Prokurazien, hier in Berlin dagegen bloß nüchternste Zweckgebäude aus Glas und Eisen. Aber auch sie sind imposant. Und sie sagen uns: wir haben keine Zeit für Alt-Berlin, wir haben kein Geld für Ästhetik und Behagen, denn wir sind das Young-Geschlecht und müssen schuften, schuften, schuften.
28. Mai 1930 (Mittwoch)



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© Karlheinz Everts