"Rumpelstilzchen"

Ja, hätt'ste . . .
(Jahrgangsband 1928/29)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1929

Glossen 13 - 15
6. bis 20. Dezember 1928


13

Junge Mädchen von heute - Die Unschuld aus der Provinz - Baltenabend im Esplanade - Alle Filmstars auf einem Haufen - Konversation und Ballgespräch - Die traurige Mär vom Rauchen - Die Frau "von" auf dem Dach.

"Nein, aber sowas! Das ist ja unerhört. Das sind eben die jungen Mädchen von heute. In Berlin natürlich. Zu unserer Zeit . . ."

Liebe gnädige Frau, verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber ich möchte gern etwas Beruhigendes sagen. Ich glaube nicht an irgend eine Entwicklung, also auch nicht an die zum Schlechten, sondern nur an die Wellenbewegung, an das ewige Auf und Ab. Im Jahre 1828 erschienen entrüstete Zeitungsartikel über die Tanzwut der jungen Mädchen von damals. Im Jahre 1528 mußten polizeiliche Verordnungen gegen das Schieben und Wackeln erlassen werden. Gretchen-Tragödien hat es schon zu Fausts Zeiten gegeben. Und wenn Sie es beklagen, gnädige Frau, daß das junge Mädchen von heute den Hausschlüssel hat und so gut wie unkontrolliert ist, so denken Sie bitte doch an die Zeit vor 30 Jahren zurück, wo man sich über den Typ "Nixchen" entrüstete, den die Schriftstellerin Hans v.Kahlenberg (Frau v.Mombert) damals mit verblüffendem Freimut geschildert hat. Nixchen hatte sogar einen Freund von sehr vorgeschrittenen Jahren. Heratete dann aber und spricht heute sicherlich ähnlich wie Sie über die Entartung der gegenwärtigen Jugend. Wie, meinen Sie ? Ich solle die Laxheit nicht auch noch verteidigen ? Ach so, sogar Frechheit haben Sie gesagt ? Ich denke ja gar nicht daran, ich verteidige nicht, klage auch nicht an, sondern stelle als ruhiger Zeitbeobachter nur fest, was ist und was war. Ich kann sogar Wasser auf Ihre Mühle schütten, indem ich Ihnen sage, daß das, was Sie in solche Aufwallung setzt, sich durchaus nicht auf Berlin oder andere Großstädte beschränkt. Auch die kleinen Mädchen aus der behüteten "Provinz" sind dem Auf- und Abwogen von Sitte und Herkommen unterworfen, sind in gewissen Jahren der Unausstehlichkeit - sie kommen später, als die Lümmeljahre der Buben - greulich ehrfurchtslos, werden aber schließlich wohl auch zu Müttern, die dann die gute alte Zeit verteidigen. Da kommt dieser Tage zu Bekannten von uns, einem alten Geheimratsehepaar, das von einer kargen Pension lebt und sich ein Dienstmädchen nicht halten kann, ein solches junges Ding aus einer Kleinstadt auf einige Tage zu Besuch. Denkt natürlich nicht daran, beim Tischdecken zu helfen oder auch nur die Bettdecke morgens auszulegen, bringt aber gleich am Morgen einen Arm voll Kleider und sagt zur Frau Geheimrat: "Bitte, können Sie mir die Sachen vielleicht plätten ?" und verlangt nach dem Mittagessen den Hausschlüssel. Frau Geheimrat, die so etwas wie Verantwortung für die sechzehnjährige Tochter der Jugendfreundin fühlt, wird rot und stammelt: "Ich dachte, ich meinte, heute Abend im Schillertheater, da wird ein klassisches Stück gegeben, wir glaubten, das könnten wir uns mal leisten, und Sie mit uns, ich dachte . . ." Die Kleine aber lacht hell auf und hantiert mit ihrem Lippenstift vor dem Spiegel. Nein, sie habe schon eine Verabredung. Mit einem Studenten aus ihrem Heimatsort. In eine Revue. Und dann in ein Tanzlokal. So gegen 3 Uhr werde sie wohl zu Hause sein. Am nächsten Morgen könne sie ja allein nachfrühstücken. Das gefällt Ihnen nicht, gnädige Frau ? Mir auch nicht. Aber da will ich Ihnen gleich etwas von einem jungen Mädchen erzählen, was Ihnen gefallen wird. Hat daheim noch fünf Schwestern. Ist in Berlin bei Verwandten von uns in Pension, bereitet sich im Lettehaus zu einem Beruf vor, was der Vater, ein höherer Beamter mit knappen Bezügen, gerade noch schaffen kann. Diese Tochter und gleichzeitig die Mutter brauchen dringend einen neuen Wintermantel; die Tochter hat keinen mehr, die Mutter einen unmöglichen. Nur für einen langt das verfügbare Geld. Es wird der Tochter nach Berlin geschickt. Sie dankt den lieben Eltern, kauft auch einen Mantel, aber - einen für die Mutter passenden; und wird ihn in hellem Jubel zu Weihnachten mitbringen.

