"Rumpelstilzchen"

Ja, hätt'ste . . .
(Jahrgangsband 1928/29)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1929

Glossen 37 - 39
30. Mai bis 13. Juni 1929


37

Erholungsfahrten über die Pfingstferien - Erlebnisse mit den Mailänder Künstlern - Unser "Volksleben" vor Fremden - Die Feier des Tages von Riga - Was die Baltikumer gemacht haben - Das Kriegsbuch und die Stadt Berlin.

"Ein Gänschen flog wohl über den Rhein - und kehrt als Gick-Gack wieder heim." Das ist ein Spottwort, das vor ein paar Menschenaltern gang und gäbe war, damals, als man Reisen machte, um gebildet zu werden. Auch der junge Mann aus gutem Hause pflegte die Kavalierstour nach Frankreich und Italien in Begleitung eines Hofmeisters zu machen. Es war sehr bildend, aber auch sehr anstrengend. Ein Verwandter von uns ist so mit seinen Eltern und seinem Hauslehrer 1837 in der Kutsche von Bonn sogar bis nach Athen in Griechenland gefahren, viele Wochen lang über entsetzliche Wege durch damals ganz wilde Gegenden.

Damals mußte man sich vom Reisen erholen. Heute macht man Erholungsreisen.

Damals hatte selbst in großen Städten noch jeder seinen Garten, beispielsweise Humboldt in Berlin in der Leipziger Straße dem heutigen Kaufhaus Wertheim gegenüber. Heute ist man in der Großstadt ohne solch friedliches Fleckchen, ist man eingekeilt in Mauern und Asphalt, umtost von Lärm, zermürbt von hetzender Arbeit. Da wird jede Freizeit zum Ausfliegen benutzt, nicht aus Bildungsbedürfnis, sondern aus Gesundungsbedürfnis. Zu Beginn der Pfingstferien haben auf allen Berliner Bahnhöfen die Fahrkarten-Druckmaschinen so rasend geklappert wie der Totalisator am Derbytage in Hamburg. Noch nie, heißt es, sei so viel gereist worden. Da kommen jetzt mit leuchtenden Augen zwei junge Berliner Damen aus dem schönen, im übrigen Deutschland so unbekannten Ostpreußen zurück; auf demselben Schiffe sei auch Hitler mit zwei Trabanten gewesen, sie hätten, o, o, sogar mit ihm zusammen am Kapitänstisch gegessen, aber er habe gleich erklärt, über Politik wolle man nicht sprechen. Da hat eine Lehrerin den Harz aufgesucht, hat in Bad Grund in der Sonne und im Anblick der Narzissen geschwelgt, die einzig und allein in Deutschland hier wild wüchsen. Da hat eine Gruppe von rüstigen Fabrikarbeitern aus dem Zentrum Berlins, da am Sonnabend früh geschlossen und am dritten Feiertag "blaugemacht" wird, gemeinsam zum Wanderstabe gegriffen und in der Sächsischen Schweiz, besonders auf dem köstlichen Pfaffenstein, holdselige Naturpoesie erlebt, dreieinhalb Tage lang. Da hat eine Klasse der Lette-Schule, lauter frische Mädels, mit der Klassenleiterin, die Doktor der Nationalkonomie ist, in das Ruhrgebiet eine Studienreise unternommen, die auch in Bergwerke unter Tage führte, aber doch herrliche Erholung war. Da hat eine Familie von sieben Köpfen, die in Berlin nur die "sitzende Lebensweise" kennt, einmal wieder die Rücken gestrafft, die Beine in Schwung gesetzt, rundum in der Mark Brandenburg erstaunlich Schönes entdeckt, zum Schluß in Schönhausen sich in Bismarck-Erinnerungen erbaut und dann drüben am anderen Elbufer die "Mittelalterlichkeit" Tangermündes, des hochgebauten, genossen. Von allen Seiten, mit vielen entzückten "o, o", hört man nun die Berichte über diese Pfingstreisen, die einen Strom von neuer Lebenskraft bedeuten.

Schier fremd kommt den Heimkehrern ihr Berlin wieder vor. Und, so merkwürdig das auch klingen mag, schier - kleinstädtisch. In einer richtigen Weltstadt würde es doch gar nicht auffallen, wenn etliche Hundert Leute einer fremden Nation da hinzukämen, zumal, wenn man sie nicht geschlossen, sondern nur in ganz kleinen Gruppen, zu zweit, zu dritt, zu viert, hier sieht. In Berlin fällt es aber wahrhaftig auf, wenigstens in dem Hoteldreieck Adlon - Esplanade - Excelsior, dem Dreieck zwischen Pariser Platz und Bellevuestraße und Askanischem Platz, wo man in diesen Tagen so vielen Italienern begegnet, Toscaninis Heerschar von Sängern und Musikern und dazu den Spitzen der Aristokratie und Großindustrie aus Mailand, die den Vergötterten hierher begleitet haben, um Zeuge seiner Triumphe zu sein. Ich selbst, von dem es heißt, daß er immer überall "dabeigewesen" sei, bin diesmal nicht dabeigewesen. Vor dem Kriege kostete bei Carusos Gastspiel ein Parkettplatz im Königlichen Opernhause 20 Mark. Ich schäme mich nicht, es einzugestehen, daß da die 60 Mark für ein Gastspiel des Dirigenten Toscanini mit seiner Scala weit "über meine Vehältnisse" gehen; ich muß mich damit begnügen zu lesen, was die berufsmäßigen Musikkritiker in den Zeitungen erzählen. Aber mit dem Künstlervölkchen selbst habe ich wenigstens mehrfach Berührung gehabt. Nur die Stars lebten international vornehm in den Hotels. Alle übrigen fielen alltäglich in ganzen Schwärmen bei Andreoli ein, dem italienischen bürgerlichen Restaurant in der Anhaltstraße. Da war nun Leben in der Bude, das läßt sich nicht leugnen! Während ich meinen Risotto esse, sitze ich zwischen einem großen Sänger, der am selben Abend den König in der "Aida" gibt, und einem großen Publizisten, der täglich spaltenlange Telegramme an die Mailänder Presse über die Berliner Ereignisse schickt. Man will Toscanini durch europäische Triumphe fesseln. Schon jetzt dirigiert er alljährlich monatelang an der Metropolitan Opera in New York und möchte ganz nach Amerika übersiedeln. Ich verrate wohl kein Geheimnis, wenn ich erzähle, daß er zu denjenigen Intellektuellen Italiens gehört, die innerlich ganz antifaschistisch eingestellt sind, aber da er künstlerisch-kulturell ein außerordentliches Aktivum für Italien bedeutet, möchte man ihn halten. Die Berliner selbst haben nicht nur, wie Toscanini strahlend sagt, "mit südländischem Temperament" applaudiert, sondern auch tagsüber für die Gäste getan, was sie konnten. An die 300 Mitglieder der Scala wurden im Haus Vaterland bewirtet, in Rundflügen vom Tempelhofer Felde aus über Berlin spazieren gefahren, in die Attraktionen des Lunaparks geführt und zu Ausflügen auf der Havel bis Potsdam. Man riß sich auch um die übrigen Herrschaften aus Italien, fast durchweg Logen-Abonnenten der Scala, was in Mailand vielfach ebenso zum guten Ton gehört wie in Berliner alten Familien der Besitz einer Aktie vom Zoologischen Garten. Ich sehe den Grafen Asconi, den Grafen Fossati, den Grafen Avogli, ich lerne flüchtig große Industriekapitäne kennen, die sich nur um Toscaninis willen von ihren Geschäften daheim losgerissen haben, und vor allem unter den Opernmitgliedern selbst werde ich schnell aufgeräumt. Nicht nur unter der eisernen Zucht ihres Dirigenten mit den endlosen Proben haben sie es schwer, sonden auch - finanziell. Die Scala hat verdient, die Berliner Oper hat verdient, sie aber sind recht knapp gehalten worden. Für Cooks Reisebureau war es nicht leicht, in Berlin die rund 400 Menschen gut unterzubringen, die im Durchschnitt für Wohnung und Beköstigung - in dem teuren Berlin - nur ein Gesamttagegeld von 12 Mark bekamen. Da mußten denn Fröbel-Hospiz und ähnliche billige Bleiben herhalten. Trotzdem sind die Künstler alle pudellustig. Vor mir an dem langen Tisch bei Andreoli werden gerade elf junge Choristinnen abgefüttert, die unter Aufsicht einer älteren Dame täglich daherkommen. Sie plaudern, sie kichern, sie trinken ihren heimischen Wein, der hier im Preise des Essens mit einbegriffen ist, sie "simpeln Fach", sie scherzen mit Kollegen. Ein Choryfaios kommt, neigt sich zu der hübschesten nieder, flüstert ihr etwas zu und - küßt sie unvermutet aufs Ohrläppchen. Das gibt ein Halloh. Aber schon ist es vorbei. Es ist ja alles so harmlos. Die jungen Damen sind alle gut, aber billig und schlicht angezogen. Ich bemerke das wohlgefällig zu meinem Gegenüber, einem Mailänder Kaufmann, der das Wohlgefallen aber nicht heraushört und sozusagen entschuldigend meint: "Wir sind noch ganz Provinz, bei uns ist es nicht Mode, daß die Chormädchen einen Freund haben, der ihnen Brillanten und Blaufüchse schenkt." O du glückliche Provinz! Da kommt es also wohl auch nicht vor, daß Chormädchen keine Stimme haben, aber doch in den Chor aufgenommen werden, weil sie einen reichen Freund haben.

