"Rumpelstilzchen"

Ja, hätt'ste . . .
(Jahrgangsband 1928/29)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1929

Glossen 16 - 18
27. Dezember 1928 bis 17. Januar 1929


16

Fertig zur Bescherung - Heilig-Abend-Läufer - Noch einmal in den Baracken der Staatenlosen - An den Gabentischen - Militärgeschichten - Wie mir die Kronprinzessin in die Fresse gehauen hat - Tee im Cecilienhof - Immer mehr Rummel.

Bloß nicht bis in die letzten Tage hinein! Das ist unsere Hauptsorge vor Weihnachten. Wir wollen mit der Bäckerei, mit den Handarbeiten, mit den Eeinkäufen so früh fertig sein, daß wir nicht abgehetzt zum Christfest kommen. Den Haddock, der am Weihnachtsmorgen das behagliche warme Festfrühstück bildet, hole ich mir freilich erst am 24. Dezember; und noch ein paar Stechpalmenzweige von der Blumenfrau. Alles andere ist längst bereit. Fröhlich und wohlausgeruht sogar einschließlich der Hausfrau (der brave Mann denkt an sie selbst zuletzt) können wir unter den Lichterbaum treten. Kurz vorher hat man noch das Hasten auf den Straßen sehen können. Da sind die vielen, die "schnell noch ein paar Kleinigkeiten zu besorgen" haben, stundenlang ausbleiben und schließlich totmüde nach verspäteter Bescherung - Bubi ist ganz unartig, heißt es dann - bei verspätetem Abendbrot sitzen. Auch die typischen Junggesellen stellen einen großen Teil der Heilig-Abend-Läufer in der City, weil sie erst jetzt, an Hand der endlich sortierten und beantworteten Festeinladungen, sich entschlossen haben, zu wem sie gehen und wem sie anstandshalber etwas mitbringen. Sie suchen in jedem Schaufenster die Lösung. Sie bleiben nachdenklich bei jedem Händler am Straßenbord stehen. "Kaufen Sie das kleine Hündchen, Herr! Wenn man auf den Gummiball drückt, springt es und bellt es! Das Hündchen ist garantiert stubenrein und völlig steuerfrei!" Ja, soll man Lehmanns Baby solch ein Plüschhündchen kaufen oder lieber einen Teddy oder gar einen schwarzroten Teufel ? Wie bei einem Theaterbrande, rette sich, wer kann, benehmen sich die Familienväter, die erst am 24. Dezember für sämtliche Lieben einkaufen, weil just erst an diesem Tage, der die Herzen weich macht, einer ihnen das Geld dazu lieh; mit dem Dezembergehalt und der Weihnachtsgratifikation hat man andere Löcher gestopft. Und schließlich gibt es unter den Heilig-Abend-Läufern - aber die fallen am wenigsten auf - ganz Heimlose, die wie Fledermäuse am liebsten im Dunkeln einherhuschen und froh sind, wenn sie in irgend einem Wartesaal auf einem Stuhl ein wenig schlafen können. Einem von diesen, einem schuldlos unter die Räder geratenen ehemaligen Kameraden und Kollegen, habe ich wenigstens nach dem Fest etwas unter die Arme greifen können.

Vorher aber draußen im Nansenheim bei den Staatenlosen mit freundlicher Unterstützung lieber Leser Bescherung gemacht. Die eine Dame, von der ich neulich erzählte, die in Dresden geborene Deutsche, Witwe eines berühmten russischen Mediziners, ist jetzt für zwei Monate vor der äußersten Not gesichert. Viele ihrer Unglücksgenossen sind neu eingekleidet und haben auch etwas Geld bekommen. Heimlich den Frauen zugesteckt; die sind, wenn sie das Elend der Kinder sehen, mürbe genug, um solche Geschenke anzunehmen, während die Männer, auch wenn ihnen der Hunger in den Augen flackert, immer noch Hemmungen haben. Bei dem Oberstleutnant a.D., der ein brillanter Rennreiter war und jetzt Fabrikarbeiter - mit der großen Sehnsucht nach einer Anstellung auf dem Lande bei Pferden - in Berlin ist, habe ich das Geld im Bettchen einer Puppe versteckt, die ein liebes kleines Mädel aus Schwaben mir geschickt hat; die Puppe bekam das etwa siebenjährige Kind des Oberstleutnants, das, vom Scharlach knapp genesen, blaß und mager und völlig apathisch dasaß, kaum mehr zur Freude fähig. Wie soll es sich hier erholen, wo auf vier mal zwei Metern vier Menschen (auch noch die Frau und die Schwiegermutter des ehemaligen Offiziers) ihren Koch-Wohn-Schlafraum haben, überhitzt, solange das eiserne Öfchen bullert, schneidend kalt, sobald man es ausgehen läßt, und immer gesättigt mit Feuchtigkeit ? Keine öffentliche Fürsorge nimmt sich der Leute an. Denn sie sind ja, auch die unter ihnen, die als Deutsche geboren sind, jetzt staatenlos. Sind lauter Niemande, sind lauter für die Welt Gestrichene.