Mädchen von diesem Typ findet man natürlich nicht zu Hauf auf jeder Tanzdiele, obwohl auch sie durchaus nicht an der Jugendlust vorübergehen. Wer einem solchen innerlich taufrischen Ding, und wenn es auch nicht auffallend hübsch oder auffallend geistreich ist, begegnet, der fühlt sich begnadet. Selbst jene gereiften und bereiften Herren, die auf Jungwild zu pürschen pflegen, weil es so oft alten Technikern der Liebe erliegt, werden da ganz still und andächtig. Hin und wieder kann man noch auf den Berliner Baltenfesten - auf anderen Bällen sehr selten - junge Mädchen dieser Art treffen. Es sind viele "von" und "zu" aus verarmten Geschlechtern von jenseits und diesseits der Memel da, die heute genau so im Berufsleben stehen wie unsereins oder sich darauf vorbereiten. Ich plaudere einen Augenblick mit zwei solchen Damen, Schwestern, die eine Schneiderwerkstatt haben. Ich sehe mich nach der kleinen Komteß um, die als Säuglingspflegerin in fremde Häuser geht. Ich treffe ein entzückend knospenhaftes Mädel, das sich auf den Beruf der Modezeichnerin vorbereitet. Mit gutem alten Schmuck um den Hals, aber sonst arm wie eine Kirchenmaus, erscheint die junge Ärztin aus schwäbischer Ritterfamilie an unserem Tisch. Drüben sitzt eine Lehrerin und unterhält sich mit einer Apothekergehilfin, von deren Gehalt die Mutter, die greise Freifrau, mitleben muß. Die um dieses Fest alljährlich verdienteste Komiteedame, Frau v.Brümmer, eine gewinnend natürliche, liebe Frau, ist die beste Stimmbildnerin und Stotterheilerin von Berlin. Ihr junger Sohn hat als Techniker am "Grafen Zeppelin" in Friedrichshafen mitgebaut. Natürlich stehen nicht alle Festteilnehmer in hartem Daseinskampf. Die zarte Frau v.Hindenburg, die auch zu dem Ballausschuß gehört, hat ihr schönes Heim in Palais des Schwiegervaters, des Reichspräsidenten. Die diesmal in ihrer schlichten Blondheit auffallendste Erscheinung, eine tannenschlanke Gräfin Arnim, die wie eine junge Königin alles Volk überragt, ist auch noch nicht in das Erwerbsleben hinausgestoßen. Neben ihr tanzt aber wiederum ein Fräulein "von", das als Edeltipse "mit Französisch und Englisch" früher jahrelang bei einem Politiker gearbeitet hat, jetzt bei einem Industriekonzern weniger interessant beschäftigt ist und mich fragt, ob ich nicht einen anderen Posten wüßte. Und eine junge Freiin aus Westfalen, die hier am Arm eines Leutnants der Reichswehr walzt, steht tagsüber an den Walzen einer Tapetenfabrik. Nicht nur ich allein bin von leiser Rührung ergriffen. Die Direktion des Esplanadehotels hat diesmal zum erstenmal auf die 300 Mark Miete für die Festräume verzichtet, und zwar mit der Begründung, es sei ihr eine Ehre und Freude, an den beiden Baltenabenden des Jahres eine so auserlesene, gute Gesellschaft bei sich zu sehen.

Am selben Abend - oder vielmehr: in derselben Nacht - bin ich dann "vergleichshalber" noch auf dem Filmball. Ein größerer Gegensatz läßt sich kaum denken. Hier ist nicht Schlichtheit Trumpf, sondern raffinierte Aufmachung. Unter den Damen eine Fülle bildhafter Schönheiten von silberblondem Selbstbewußtsein, unter den Herren viel schwärzliches Direktorengewimmel; diese beiden Gruppen sind die repräsentativen der Berliner Filmmenschheit, die zum erstenmal auf ihrem "offiziellen" Ball, der dem alljährlichen Presseball an Prachtentfaltung gleichkommen soll, sich mit den Prominenten aller Berufe, mit Würdenträgern, Politikern, Offizieren und bloßen Kurfürstendammern vereinen. Eine Tombola ganz wie auf dem Presseball, nur nicht ganz so reich, weil von einem Warenhaus nach geschäftlichen Grundsätzen aufgebaut. Hauptgewinn ein Auto. Es fällt auf die Nummer 149, während ich auf 159 ein Teesieb aus Blech gewinne. Bei zehn teuren Losen. Ich muß seit einiger Zeit viel Glück in der Liebe haben, denn im Spiel habe ich es, im Gegensatz zu früher, nicht mehr. Ein wenig exklusiver ist der Presseball doch noch, denn er ist ein Subskriptionsball, da können nicht Hinz und Kunz noch am Abend an der Kasse eine Eintrittskarte sich kaufen. So ist es denn kein Wunder, daß man auf dem Filmball neben denen vom Bau und denen der Gesellschaft auch manche Hereingeschneite trifft, auch manches Mädel, das berufsmäßig Liebesgeschichten nicht filmt, sondern erlebt. Die Filmschönheiten selber sind ja fast durchweg verheiratet, sogar die blutjunge mädchenhafte Brigitte Helm (Metropolis), der das schneeweiße lange Chiffonkleid so eng anliegt wie Seidentrikot auf bloßem Leibe. Noch zarter ist nur noch, mit ihren 92 Pfund Lebendgewicht, die hübsche Lilian Harvey, und kann dabei doch tanzen wie ein Champagnerteufel. Um Dina Gralla, Mady Christians, Ellen Richter, Jenny Jugo, Lee Parry, Elga Brink, Henny Porten, Carmen Boni und andere bilden sich immer wieder Gaffergruppen; die Direktorinnen, vielmehr die Gattinnen der Direktoren, die Corell, Kohn, Melamerson, Pfitzner usw., könnten neidisch werden, wenn sie nicht das Gefühl hätten, wenigstens in punkto Toilette den Wettbewerb aushalten zu können. Im übrigen ist natürlich alles bei Kroll prima prima und das zahlende Publikum entzückt, einmal seine sämtlichen Lieblinge vom Flimmerlaken, die schönen weiblichen und die interessanten männlichen, zur Auswahl lebendig beieinander zu haben. Von den männlichen sollen auch alle dagewesen sein; aber deren Gesichter und Namen behalte ich nicht so gut, um sie weitergeben zu können.

Seit es auf den Bällen Mode geworden ist, mehrere Kapellen spielen zu lassen, strömt man aus einem Saal in den anderen, gibt es kaum Gesprächspausen mehr. Die Kunst der blitzenden Konversation wird ja immer weniger geschätzt; ich persönlich bin darüber nur erfreut, denn ich beherrsche sie nicht. Womit ich nicht etwa sagen will, daß die sogenannten "ostpreußischen Ballgespräche" oder auch die Mikosch-Geschichten mir liegen. Die Mehrzahl der Unterhaltungen bei flüchtiger geselliger Begegnung bewegt sich doch ungefähr auf dem NIveau der klassischen drei Sätzchen:

"Na wie geht's Ihnen ?"
"Na es geht so."
"Na dann geht's ja!"