In der ganzen Zeit des Scala-Gastspiels hat es nur wenig spielfreie Abende, probenfreie Vormittage gegeben. Dann folgten die Mailänder den Einladungen, machten ihre Rundfahrten oder sahen sich Berliner "Volksleben" an, das aufzufinden und zu zeigen natürlich am schwierigsten ist. Volksleben ist hier doch Großstadtleben, und das ist mehr oder weniger überall in mitteleuropäischen Großstädten dasselbe. Und wenn wirklich einer der Fremden einmal eine Szene erlebt, die ihm bemerkenswert erscheint, dann verallgemeinert er und kommt zu falschen Eindrücken. So erzählt ein Scala-Cellist den anderen Musikern, er habe einen weinenden Berliner gesehen, einen jungen Handwerksmeister, der bei einem älteren Manne in einer Kneipe sein Herzeleid geklagt habe, da ihm gerade seine Frau gestorben war. Und weswegen habe er so geweint ? "Huhuhu - erst vor zwei Monaten habe ich ihr - huhuhu - für 300 Mark die Zähne neu machen lassen!" Da wollen die Italiener sich schier ausschütten vor Lachen, wie der Cellist dies plastisch-darstellerisch erzählt. Gut beobachtet haben sie die Berliner Demokratisierung aller Genüsse, vom Kaviarbrötchen bei Aschinger angefangen, bis zum Tanz in dem pompösen Musik-Café. "Da saßen zwei hübsche, große, schlanke, gutgekleidete Damen an unserem Tisch. Mein deutscher Begleiter sagte, es seien Dienstmädchen, die Ausgehtag hätten. Die eine hatte gepinselte Augenbrauen, aber schmutzige Fingernägel. Die andere geschminkte Lippen, aber einen ungewaschenen Hals." Solche Einzelbeobachtungen werden noch heute, auf der langen Bahnfahrt, das Tagesgespräch bei den Scala-Leuten sein. Aber von Berlin selbst bringen sie einen angenehmen Eindruck mit heim; die Sauberkeit und die Größe der Stadt hat ihnen imponiert, und die fast durchweg sonnigen Tage ließen alles im schönsten Lichte erscheinen.