Unsereins fängt da jedes Christfest mit einem Dankgebet an. Wie haben wir es doch gut! Man gedenkt in dieser kurzen Zwiesprache mit dem Herrgott seiner Gnade, man gedenkt derer, die zur Zeit irgendwo "drüben" sind, so des einen Jungen, der gerade in Villagarcia in Spanien ist, und derer, die schon "droben" sind, so des lieben Onkels, der in Atlantic City beim Schwimmen einen Herzschlag bekam. Dann werden sozusagen die Hürden geöffnet und männiglich strömt in die Weihnachtsstube. Das sind bei uns nicht so viele wie etwa bei Börries v.Münchhausen in seinem Altenburger Schloß in den Wiesen, und so poetisch wie er in dem neuen kleinen Balladenbuch kann ich das Fest auch nicht schildern, aber es ist poetisch, selbst wenn wie diesmal so viele "praktische" Sachen geschenkt und alsbald an allen Tischen Überschuhe, Pumps, Gamaschen, Skistiefel anprobiert werden. Überall gibt es doch auch Bücher und überall die schier unergründlichen Weihnachtsteller. Fragt man in diesen Tagen nach dem jetzt Jüngsten im Hause, dem Pflegesohn in der Quarta, der sich gar nicht bemerkbar macht, so erhält man die Antwort: "Er liest und frißt!" Na, dann ist es ja richtig. Knabbern und knacken und schmökern, das war auch, als wir Kinder waren, für uns das Allerschönste. Der eine der eigenen Söhne, der sich der Bildhauerei ergeben hat, bekommt etwas weniger zum Lesen als die anderen, mehr zum Sehen. Ein prachtvolles Buch über die Kunstformen in der Natur. Dann die deutsche Geschichte in Bildern. Kunst, Kunst, Kunst; ich selbst stehe etwas ehrfürchtig und doch etwas lächelnd davor. Wie sagte doch der wackere Professor in Tübingen ? "Das Schönschte und Erhabenschte, was die griechische Kunscht geleischtet hat, ischt der Bruschtkaschten des Demoschthenes." Ich schwärme mehr für Kruse, Sinding, Gaul, Bezner, Rodin als für Praxiteles und Genossen. Mich stört schon das nachgeahmt Klassizistische vieler unserer neuen Kriegermäler. Immer wieder der nackte Jüngling, allenfalls mit Stahlhelm oder kurzem Römerschwert. "Spätere Geschlechter werden denken, daß der Weltkrieg sich in einer Schwimmanstalt abgespielt hat", meinte neulich die alte Garde-Exzellenz v.Loewenfeld zu dieser Sucht.

Unsere beiden Ältesten haben ja auch noch, der eine mit 15 Jahren, ein Stück Weltkrieg und schwere Verwundung und Gefangenschaft erhascht, und wenn "alte Krieger", wie wir drei, zu Weihnachten wieder einmal zusammentreffen, blüht die Militärpoesie wieder auf, werden die alten Anekdoten erzählt. Darunter die uralte von dem Gardekürassier-Gefreiten Müller, der die Rekruten im Einzelvorbeimarsch Grußübungen machen läßt. Wer in seiner Person verkörpert sei, sagt er immer vorher. Also der Herr Regimentskommandeur. Oder der Herr Wachtmeister von der 4. Schwadron. Oder der Herr Polizeipräsident. "Schön, den brauchste nich zu jrüßen, aber da kommt jrade die Straßenbahn jefahren un vorne druff steht Ihre Majestät die Kaiserin, also los!" Der Rekrut stapft los und macht sehr ungeschickt Front, wobei er fast über seine eigenen Beine stolpert, und da wird der Gefreite Müller fuchsteufelswild und ruft: "Weißte, unsere Kaiserin is ja 'ne sehr jute Frau, aber det Honneur sehen, runner von die Straßenbahn und dir eens in de Fresse jelangt, det is nur een Momang!" Und nun kann ich den Jungens ein Seitenstück dazu erzählen, eine wahre Geschichte, die unsere Leibgeschichte zu werden verspricht, und die heißt: Wie mich die Kronprinzessin in die Fresse gehauen hat. "Was, eine wahre Geschichte, die Kronprinzessin dich, Vater, in die Fresse gehauen ?", fragt halb zweifelnd, halb empört mein Ältester. Jawohl ja. Es war auf dem Fest eines Offizierverbandes, von dem ich im vorigen Jahr berichtet habe; nur diese Geschichte, die allda passiert ist, habe ich damals "unter dem frischen Eindruck" verschwiegen. Also ich werde wie auch andere Leute der Kronprinzessin vorgestellt. Sie ist erheblich größer als ich, hat ja die Figur einer Merovingerkönigin, und während ich zum Handkuß zusammenklappe, etwas zu tief, fährt sie gleichzeitig mit ihrer Rechten empor, etwas zu hoch, und schon schlagen ihre Fingerknöchel mir die Lippenparade durch bis auf die Zähne. Umgekehrt hat die "hohe Frau" natürlich diese Marke Zähne auf ihren Fingerknöcheln gespürt. Aber freundlicher Weise nichts gesagt. Und ich sagte perplexer Weise auch nichts. So blieb die wahre Geschichte, "wie mich die Kronprinzessin in die Fresse gehauen hat", in der Umgebung unbemerkt und konnte bei uns zu Hause zur unberührten und vererbbaren Familienanekdote werden. Nach meinem Tode - oder schon vorher - mag sie aber von meinen republikanischen Antipoden ruhig unter dem Titel registriert werden: Der Gipfel des Byzantinismus.