Diese meist blöde Frage nach dem Ergehen, auf die man nur einen Dank oder eine nichtssagende Antwort erhält, kann ich nicht leiden. Ich selber stelle sie nie und beantworte sie wahrheitsgemäß auch nur dem Arzt, der - neben der Mutter oder einem geliebten weiblichen Wesen oder einem väterlichen Freunde - der einzige ist, der sie stellen darf, weil er helfen will. Gott sei Dank vergehen immer Jahre, ehe ich ausnahmsweise einmal einen Arzt zu bemühen brauche, denn Akutes kenne ich so gut wie nie und zu Chronischem muß man ja sowieso Ja und Amen sagen, wenn es aus Lebensgewohnheiten stammt, die man nicht ablegen will. Nur einmal hat mich da, als ich, das einzige Mal in meinem Leben, eine schwere Grippe gehabt hatte und nach Kissingen mußte, ein Arzt, es war der famose Sanitätsrat Dr. Uibeleisen, in seinem Sanatorium überlistet. Ich war auf seine Frage, ob ich viel rauche, gefaßt. Auch darauf gefaßt, daß er mir sagen würde: "Rauchen Sie fortan nur so und so viel Zigarren!" Für diesen Fall hatte ich außer meinen gewöhnlichen noch außergewöhnliche und extra außergewöhnliche Dinger, diese 3½ Zentimeter dick und 23 Zentimeter lang, mitgenommen, um ihn damit zu beluchsen, wenn er mir etwa nur 4 täglich erlaubte. Da wäre ich schon ausgekommen. Denn an jeder dieser extra außergewöhnlichen raucht man gut und gern drei Stunden. Aber Dr. Uibeleisen, der mich im übrigen in dreieinhalb Wochen zum schlanken Marathonläufer machte, war noch schlauer als ich. Er kontingentierte zeitlich. Er sagte: "Rauchen Sie bis Mittag gar nicht, nachher dann, soviel Sie wollen!" Jetzt ist es wieder einmal so weit, daß ich mit einem Arzt paktieren muß. Seit einiger Zeit habe ich beim Schlucken Beschwerden. O, eine herrliche Zeit! Denn alle die Meinigen, denen ich im Vertrauen und ganz spitzbübisch gesagt hatte, ich glaubte ja nicht, daß es Speiseröhrenkrebs sei, waren seither von einer geradezu rührenden Liebe für mich erfüllt. Ich war Hahn im Korbe, Kind am Mutterbusen, ich war "der Vater", dem natürlich alles Beste zustand, man erschöpfte sich in tausend Nettigkeiten, man debattierte mit mir nur noch verhalten. Ich kam mir vor wie die junge Frau der Witzblätter, die eine Ohnmacht markiert und daraufhin von ihrem Gatten einen Breitschwanzpelz mit Chinchillakragen kriegt. Nun ist alles wieder aus. Ich bin ein ganz gewöhnlicher Fall geworden. Ich habe mich dem Geheimrat Professor Weber im Lazaruskrankenhause zur Röntgenuntersuchung gestellt, kriegte ein kupfernes Zweipfennigstück auf den Nabel gepappt, damit man an diesem dunklen Punkt das Magenende erkenne, und den Mund voll Wismutbrei, den ich langsam herunterschlucken mußte. Da sahen nun der Geheimrat und eine Ärztin im lebenden Röntgenbilde, wie der metallische Brei hinunterrutschte. Nein, er stieß nicht an irgend einer etwaigen Verdickung an. Ich habe nur eine simple Atrophie des Schlundes, eine Austrocknung der Schleimhäute, befördert durch jahrelanges Rauchen, aber auch durch Nichtrauchen in Jahrzehnten nicht wieder gutzumachen, nur durch Inhalieren von Jodbromkali ein wenig zu lindern. Jetzt stelle ich mich als warnendes Exempel der gesamten männlichen und weiblichen Jugend vor, stelle mich selbst an den Pranger, obwohl der Geheimrat mir gesagt hat: "Also rauchen Sie ruhig weiter!", und erhebe meine Stimme: Gehet nicht hin und tut desgleichen! In Berlin werden heute fast wieder so viel Zigarren und viermal so viel Zigaretten geraucht als vor dem Kriege. Das ist ein Unfug, sage ich pflichtgemäß. Selbst im Ballsaal der blaue Hecht. Selbst im Damenzimmer die Gardinen angegelbt. O diese Jugend von heute!

Es mag sein, daß im Innern der Reichshauptstadt, wo die Luft an sich schon nicht gerade lungenreinigend wirkt, das Rauchen besonders schädlich wirkt. Der Geheimrat sagt ja auch, in frischer Luft könne es jeder tun. Also ziehe ich vielleicht noch einmal in einen Vorort. Da draußen in solch einem Pensionopolis sitzt dieser Tage eine alte Dame, eine Frau v. Soundso, auf dem Dach des Vorbaus der kleinen Villa wie Peer Gynts Mutter Aase. Ein Mann auf der Walze, der das "von" auf dem Türschildchen gelesen hat, bleibt stehen und ruft:

"Sie, Madam, soll ick Sie runnerhelfen ?"

Sie dankt fröhlich und sagt, nein, sie sei ja extra hinaufgekrochen, um an dem Dach etwas zu reparieren. Und da schüttelt der Pennbruder sein Haupt, entfernt sich langsam und brummt:

"Wat de Vonse heit nich alles machen!"
6. Dezember 1928 (Donnerstag)


14

Deutsche Mohammedanerinnen - Ein Gespräch mit Professor Abdullah am Fehrbelliner Platz - Patriarch Antonij - Im Berliner Nansenheim bei den Staatenlosen - Coty auf dem Wunschzettel - Im Schatten des Calafate - Wir alle haben einen Onkel.