Was der Fremde sieht, ist freilich fast immer nur die Lust der Großstadt, nicht die graue Sorge. Wir sind trotz aller forcierten Lust ein zersorgtes Volk, das nicht einmal seiner Großtaten mehr zu erinnern sich vermag. Nur ein verhältnismäßig kleiner Kreis hat vor acht Tagen den Tag von Riga durch Gottesdienst und nachher Festakt begangen, jenen 22. Mai 1919, an dem durch einen kühnen Handstreich Livlands Hauptstadt den Bolschewiken wieder entrissen wurde. Bei dem Festakt in ehemaligen Herrenhause hörte man etwas zu viel reden; das ist nun mal deutsche Art. Was General Graf Goltz und Major a.D. Fletcher erzählten, das packte noch die Herzen, dann aber hörte man von einem sehr verehrungswürdigen Balten einen Vortrag über die siebenhundertjährige Geschichte des Baltenlandes lehrbuchmäßig genau, und dieser Vortrag dünkte einen auch von siebenhundertjähriger Dauer; was weiterhin an Ansprachen noch kam, das wurde daher besonders bejubelt, wenn es, wie bei dem Vertreter des Berliner Stahlhelms, nur zwei Minuten dauerte und dennoch und darum ergriff. An jenem 22. Mai preschte eine kleine Schar - kaum 200 Mann - von Deutschen und Balten über die große Dünabrücke nach Riga hinein, rettete Tausende Deutscher vor dem Erschossenwerden durch die Bolschewikenhorden und ermöglichte die Wiedererrichtung der Randstaaten als Damm gegen Sowjetrußland. Nicht nur Esten, Letten, Litauer verdanken ihr Alles dieser deutschen Tat, nicht nur die Polen gewannen die nötige Atempause zur Rüstung gegen den Osten, sondern ganz Europa wurde vor dem Bolschewikenansturm bewahrt. Ich bin davon überzeugt, daß die Geschichte einst den Tag von Riga in Parallele zu der Schlacht von Liegnitz anno 1241 stellen wird, in der deutsche Ritter den Mongolenansturm auf Europa zerschlugen. Bei dem Handstreich am 22. Mai 1919, der entgegen dem Kommando rein aus der stürmenden Initiative der Unterführer der Vorhut heraus geboren war, fiel der Balte Freiherr v.Manteuffel für die Brüder. Führer war der Reichsdeutsche Freiherr v.Medem, einst als Oberleutnant Prinzenerzieher in Meiningen, dann Fronthauptmann im Kriege, jetzt Hauptschriftleiter des "Tags" in Berlin. Das bißchen Artillerie dabei aber befehligte der unvergeßliche Albert Leo Schlageter, der beim Sturm mit dem von ihm eigenhändig gerichteten Geschütz mit zwei Schüssen zwei russische Maschinengewehrnester auf der rigaischen Seite zertrümmerte. Das sind die Leute, die nachher als "Baltikumer" bei uns verschrien wurden, als Mordbrenner und Totschläger. Dabei waren sie doch anerkannte Truppe, vom Reich gelöhnt, bewaffnet, verpflegt, waren sie Retter der Kultur des Westens und - nach ihrer Absicht, die von den undankbaren Randstaaten freilich nachher vereitelt wurde - Wegbereiter für eine neue große Siedelung Deutscher im Osten, die ein Seitenstück zu der Arbeit der Hochmeister des deutschen Ritterordens in Preußen geworden wäre. Nach dem Abenteuer fanden die Baltikumer auch keinen Rückhalt mehr im Reiche. Wir gaben alles preis. Und die Kämpfer selber, die noch fünfeinhalb Monate nach dem Weltkriege dessen letztes Gefecht für deutsches Leben und deutsche Ehre gefochten hatten, mochten zusehen, wie sie in der verwandelten Heimat unter Hohn und Haß ihr täglich Brot finden konnten. Manch einer - wie Schlageter - setzte noch jahrelang später immer wieder sein Leben für diesen Staat ein, 1921 in Oberschlesien, 1923 an der Ruhr, immer ohne Dank und ohne Unterstützung; manch einer blieb dem Kolonistengedanken treu und rodete in Deutschland oder in fernen Ländern Bäume oder ging in die Bergwerke; aber auch manch einer ist vor die Hunde gegangen, verdorben und gestorben. Eine verhältnismäßig kleine Schar in Berlin selbst hält noch kameradschaftlich zusammen und harrt auf den Tag, wo man sie wieder brauchen wird wie damals zu dem Todesrennen über die Dünabrücke gegen eine gesicherte Übermacht, die dann vor den wenigen Tapferen floh.

Man kann sicher sein, daß von 100 Berlinern 99 keine Ahnung von dem Tag von Riga haben. Überhaupt nur einen sehr schwachen Schimmer von den wichtigsten Ereignissen des ganzen Krieges. Die Stadt Berlin hat ja bereits vor Jahr und Tag aus sämtlichen öffentlichen und Schulbibliotheken alle Bücher über den Krieg entfernt. Das wundervolle, rein menschlich ergreifende, allein durch die vaterländische Idee wirkende, keiner Partei, keinem System, keinem Hurrahpatriotismus verschriebene "Wie wir uns zur Fahne durchschlugen" aus dem Müncherner Verlage Lehmann, das schönste und wahrste Abenteuerbuch für unsere Jugend, ist ebenso verschwunden wie die anderen Bände dieser "Unbesiegt"-Sammlung und wie die einzigartigen 4 Bücher von Ernst Jünger von "In Stahlgewittern" an, die wirkliches Erleben eines wirklichen Frontsoldaten wiedergeben, nicht die Gedanken irgendeines zum Nichtsoldaten geborenen Intellektuellen. Ich bin von verschiedenen Seiten gefragt worden, was ich zu Remarks "Im Westen nichts Neues" aus dem Ullstein-Verlage sage, zu diesem Riesenerfolge, zu der Auflage von über einer halben Million. Ob das Werk denn wirklich so pazifistisch sei. Nein, so pazifistisch ist es nicht. Es sagt sicherlich vielen ehemaligen Soldaten zu, mindestens jener halben Million von Soldaten, die während des Krieges ihren "inneren Schweinehund" nicht untergekriegt, sondern gemästet haben. Für die Angehörigen dieser Schweinehunde ist das Buch geschrieben, könnte also noch gut anderthalb Millionen Auflage hinzubekommen. Das bezeichnendste für mich ist: die Stadt Berlin, die sämtliche Kriegsbücher aus ihren Bibliotheken ausgemnerzt hat, hat soeben 1000 Stück von Remarks "Im Westen nichts Neues" für ihre Bibliotheken angeschafft.
30. Mai 1929 (Donnerstag)


38

Der kostenlose Führerschein - Der Kaiser und die Maikäfer - Von prinzlichen Mesalliancen - Versteigerung bei Hohenzollerns in der Budapester Straße - Verlorener und kommender Nimbus - Der erste Tonfilm in Deutschland - Wettkochen deutscher Hausfrauen.

Wir haben in der Reichshauptstadt, die einst von Regimentsmusiken - o du mein lieber Liliencron, o Trine, Mine, Stine - allmorgendlich widerhallte, nur noch eine wechselnde kleine Wachtruppe. Sie tritt kaum merklich in Erscheinung, da die meisten früheren Posten eingezogen sind. Mit Kling und Klang und Tschingtara ("Voran der Herre Hauptmann!"   "Und dann die Herren Leutnants!") wird man nicht mehr aufgerüttelt. In den vielen ehemaligen Kasernen sind Ämter untergebracht oder, meist, Schutzpolizei.

Wo einst unsere Augusta-Gardegrenadiere exerzierten, tummelt jetzt die polizeiliche Verkehrsschule ihre Autos. Nicht nur die Staatsanwälte und Richter, deren Bilder durch die Presse gingen, lernen dort, um nicht "weltfremd" zu bleiben, das Lenken eines Kraftwagens, sondern auch neudeutsche Ministerialräte und vor allem etliche Dutzend Abgeordnete, die Mitglieder des Verkehrsausschusses, werden hier kostenlos zum modernen Gentleman erzogen. Oder auch zur Gentlewoman; denn ein Parlamentarier weiblichen Geschlechts macht den Vierwochenkursus ebenfalls mit. Sie werden es alle schaffen, alle 130, das ist sicher. Auch der Herr Verkehrsminister, der alte Zentrumsabgeordnete v.Guérard, ist unter den Schülern; was er sich, wenn im theoretischen Unterricht die Sprache darauf kommt, unter einem Motor vorstellt, das ist manchmal zum Schieflachen. Natürlich tragen auch verschiedene andere Parlamentarier unfreiwillig zur Erheiterung bei. Alle Parteien sind daran beteiligt, sogar die Kommunisten sitzen stolz am Volant und fahren unermüdlich ihre Achten, bis sie soweit sind, daß sie über den Potsdamer Platz losgelassen werden können. Der Staat, nämlich der Steuerzahler, kommt für Benzin und Bruch und Abnutzung auf.