Schade, daß diese Leute so wenig Sinn für Wahrheit und Schlichtheit und Natürlichkeit haben, sonst würden sie nicht immer noch der kronprinzlichen Familie, die niemand in Deutschland in die Quere kommt, es nachtragen, daß sie zufällig nicht die Familie Rentier Müller oder Amtsgerichtsrat Schulze ist. Wer in ihrem Heim, dem Cecilienhof im Neuen Garten bei Potsdam, sie gesehen hat, der weiß wenigstens, daß er nicht auf "Herablassung" oder "Leutseligkeit" gestoßen ist, sondern auf die frische Herzenswärme, wie sie für so manches deutsche Landedelhaus typisch ist. Vor einigen Tagen war hier ein größerer Kreis, es mögen an die 60 Personen gewesen sein, zum Tee geladen und zu dem nachfolgenden Vortrag des Freiherrn v.Hünefeld über seinen Ostasíenflug. Natürlich waren die Zitzewitz, Arnim, Winterfeld und andere altpreußische Namen unter den Gästen vertreten, aber auch Literatur, Malerei, Theater, Presse, Technik, alles zwanglos in bunter Reihe; darunter in Uniform ein schwedischer Hauptmann, der sich sehr der Anerkennung freute, mit der seines Landsmannes, des Chefpiloten auf dem Ostasienfluge, gedacht wurde. Hünefelds alte Mutter kuschelte sich zuerst etwas an meine Frau heran, zu der sie ein beglückendes Zutrauen hat, bekam aber nachher während des Vortrags in der Halle vorn einen Ehrenplatz. Inzwischen hatte man Zeit gehabt, sich in dem kronprinzlichen Heim, das zum Glück kein Palais voll steifer Pracht ist, umzusehen. Professor Schultze-Naumburg hat mit dem Cecilienhof, der von außen wie ein breit hingelagertes schottisches Landhaus aussieht und innen mit seiner warmen Täfelung und seinen Kaminen und schlicht-modernen Möbeln Behaglichkeit ausstrahlt, eines seiner Meisterwerke geschaffen. Von den Kindern des Kronprinzenpaares bekam man nur den Prinzen Louis Ferdinand zu sehen, den "perfekten Spanier", der schon jenseits des großen Wassers gewesen ist und an diesem Abend an den Teetischen mit behilflich war. Er ist wohl sogar noch ein Endchen größer als der Vater, aber nicht so bolzengerade.

Das Weihnachtsfest ist nicht hier, sondern in Oels in Schlesien begangen worden. Da hat man doch seine Leute; und die Gutsherrschaft gehört zu ihren Leuten. Cecilienhof ist doch mehr oder weniger zur Berliner Absteige geworden. Das "Zuhause", in dem man das Christfest verbringen muß, ist Oels. Wir alle haben, die Obdachlosen und die "Schlafburschen mit Wechselbett" abgerechnet, doch irgend ein Zuhause, in dem wir uns zu Weihnachten gern auf uns selbst und auf das Einst besinnen. Auf das, "wie es war", als wir selbst noch klein waren. Nur das Heute ist manchmal so öde, daß es einen vor den eigenen Wänden graut. Darum machen wenigstens in Berlin die Hotels und Restaurants um diese Zeit die besten Geschäfte: jeder Tisch ist von Dauerschmausenden besetzt. Diese, ach, so armen "Reichen" ahnen nicht, wieviel mehr sie vom Feste hätten, wenn Vater daheim, auch ohne den Bratenrock anzuziehen, den Weihnachtsbraten zerteilte und einmal ganz aufgetan vor den Seinen wäre. In Berlin ist der 25. Dezember, nur daß da öffentlich nicht getanzt wird, vielfach schon Rummel. Und wir haben doch schon von Silvester bis Maifeier wahrhaftig hier ständig Rummel genug.
27. Dezember 1928 (Donnerstag)


17

Makronen - Poseidon im Wellenbad - Pfilchtgemäßer Neujahrshumor - Im sechsten und siebenten Lokal - Die Dame - Der Funkspruch zum Mars - Gratulationscour bei Hindenburg - Stresemann Ehrengast in der Kirche - Politische Pfarrer.

Noch einmal, am Altjahrsabend, erstrahlt der Christbaum. Noch einmal werden die Weihnachtsteller gefüllt. Noch einmal spitzen sich Mäuler und Mäulchen, wenn etwas unter den Süßigkeiten entdeckt wird, das es im vorigen Jahre angeblich nicht gab. Bestimmt gab es nicht diese Makronen. Nach meinen Kindheitserfahrungen sind der Hauptbestandteil dabei Mandeln. Häusliche Überlieferung pflanzt sich fort: also buken auch wir unsere Makronen so. Die hat es bei uns sogar Weihnacht 1917 mitten im Kriege gegeben, wenn auch nur ganz wenig. Nach dem Herbstangriff jenes Jahres bei Karfreit, seit unserem übermächtigen Einbruch in Venetien, vor dem die Italiener, die bis dahin nur gegen Österreicher gekämpft hatten, in panischem Entsetzen durch 23 befestigte Linien hindurch ausrissen, fand ich in einem Voralpendorf ein Kramlädchen, in dem es auch Mandeln gab. Davon kaufte ich ein halbes Pfund und schickte das als Weihnachtsgeschenk nach Hause. Was aber die Berliner Bäcker in den Jahren seither als Makronen verkaufen, das ist meist aus Kokosnuß gemacht, mit ein paar Tropfen Bittermandelöl, das eine chemische Frabrik aus ihren Retorten ausgeschwitzt hat. Nun hatten wir diesmal, seit Menschengedenken das erstemal, nur Spekulatius gebacken, keine Makronen. "Die Kinder sind ja schon so groß", hieß es. Und man könne es doch bequemer haben, man kriege ja alles beim Bäcker. Ich schäme mich zwar bis in die Seele meiner seligen Mutter und aller ihrer Vorfahren hinein, gehe aber schließlich doch in den Laden und frage das bedienende Fräulein, ob ihre Makronen aus Kokosnuß oder Mandeln zubereitet seien. Und ich erhalte die Antwort: "Weder das eine noch das andere, mein Herr; Makronen werden aus Makronenmasse gemacht!"