Manche Damen halten sich eine Zwergbulldogge. Manche Damen tragen ein Monokel. Manche Damen besuchen Verbrecherkeller. Und manche Damen legen sich eine exotische Religion zu. Auch das ist nämlich auffallend schick. Nachmittags um die blaue Stunde kann man so nett darüber plaudern und so fachmännisch wie etwa über die neuen Skikostüme eines Warenhauses. Über den menschgewordenen angeblich göttlichen Krischnamurti, den die Theosophin Annie Besant, die verrückte alte Schraube, entdeckt hat und in den Salons von Europa herumzeigt, ist man in Berlin schon wieder hinaus. Am modernsten und schicksten ist zur Zeit in Berlin W der Islam. Draußen in der Brienner Straße, am Fehrbelliner Platz, erhebt sich die Moschee der Mohammedaner mit ihren hohen Minarets und dem angeklebten Pfarr- und Lehrhause. Hier versammlen sich Freitags abends nach Allah dürstende Damen (eine von ihnen, die noch in der vorigen Woche in der großen Moschee in Surrey in England gewesen ist, schleift mich hin) und auch einige Berliner männlichen Geschlechts, unter denen ich einen jungen Studenten, einen jungen Arbeiter, einen alten Gymnasialprofessor, einen alten Kleinrentner kennengelernt habe. Man versammelt sich zu Religionsgesprächen wie sonst zum Fünfuhrtee. Einigen ist es Herzenssache, vielen ist es Spielerei; einige kommen als Gottsucher, viele aber suchen nur die Gelegenheit zu einem koketten kleinen Flirt mit dem Geistlichen, dem erst 28jährigen jungen Professor Abdullah aus Lahore in Indien. Er ist europäisch elegant gekleidet, radebrecht entzückend deutsch, hat ein schwarzes Kinnbärtchen und friedevolle Messiasaugen. Sein Vorgänger, Sadr-ud-din, hatte dieselben indischen Augen, war aber schon ein bißchen fett und hatte einen dicken Vollbart. Eine stattliche Monatsschrift in deutscher Sprache wirbt für Mohammed, kleinere Heftchen erklären den Ritus und verdeutschen das arabische Gebet. Als Primaner habe ich einmal einen buddhistischen Katechismus in die Hände bekommen. Ich war begeistert, erschüttert, hingerissen. Da hatte ich endlich die Reinen, die Übermenschen, die Jenseitsmenschen! Später habe ich buddhistishes Volk an Ort und Stelle in Asien gesehen, dreckig-dumpfes fanatisches Heidenvolk, und habe eingesehen, was für ein falsches Bild uns diese auf gebildete Europäer berechneten Katechismen und Missionsschriften geben. Auch der Islam trägt in der Diaspora ein täuschendes Gewand. Mit dem Professor Abdullah komme ich gleich in eine Debatte. Da steht in den Werbeschriften man könne "ohne jede Zeremonie" zum Mohammedanismus übertreten. Und die Beschneidung ? Na, ich danke. Da steht ferner, der Islam sei die einzige Weltreligion des Friedens und mit der Verpflichtung zur Liebe auch gegen alle Andersgläubigen. So ? Hat er nicht von Abu Bekr, Omar, Ossman, Ali angefangen bis in die letzten Jahrhunderte hinein mit Feuer und Schwert gegen alle "Ungläubigen" gewütet ? Liefert er nicht noch heute in Indien den nichtmohammedanischen Landsleuten, zum Vergnügen der Engländer, täglich blutige Schlachten ? "Und der Islam ist auch die erste Religion gewesen, die der Frau die gleichen Rechte einräumt wie dem Manne." Da lachen wirklich die Hühner. In der Türkei ist erst heute die Frau freigeworden, nachdem Kemal Pascha den Islam an die Wand gedrückt hat. Aber das wollen unsere Berliner Damen gar nicht wissen. Meine Einführerin bei Abdullah, die dazu ein fabelhaftes Abendkleid mit leisen Anklängen an indische Motive angezogen hat, sagt: Ist er nicht entzückend ?"

Auch am Fehrbelliner Platz befindet sich noch eine andere exotische Kirche, aber nur als winziger Teil einer großen Mietskaserne. Unter deren turmartiger Eckzwiebel versammeln sich die griechisch-orthodoxen Russen, die durchweg monarchisch sind, während die Bolschewiken der Botschaft und der Handelsvertretung entweder in die Synagoge oder überhaupt nicht zu einem Gottesdienst gehen. Diese sind reich, jene sind arm. Die echtrussischen Rechtgläubigen werden von dem ehrwürdigen Patriarchen Antonij betreut, der sich auch nicht einmal eine Erholungsreise im Sommer leisten kann. Landsleute, die in der Schweiz leben, haben ihn eingeladen. Aber das Reisegeld dahin kann er nicht aufbringen. Da sind die mohammedanischen Prediger wirklich besser gestellt; aus Indien kommen dauernd große Beiträge.