Wohl das populärste Regiment im Berlin der Kaiserzeit waren die "Maikäfer", die Gardefüsiliere, die im Norden der Friedrichstadt ihre Kaserne hatten. Hier muß einst, wenn wir wieder andere Zeiten haben, eine Marmortafel davon künden, daß an dieser Stelle zwei junge Offiziere des Regiments in der Revolution ihre Knie vor dem roten Baal nicht beugten und im Kampfe ihren Mann standen. Von einem sogenannten Volksbeauftragten wurde die Auslieferung der beiden Verwundeten verlangt, was man natürlich verweigerte. Unter den Mannschaften der Maikäfer gab es damals schon manchen unsicheren Kantonisten, aber das in derselben Kaserne einquartierte Ersatzbataillon des 1. Garde-Reserve-Regiments war fest in der Hand seines Führers, des Landwehrmajors v.Borries. Von den Offizieren war selbstverständlich jeder zum Einsatz seines Lebens bereit; nur kam von der höchsten Kommandostelle leider der bekannte Gegenbefehl. Daran denkt heute natürlich kein Mensch; alle hätten sich damals verkrochen, heißt es. Aber etwas weh ums Herz wird es doch selbst dem roten älteren Berliner, wenn er an jene Tage sich erinnert, wo man noch schmunzelnd fragte:

"Welches ist die wärmste Straße in Berlin ?"

"Wat denn, wat denn, wieso wärmste Straße, weeß ick nich."

"Na Mensch, die Chausseestraße, da gibt's Maikäfer sogar im Winter!"

Das alte stolze Gardefüsilier-Regiment besteht nicht mehr, nur noch eine bescheidene Traditionskompagnie in Neuruppin, dazu einige Vereine Ehemaliger. Die erzählen sich noch heute mit leuchtenden Augen, wie der Kaiser alljährlich den ersten eigenhändig gefangenen Maikäfer dem Regiment mit herzlichem Gruß zuzuschicken pflegte - aus Potsdam, aus Urville, aus der Hohkönigsburg, aus Posen, einmal sogar aus Korfu. Er vergaß es nie. Die Gardefüsiliere sangen auf ihren Märschen:

"Auch unser König ehrt uns sehr, davon will ich euch sagen,
Schickt er doch unserm Kommandeur an schönen Maientagen
In einer Kiste zierlich fein, mit Löchern wohl versehen,
Ein munteres Maikäferlein, das er zuerst gesehen!"

Diese richtigen lebenden Maikäfer wurden säuberlich präpariert und in kleinen Glaskästchen in den Farben des Regiments, silber-schwarz-gelb, im Kasino aufbewahrt. Als während der Revolution der plündernde Mob hier eindrang, blieb er still vor den Kästchen mit den datierten Kaisergrüßen stehen. Sie wurden nicht angerührt. Die Maikäfer wurden später an die noch lebenden ehemaligen Kommandeure des Regiments verteilt. Einige Jahre nach dem Kriege nahm der Kaiser den schönen alten Brauch wieder auf, nur daß jetzt die Flieger des Regiments - es hatte vierunddreißig Piloten während des Krieges aufgebracht, darunter einen tapferen ehemaligen Unteroffizier - die Käfer erhielten. "Meinen wahren fliegenden Maikäfern mit herzlichen Grüßen!" schrieb der Kaiser 1925 dazu aus Doorn. Diesmal trafen in der letzten Maiwoche wieder sechs lebende Maikäfer für die überlebenden Flieger des Regiments aus Doorn in Deutschland ein. Sie werden gerade im Museum für Naturkunde präpariert. Und den Empfängern schlagen die Herzen höher, mit leisem Kling und Klang und Tschingtara. Vorbei, vorbei.

Aber es kommt wieder; alles Gute kommt wieder.

Wir müssen nur über ein verlorenes, tatenloses Geschlecht hinweg die Überlieferung noch erhalten. Ungezählte Mütter in Deutschland tun es seit Jahren unter ihren heranwachsenden Söhnen in aller Stille. Auch im ganzen Volke wird der harte Boden wieder etwas locker; schon werden Soldatengeschichten aus dem Kriege, auch wenn sie nicht immer gut sind, doch wieder mit heißem Eifer verschlungen.

Umgekehrt muß das Volk aber von den ehedem regierenden Familien verlangen, daß sie ihrer Überlieferung treu bleiben. Es ist beste Tradition von der einen einzigen Front, wenn in München am Stahlhelmtage die Zollernprinzen Eitel Friedrich, August Wilhelm, Oskar, Wilhelm und der Herzog von Sachsen-Koburg in Reih und Glied stehen. Es ist aber das Gegenteil davon, wenn die jetzige Frau Subkow ihren Weg bis zu dieser Verirrung, von den Anfängen als Kaisertochter an, in einem Mosseblatt breit ausmalt. Es ist ebensowenig schön, wenn man jetzt zur Versteigerung des Mobiliars der "Prinzessin Joachim Albrecht von Preußen" in der Budapester Straße 2 eingeladen wird. Ich bin dagewesen und habe mir den Pofel - nur ein paar ganz leidliche Bilder befinden sich darunter - angesehen; da war sogar die Versteigerung bei Oscar Strauß etwas ganz anderes. Erschütternd schon die hilflose kleine "Bibliothek" mit ihren paar Bänden, neben Heinrich Mann ein dicker Band über Berufsverbrechertum, ein bißchen Klassiker, einige Romane. Im ganzen Hause nichts, aber auch gar nichts, was an preußische Geschichte erinnert. Der Prinz, jetzt schon ein alter Herr mit Franz-Josephs-Bart, ist Musiker von Neigung und vielleicht auch von innerem Beruf, dirigiert flott, hat einmal auch einige moderne Tänze komponiert, ist aber durchaus kein Genie etwa vom Format weiland Louis Ferdinands, dem man manches nachzusehen geneigt wäre. Seine Frau, die nun - warum, weiß man nicht - die Möbel und Bilder versteigern läßt, war einst ein Fräulein Stockhammer, brachte ihrem ersten Mann, einem Herrn v.Nostiz, schon ein Kind in die Ehe mit, und diesen Jungen hat der weichherzige Prinz Joachim Albrecht, Vetter dritten Grades vom Kaiser, kürzlich sogar adoptiert. Der trägt nun auch, wie nach der Weimarer Verfassung seine Mutter, den Namen "Prinz von Preußen". Die Republik freut sich darüber diabolisch; von solchem Zollernzuwachs kann sie nicht genug bekommen, denn es gehr viel Nimbus dabei verloren. Die Menge sagt sich nun einmal nicht, daß Fürstenkinder genau solche Menschen sind, wie wir alle, daß es also unter ihnen neben Hochstrebenden auch Sinkende gibt, etwas ganz Natürliches in großen Familien, sondern sagt: "Da seht ihr es ja! So sind unsere früheren Fürsten!" Sie denkt nicht daran, sich etwa für den Habsburger Erzherzog Leopold Wölfling zu begeistern, der doch ganz einer der Ihren geworden ist und jetzt einen Gemüsekramladen in Wien hat. Sie verlangt den Nimbus.