Da war ich auf den Mund geschlagen, zahlt und ging. Diese Makronen schmecken tatsächlich ganz nach - Makronenmasse. Nach meinen Begriffen etwa so wie Ersatzei und Hindenburgspeise und Heldenfett im Kriege. Ich hätte, sagt mir ein Fachmann, nicht zum Bäcker, sondern zum Konditor gehen sollen; übrigens bestehe die Makronenmasse, die große Fabriken herstellen, vorschriftsmäßig wirklich aus Mandeln und Zucker. Na schön; dann waren unsere Makronen eben nicht vorschriftsgemäß. Ich habe nur "schandenhalber" zu Silvester noch eine vom Teller gegessen. Nein, da lobe ich mir doch das gute, echte, alte Material. Aber wenigstens die Flasche Mosel, die ich an diesem Abend dem wackeren jungen Otto Schreiber, dem Verfasser des "Calafate" aus Patagonien, bestimmungsgemäß bei uns vorsetzte, war gut und echt und alt. Um so säuerlicher und unreifer die übernächste Flasche, die wir - im Wellenbad am Lunapark tranken. Dort begannen wir nämlich zu dritt - auch Onkel Konrad war dabei - unseren Silvesterbummel, der für mich Berufspflicht ist, den anderen aber etwas Neues war. "Das allerneueste: Silvesterfeier im Wellenbad! Ulkige Wasserpantomimen! Gtt Poseidon selber hält die Festrede!" Das wäre doch mal was anderes, denkt man sich, als der übliche Berliner Stumpfsinn mit forciertem Radau. Ein junges Mitglied unserer Familie wird ja im Frühling, kurz vor Mombassa an der ostafrikanischen Küste, den Gott Poseidon erleben, wenn der auf der "Emden" die Linientaufe vornimmt. Aber den Gott im Berliner Wellenbad, oder vielmehr sein Gefolge, stellt man sich doch netter vor. Vor allem wird es auf der "Emden" sicherlich nicht so viele entzückende Wassernixen geben. Auch auf der "Berlin", die inzwischen heimwärts zum letzten Male den Äquator passiert hat und Weihnachten diesmal, laut Beschluß der roten Berliner Stadtväter, zum erstenmal ohne Geschenke von der Patenstadt gefeiert hat, gibt es ja keine weiblichen Insassen. Aber trotzdem sind wir aus dem Wellenbad schon vor Mitternacht, schon vor Poseidons Auftreten, ausgerissen, woran nicht nur der Surius schuld war. Trotz der komischen "Trauung im Wasser", wobei das Brautpaar mit Kind, der Standesbeamte und die Trauzeugen und die Amme aus den Bütten fielen, trotz des "Jockeywettreitens" von vier jungen Damen mit hocherhobenem Steiß auf Balken mit Pferdekopf, trotz des wirklich guten Wettspringens vom 10 Meter-Gerüst war das Ganze doch nur eine biedere Vereinsmeierei für, sagen wir einmal vornehm zeitgemäß, "Hausgehilfinnen" aus Halensee und Umgegend, die an diesem Abend Ausgang hatten. Gute Seidenstrümpfe, aber schlecht geputzte Fingernägel. Gegen 3 Uhr morgens soll in Badeanzügen getanzt worden sein. Na wenn schon.

Da hatten wir schon unser viertes Lokal längst hinter uns. Den Jahreswechsel erlebten wir, ohne von dem Radau auf der Straße etwas zu merken, weil der Radau drinnen auch nicht zu knapp war, im Kempinski-Betrieb im Haus Vaterland. Da sind wenigstens die Getränke besser als das Publikum. Aber der Radau kommt, wie überall in Berlin, nicht aus überschäumendem Herzen, sondern aus Pflichtgefühl. Mit sittlichem Ernst werden Papierbälle geworfen. Mindestens bis um 4 Uhr morgens darf man nur seiner eigenen Frau oder seinem eigenen Schatz einen Kuß geben. Wenn man, was man im Laufe des Jahres täglich unangefochten tun kann, in der Silvesternacht mit einer fremden jungen Dame tanzt, wirft sie im Vorübergleiten ihren Angehörigen um Entschuldigung stammelnde Blicke zu. Tätschelt man eine, in der Erinnerung an rheinischen oder süddeutschen Karneval, auf den Rückenausschnitt, so stehen alsbald wie aus der Erde gewachsen zwei Herren im Frack oder Smoking mit so düsteren Mienen da, als wollten sie sagen: "Bitte um Ihre Karte!" Es ist alles so fabelhaft gesittet. Auch der sogenannte Humor bricht in solcher eminent mittelständischen Veranstaltung immer nur periodisch sozusagen auf Kommando aus, wenn ein Angestellter des Hauses wieder einmal einen Arm voll Kinderballons verteilt. Da ist man in Patagonien doch herzhafter, sagt Otto Schreiber.

Um ½2 Uhr haben wir ihn in die Untergrundbahn nach Hause verfrachtet und sind zu zweit alleine weitergegangen. Durch die großen Hotels. Da ist es nun "ganz fein"; da wird über "bloß" Smoking oder Tanzjacke schon die Nase gerümpft. Wer bei Adlon oder im Kaiserhof, wo Oberbürgermeister Böß und rote Regierende und fremde Diplomaten zu 40 Mark das trockene Gedeck tafeln, wirkliche Lust erwartet, der irrt sich. Im Excelsior, wo zuletzt deutscher Sekt warm und nur französischer in Eis serviert wird, weil bei dem Massenandrang sogar in diesem Riesenbetrieb die Kühler knapp werden, tanzt in allen Räumen das gewöhnliche Citypublikum. Unter den Tausenden sind schließlich frühmorgens - im allgemeinen verfliegt der Alkohol beim Tanzen - im ganzen ein Herr und zwei Damen leicht beschwipst. Das erregt Aufsehen. Jede Gesellschaft hat natürlich eine Flasche Schaumwein vor sich stehen, aber es bleibt meist bei der einen; nachher lebt man von Selters und Kaffee. Wirklich losgelassen und ausgelassen geht es gegen 6 Uhr morgens nur bei Schwannecke und in ähnlichen Künstlerlokalen zu, wo kein Platz mehr zu haben ist. Da ist man leichtsinnig. Da wird in einer Nacht das ganze nächste Filmhonorar verjubelt. Auf dem Heimweg noch ein Blick in ein paar "ganz gewöhnliche Kutscherkneipen": da kommt es zwar vor, daß dem einen oder anderen - behufs Lusterzeugung betreffend Neujahr seitens der Nachbarn - Cognac heimlich in die Molle Bier geschüttet wird, denn die einzige Neujahrsfreude ist doch die Schadenfreude, wenn der andere tüchtig Kater hat, aber auch da geht es in Berlin recht ordentlich zu. Insgesamt sind am Altjahrsabend und in der Neujahrsnacht in der Reichshauptstadt diesmal nur 238 Personen, weniger denn je, wegen groben Unfugs oder Widerstands gegen polizeiliche Anordnungen sistiert worden; in dem "trockenen" New York in derselben Nacht wegen sinnloser Trunkenheit 982 Personen. Von Jahr zu Jahr bestimmter kann ich diese Ernüchterung bei uns feststellen. Aber in Hinterniedertupfenhausen glaubt mir das kein Mensch.