Die Ärmsten der Armen unter jenen Russen, die seit 1917 mit den Deutschen in einer Front gegen die Bolschewiken standen, habe ich jetzt in Berlin kennengelernt. Mit einer Riesentüte Weihnachtsbackwerk - Nikolastag ist gerade gewesen - setze ich mich in die Autodroschke. Ich lese dem Kutscher die Adresse vor: "Frau v.Lichatschow, Berlin-Schöneberg, General-Pape-Str. 3, Nansenheim, Zimmer 88." Er schüttelt den Kopf. Nansenheim ? Hat er noch nie gehört. Ich auch nicht. Und General-Pape-Straße ? Da stehen doch die früheren Bezirkskommandos, sonst nichts. Na, werden schon sehen. Los. Schließlich frage ich mich zurecht, gehe über den Kasernenhof hinweg, hinten durch, komme auf ein Stückchen noch freies Tempelhofer Feld und stehe vor ein paar dünnen Holzbaracken, in denen diese "Staatenlosen" wohnen, für die keine Gemeinschaft einen Pfennig übrig hat. Die Baracken haben dünne Holzwände und ein Dach ohne Decke, die Dielenbretter (oder das Ziegelsteinpflaster) sind unmittelbar auf den kalten und feuchten Erdboden gelegt; nachts können die Leute da nur angekleidet und mit dickem Kopftuch schlafen. Frau v.Lichatschow, beide Beine in Gips, weil an Trombose erkrankt, geht am Stock, sucht - sie ist eine hochgebildete Frau - nach geistiger Arbeit, da sie körperlich trotz ihrer erst 40 Jahre völlig herunter ist, findet aber nur selten Beschäftigung. Im vorigen Monat hat sie von 22 Mark gelebt. Davon mußte sie 7 Mark für ihre Schlafstelle im Nansenheim bezahlen. Ihr verstorbener Mann, Russe, während sie selbst deutscher Herkunft ist, war einer der berühmtesten Ärzte Rußlands, besaß ein großes Gut mit Jagdpferden und Windhunden, besaß zwei Villen in der Krim. Die Frau arbeitete nachher in der Schiffahrtsgruppe Kiew für das deutsche Heer, hat für ungezählte Millionen Mark Lebensmittel in der Ukraine aufgestöbert und nach Deutschland geschafft, hat die dankbarsten Zeugnisse deutscher Generale und Intendanten dafür bekommen, - aber die Einbürgerung wird ihr, der armen Monarchistin, in Deutschland verweigert, während die Chaskel Lipschitz, Mosche Ellenbogen und Konsorten aus der Grenadierstraße alle Tage die Reichsangehörigkeit und nötigenfalls Unterstützung erhalten. In einer anderen kleinen Kammer des Nansenheims finde ich eine noch auffallend hübsche (sie hilft der Schönheit leise nach) junge Frau, die noch so viel aufbringt, daß sie blutrot um Entschuldigung bittet, "noch nicht angezogen" zu sein, obwohl es Sonntag Mittag sei. Vielleicht besitzt sie überhaupt nur dieses verwitterte Morgenkleid. Ihr kleines Mädel ist aber piksauber und gut gekleidet. Die Frau ist eine Deutsche. Der Mann, ehedem russischer Oberstleutnant, ist jetzt Aushilfsarbeiter in Berlin. Eine hagere junge Frau gegenüber, deren Mann Universitätsprofessor war, ernährt als Fabrikarbeiterin ihre drei Kinder. Weiter, wieder eine junge Mutter, Heimarbeiterin, näht vom Morgen bis zum Abend (die kranken Augen können fast nicht mehr) seidene Damenwäsche, verdient, wenn es hoch kommt, wie jetzt vor dem Fest, 60 Mark im Monat. In einem schäbig-speckigen zerfransten Gehrock huscht ein alter Herr von 72 Jahren herein, der früher Wirklicher Geheimrat und Exzellenz war. Er nährt sich vom Zigarettenstopfen für diese Staatenlosen-Kolonie: 100 Stück kosten 1½ Mark, sein Verdienst dabei 20 Pfennig. Aber die Kolonie hat unter sich einen richtigen Kindergarten errichtet, die Kinder sind, wenn auch ärmlich, doch schmuck und rein, die Mädel alle mit ordentlichen Zöpfchen, bekommen Unterricht von gebildeten Damen und Herren, sprechen ein gutes Deutsch. Eine Baracke ist nur von Werkstudenten bewohnt, "jungen" Leuten zwischen 20 und 50 Jahren. Die Briefkästen vor den Türen sind aus Pappe geklebt. Eine deutsche Zeitung wird gemeinsam für alle gehalten. Die ganze Kolonie staunt eben ihr Glückskind an. Das ist ein hübsches, liebes Mädel von 8 Jahren, ein Tanztalent, das jetzt vor Weihnachten in einem Märchenstück in einem Berliner Theater auftritt und nach Schluß der Serie dafür insgesamt 75 Mark bekommen soll. "Was wünschest du dir denn von dem vielen Geld zum Christfest ?"   "Ich brauche nichts, aber Vater hat keinen Wintermantel, der kriegt einen für 60 Mark, und 15 schenke ich meiner Mutter." Der Vater, ehedem Artillerieoffizier, ist jetzt Droschkenkutscher und friert so arg in seinem dünnen Anzug.

Da wird mir wahrhaftig ganz flau im Magen, als ich nachher die Weihnachtswunschzettel meiner Kinder, "zur Auswahl" natürlich, aber einiges doppelt unterstrichen, lese. Mein Gewissen passiert nämlich immer zuerst den Magen. Also da wünscht sich eine Tochter seegrünen Velours-Chiffon zu einem Kleide, fügt allerdings vorsichtig hinzu: "Nicht alles, nur eine Beihilfe dazu." Und dann: "Ein Fläschchen von meinem Parfüm, von Coty aus Paris." Da habe ich ein Indianergebrüll ausgestoßen und bildlich den Tomahawk gegen die blöde Squaw gezückt. Coty ? Niemals! Ihr lieben Kinder in Stadt und Land, ich will durchaus nicht etwa behaupten, daß die Franzosen in allerlei Frauentand uns nicht voraus wären; auch die seltenen Tage, wo ich mir einmal eine wirkliche Importe aus Habana leisten kann, genießt ja bei uns die ganze Familie mit verzückten Nüstern, ich bereichere mithin selber eine ausländische Firma. Aber Coty ? Nein! Dieser korsische Neufranzose besitzt den "Figaro" und noch zwei andere Pariser Organe, die nahezu täglich Deutschland beschimpfen. In seinen Augen sind wir anrüchige Kriegsverbrecher, die nur die französische Faust zu respektieren verstehen; und daß die sich dauernd um unsere Kehle krallt, dafür plädiert er. Welches deutsche Mädel ist da so bar jeder Selbstachtung, daß es sich von Coty-Wasser besprengen lassen will ? Nein, niemals! Übrigens bin ich sehr froh, daß die Zahlen sehr übertrieben sind, die man als deutschen Coty-Tribut annimmt. Für wohlriechende Wässer und dergleichen sind im vorigen Jahre 1,25 Millionen, für Puder und Schminke und andere Schönheitsmittel 1,74 Millionen Reichsmark nach Paris gegangen. Die Angaben habe ich mir vom statistischen Reichsamt geholt. Für ungefähr ebensoviel gehen ja auch deutsche Parfümerien umgekehrt nach Frankreich. Aber von Coty könnten wir uns ganz freimachen. Die letzte Zarin von Rußland besaß eigene Felder von Veilchen und anderen Duftblumen bei Nizza, aus denen sie sich ihre Wohlgerüche, auch zu Geschenken an die ganze Umgebung, fabrizieren ließ. Das haben wir nicht nötig. Erstens gibt es Blumen und Weingeist und Chemiker auch in Deutschland; und zweitens duftet ein sauber gewaschenes deutsches Mädel immer noch besser als die parfümierteste Pariserin.