Er wird erst aus der Leistung wieder geboren. Man wird sogar einmal fragen, wenn das neue dritte Deutsche Reich ersteht, was die Prinzen für dessen Erstehen getan haben. Einstweilen sind sie Mitbürger wie wir und leben dem Tage. Der Tag bringt nicht immer Erfreuliches, aber immer Neues. Am Kurfürstendamm, vor dem Gloria-Filmpalast, steht ein leibhaftiger Prinz drei Köpfe in der Menschenschlange vor mir, die zur Kasse drängt. Man will den ersten in Deutschland aufgeführten Tonfilm sehen. In Amerika hat man diesen Ersatz für die Sprechbühne schon seit Jahr und Tag, in Kapstadt und in Kalkutta haben Schwarze und Braune schon längst den Tonfilm genossen, ist er keine Sensation mehr, sondern etwas Alltägliches wie Fernsprecher, Auto, elektrisches Licht.

Für Berlin aber jetzt seit drei Tagen eine ungeheure Offenbarung. Wenn Musik erschallt, zu der im gleichen Rhythmus auf dem Filmbild getanzt wird, wenn Menschen, verblüffend lebendig, aus dem Filmbild heraus zu uns sprechen, so fragen Damen auf den besten Plätzen immer noch: "Wer macht das ? Sind Leute hinter dem Vorhang ?" Es ist schwer, ihnen begreiflich zu machen, daß Bild und Ton gleichzeitig von demselben Zelluloidbande abrollen. "Habt ihr denn schon alles vergessen ? Habe ich euch nicht schon im Mai vorigen Jahres, vor den Wahlen, die Sache erklärt ? Wo man schon damals die Kandidaten im Tonfilm zu ihren Wählern sprechen lassen wollte, aber noch nicht fertig war ?" Ja, alles vergessen. Am liebsten möchten die Damen "mit den Fingern gucken", nachsehen, in welcher Kiste eigentlich Gigli steckt, der da so wunderbar singt und agiert. Nein, ein Grammophon ist wirklich nicht da. Es knarrt und kratzt ja auch nichts, der Ton schwingt frei im Raume, nur bei manchen Darstellern (Al Jolson, der singende Narr) etwas hohl und nasal. Das Stück selbst ist ein sentimentaler amerikanischer Schmarren. Aber die lebendige Sprache von dem Flimmerlaken her zu hören, ist so überwältigend, daß man ganz "drin" ist, daß erwachsene Männer, ausgekochte Berliner, mitlachen und mitweinen. Wenn Al Jolson - englisch natürlich, nun wenn schon - sein Kind in den Schlaf singt, wenn dieses unnennbar süße Kinderstimmchen seinen Daddy etwas fragt, manchmal ganz hell, manchmal schlaftrunken, dann ist die ganze Welt rundum verzaubert. In jedermann schauert eine Ahnung von den möglichen Weiten dieser Erfindung auf.

Nicht nur Weltgeschichte, sondern auch Familiengeschichte wird man fortan in bewegtem Bild und Wort aufbewahren können. In der Erinnerung verblassen Bilder, verebben Töne. Welch' unerhörte Sache, wenn wir unsere verstorbenen Lieben, unsere gefallenen Brüder, ganz anders als bei dem Hokuspokus der Okkultisten, so jederzeit zitieren und sie wieder sehen und hören könnten! Doch halt; schon meldet sich in mir der Ketzer. Man wird zwar - und auch da nur in seltenen Fällen - das unbefangene kleine Kind wohl tonfilmen können. Alles andere aber bleibt doch gestelltes Theater. Wir werden von Geschäftsreisenden überlaufen werden, die Familienszenen aufnehmen wollen. "Vater räuspert sich schon! Vater bereitet sich für die Nachwelt vor!" sagen dann die respektlosen Göhren, nachdem sie sich selber zurechtgeputzt haben. Oder soll schon das Brautpaar seine eigene Verlobung gleich vor dem Kurbler mimen ? Gräßlich; wir würden alle vertheatern. Oder wird die Erfindung so verbessert, daß sie ohne Jupiterlampen und ohne Schnurren, unmerkbar, so daß man sich nicht in falsche Positur werfen kann, uns in unserer wahren echten Alltäglichkeit aufnimmt ? Ohne daß einer der Aufgenommenen etwas davon ahnt ? Das könnte was geben! Für Kind und Kindeskind! Man hört klingeln, man sieht das Dienstmädchen mit der dampfenden Suppenterrine kommen, die Familie setzt sich zu Tisch, Karlchen zeigt Lieschen die Zunge, Vater raschelt mit der Zeitung, Löffel klappern. Dann knurrt es hinter der Zeitung hervor: "Die Suppe ist schon wieder versalzen!" Augenaufschlag der Mutter, Großaufnahme, Henny-Porten-Blick: "Und  g e r a d e  heute habe ich so wenig Salz genommen!" Da fliegt die Zeitung zerknüllt in die Ecke, man hört das Rücken des Stuhles, Vater springt auf, haut mit der Faust auf den Tisch, krach, bumm: "Gerade heute! Gerade heute! Das halte ich nicht mehr aus!" Karlchen kneift aus, Lieschen heult. Ein fabelhafter Tonfilm! Nur weiß ich nicht, ob die Familie ihn gern den Nachfahren vererben möchte.

Es wird also wohl doch bei der "gestellten" Welt- und Familiengeschichte bleiben. Ministerpräsident Braun spricht in Hemdsärmeln auf dem Parteitag in Magdeburg. Außenminister Stresemann prostet in Madrid der Entente auf Völkerversöhnung zu. Oberbürgermeister Böß eröffnet einen neuen Sportplatz für die Berliner Wohnungslosen. Die hinter den Kulissen sich vollziehende eigentliche Weltgeschichte bleibt wegen Beleuchtungsmangels unaufgenommen. Aus dem Familienleben gibt es aber auch nur Szenen voll Wohlwollen und Bratenrock.