Nur meine Frau und meine Tochter und meine Schwägerin glauben es mir. Die haben vor, glaube ich, drei Jahren den Bummel mitgemacht, im Sportpalast getanzt und sich über die ganze Ehrpusseligkeit gewundert, vielleicht sogar gefreut. Um so beruhigter können sie mich nun allein losziehen lassen. Vor allem und hauptsächlich sind sie aber daheimgeblieben, ehrlich herausgesagt, weil der Bummel unnütz so viel Geld kostet. Ich selbst habe nur eine ganz zarte Erinnerung an die diesmalige Neujahrsnacht, wie leichten Duft einer köstlichen Habana. Am Nebentisch im Excelsior saß eine Dame von vielleicht 30 Jahren, ganz Dame von Gestalt und Kleidung, die nicht recht hierherzugehören schien. Nur ihr Gent paßte in das Milieu. Sie warf mir und meinem Schwager einmal einen ruhigen tiefen Blick zu, in dem zu lesen stand: "Ich weiß, ich weiß, aber Ihr seid ja auch nur zufällig hierher verschlagen! Viel lieber liefe ich mit Euch im Schnee oder läse Börries v.Münchhausens neuerschienenes köstliches Liederbuch! Verzeiht bitte, und sagt es nicht weiter!" Nein, wir sagen es nicht weiter.

Aber zum Abschluß dieser trotz künstlichen Radaus geruhsamen Nacht haben wir uns dann noch das Vergnügen gemacht, deutsche Beamtenkorrektheit festzustellen. "Ein gesegnetes Neues Jahr!" sagen wir auf dem Telegraphenamt und bekommen freundliche, lächelnde Antwort. Wir wollen einen Funkspruch aufgeben:

"Antwort bezahlt.
Herrn Rippenbiest.   Phoebosstraße 3.
Mars.
Prost Neujahr!   Rumpelstilzchen."

Der Beamte wälzt dicke Bücher. Eines, ein zweites, ein drittes. Fragt schließlich, ob wir Le Mars im Staate Dakota in Nordamerika meinten. Nein, sage ich, wir meinen den Planeten Mars. In England und in Ungarn seien anstandslos solche Funktelegramme angenommen worden; das sei doch Bargeld für den Staatstelegraphen. Da blickt der Beamte mich sinnend an, klappt seine Wälzer zu und sagt ruhig: "Dahin besteht keine Verbindung!" O du goldiger, lieber, deutscher Beamter du! Wir haben ja auch gerade nur noch so viel Geld, daß wir uns eine Autodroschke nach Hause leisten können. Nochmals: ein gesegnetes Neues Jahr!

Am 1. Januar, etwas übernächtig, aber mit klarem Kopf, sind wir "Volk" in der Wilhelmstraße. Stumme Gratulanten vor Hindenburgs Haus. Da rollen alle die Würdenträger heran. Ruck, zuck, präsentiert die Wache der Reichswehr auch vor Hermann Müller, derzeitigem Reichskanzler, der am 30. Juli 1914 in Paris angereist kam und die französischen Genossen wissen ließ, die deutsche Sozialdemokratie werde, falls mobilgemacht werde, streiken, worauf die Franzosen natürlich mit erheblich gestärktem Siegesgefühl losschlugen. Müller erscheint bei Hindenburg im Zylinder und bürgerlichem Schwarz. Stresemann aber hat zum erstenmal Uniform angelegt. Ich meine natürlich keine militärische; während des Krieges hatte der damals noch junge Abgeordnete Stresemann sich selbstverständlich als unabkömmlich reklamieren lassen. Sondern die in der Republik ganz neue Diplomatenuniform mit Straußfedern am Zweispitz. Fein, sehr fein. Damit wird die Gleichberechtigung Deutschlands, die endlich erkämpfte, auch dem begriffsstutzigsten Bürger klar. Zur Christmette am 24. Dezember war Herr Stresemann - allein, ohne Frau und Söhne - in der Neuen Kirche erschienen, aber nicht schlicht und unauffällig, wie es Hindenburg bei seinen sonntäglichen Besuchen in der Dreifaltigkeits- oder einer anderen Kirche macht, sondern feierlich von dem Pfarrer Horn aus der Sakristei zur ersten Sitzreihe geleitet. In seiner Ansprache an die verdutzte Gemeinde sagte der Pfarrer denn auch: "Wir wollen dem Manne, der sich so für den Frieden eingesetzt hat und der eben unter uns weilt, von Herzen dankbar sein!" und später im Gebet: "Laßt uns den Mann in unser Gebet einschließen, der im Ausland für uns kämpft, und Gott für ihn um Gesundheit und Kraft bitten!" Nach Schluß des Gottesdienstes ging der Pfarrer vom Altar herunter zur ersten Sitzreihe, begrüßte Stresemann nochmals und geleitete ihn vor der staunenden Gemeinde feierlich wieder durch die Sakristei hinaus.