Ich selber verschenke natürlich am liebsten Bücher. Zunächst die eigenen beiden dieses Jahres, diese Plauderbriefe und "Politisches, Militärisches, Weltanschuung", weil ich als Verfasser sie etwas billiger bekomme. Dann Bücher von lieben Leuten. Irgendein eigenartiger ganzer Kerl muß hinter dem Buche stecken, dessen Lebensgeschichte ich kenne. So habe ich vor Jahr und Tag das dicke Geschichtswerk von Bogislav v.Selchow mir in mehreren Exemplaren gekauft, So verschenke ich diesmal ein erfrischendes kleines und daher zum Glück viel billigeres Büchlein in ganzen Haufen, das im Berliner Brunnenverlag erschienene "Im Schatten des Calafate" von Otto Schreiber. Calafate, dachte ich, sei ein Berg, und schämte mich meiner geographischen Unkenntnis, weil ich nicht wußte, wo er sich erhebe. Aber es ist ein Dornstrauch. Der millionenfache Dornstrauch, an dem der Gaucho in Patagonien, nachdem er seinem Gaul die Vorderbeine gefesselt hat, sich in das Sattelfell gehüllt zum Schlafen niederlegt, der patagonische Gaucho, die einzige "schweifende blonde Bestie", die es auf der so greulich verzivilisierten Welt noch gibt. Was geht mich Patagonien an ? Gar nichts! Aber wie es dieser ganze Kerl, dieser junge Pastoremsohn und Fähnrich zur See a.D. gesehen und erlebt hat, das ist so, daß ganze Familien die ganzen Weihnachtsferien hindurch lautlos darüber lachen können. Otto Schreiber ist jetzt wieder in Deutschland. Er weiß, daß ihn eine gute Flasche bei mir erwartet. Ehe er, diesmal nach Chile, wieder fortgeht, werden wir uns noch einmal die Hände schütteln können. Seine Mutter ist die Tochter Otto Klasings, des Begründers des "Daheim", ein Onkel von ihm war Kommandant des U 34, das als letztes Opfer im Kriege vor Gibraltar vernichtet wurde. In eine reichlich verrückte Zeit ist - wie so viele - der Junge hineingeboren, aber er genießt sie mit unverwüstlichem Humor. Als Seekadett und Fähnrich, als Agrarstudent und Gutsverwalter, als Ochsenknecht, herrschaftlicher Kutscher, Zirkusstallmeister. Von diesen schönen Dingen steht im "Calafate" freilich nichts, nur von den Gaucho-Jahren unter südlichem Sternhimmel zwischen anderen Gauchos, Stinktieren, Vögeln Strauß, toten Schafen, Whisky-Kisten, Indianern, versprengten Europäern. Ursprünglich wollte er nach Chile, in einen kulturell "gehobenen" Posten, zu einem angeheirateten Onkel. "Wir alle haben einen Onkel", erzählt er mir in seiner vergnüglichen Rauhreiterart, "er sitzt in Chile oder in Californien oder auf Borneo. Aber er ist da. Und es ist immer die alte Geschichte: es geht schief. Es liegt wohl nur zum geringen Teil an uns selbst, an dem Onkel sicher nicht, es liegt eben an den Verhältnissen. Man kann mit einem Onkel zusammen blendend Skat spielen oder Bier trinken oder bummeln gehen, aber niemals Tabak pflanzen oder Schafe hüten oder Schreibmaschinen verkaufen; das ist eine uralte Erfahrung."

Richtig. Ich selber bin auch Onkel. Der Onkel in Berlin, den auch jeder hat. Ich werde mal gleich mit einer Nichte bummeln gehen. Und dann mit zwei Neffen Bier trinken. Nur Skat kann ich nicht spielen. Aber Coty kriegt auch keine Nichte von mir geschenkt. Und mit dem Velours-Chiffon für meine Tochter, das habe ich mir überlegt, das geht auch nicht. Soll sie lieber den "Calafate" lesen. Dann kriegt sie genau so ein rosiges Gesicht, als wenn sie ein seegrünes Abendkleid an hätte.
13. Dezember 1928 (Donnerstag)


15

Fern von Natur und Geschichte - In Raabes Sperlingsgasse - Aus der Chronik der Keudells - Budenmarkt - Straßenhandel mit Streichhölzchen und Literatur - "Deutschlands Liederbuch" - Meier & Co. in der Barberina - Am silbernen Sonntag - Mein Erlebnis im Buchladen.

Wer im Konstruierten sitzt, in dem Steinbaukasten, genannt Großstadt, den überfällt bisweilen die Sehnsucht nach dem Gewachsenen: nach Natur und Geschichte. Die New Yorker gäben etwas drum, wenn Yellowstone in Vorortsnähe läge und wenn auf Manhattan noch etliche Häuschen aus dem siebzehnten Jahrhundert stünden. Auch wir Berliner vernewyorkern ja immer mehr. In der ehedem so stillen und vornehmen Kurfürstenstraße erhebt sich jetzt schon das erste Hochhaus, und in der Budapester Straße quer davor brüllt allerlei Lichtreklame uns ins Gesicht. Dort in der Wilhelmstraße aber, wo ich noch als Rest des alten großen Gartens einen einzigen Baum vor Jahren erlebt habe, unter dem einst Chamisso saß, befinden sich jetzt rund um drei asphaltierte Höfe, ohne Baum und Strauch, verschiedene Großgeschäfte und Bureaus und Fabriksäle. Als unsere Großväter Buben waren, haben sie in den Gärten der Friedrichstadt, die jetzt samt und sonders verschwunden sind, doch noch Wiesel gejagt! Nun wird Natur und Geschichte überall zugebaut; und wenn man just vor Weihnachten daran denkt, vergeht einem der ganze technische Hochmut, sitzt einem ein trockener Schluchzer in der Kehle. Darum war auch die Nikolaikirche am vorigen Sonntag Abend so überfüllt, als die Großdeutsche Jugend dort ihre Christmette feierte, denn statt der elektrischen Lampen brannten Kerzen in duftenden Tannenkränzen und alles war so altväterisch heimelich und traut. In der Nähe liegt die Spreegasse, durch die ich dann geschlendert bin. Sie soll jetzt zu Ehren von Wilhelm Raabe, der hier 1854 als junger Student seine "Chronik der Sperlingsgasse" schrieb, in Sperlingsgasse umbenannt werden, die einzig berechtigte Umtaufung unter den vielen demagogisch-politischen der letzten Jahre. In einem Brief vom 9. August 1906 hat der vier Jahre später heimgegangene Raabe auf dreieinhalb Seiten kurz sein Leben erzählt und mit den Sätzen geschlossen: "Ich komme noch aus den Tagen, wo in meines Vaters Haus an der Weser mit Stein, Stahl und dem Plunnenkasten Licht angezündet und Feuer gemacht wurde. Ich habe einen Herrn gekannt, der noch Zopf trug. Ich habe noch einen Mann gesehen, der im Siebenjährigen Kriege dabeigewesen war." Bald wird, außer dem Königlichen Schloß, nicht ein Haus in Berlin mehr stehen, das solche Männer beherbergt hat. Die Leute schreien schon, wenn sie in eine Wohnung ziehen sollen, die vor 1900 errichtet ist, denn da fehle es an "modernem Comfort". Ja, gewiß, versteht sich, fließendes Warmwasser in allen Schlafzimmern muß sein. Aber, weiß der liebe Himmel, wie es kommt: auf einmal kriegt man die große Sehnsucht nach einem primitiven verschneiten Försterhäuschen mit Kachelofen. Nach den Heimchen hinterm Herd. Nach einer vergilbten Bibel. Nach einem alten Pallasch der Seydlitz-Kürassiere.

Einige Familien gibt es noch, die mit dem Lande verwurzelt sind, obwohl Berlin zu ihrer Arbeitsstätte geworden ist. Und mit der Geschichte verwurzelt. Der frühere Reichsinnenminister v.Keudell, der deutschnationale Abgeordnete, Sohn des Bismarckfreundes und Botschafters in Rom, wurde geboren, als sein Vater schon in den Sechzigern war. Und dem war es mit seinem Vater ebenso gegangen. So kommt es, daß der Großvater dieses unseres heutigen Herrn v.Keudell noch ein Zeitgenosse Friedrich des Großen war! Natürlich hat solch eine Familie lebendigere geschichtliche Tradition als manche andere. Sie hat außerdem sozusagen mehrere Geschlechter übersprungen. Da ist es denn kein Wunder, daß der Minister v.Keudell, mit seiner Rechtlichkeit und mit seiner Musikalität und mit seiner Menschenliebe, noch ganz ein Kind der Biedermeierzeit ist und schier unwirklich in unsere Funk-Jazz-Tage hereinragt.

Ein bißchen vorgetäuscht wird uns "alte Zeit" immer noch auf den Budenmärkten vor Weihnachten. Als unsere Kinder klein waren, gab es da noch ganze Seligkeiten für 5 und 10 Pfennige. Inzwischen sind die billigen Hampelmänner den teuereren aufziehbaren Blechspielsachen gewichen, statt der baumelnden Funzel gibt es beizend helle Gasbeleuchtung oder gar elektrisches Licht, und die kleinen Bretterverschläge oder Zelte werden von einer Art Möbelwagen verdrängt, Wagen, wie sie umherziehende Schausteller verwenden, mit Fensterchen und Gardinen und Blumenrabatten. Auf dem Standplatz werden die Räder des Wagens dann durch einen gemalten Ziegelsteinunterbau verdeckt. Ein Giebel und ein winziger Balkon werden noch schnell angepappt, - und das "Tirolerhaus" ist fertig. Diese angeblichen Tirolerhäuser mit angeblichen Tiroler Pfefferkuchen sieht man jetzt auf sämtlichen Weihnachtsmärkten Berlins. Mann und Frau und Kind, alle womöglich mit Gamshütl, verkaufen die Süßigkeiten oder den Baumbehang oder das Salonfeuerwerk; und - sprechen unverfälscht berlinisch. Sie sind auch richtig neckisch berlinisch. Oder könnte man sich einen Tiroler vorstellen, der die Inschrift "Grüaß Gott, Mirzl, machs Fenster auf!" quer über sein Häuschen pinseln ließe ? Man begreift nicht recht, wovon alle diese Leute, die in einer Kleinstadt vielleicht Zulauf hätten, in Berlin um die Weihnachtszeit leben. Früher kauften "die aus dem Hinterhause" bei ihnen den Bedarf für das Christfest ein. Die gehen heute aber auch in den großen Laden. Vor den Buden bleiben nur ein paar Kinder stehen oder gelegentlich Eltern mit ihren Kindern, meist sogenannte "bessere" Familien, die hier in der großstädtischen Asphaltwüste noch etwas Poesie erhoffen. Bestenfalls erleben sie Berliner Schnoddrigkeit, eine Berliner flinke Zunge. "Der Herr mit dem Monokel da, kommen Sie ruhig 'ran mit ihrer Kompottschale im Ooge, Herr Rittmeister, koofen Sie man ein halbes Pfund echte Tiroler Bongbongs, so billig haben Sie nur als Kind bei Ihrer Frau Mutter gelutscht!" Jedermann wird, wenn er einen Augenblick stehen bleibt, durch eine Anrede geehrt und gelockt. Auch den Kleinen und Kleinsten wird bereitwillig alles zur Auswahl gezeigt, jedes mechanische Spielzeug aufgedreht. Hin und wieder geht so ein Blechding für 40 oder 60 Pfennige ab, aber der Gesamtumsatz auf den Weihnachtsmärkten ist mehr als bescheiden.

Zu den Budenmärkten kommt noch der vor dem Christfest gesteigerte freie Straßenhandel. Das literarhistorische und musikhistorische kleine Mädchen mit den Streichhölzern ist ja aus dem Leben zum Glück verschwunden. Es bekommt sicherlich in der Volksschule täglich umsonst sein großes Glas warme Milch und zum Heiligen Abend allerhand schöne Sachen von der Fürsorge. Besonders, wenn es ein "Proletarierkind" ist; die verarmten ehedem Reichen hole der Henker. Mit Streichhölzern handeln in Berlin heute vornehmlich erwachsene Blinde, und sie stehen sich gut dabei, denn jede dritte Dame, die in der Stadt Einkäufe macht, wirft ihnen im Vorbeigehen einen Groschen in die geöffnete Hand. Der Straßenhandel hat sich überhaupt modernisiert, rationalisiert, industrialisiert. Schon die Zeitungsverkäufer sind heute vielfach nicht mehr selbständige kleine Unternehmer, sondern Festangestellte bei den Verlagen und Speditionen. Auch Schundverleger bedienen sich des Straßenhandels. "Deutschlands Liederbuch! Nur 10 Pfennige! Deutschlands Liederbuch! Nur 10 Pfennige!", wiederholt unermüdlich ein alter Mann vor dem Eingang zum Warenhaus Tietz in der Leipziger Straße. Also man riskiert den Groschen. Dafür erhält man ein Heftchen mit Schlagertexten in schlechtem Druck auf elendem Papier. Das Papier ist aber noch das beste daran. Gleich auf der ersten Seite liest man:

Wissen Sie, daß Adelheid von Meier & Co.
Neuerdings sehr unbescheiden ist ?
Schon seit einer Woche sagt die Maid im Bureau
Jedem Herrn Kollegen, der sie küßt:
Von deiner Liebe kann ich nicht leben,
Von deinen Küssen, lieber Schatz, werd' ich nicht satt;
Kannst du mir wirklich nichts Besseres geben ?
Ein Sprichwort sagt ja schon: Wer hat, der hat,

und dann kriegt Adelheid die Kasse und singt, wenn Meier jun. sie kontrolliert, ihm denselben Refrain ins Ohr, und schließlich landet sie beim alten Meier und sagt unter seinen Küssen dasselbe. Da haben wir nun in "Deutschlands Liederbuch" das beste Weihnachtsgeschenk für unsere heranwachsende Jugend. Es gibt noch dollere Dinger darin. "Meine Freundin Guschi."   "Baby schrie, kam zu früh."   "Sei nicht bös."   "Mit Liebe bin ich glänzend eingedeckt."   "Herr Ober, zahl'n."   "Im grünen Klee." Auf jeder der 30 Kleinoktavseiten steht irgendeine Zweideutigkeit oder irgendeine saftige Schweinerei, die auf diese Weise auch dem bescheidensten Taschengeld zugänglich ist und dann von halbwüchsigen Buben den Schulmädchen zugegröhlt wird. Seit wir die republikanische Grundschule haben, haben wir ja auch die nötige Mischung der Stände und des Geschmacks. Und die Schulmädchen wachsen heran und werden selber eine Adelheid bei Meier & Co. und wissen nicht mehr, was "Deutschlands Liederbuch" zu allererst in ihnen angerichtet hat. Ich glaube bestimmt, daß wir wieder einmal die Reinlichkeit auch in unserem Straßenhandel bekommen werden, die früher, als noch jedermann einen heiligen Bammel vor dem Schutzmann hatte, selbstverständlich war. Heute haben wir die Reinlichkeit noch nicht; nach jeder Revolution in jedem Lande pflegt es Jahrzehnte zu dauern, bis man sich wieder auf sie besinnt.

Meier & Co. plus Adelheid findet man einstweilen in mondänen Lokalen, besonders in der Barberina, die immer noch das intimste mit den besten Variététänzerinnen ist. Nur benehmen sich Meier & Co. nicht gut, wenn sie eine Flasche Henckell Privat, die in der Barberina (bei freiem Eintritt) 25,30 Mark kostet, binnen haben. Dieser Tage bricht dort die Javanerin Sera Achmed plötzlich ihren Tanz ab, verneigt sich nicht einmal, sondern eilt hinaus in ihre Garderobe; kaum vermag die Musik den Eclat durch einen Tusch zu ersticken. Ich sage ihr nachher an der Bar - unter den Halbblütern tanzt nur noch Ruth Bayton besser und sieht noch besser aus - kurz guten Tag und frage, was los sei. Und sie klagt: "Schlechte Publikum, faßt mich an, während Arbeit!" Meier & Co. lernen es eben nie. Nur Adelheid schämt sich noch zuweilen für sie, denen alles käuflich und betastbar erscheint.

Natürlich sind vor Weihnachten diese sogenannten mondänen Lokale leerer als sonst. Selbst im Burgund melden sich zum Roulettetanz mit den netten Gewinnen nur zwei oder drei Paare aus den Hotelgästen. Jedermann hat doch zu Hause mit den Festvorbereitungen oder in den Läden mit Geschenkeinkäufen zu tun. Wenn man den Kaufleuten glauben soll, hängt das Geschäft mehr vom Wetter als vom Gelde ab. Der jetzige trockene Frost sei geradezu ideal. Die Angestellten sind übermüdet und blaß und werden gerade von dem Publikum aus einfacheren Kreisen manchmal barsch behandelt. In einem Schuhgeschäft, in dem, glaube ich, für mich diesmal ein Paar Pumps fällig werden, probiert eine schnippische Nähmamsell am silbernen Sonntag goldene Halbschuhe an, die mit Mühe und Not - das Fleisch quillt unter dem Druck - von dem Verkäufer ihr angezwängt werden, da sie just diese verlangt hat. Nun bemerkt er, sie seien wohl etwas zu eng. "Wat sagense, zu eng, sagense ? Det sehnse nich, det se for meinen Fuß noch zu jroß sind ? Lassense sich mal die Pupille putzen, junger Mann!" Sie soll ihren Willen haben. Auf dem Winterfest der Laubenpächter von Neukölln wird sie dann nach dem ersten Tanz es vor Schmerzen nicht mehr aushalten, nach Hause in Strümpfen fahren und dort sich die alten lackledernen holen. Wenn nur meine Pumps nicht zu eng werden! Daß ich welche brauchen könnte, habe ich neulich verzweifelt hervorgestoßen, als es wieder hieß: "Wünsch' dir was!" Das weiß ich nie. Ich bin zufrieden, wenn die übrigen Hausgenossen ihre Wünsche mir schriftlich geben und ich nur das Geld dafür hinzulegen brauche. "Natürlich, dir soll man alles Mündches Maß machen!", sagt meine Ehefrau. Soll heißen: mundgerecht. In der Aufwallung verfällt sie gelegentlich in ihr altes Rheinisch. Nachher aber kommt es freilich oft genug heraus, daß ich mich doch nicht an die Wunschzettel gehalten, sondern nur so getan habe, als ob; und das erratene Heimlichste ist dann die größte und schönste Überraschung.

In einem Buchladen, in den ich Ende voriger Woche ging, stand ein Mann in Arbeiterkleidung am Tisch. "Ich möchte ein Buch für eine Dame haben."   "Ist es eine junge oder eine ältere Dame ?"   "Ich denke, gut über die Mitte."   "Wofür interessiert sich wohl die Dame ?"   "Sie interessiert sich mächtig für alles."   "Dürfen wir fragen, welchen Beruf Sie haben ?"   "Ich bin Packer in einem Großgeschäft."   "Und die Dame ?"   "Na, ich kann es Ihnen ja ruhig sagen, ich will der Kaiserin in Doorn ein Buch schenken." Sagt's, sich sich schließlich Snessarews fesselndes, im Berliner Brunnenverlag erschienenes Buch "Das Verhängnis der Zarin" aus, ein wirklich gutes Geschenk für jede gebildete Dame, und geht strahlend ab. Ich vorsichtig in der Entfernung hinterdrein. Der Mann ist wirklich Packer. In der Blücherstraße, wo ich ihn eintreten und nachher hantieren sehe. Und gehört als Schenkender zu den Frohesten dieses Jahres.
20. Dezember 1928 (Donnerstag.)



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© Karlheinz Everts