Die Preisfrage, wie man sich die Liebe des Familienhauptes erhalten könne, wurde von einer Hausfrau einmal mit dem Satze beantwortet: "Füttert die Bestie gut!" Nicht übel. Bei mir zu Hause sagt man nicht so, tut aber so. Nun hätte ich gern einmal gehört, ob anderswo die Frauen noch besser kochen, und ging daher, eine Stunde vor Beginn, zu dem Reichswettkochen deutscher Hausfrauen in den Clou. "Ja, was man in Berlin nicht alles erlebt!", werden die Leute im Reiche sagen, wenn sie die Bilder von diesem Wettkochen in den Zeitungen sehen. Ich danke! Erstens konnten nur die 300 Bevorzugten, die man schon anderthalb Stunden vorher durch einen zweiten Eingang hereingelassen hatte, wirklich etwas sehen, die übrigen 4800 aber gar nichts. Und zweitens ging es gar nicht um Schmackhaftigkeit, sondern nur um - Gasersparnis, weswegen auch in "Etagentöpfen" üebreinander gekocht wurde, das Kaffeewasser, die Reissuppe, das Kalbfleisch, die Mohrrüben, das Aprikosenkompott, für alle fünfundvierzig Wettbewerber aus dem Reiche genau dasselbe. Und ich Illusionist hatte von fabelhaften Gerichten eigener Erfindung dieser Damen geträumt! Hatte an Kostproben für erfahrene Gourmands und an alle Wohlgerüche Arabiens gedacht! Für die eine Mark Eintrittsgeld bekam man übrigens noch "umsonst" Kaffee und zwei Stück Kuchen; die Gasgesellschaften lassen sich die Reklame gern etwas kosten. Also gingen rund fünftausend Damen - männlichen Geschlechts waren noch keine hundert Besucher - einfach wie zu einem Kaffeeschwatz hin, plauderten und ließen Reichswettkochen Reichswettkochen sein. Noch ein zweiter Mann saß zufällig an meinem Tisch, ein Herr aus Pommern. Seine Frau kochte wett. Er selber wurde von den Damen am Tisch weidlich verulkt. Ob er sie wohl zu Kempinski mitnähme, wenn seine Frau ihm den ersten Preis von dreitausend Mark brächte ? Ach nein, dazu sei man ja wohl zu alt; er werde dann wohl mit irgendeiner Siebzehnjährigen durchgehen.

Dazwischen wurde ich - es waren, wie überhaupt im ganzen Riesensaal, lauter Frauen aus kleinem Mittelstand - durch das Anhören der Gespräche darüber belehrt, wie man sich da eine festliche Tafel denkt. Alle Achtung: die Speisenfolgen zeigten von Verständnis. Nur die Berliner Ausdrücke kannte ich noch nicht alle. Beispielsweise den volkstümlichen Namen für - Radieschen noch nicht. Eine der Frauen sagte nämlich, zum Schluß müsse es immer eine Käseschüssel geben, - "un druff een paar scheene rote Rülpskirschen."
6. Juni 1929 (Donnerstag)


39

Beim Fest der arabischen Studenten - Sie "geht" mit einem Gelben - Galaoper - Kleiderordnung in den König-Fuad-Tagen - Männerstolz vor Königsorden - Die Sommerkönigin des Lunaparks - Max Reinhardts "Fledermaus" - Man spart für die Urlaubsreise.

Zwischen Tanger am Atlantischen Ozean und Kerkuk an de persischen Grenze habe ich an allerlei Orten allerlei Araber gesehen und mit manchem stolzen Schech gesprochen. Aber Araber im Smoking waren mir noch nicht über den Weg gelaufen; das habe ich erst in diesen Tagen in Berlin erlebt. Die hier studierenden jungen arabischen Mediziner hatten nämlich zur Tausendjahrfeier des arabischen Arztes und Forschers Abul Kasim eingeladen. Friede sei mit ihm. Von der arabischen Kunst um das Jahr 920 nach Christo weiß ich einiges, von der arabischen Wissenschaft aus der Zeit so gut wie gar nichts. Aber ein deutscher Professor der Geschichte der Medizin, Sigerist aus Leipzig, der Ehrenpräsident dieser Feier, hat uns allerlei Anregendes von dem großen Chirurgen Abul Kasim erzählt. Auch andere Professoren, nicht nur Mediziner, sondern auch Orientalisten, waren da, Offiziere von "Jildirim" aus dem Kriege, Weltbummler, Archäologen, Exportkaufleute, was weiß ich, "und dann die kleinen Mädchen". Am zweiten Abend saßen wir alle, von dem Vorsitzenden der Vereinigung El Arabiya Dr. Said Imam begrüßt, im Humboldthaus in der Fasanenstraße, dem schönen Heim sämtlicher Vereine ausländischer Berliner Studenten, und ließen es uns bei arabischem Kaffee und honiggetränktem Blätterteig wohlsein. Junge Araber, wie gesagt im Smoking, bedienten unermüdlich, kostümierten sich später heimatlich um, sangen allerlei Lieder, was der weniger angenehme Teil des Programms war, und führten dann Tänze auf und Scheingefechte mit Schwertern; und dieses war ganz herrlich, versetzte einen auf einmal nach Nordafrika, Nubien, Jemen, Syrien und ins Zweistromland. Neben mir saß ein Deutscher, der den Winter über in Bagdad gewesen ist. Während des Krieges hat er Eingeborene in Marokko aufgewiegelt; die Franzosen hatten damals 250 000 Franken als Preis auf seinen Kopf gesetzt, kriegten ihn aber nicht. Abdullah Mukrib macht mich mit seinen Landsleuten bekannt, die alle für Deutschland schwärmen und unserer Wissenschaft dankbar sind. Mit dem Hadsch Tschelebi aus Aleppo kann ich Erinnerungen an seine Vaterstadft austauschen. Nur spät abends, in dem Augenblick, wo, wie die Lokalreporter zu sagen pflegen, "der Tanz in seine Rechte tritt", verdrückte ich mich rechtzeitig.

Ich habe nie in meinem Leben, weder auf Reisen noch in Berlin (hier war bei Josefine Baker die Gelegenheit gegeben), eine Farbige auch nur angerührt. Umgekehrt kann ich es nicht vertragen, wenn deutsche Mädchen mit braunhäutigen Gesellen tanzen. Eine junge Dame aus guter Familie in Berlin "geht" jetzt mit einem angeblichen Javaner ("Ist er nicht süß?"), einem Musikstudenten, der in Wahrheit ein schlitzäugiger Filipino ist; nie wieder werden wir sie in unser Haus einladen. Darin denken wir ganz wie die Engländer. Aber dem männlichen Fremden gegenüber, der auf unserer Zivilisationshöhe steht, kenne ich keinen Hochmut, mit den dunkelsten Eingeborenen verstehe ich mich gut und jeden ehemaligen Asker aus Deutschostafrika könnte ich "direkt umarmen". Im Humboldthaus trifft sich nicht nur ganz Europa, sondern auch Georgier, Perser, Inder und andere Fremdrassige haben dort ihre Vereinszimmer und die gemeinsamen Festräume. Da hat man die ganze Welt beisammen.