Es war sehr erhebend und sehr verwunderlich. Aber ich mag die politischen Pfarrer nicht. Für den hinreißenden Volksredner Stöcker, das gestehe ich gerne, habe ich als junger Mensch eine Schwäche gehabt. Und in seiner Stärke und Schwäche ist er ganz wunderbar plastisch in dem soeben bei Reimar Hobbing erschienenen, historisch wahrhaftigen und objektiven Buche "Hofprediger Adolf Stöcker und die christlichsoziale Bewegung" von Dr. Walter Franck dargestellt, das viel ehrlicher ist als die allzu freundschaftliche Biographie aus der Feder Dietrichs v.Oertzen. Aber für die späteren politischen Pfarrer, auch die begabtesten und feurigsten unter ihnen, habe ich nun schon gar nichts übrig, ob sie nun sozialistisch wie Bleyer oder deutschnational wie Döhring denken. Unpolitische Predigten von Döhring höre ich gläubig und gern. Aber wenn die Kanzel sich für Parteiprogramme oder Parteimänner einsetzt, dann wünsche ich zuweilen, der Heiland käme wieder und machte sich wieder eine Geißel aus Stricken. Wir gehen in den kommenden Jahren vielleicht Notzeiten entgegen, die so groß sind, wie nach dem Dreißigjährigen Kriege. Da muß das Wort Gottes schlicht bleiben.
3. Januar 1929 (Donnerstag)


18

Das Abendkleid - In Wartezimmern von Modesalons - Der Tiergarten im Winter - Berlin in Oberschreiberhau - Der Fliegende Holländer modern verstaatlicht - Hauptmann Toboggan - Zur Herrentoilette.

Was macht man da, möchte ich bloß wissen: ich hab' eine perverse Frau. Eine normale Frau freut sich doch, wenn sie ein neues Kleid bekommen soll, das "bemerkt" wird, freut sich wie ein Schneekönig. Die meinige aber strampelt dagegen mit Händen und Füßen. Unbegreiflich. Direkt pervers. Bisher hat "das" Abendkleid alljährlich stets unsere brave Hausschneiderin zusammengestochert, ein einziges Mal haben wir uns auch ein fertiges bei Herpich gekauft, vor ungefähr 20 Jahren. Warum soll man nicht einmal, ach, einmal nur, in einen richtigen "Modemaßsalon" irgendeiner Spezialistin gehen, einen von denen, die immer, mit Bildbeigaben nach den großen Bällen, in den Zeitungen genannt werden ? "Du, die Erna Domke in der Nürnberger Straße macht diesmal zum Presseball ein fabelhaftes Kleid für die Prinzessin Carolath, und kaum teurer, als unsere Hausschneiderin!", sage ich. Eine normale Frau würde nun sofort lüstern werden und würde etwa fragen, ob Tüll, ob Seide, ob Stilkleid, ob Schleppe und so. Die meinige aber erklärt nur verstockt: "Ich bin keine Prinzessin!" und dann, als ich mich hinsetze und an Domkes schreibe, angsterfüllt: "Du wirst doch nicht ? Ich gehe nicht mit!" Kunststück, sie trotzdem am nächsten Tage in die Autodroschke zu bugsieren. Dann sitzen wir im Wartezimmer, dann stehen wir im Salon, dann werden Modelle gezeigt, dann muß meine Frau den Mantel ausziehen und wird gemustert, während die Phantasie der Kleiderkünstlerin zu arbeiten beginnt. "Aber gnädige Frau haben ja sehr anständige Beine!", sagt diese offenbar erleichtert; sie hat wohl gedacht, ich brächte ihr ein sibirisches Mammut. Meine Frau ist aber nicht etwa geschmeichelt, sondern vergeht vor Scham, ist glücklich, als wir dem Modemaßsalon endlich entronnen sind, nachdem wir uns auf rotes Chiffongefieder über Seide geeinigt haben. Und abends sitzt sie zu Hause, und plötzlich kollern ihr die Tränen herunter, und sie schluchzt leise: "Dein schönes Geld, das du so schwer verdienen mußt!"

Ja, sagen Sie selbst: lohnt es sich überhaupt, mit einer so naturwidrigen Frau auf einen Ball zu gehen ? Alle anderen Damen werden sie belächeln, wenn sie das hören. Ich habe jetzt wieder in mehreren Modemaßsalons gesessen, in denen die Massary oder Frau Oberbürgermeister Böß oder Mady Christians oder andere "bekannte" Größen neben vielen mehr oder weniger unbekannten aus Berlin W arbeiten lassen, und ich bin in den Wartezimmern auf ganz andere Exemplare des sogenannten schwachen Geschlechts gestoßen. "Den Nutria-Pelz trotze ich meinem Manne auch noch ab!", sagt da eine zu ihrer Freundin und wirft mir einen Blick zu, als sei ich ihr Mann. Ich bin das einzige männliche Wesen überall und sitze verschüchtert auf einer Stuhlecke. Ich sehe wirklich ganz unscheinbar und nichts weniger als wohlhabend aus in dem Bureauanzug und dem geklebten Schlips. Trotzdem holen fast alle Damen sofort das Spiegelchen heraus und machen sich kampffertig. Zeigen dann aber nicht etwa ein schönstes lächelndes Gesicht, sondern ihre Knie; die in reiferen Jahren noch mehr als die anderen. Also das ist wirklich ganz Berlin W, ganz anders, als das unserige daheim. Geduldig wie beim Arzt warten alle die Damen. Plötzlich steht eine außer der Reihe auf, drängt sich an dem meldenden Dienstmädchen vorbei und ruft in den Salon hinein: "Ach, ich habe schon seit sechs Stunden nichts gegessen, und ich nehme Sie auch nur drei Minuten in Anspruch!" Es werden aber zwanzig Minuten. Das ganze Wartezimmer ist schon nervös, weil es sich hat überrumpeln lassen. "Tja, gewisse Leute verstehen's!", heißt es rundum.

Vor all den Sorgen um die Rüstung für die großen Bälle, deren es jetzt allwöchentlich mehrere gibt und die unsere Mondänen doch "unmöglich" allesamt in dem gleichen Kleide besuchen können, haben die Damen aus Berlin W keine Zeit dazu, den Winter und seine Schönheit zu bemerken. Gewiß, in den Straßen erster und zweiter Ordnung ist alles braun und zerfahren. Aber schon im Tiergarten ist es ganz herrlich. Man geht über knirschenden weißen Schnee, man atmet unendlich süße, reine Luft ein, das Tosen der Großstadt ist nur wie das gleichmäßige leise Grollen fernen Trommelfeuers vernehmbar. Und man ist da vormittags so köstlich einsam. Ein Schwarzspecht hämmert einen kranken Baum nach versteckten Ameisen ab, hat ihn schon bis zu sechs Metern Höhe fast entrindet. Ich stehe wenige Schritte abseits. Es kümmert ihn nicht. Draußen um Berlin starren die Seen unter Eispanzer, da ist Leben, da ist Wintersport, aber da ist auch die Masse Mensch. Der Tiergarten ist in solcher Zeit doch das allerschönste.

Ich freilich habe es in diesen Tagen noch schöner gehabt, weil ich wieder einmal in den Bergen war, dort, wo es immer "garantiert sicher" Schnee gibt, da in der Gegend der Reifträgerbaude und hinunter bis Petersdorf, in dem Lande Rübezahls, aus dem wir sonst unsere guten Dienstmädchen und, wie eben wieder, von befreundeter Seite gelegentlich einen feisten Hasen bekommen. Auch dort ist Berlin. Wo wäre es nicht ? Aber in diesen zehn Tagen in Oberschreiberhau habe ich unter den vielen Hunderten jüngerer und älterer Damen nur einmal eine gesehen, die den Lippenstift benutzte. In der Natur wird man wieder natürlich. Auch war es diesmal ja nicht mehr das übliche "Weihnachtspublikum" von Geschäftsleuten aus Berlin W, die mit ihrem weiblichen Anhang zum Protzen und Gesehenwerden in das Wintersportquartier gehen, sondern wirklich Sporttreibende oder, wie ich in diesen Tagen, Erholungsbedürftige, zumeist aus dem guten, gebildeten Mittelstand. Ich habe keinen Kleiderluxus gesehen, nicht einmal im Hotel Lindenhof, wo nur eine einzige "goldene" Berlinerin typisch berlinisch war. Aber dafür in Königs Hotel abends ein junges Mädel in grünem Crêpe-de-Chine-Kleid, den gelb gemusterten weiten Rock angekraust, das, wenn es die Arme zu dem Tanzpartner erhob, ganz entzückende Grübchen auf den Schulterblättern zeigte. Sogar Onkel Konrad, der alte Junggeselle, bemerkte es und freute sich. Und eines Nachmittags saß im Erker in der Lukasmühle eine Familie alten Systems (im Kriege sagten wir: Edelpanjes), die wir mit dem gleichen Wohlgefallen genossen; da war die Mutter, in altem Hermelinschal, sogar noch hübscher als die hübsche Tochter mit ihrer blonden Helene-Mayer-Frisur. Warum soll man solcher Augenweide nicht froh sein ? Besonders, wenn man tagsüber die große Herrlichkeit in den Bergen genossen hat und die Hänge hinuntergesaust ist, bis die Backen glühten und die sogenannte in der Großstadt verkümmerte "Vitalität" an die Rippen pochte. Oben auf der Neuen Schlesischen Baude großes militärisches Treiben. Mannschaften aus der ganzen Division im Skilanglauf, das Offizierkorps bis zum General hinauf dabei. Ein Oberstleutnant, der besten Läufer einer, ist von seinen zwei kleinen Töchtern begleitet, Dotzchen von etwa 7 und 8 Jahren, die auf winzigen Skiern wie die Windsbraut daherstieben. Nachts phantastisches Biwak zwischen verschneiten und vereisten gänzlich eingemummten Märchenbäumen. Herrlich, herlich; wenn nur nicht immer die Angst vor Berliner oder sonstigen "Bekannten" oder Lesern wäre! Dann muß man Konversation machen, statt sich zu erholen. Also habe ich den Damen du Bois, in deren gutem, rein deutschem Fremdenheim ich wieder wohne, furchtbare Drohungen für den Fall geschrieben, daß sie mich mit richtigem Namen und richtigem Beruf vorstellten. Also heiße ich Holz und bin Großtierimporteur. Das ist ein gutes Geschäft. In Deutschland ist ja seit 1918 die Nachfrage nach Kamelen enorm gestiegen. Eine Liegnitzer Arztfrau, die bei Tisch neben mir sitzt, ein lieber guter Schneekamerad, sagt anzüglich: "Aber als Sie vor vier Jahren hier waren, da waren Sie doch Reisender in Kunstdünger ?" Sie lächelt. Aber sie hält Gott sei Dank dicht. Eine andere Dame, mir durchaus gesinnungsverwandt und sehr sympathisch, erzählt mir als Neuestes, daß vielleicht Rumpelstilzchen herkomme, das sei doch sehr interessant, und liest mir aus ihrer Zeitung, die sie sich hierher nachschicken läßt, einiges aus seinem letzten Berliner Allerlei vor. Nun wirds brenzlich. Ob ich den kenne ? Jawohl, sage ich, etliches von ihm habe ich gelesen, aber Rudolf Presber gefällt mir viel besser, der hat mehr eingeborenen Humor und ist belesener und gebildeter und macht außerdem wundervolle Verse. Das Thema kehrt alltäglich wieder. Die Gefahr muß abgewendet werden. Also schicke ich an Bekannte in Krummhübel im Brief eine Karte, die sie dort einwerfen möchten. Die Karte ist an diese Dame im Fremdenheim du Bois in Oberschreiberhau gerichtet, und darauf steht, ich hätte von Freunden gehört, daß sie mich dort erwarte, und ich ließe Damen nur ungern warten, aber sie könne ihrem Schöpfer danken, der ihr diesmal meine Bekanntschaft und damit eine Enttäuschung erspare: "Ich bin nämlich nur am Schreibtisch genießbar, in Gesellschaft bin ich wortkarg bis zur Unhöflichkeit und mache mein dämlichstes Gesicht, mit dem ich verbleibe Ihr aufrichtig ergebenes Rumpelstilzchen." Das liebe alte Fräulein bekommt die Karte, freut sich, will antworten. Ob Herr Holz nicht mit unterschreiben wolle ? Aber natürlich. Mach' ich, mach' ich. So, nun wird sie hier gedruckt auch diese Enthüllung lesen. Nichts für ungut, meine Gnädigste! Und wenn ich das nächste Mal, dann aber wirklich total unkenntlich, etwa als November-Oberregierungsrat auftauche: bitte nichts verraten.

Vorläufig bin ich wieder in Berlin unter Berlinern. Muß leider auch wieder am Kulturpegel des Theaters den heutigen Tiefstand ablesen. In der staatlichen Kroll-Oper wird der "Fliegende Holländer" in der von Richard Wagner selbst entworfenen ersten Fassung mit ihrem grellen Blechgetöse gegeben, gänzlich entzaubert, die Darsteller in modernem Havelock auf einem Kubus in der Bühnenmitte, der wie ein Boxring von Scheinwerfern angestrahlt wird. Der Holländer mit Zuchthausvisage. Die Spinnmädchen und die Hauptheldin als Käte-Kollwitz-Typen. Eine Zeitung der Linken schnüffelt und schreibt: "Es riecht kadaverös." Das soll ein Lob sein. Das Stück, das musikalisch außerdem total verklemperert ist, soll nicht gespenstisch-romantisch wirken, sondern eben leichenfahl. Proletarisch verblüffend. So wie es Richard Wagner sich nie gedacht hat. Sogar die Tante Voß findet, daß diese Matrosen und diese Spinnerinnen wie "Mitglieder eines Verbrechervereins" aussehen. Wenn nun Fremde von Distinktion oder wagnerhungrige Deutsche aus irgendeiner kleinen Stadt im Reiche sich das ansehen und anhören, was sollen sie dazu sagen ? Ist das noch Kunst ? Warum nur das Alles ? Das staatliche Programmheft klärt uns darüber auf: "Der Ur-Holländer ist das Werk des Revolutionärs, des Mannes der schwarzrotgoldenen Freiheit, im revidierten Holländer spiegelt sich schon die geistige Wandlung." So, nun wissen wir es. Man darf nie die Werke innerlich gereifter Künstler geben. Die Politik gebietet, nur ihre Jugendausbrüche zu unterstreichen und sogar etwas ganz anderes aus ihnen zu machen, als die Verfasser es wollten, - also zu fälschen. Dieser Parole unserer staatlich angestellten Kunstkommunisten verdanken wir ja auch die bolschewisierten "Räuber" Schiller unter Ausmerzung seines gewaltigen Ethos. Wir verarmen künstlerisch und sittlich. Und Berlin "zieht" immer weniger als Theaterstadt. Wir haben nämlich nur noch Experimentierbühnen.

Auch Gerhard Menzels "Toboggan" im Theater in der Königgrätzer Straße ist Experiment geblieben und wieder abgesetzt. Ist Menzel nicht Träger des Kleistpreises ? Nun ja. Aber wer entscheidet über den sogenannten Kleistpreis ? Das sind die Herren Engel, Eloesser, Jeßner, Jacobs und Genossen. Im Theater wird uns nicht das Buchdrama "Toboggan" vorgeführt, sondern nur dessen erster Akt und letzte Szene; alles andere ist gestrichen, um- und neugedichtet. Das hat dieser Gerhard Menzel, ein sicherlich sehr talentierter Mensch, sozusagen aus dem Handgelenk gemacht. Das Schicksal des wackeren Hauptmanns und Abteilungskommandeurs Toboggan, der schwer verwundet wird, irrtümlich auf die Totenliste kommt, von da ab überall als überflüssig empfunden wird, sogar bei seiner früheren Geliebten daheim, und schließlich im Schnee des Stadtparks sich zu ewigem Schlafe hinlegt, ist eigenartig und ist stellenweise mit Wucht und Wahrheit geschildert. Auf der Berliner Bühne wirkt es nur kraß. Überdies läßt die Regie diesen Hauptmann so zerschlissen und verludert auf Heimatsurlaub herumstrolchen, wie wir kaum im November 1918 revoltierende Berliner Soldaten gesehen haben. Während der im Einzelnen meisterhaften Darstellung war einem die Kehle wie zugeschnürt.

Um diese Probleme ist dem jungen Tipp-topp-Berliner von heute nicht mehr bange. Nie wieder Krieg! Man rüstet nur zu dem Wettkampf der Geschlechter. In der Toilette des Burgund, der Tanzdiele des Zentralhotels, pralle ich zurück, weil mir scheint, daß ich in die Damentoilette geraten bin. Es liegen so viel Büchschen und Döschen da herum und weißer und rosa und brauner Puder. Aber der alte Wärter sagt: "Sie sind ganz richtig. Für Herren. Fünfzig Prozent der Berliner jungen Herren pudern sich. Meist weiß und rosa. Im Hochsommer und jetzt aber braun."
17. Januar 1929 (Donnerstag.)



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