Wer etwas arabisch kann, der ist heute, während der König-Fuad-Tage, in Berlin sehr angesehen. Dieser ägyptische Herrscher selbst spricht vollkommen geläufig drei Sprachen, darunter das Italienische, und kann in weiteren drei sich leidlich verständigen, aber in seinem Gefolge gibt es Leute, deren roter Tarbusch - der Fes - jetzt überall in der deutschen Hauptstadt auftaucht, die aber außer Arabisch kaum etwas verstehen. Die Republik hat sich sozusagen wieder alle Beine ausgerissen, um den König würdig zu empfangen. Auch Genosse Löbe hat wieder ein Frühstück "zu Ehren Seiner Majestät" gegeben und strahlt wie noch nie. Es ist auch schon eine ganz andere Majestät als etwa der afghanische "Ulle-Mulle" vom vorigen Jahr, ein König von rein europäischer (albanischer) Herkunft. Nur die wirklich europäischen Monarchen kommen, ach Gott, ach Gott, immer nur noch incognito zu uns, seit wir keinen Kaiserhof mehr haben, besuchen allenfalls Hindenburg, machen aber keinen Staatsbesuch.

König Fuad ist ein höflicher Mann und hat zu nichts spötisch gelächelt.

Bei der Galaoper unter der persönlichen Leitung von Richard Strauß wartet das Publikum fast eine halbe Stunde. Da geht es los, Tschingtara, ägyptische Hymne. Im Anschluß das Deutschlandlied, das aber mitteninne abbricht. Setzen. Falscher Alarm. Wir haben ja keinen Hofmarschall mehr, der durch dreimaliges Aufklopfen mit dem Stabe auf einfachste Art das Kommen der Herrschaften ankündigt. Irgendein Aufpasser muß zur Musik rennen und sagen: "Sie kommen! Sie kommen!" Also er hat falsch gemeldet, es war nur ein Polizeiauto. Endlich erscheinen König Fuad und Hindenburg. Beide sind müde, beide mopsen sich. Hinter ihnen nehmen die ersten Damen der Republik Platz, Frau Müller und Frau Löbe, und das Publikum zieht Vergleiche zwischen ihnen und zwei Damen der ägyptischen Würdenträger, die einen sehr aristokratischen Eindruck machen. In der Pause wird den Herrschaften in einem durch Oleanderhürden abgesperrten Viereck ein Imbiß gereicht. Von dort aus können sie sehen, was etwas stillos wirkt, wie deutsche Fracks und Uniformen Flaschenbier vom Bufett holen, den Patentverschluß aufschnellen lassen und sich eingießen. Dann dauert die Galaoper endlos weiter, bis nach Mitternacht. König Fuad und Hindenburg sind nicht sehr erbaut davon, sitzenbleiben zu müssen, während ein Teil des, ach, so wohlerzogenen republikanischen Publikums schon lange vorher, immer in kleinen Trupps, sich verzieht. Man hat doch nun mal sein Festgewand an, da will man doch in ein vornehmes Weinrestaurant zum Abendbrot, will zeigen, daß man dabei war . . .

Aber sonst hat bei König Fuad diesmal fast alles trefflich geklappt, am Zeremoniell war kaum etwas auszusetzen. Man hat sich aber auch Mühe gegeben und jedem neudeutschen Minister vorher eine Kleiderordnung, vier Folioseiten lang, durch den "Chef des Protokolls" vom Auswärtigen Amt überreichen lassen. Da ist für jede Minute alles geregelt. Zum Beispiel:

Montag, den 10. Juni.
10 Uhr vormittags. Empfang am Lehrter Bahnhof.
Zivil: Gehrock oder weggeschnittener Rock, dunkler Mantel, hoher Hut.
Militär: Großer Gesellschaftsanzug.
8 Uhr abends: Diner bei dem Herrn Reichspräsidenten.
Zivil: Chiffrefrack, Hut, weiße Handschuhe; oder Frack, weiße Weste.
Damen: Abendkleid.

Die Damen werden weiter darüber belehrt, daß man zu Nachmittagstees in Straßenkleid und Hut erscheine, also nicht ärmellos und mit byzantinisch wogendem Décolleté. So hat denn dies genügt, und Seine Majestät konnten mit Befriedigung bemerken, wie die rotesten Republikaner sich zu benehmen wissen. Im vorigen Jahre wurden sie noch weidlich verspottet, weil sie afghanische Orden und Herzogsmäntel annahmen. Der erste neudeutsche Minister, der sich schon vor Jahren exotisch schmücken ließ, war Stresemann, und zwar mit dem Stern von Aethiopien, den der abessinische Negus ihm verlieh. Diesmal beschloß das Kabinett gemeinsam, auf alles zu verzichten. Es bleibt beim Herzog von Afghanistan; Marquis von Nubien wird keiner mehr. Aber für alle Fälle ist man ja schon durch die bescheiden "Rote-Kreuz-Medaille" genannte deutsche Auszeichnung gedeckt, die als Halsorden von Staatssekretären getragen wird und sich genau so dekorativ macht wie der Rote Adler zweiter Klasse. Die Verfassung verbietet Orden, gewiß. Aber eine Medaille ist doch kein Orden, nüch ? Auch wenn sie nicht mehr die Form einer Medaille hat, sondern die eines richtigen Ordens. Auf den Namen kommt es an. Ich kenne einen Moslem, der trotz Koranverbots gern und viel Champagner trinkt; nur nennt er es eben vorsichtigerweise Selterwasser.

Die "offiziellen" vier Tage des Königsbesuches sind nun herum. Für die Berliner, bis weit in Arbeiterkreise hinein, war das Schönste daran, daß sie nach langen Jahren wieder einmal eine Reiterschwadron traben sahen und einen militärischen Zapfenstreich hörten. Nie wieder Krieg! Aber, ach ja, der liebe Kommiß! Die Fahnenkompagnie am Zeughaus! Dort hat König Fuad - ein Grab des "unbekannten Soldaten" oder ein nationales Kriegsdenkmal haben wir als einzige Nation ja noch nicht - einen Kranz im Lichthof niedergelegt. Nun atmet er nach vier Tagen des Gepränges heute Abend auf, nun kann er Mensch sein und in aller Ruhe auch das erheiternde Berlin - in bequemem Zivil - besichtigen und seinem Gefolge Zeit für das Vergnügungs-Berlin geben.

Gleich morgen wollen einige der Herren seines Hofstaates im Gewühl des Lunaparkes untertauchen. Mit etwas gemischten Gefühlen werden sie das "Araberdorf" mit seinen Handwerkern und Gauklern sich ansehen, wie es auch uns Deutschen nicht sehr angenehm ist, wenn wir irgendwo in Asien plötzlich auf zitherspielende "bayrische Eingeborene in Landestracht" stoßen, was eine Sache für uns bleiben sollte; niemals ließe etwa ein britischer Konsul es zu, daß schottische Dudelsackpfeifer vor Exoten tanzen. Unsere ägyptischen Besucher kommen nur zu der alljährlichen Hauptattraktion des Lunaparks diesmal zu spät: die Sommerkönigin 1929 ist bereits gewählt. Eine allerliebste kleine Stenotypistin, nicht der aufgemachte Mannequin-Typ, ein Mädchen aus dem Publikum, in schlichter Hemdbluse zufällig in den Trubel hereingerissen. Eine relative Mehrheit von über 800 Stimmzetteln entschied sich für sie. Dabei hat sie nicht einmal - ich kann wirklich nichts dafür - einen Schnittkopf, sondern langes Haar. Alle Bubimädchen sind wütend. Die Herren raten zu, wenn man sie fragt, ob man sich die Zöpfe abschneiden lassen soll. Wenn sie dann aber statt korrekt rasierter Hälse ein bißchen sich ringelndes Flaumhaar sehen oder sich gar vorstellen, wieder einmal lange, duftende Haarwellen durch die Hände fluten lassen zu können, sind sie sofort ganz verrückt und geben jedem Zopf den Schönheitspreis. Nein, nein, ich sage ja nichts gegen den Bubikopf. Einem lieben Gesichtchen steht alles. Aber wir Männer sind nun mal atavistisch. Wir lügen aus Bequemlichkeit, wenn wir der Sklavenschur zustimmen.

Etliche Junge lassen sich ihr Haar ja wieder wachsen. Aber das Gros der Alten legt sich jetzt den Schnittkopf zu und glaubt, nun sei man verjüngt. Kein Gentleman wird da seiner Frau widersprechen. Es hat ja doch keinen Zweck. Warum soll man debattieren ? Mag sie doch! Auch wenn sie das melancholische Schweigen, durch ein höfliches Lächeln erhellt, für Zustimmung hält. Im Krollgarten sehe ich solch ein Ehepaar sitzen, das die Hereinströmenden mustert. Er freut sich, ganz harmlos, an jedem jungen, hübschen Gesicht. Sie aber sagt jedesmal: "Ist sie nicht geschmacklos angezogen ?" Er nickt wie verloren. Ja doch, ja doch. Aber im Grunde denkt er, der so ganz unweiblich Organisierte: darauf kommt es doch gar nicht an.

Auf das Gutangezogensein legt man jetzt während der Festspielwochen in Berlin einigen Wert, um den Fremden zu zeigen, daß wir "Kultur" haben. Nur die Fremden kommen nicht. In diesem Mai waren sogar einige Tausend weniger in Berlin als in dem festspiellosen Mai des Vorjahres. Neben mir im Deutschen Theater hat eine dicke alte Bubi Platz genommen und - ich bitte um Verzeihung für das Wort - schwitzt vom ersten bis zum dritten Akt. Sie hat nämlich ihren Umhang anbehalten. Sie will doch ihren breiten Hermelinkragen zeigen. Das Theater ist trotz des schönen Sommerwetters und der ungebührlich hohen Preise, im Parkett 25 Mark, nahezu ausverkauft, denn ersten haben die Stahl- und Eisenherren Deutschlands in Berlin ihre Tagung und wollen nun abends "sich bilden", und zweitens wird eine wunderliebe neue Regieschöpfung Max Reinhardts gegeben. Fast erinnert sie an seine bislang größte Tat, an den Märchenzauber des Shakespearschen Sommernachtstraums. Und ist dabei doch nur - die alte "Fledermaus". Schier 55 Jahre ist sie alt. War zuletzt schon ein bißchen verstaubt. Nun ja, die Walzer! Da bleibt Johann Strauß in jedem Bogenstrich, in den züngelnden Violingängen, in dem begehrlichen Locken des Cello, in den Champagnerspritzern der Klarinette, in der wiegenden Akzentverlegung ewig unerreicht. Nur hatten wir für die allgemach altmodischen Gesellschaftsszenen nichts mehr übrig. Was außer dem Walzerprickeln blieb, war schließlich nur noch der Ziergesang der Adele und das wirklich "fidele" Gefängnis des letzten Aktes. Nun kommt Reinhardt und bläst dem Werke neuen Odem ein, den gallisch-jüdischen Esprit Jacques Offenbachs mit seiner ganzen Sinnlichkeit, dazu einen Schuß nicht nur leichtfertigen, sondern geradezu dionysisch beschwingten Wienertums so um 1890 herum, macht den Prinzen Orlowsky - bisher eine Hosenrolle für kecke Damen - zu einem leicht angetrottelten, etwas skeptizistischen, reichlich verschlagerten modernen Tenor-Erzherzog und bringt Leben in die Bude, indem er von der ersten Szene an alles im Walzertakt tänzeln, sprechen, trällern und später in den Gesellschaftsszenen mit Hilfe der Drehbühne die vielen Paare vor unseren Augen durch alle Säle und den Garten chassieren läßt. Alles muß mit. Links die Alte neben mir wippt weltvergessen mit dem Bein, rechts die Junge neben mir wiegt sich so selig, daß wir mitunter mehr als nur die militärische "lose Tuchfühlung" miteinander haben. Ohne Frage: das Stück ist auch frecher geworden. Im zweiten Akt, vor dem Souper, tanzen Grete Wiesenthal und ihre Balleteusen einen Walzer, der schon mehr Cancan ist, - aber etwas muß Reinhardt schließlich ja auch dem Kurfürstendamm bieten. Man hat sich viel darüber aufgehalten, daß er, nur dessen Bühnen die Stadt Berlin jede Lustbarkeitssteuer erläßt, er, dem sie im Bellevuepark am Tiergarten das schönste Heim Berlins geschaffen hat, fast das ganze Jahr hindurch in Salzburg oder auf seinem Schloß Leopoldskron oder in New York oder sonstwo lebt und in Berlin kaum mehr etwas inszeniert. Da kommt er uns nun mit der "Fledermaus", die in allen Humoren schillert, und hat wieder einmal "genug getan für alle Zeiten". Er hat jenes Wienertum verewigt, das nur genießerisch veranlagt war, lieber "pschütt" als "schneidig" sein wollte, keinerlei sittliche Verantwortung kannte. Im Weltkrieg ist es eingestampft. Der Schwips ist verflogen. Das heutige Wien ist nur noch eine sehr melancholische Angelegenheit.

Wer überall dabeigewesen sein muß, der ist also auch im Deutschen Theater gewesen. Im übrigen ist trotz der "Season" schon ganz stille Zeit. Die Mehrzahl der Berliner Menschheit ist doch nicht materiell vollkommen unabhängig. Die Mehrzahl schuftet, bei den Handarbeitern bis zu zehn, im Mittelstande bis zu zwölf, in den geistigen Berufen bis zu fünfzehn Stunden am Tage. Da braucht man mal Erholung und ein "Ganz-anders-Sein" auf Reisen. Jeder zweite Berliner spart also schon für die Sommerreise und läßt Theater Theater sein. Nicht jedermann kann sich dabei Luxus gönnen; man sieht auch auf Berliner Bahnhöfen Durchreisende aus besten Kreisen, die stundenlang im Wartesaal sitzen, aber die Ausgabe auch nur für eine Tasse Kaffee scheuen. Nur die Reise selbst ist der Glanzpunkt des Jahres, ist selige Vergessenheit: da hat man doch einige Wochen lang die Illusion, Mensch erster Klasse zu sein.
13. Juni 1929 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts