"Rumpelstilzchen"

Klamauk muß sein !
(Jahrgangsband 1927/28)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1928

Glossen 13 - 15
8. bis 22. Dezember 1927


13

Borchardt einst und jetzt - An den Bücherkarren - Hauptmanns Eulenspiegel - Rote Kinderverse - Harry in Sowjetrußland - Versteigerung Oskar Straus.

In der alten Zeit, in der es noch keine Gulaschkanonen gab, stand man im Biwak ewig herum, ehe die Kochgräben ausgehoben, die Feuer entfacht und die Stücke Rindfleisch in sandigem Wasser hartgekocht waren. Die sogenannten Luftschifferkonserven, die durch gelöschten Kalk schnell erhitzt werden, kannte man damals noch nicht, auch noch keine Thermosflaschen. Aber Borchardt kannte man! Das einzige Feinkostgeschäft jenes noch idyllischen, noch nicht so verschlemmten Berlins, in der Französischen Straße. Da gab es große Umsätze nicht bloß während der Wintersaison, sondern schon während der Manöver, denn der gesamte preußische Offiziersoldat von Metz bis Tilsit kriegte von Angehörigen oder von beim Wachtkommando in der Garnison zurückgebliebenen Kameraden "freßbare" Pakete nachgeschickt, die bei Borchardt bestellt waren. Da stand man nun wolfshungrig zwischen den Kochgräben, und auf einmal, eine gute Stunde vor Fertigwerden, wurde Post ausgegeben. Hurrah, ich habe einen englischen Plumpudding bekommen, dazu eine Pulle Vanillentunke! "Her damit!", schreien die Kameraden. Aber den Pudding muß man doch erst warmmachen. "Quatsch!", sagen sie. Also die Pulle geht reihum, jeder setzt sie an, nimmt einen Schluck, reißt sich dazu ein Stück kalten Pudding ab und atmet auf, nachdem so der erste wütende Hunger gestillt ist. Wenn irgendwo in einem verlorenen Nest ein jungverheirateter Hauptmann sein erstes Essen gab, mußte auch immer Borchardt aushelfen. Er hatte immer billige Weine, die nach etwas klangen, er hatte immer Zigarren mit den damals noch so seltenen Bauchbinden, und er hatte immer Konserven, die sich nett anrichten ließen. Er war sozusagen Armeelieferant. Und die Verabschiedeten, die nachher auf irgendeinem Gut oder in irgendeinem Pensionopolis saßen, blieben seine Kunden.

Das ist jetzt alles zerbrochen. Auch Berlin W, das sich eine Weile statt des Offiziersoldaten als Abnehmer eingeschoben hatte, findet jetzt alles Gewünschte lockender in seinem eigenen Bezirk. Die altberühmte Firma mußte ihre Zahlungen einstellen, unter Geschäftsaufsicht gehen. Vor einigen Tagen ist das große Haus in der Französischen Straße verkauft worden, aber der Betrieb scheint, nach Hypothekenausfall erleichtert, fortgeführt werden zu sollen. Wenigstens hat eine neue Borchardt-Aktiengesellschaft die Liegenschaften erworben.

Die alten Erinnerungen sind mir aufgetaucht, während ich an einem Bücherkarren in der Prinz-Albrecht-Straße stehe. Da habe ich mich an einem mächtigen Lederbande festgefressen, "Unser Kaiserpaar", zu dessen Silberhochzeit 1906 erschienen, mit trefflichen, nur manchmal ein bißchen hurrahpatriotischen Aufsätzen und sehr reichhaltigem gutem Bildmaterial aus Heer, Flotte, Verkehr, Arbeiterfürsorge, Landwirtschaft, Bergwesen, Gewerbe, Volksbildung und dem persönlichen Leben des Kaiserpaares. Das Buch mag seine 60 Mark gekostet haben. Ich kriege es für 7,50 Mark hier vom Karren. Und auf der ersten Seite des tadelfreien Exemplars steht handschriftlich die Eintragung: "Hrn. Commerzienrath Hans Borchardt zur freundlichen Erinnerung der Herausgeber und Redakteur Viktor Schweinburg, B., 27.2.06" Also man kann sogar dem sagenumwobenen Stande der Kommerzienräte angehören und doch eines Tages genötigt sein, alle schönen Dedikationen aus der sicherlich "reichgeschnitzten" Bibliothek in die Konkursmasse zu werfen. Wenn man so die Bücherkarren in allen Stadtteilen mustert und von den "Restauflagen" absieht, die die Verleger selbst auf diesem Wege verramschen, erkennt amn ganz deutlich, wer heute in Deutschland zu der sinkenden Schicht gehört. Man sieht verhältnismäßig wenig sogenannte leichte Lektüre, dagegen viel ernsthafte und gute Werke, die um einen Pappenstiel von verarmten Familien weggegeben sind. Wenn man nur mehr Zeit zum Stöbern hätte, könnte man sich wundervolle Sachen zusammenholen. Der Bücherkarren ist im Berliner Stadtbilde verhältnismäßig neu. Wenn unsere Intellektuellen früher aus Paris zurückkamen, schwärmten sie von der Poesie der Antiquare, die ihre Schätze am Kai der Seine auslegen; in Berlin hatte man nichts dergleichen, da gab es nur die soliden Altbüchergeschäfte in festen Läden, und die Besitzer waren trockene Kaufleute, unter denen man selten einen verträumten Sonderling fand. Jetzt aber haben wir hier mehrere hundert fliegende Händler mit Literatur, und zu seiner Überraschung stößt man unter ihnen hie und da auf sehr belesene, hochgebildete Leute, die leidenschaftlich in ihrem Berufe stehen und in ihrem kleinen Zuhause allmählich ein mächtiges Lager vom Fußboden bis zur Decke aufstapeln, mit einem winzigen ausgesparten Raum für Feldbett, Tisch und Stuhl. Mitunter tragen diese Verkäufer, meist durch den Krieg oder die Revolution aus ihrer sonstigen Laufbahn gestürzt, noch den verschlissenen feldgrauen Mantel. An der Ecke Potsdamer und Steglitzer Straße, in guter Verkaufsgegend, steht einer, dem das ganze Gesicht durch einen Granatsplitter aufgepflügt und nur mit Mühe wieder zurechtgeflickt worden ist, so daß die Käufer meist gequält wegsehen, wenn sie mit ihm verhandeln. Da kann er ganz hart werden. Aber wenn ihm einer offen und unbewegt in das entstellte Antlitz blickt oder ihm gar als offensichtlichen Kameraden die Hand schüttelt, dann zuckt ein warmer Strahl in ihm auf, dann freut er sich, daß es noch Menschen mit Achtung vor vaterländischem Opfer gibt.

Manchmal tauchen auf den Karren auch ganz funkelnagelneue, eben erst erschienene Werke auf, deren luxuriöse Ausstattung erraten lät, daß ein Großer im Reiche der Literatur, und ein Reicher dazu, sie verfaßt hat; daß sie in großer Zahl als Besprechungsexemplare oder als Ehrengeschenke hinausgegangen sind, daß die damit Bedachten sie aber schleunigst wieder verklopft haben, weil der Inhalt wirklich nicht dazu angetan ist, besondere Geistigkeit des Besitzers anzudeuten.

Und da tut es einem - als Deutschen - doch ein bißchen weh, daß neuerdings auch Gerhart Hauptmann dazu gehört, der doch immerhin als unser größter Dichter gilt. Nur ist er ein offenbar sehr alter Herr geworden. Im 80. Lebensjahre hatte Goethe freilich die volle Edelreife und arbeitete noch an der Vollendung seines Faust, aber unsere heutigen Dichter, ich zähle auch Hermann Sudermann zu ihnen, markieren im 70. Lebensjahre verzerrte Jugend und schreiben wüst erotische Romane oder dergleichen. Von Hauptmann habe ich seinen neuen "Till Eulenspiegel", in Großquart, schon bei den Straßenhändlern gefunden, ein holpriges Epos von dem ewigen Deutschen als Seitenstück zum ewigen Juden, ein Stück politischer Gegenwartsgeschichte, das ganz greisenhaft anmutet. Hier eine kleine Probe:

Die Gewalt dem Erwählten des Volkes, dem Sattler zu rauben,
Hatten Menschen versucht, einen Mann, namens Kapp, an der Spitze,
Diese hatten die Fahne entrollt des geflüchteten Herrschers,
Der im selber gewählten Exil, auf dem Boden von Holland,
Ruhmlos saß, das Verdikt seiner harten Besieger erwartend.
Angeklagter der Welt! Doch der Retter des Reiches, der Sattler,
Der die Zügel ergriffen, nach Gottes Beschluß, die der Flüchtling
Hatte von sich geworfen: er, welcher die kollrigen Rosse
Des gekenterten Wagens mit mutiger Umsicht beruhigt,
Die Karosse des Reiches vor Zertrümmerung glücklich bewahrend,
War nun selber gefloh'n von Berlin, aus der Hauptstadt des Reiches.
Aus dem wirren Gepolter des Mannes entnahm Till dies alles
Oder reimte es schnell sich zusammen. Ein Putsch also! denkt er:
Und so schleifen die Zügel des Reiches wohl wieder am Boden.

Wenn das unser Säkularpoet fertig bekommt, dem wir doch immerhin Hanneles Himmelfahrt und anderes Märchenschöne verdanken konnten, bevor er zum Leibdichter der Republik wurde, wenn also unser Säkularpoet Gerhart Hauptmann solche stumpfsinnigen Karlchen-Mießnick-Verse von sich gibt und drucken läßt, braucht man sich über die Ringelreihen unserer sozialdemokratischen Jugend wirklich nicht mehr zu wundern. Die Berliner roten Göhren singen auf ihren Sportausflügen ins Land eigentlich, nur etwas volkstümlicher, genau das, was auch Hauptmann gestammelt hat:

Wen hamse nach Holland verschoben ?
Den Willem, den doofen,
Den Oberganoven,
Den hamse nach Holland verschoben.

Wer hat ihm die Krone geklaut ?
Der Ebert, der helle,
Der Sattlergeselle,
Der hat ihm die Krone geklaut.

Das sind die Kinder, die jetzt von der Partei aufgerufen werden, gegen die "Unkultur" des neuen Schulgesetzes mit zu demonstrieren; womöglich unter den Kängen ihres Marschliedes: "Der Pfaffe, der Affe, mit seinem Geblaffe, der hat uns das Beten gelehrt; wer an Gott und an Himmel noch glaubt, hat 'nen Fimmel." Für immer neue Anregung zu einer Erziehung in diesem hochkulturellen Sinne sorgt die Sowjetrepublik, die neuerdings deutsche Proletarierkinder - von waschechten Kommunisten natürlich nur - einlädt, schon an der Grenze mit Fahnen und Trara empfängt und 14 Wochen lang durch alle Potemkinschen Dörfer mit der Eisenbahn und im Auto führt, damit sie nachher zu Hause in Deutschland den Segen der Weltrevolution verkünden. Aus Berlin war einer dabei, aus der Gegend des Görlitzer Bahnhofs, der dreizehnjährige Harry, der nachher im Kinder-Mitteilungsblatt des Arbeitersportvereins "Jung-Fichte" zwei geschwollene Artikel über seine Erfahrungen veröffentlichte. Er sagt, in der Sowjetrepublik würden die Kinder nicht geschlagen und dann gebrauche der Lehrer auch nicht solche Ausdrücke wie in Deutschland. (Woher weiß Harry das ? Er kann doch nicht russisch!) Und Harry sagt: "Also wollen auch wir für die Losung kämpfen: Fort mit der Prügelstrafe. Heraus mit den reaktionären Lehrern aus der Schule. Fort mit der Religion!" Ich habe es mir etwas an Zeit kosten lassen, in der Umgebung, die nur aus Angst großenteils nichts aussagen will, festzustellen, welch wohltuende Veränderung mit Harry durch die 14 Wochen Sowjetrummel vorgegangen ist. Er war ein stiller und anständiger Junge, jetzt knufft er jedermann und ist ganz unleidlich und frech geworden. Ostentativ trägt er natürlich nur noch Russenhemd und Bolschewikentolle. Aber etwas kleinlauter ist er inzwischen schon geworden, denn niemand nimmt Notiz von ihm, niemad fragt ihn nach den Erfahrungen während seines "Erholungsurlaubes", kein Lehrer und kein Nachbar macht ihn zum Wundertier, kurz, er ist geblieben, was er war: einfacher Volksschüler und roter Lausbub. Bis zum Reichstag hat er noch etliche Jahre Zeit.

Wenn der Junge in Petersburg und in Moskau und in der Krim sich richtig hätte umsehen können, wäre selbst ihm wohl nicht entgangen, daß in Rußland wie in Deutschland genau die gleiche Schicht aus der Revolution ihre Gewinne gezogen hat; und das ist nicht etwa die Arbeiterschaft. Was sich in den Häusern dieser Schicht und in den Wohnungen derjenigen, die wiederum von ihr verdienen, ansammelt, erfährt man freilich nur selten. Am ehesten, wenn sie, des ganzen Krempels überdrüssig, ihn mal versteigern lassen. Vor 50 [?] Jahren machte Ernst v.Wolzogen, unterstützt von dem Musiker Oskar Straus, dem späteren Komponisten des "Walzertraums", sein Überbrettl auf. Heute hungert Wolzogen, Straus aber kann "wegen Reisen nach Paris und Amerika" den gesamten Inhalt seiner, wie es im illustrierten Kataloge heißt, 15-Zimmer-Luxuswohnung losschlagen. Anscheinend nicht aus Not; sondern weil er sich mit Leichtigkeit Besseres anschaffen kann. Es ist unglaublich, was in diesen 15 Räumen aufgehäuft ist. Wahllos hat Straus, in der stillen Straße Am Karlsbad Nr.4, für seine Wände, Vitrinen, Schränke alles zusammengekauft. Renaissance, Gotik, Barock, Rokoko, Empire, Biedermeier, Japan kreischen widereinander. Vor Beginn der Auktion am zweiten Tage wird ausgerufen, es sei gestern eine Perlenkette gefunden worden. Ob die Verliererin anwesend sei. Stimme aus dem Hintergrunde: "Sind die Perlen echt ?" Antwort des Auktionators: "Hierher kommen nur Leute mit echten Perlen!" Das mag schon sein. Unsereins hat doch nicht so viel Geld in der Westentasche, um etwa 1450 Mark für das habsburgische Tafelsilber zu bezahlen, das vor Straus der Erzherzogin Maria Theresia gehört hat. Aber das sitzen die Bernstein, Pinkoff, Holstein, Scherman, Goldstein, Riesenfeld, Hirschmann, Strelitz aus Berlin W herum, die haben das Geld. Neben solchen triumphalen Erinnerungen an vergangene Kaiserpracht, ferner neben allerlei weichlichem Kram, so 47 seidengestickten Daunenkissen, besitzt Straus besonders viel katholische Priestergewänder, holzgeschnitzte Heiligenfiguren und dergleichen. Einer ersteht eine Stola. Sagt: "Na, vielleicht kann man einen Kaffeewärmer daraus machen; immer noch besser als eine Ohrfeige im Dunkeln." Manchmal erfolgt auf Meißner Porzellanfigürchen oder andere Aufstellsachen gar kein Angebot. "Ja, haben denn die Herrschaften gar keine Vitrinen zu Hause ?", fragt der Auktionator Joseph empört. Da schämt man sich und bietet wieder mit. Natürlich hat man Vitrinen. Natürlich kauft man ebenso wahllos wie Oskar Straus alles zusammen. Lauter Dinge, zu denen man gar keine persönliche Beziehung hat. Man will damit ja nur vor ebenso kenntnislosen Besuchern renommieren. Mit seinem Siege über das ausgekaufte arme Deutschland prahlen, das in der Inflationszeit sogar seine Messeornate auf den Markt warf. Und die brave Arbeiterschaft sorgt schon dafür, daß gegen jenes alte Deutschland und nicht gegen die Neureichen weiter gegeifert wird.
8. Dezember 1927 (Donnerstag)


14

Der silberne Sonntag - Wir werden mäßig - Cap Coronel flüssig - Weibliche Kriminalstudenten - Aus dem Barmatprozeß - Domela im Weltkino - Mietbare Gentlemen.

Der silberne Sonntag verändert Berlins Gesicht. Die Dämchen mit Karminlippen und kniefreiem Röckchen, die mondänen Damen im kostbaren Pelz, die würdigen Generaldirektoren, die Gents mit den poetischen Seidensocken verschwinden rettungslos in den Menschenmassen der Leipziger und der Tauentzienstraße. Sie werden von Berlin NO, Spandau, Köpenick, Teltow, Fürstenwalde, Rathenow, Treuenbrietzen erstickt. Die Untergrund-, Straßen-, Ring- und Stadtbahn sowie der Autobus haben an diesem Sonntag rund 3½ Millionen Fahrscheine verkauft, und die Fernbahnen schaufeln Tausende märkischer Provinzler her. Von 2 bis 6 Uhr schiebt eine kompakte Menschenmauer von einer Tiefe bis zu 12 Gliedern sich an den Schaufenstern vorbei. Verweile doch, hier ist's so schön! Ja, Kuchen; man wird unwiderstehlich weitergeschwemmt. An den Eingängen zu den Läden und Warenhäusern entstehen Wirbel, da reißen Fetzen von der schiebenden Mauer ab und mahlen hinein. Es ist der große Einkaufstag für Außenbezirke, Vororte und Provinz. Und nachher stauen sich die paketbehängten Herrschaften in den Bierlokalen und einfacheren Kabaretts und staunen erneut über die Großstadt. Der silberne Sonntag in Berlin gehört wie der zweite Weihnachtsfeiertag fast ausschließlich dem kleinen Mittelstande. Alles ist aufgekratzt und guter Laune. Im Faun in der Friedrichstraße, pickepackevoll, amüsieren sich Brederecks aus Küstrin. "Na, Olleken, sollich dich nicht mal gegen so ein Saxophon eintauschen ?"   "Wie meinst du das, Fritze ?"   "Ja, sieh mal, dem Saxophon kann ich doch einfach das Mundstück abschrauben, dir niemals!"

Während der stundenlangen Promenade hat man sich die Lungen mit schöner Winterluft vollgepumpt, in den Lokalen ist man nachher schon nach dem zweiten Glas Bier ehrlich müde geworden. Der Alkoholverbrauch hat gegen die Vorkriegszeit stark nachgelassen; und wiederum gegen die Inflationszeit, wo er sich unter der halb wahnsinnigen Menschheit ruckweise hob. Ich habe es seither nicht mehr erlebt, daß einer in der Adventszeit sternhagelbesoffen in den klirrenden Frost hinausgröhlte: "Sti - hille Nacht!", habe überhaupt von Jahr zu Jahr weniger Betrunkene auf der Straße gesehen. Auch an diesem silbernen Sonntag war der aufgestörte Ameisenhaufen der Menschenmillionen bei allem Vergnügen ruhig und gesittet. Trotzdem wurde verhältnismäßig viel Wein für die Feiertage eingekauft, auch von kleinen Leuten, aber er ist für den Familienkreis bestimmt, und da trinkt man wohl, betrinkt sich jedoch kaum; wir sind nicht "trocken", wie die Amerikaner es von sich der Welt vorlügen, aber mäßig geworden.

Man soll niemals niemals sagen. Ich werde mich also auch vor der Behauptung hüten, daß ich, auch wenn ich eine kriege, eine Flasche Chamoagner niemals leeren werde. Eine gute Irroy hat's in sich, auch wenn man heute als guter Deutscher Gott sei Dank sagen kann, eine Henkell privat tut es auch. Immerhin: wenn ich auch kein Kostverächter bin, etwa eine 1878er Pomerol zu schätzen weiß, ärgere ich mich doch über die Masseneinfuhr französischer Weine. Im neuen Handelsvertrag haben wir den Franzosen bei uns ein Einfuhrkontingent von 360 000 Doppelzentnern Wein jährlich zugestanden. Ich gebe zu, daß der allerbilligste Landwein drüben besser sein mag als unser allerbilligster Surius, aber dafür überragen unsere besseren und unsere Spitzenweine alles andere in der Welt. Nur deutscher Rotwein, guter deutscher Rotwein, ist äußerst knapp, und die bekannten "alten Knaben" greifen daher nach Bordeaux und Burgunder. Darüber ärgere ich mich von Jahr zu Jahr mehr, aber seit einigen Wochen strahle ich, weil ich jetzt allen Liebhabern einen vollwertigen Ersatz aus einem befreundeten Lande anraten kann. Mögen die Franzosen bei ihrem Getränk verrecken! Also, ich kenne einen Kapitänleutnant a.D. in Berlin, der wie so viele aus der Laufbahn gerissene jüngere Kameraden nach dem Kriege "Vertreter" geworden ist, Agent für eine Firma, die in Bremen und - Valparaiso sitzt, jawohl, Valparaiso in Chile, drüben am Stillen Ozean. Dieser Kapitänleutnanthat sich das entzückendste Geschöpfchen der flandrischen Küste - im Jahre 1916 trug es noch lange blonde Kinderzöpfe - geholt, die junge Frau ist eine flammend nationale Deutsche geworden, ist neulich wieder einmal zu Besuch bei uns und empfiehlt als brave Kameradin ihres Mannes die chilenischen Weine, die er vertreibt. Am liebsten hätte ich - ich bestellte sofort 30 Flaschen - gesagt: "Weil Sie es sind, gnädige Frau!", und das hätte ich ruhig sagen können, denn meine eigene Gnädige saß ja dabei. Aber jetzt, wo ich den Wein habe, weiß ich, daß er selber alles Lob verdient. Es ist 1922er Cap Coronel Cabernet, von einer trefflichen nicht zu schweren Burgunderart, und kostet, trotz der Weltreise um die halbe Erde, nur - 1,60 Mark die Flasche. Da wünschte ich wahrhaftig, er stäche alle französischen Rotweine bei uns aus; und wer die Adresse des Kapitänleutnants wissen will, für den lege ich sie bei dem Brunnenverlag, Berlin SW 48, nieder, wo er sie erfragen mag. Etwa acht Tage nach der Bestellung hat man die Sendung im Hause. Den Siegestropfen, wie wir ihn nennen. Denn Cap Coronel läßt uns die Herzen höher schlagen, bei Cap Coronel focht doch Admiral Graf Spee mit seinen Kreuzern die herrliche Seeschlacht gegen die Engländer durch. Vor den Falklandinseln ging er dann in den Tod. Einer der wenigen seiner überlebenden Leute, Fregattenkapitän a.D. Pochhammer, wohnt heute in Berlin-Lichterfelde und kündet draußen im Lande in Vorträgen das deutsche Heldentum. Nicht nur von Coronel, sondern auch vom Skagerrak. Und nicht nur von der See, sondern auch vom Auslandsdeutschtum über See. Und nicht nur davon, sondern auch von deutscher Zukunft. Vaterländische Vereine, die diesen begnadeten Redner (er hat eine ganze Liste verschiedener Themen) sich kommen lassen, oder auch Schulen, werden den Hinweis mir danken. Und wenn nachher im engeren Kreise eine Flasche 1922er Cap Coronel Cabernet zu 1,60 Mark getrunken werden soll, hebe ich gleichzeitig hier in Berlin mein Glas und tue Bescheid.

Zu Hause natürlich. Am besten schon in den Weihnachtsferien. Da wird das entvölkerte Heim der - wie wir - älteren Elternpaare wieder zum richtigen Heim. Da kommen die flüggegewordenen Kinder von allen Seiten wieder her; da atmet auch unsereins wieder auf, der sonst nur am frühen Morgen und am späten Abend die eigenen vier Wände genießt, sonst aber so viel im Großstadttrubel sich treiben läßt oder in der Redaktion am Schreibtisch sitzt. Nur im Theater ist man immer weniger. Man sieht verstört die Anzeigen durch. Zu welchem Stück die Kinder in den Ferien zu schicken lohnt es denn übehaupt noch ? Heute haben großstädtische Zeitungen schon vielfach eigene Gerichtsfeuilletonisten, die mehr zu tun haben als die Theaterkritiker; und wirksamere Tragödien und Komödien schildern können. Auch mich zieht es manchmal nach Moabit hinaus. Da komme ich neulich aus dem Barmatprozeß, den die Öffentlichkeit leider kaum beachtet, und streife zwei sehr solide und doch elegant gekleidete Frauen auf dem Flur, die den Verhandlungsaushang studieren.Eine ruft mir nach. "Sie, pst, mein Herr!"   "Bitte ?"   "Können Sie uns vielleicht eine interessante Verhandlung empfehlen ?"   "Jawohl, Sie stehen ja davor, Barmatprozeß!"   "Ach nein, den kennen wir."   "Gut, eine halbe Treppe tiefer, Sprit-Weber!"   "Ach nein, da wird nur gegen seine Helfer verhandelt, Sprit-Weber ist durch."   "Vielleicht der Bankprozeß Künzel-v.Bischoffshausen ?"   "Ach nein, wir sind Geschäftsfrauen und nun mal hier, da möchten wir etwas Interessantes."   "Ja, was denn, meine Damen ?"   "Ach, wissen Sie, so etwas Mord oder so", sagt die eine Dame im Persianermantel; sagt es so gleichmütig, als wenn sie dem Ober bei Kempinski sagte: "Nein, keine Eisfrüchte, geben Sie mir lieber Pfirsich Melba!" Einen Mordprozeß hatte ich gerade nicht am Lager, bin auch noch nie in einem gewesen, habe selber nicht die geringste Lust dazu. Nur zur Barmatsache bin ich jetzt wieder hingegangen.

Das Kapitel der großen Millionenschiebungen ist beendet. Es sind wieder Bestechungsaffären an der Reihe. Dieser Barmat hat überall korrumpierend gewirkt. An der holländisch-deutschen Grenze, in Bentheim, ist ihm nach gründlicher Vorbereitung der Oberzollinspektor Stachel zum Opfer gefallen. Er hat Barmat jedesmal bevorzugte Abfertigung im Schlafwagen, ohne Aussteigen, ohne zollamtliche Prüfung, gewährt. Und nicht nur Judko Barmat, sondern auch dessen Frau, Sohn, Vater, Bruder, Schwester, Schwägerin, Schwiegermutter auf allen ihren Reisen über die Grenze. Und nicht nur ihnen, sondern auch den mit Barmat reisenden sozialdemokratischen Größen, Abgeordneten Heilmann und Frau und Polizeipräsidenten Richter. Warum diese Dienstverletzung ? Der Oberzollinspektor wird bei der Vernehmung rot, zögert. Je nun -, Barmat habe doch so gute Empfehlungen gehabt . . . vom preußischen Ministerpräsidenten, ebenso von den roten Regierungen Hessens und Sachsens. Und als einmal die holländischen Genossen Troelstra und Steenhuis mit Barmat zusammen herüberkamen, hätten sie eine Visitenkarte Severings mit einer Empfehlung vorgewiesen. Umgekehrt ließ Barmat sich nicht lumpen, machte Geschenke oder - ließ sie machen. So bekam Stachel im Januar 1923 durch den Spandauer sozialdemokratischen Bürgermeister Stahl auf Ersuchen Barmats von der Kreiswirtschaftsstelle Osthavelland 300 Zentner Koks geschickt, während die Spandauer Arbeiterfamilien in der damaligen Kohlennot bitterlich froren. Es sind schon feine Kerle, unsere Sozialdemokraten und ihr Barmat! Natürlich haben die Beteiligten im vollen Bewußtsein der Strafbarkeit ihres Tuns gehandelt und gelegentlich auch weitere Mitschuldige gewonnen. Immer depeschiert Barmat, daß er oder seine Leute dann und dann im Schlafwagen über die Grenze kämen, Silber oder andere Werte bei sich hätten, aber ununtersucht bleiben wollten, nötigenfalls also, wenn Stachel keinen Dienst habe, einen anderen Tag wählen würden. Und immer antwortet Stachel in dringenden Telegrammen. So am 25. November 1922: "Keinen Dienst, doch schlafen bleiben, Kollege einverstanden, Stachel." Und seine Briefe ziert häufig der Schluß: "Ich bitte auch an die hohen Herren Heilmann, Richter usw. meine besten Empfehlungen zu übermitteln." Es riecht. Es stinkt. Aber der deutsche Arbeiter hat anscheinend seine Geruchsnerven verloren. Er glaubt immer noch, daß seine Führer gegen den Kapitalismus kämpfen, obwohl sie von ihm erkauft sind. Er glaubt immer noch, daß sie gegen die Bourgeoisie anstürmen, obwohl sie selber längst in der Großbourgeoisie stecken und ihr Bankkonto mehren. Schade, daß man nicht jeden deutschen Arbeiter in dem Barmatprozeß zuhören lassen kann. Dann wäre die gesamte Sozialdemokratie mit ihrem Schwindel bei den nächsten Wahlen erledigt.

Draußen vor dem Kriminalgericht Moabit fährt ein über und über mit Plakaten beklebter Möbelwagen Reklame. Das "Weltkino" lädt zum Besuche des Films "Der falsche Prinz" mit der Bemerkung ein, daß Harry Domela persönlich anwesend sein werde. Ein Trompeter auf dem Bock des Möbelwagens bläst dazu seine Fanfaren. Aber nur wenige Passanten nehmen Notiz davon. Ach Gott, Harry Domela, die olle Geschichte! Man lebt schnell in Berlin. Nachher sitze ich im "Weltkino", sehe den äußerst mäßigen Film, und da kommt am Schluß denn auch wirklich der junge Domela heraus und macht eine linkische Verbeugung, wird aber von völlig interesselosem Schweigen empfangen. Harry Domela. Nun wenn schon.

Es gibt lustigere Dinge in Berlin. Da lese ich eine kleine Anzeige: "Wünschen Sie Gentleman-Führer durch das Vergnügungs- und Kunst-Berlin sowie Begleiter zu Tanztees, Bällen, Theater usw. ? Rufen Sie an: Jannowitz 1982." Also da wären wir glücklich so weit. Das mußte noch kommen. Zu dem Kampf gegen die "zweierlei Moral" rief einst die Frauenwelt auf. Jetzt macht sie mit; in bezahlter Gentleman-Begleitung. Leider habe ich gar keine Anlage zum Damenimitator, sonst hätte ich mich sofort um einen solchen Gentleman beworben, um die Sache bis auf den Grund zu erkunden. Was tun ? Ich bitte meine Frau darum, mir diesen beruflichen Dienst zu leisten. Sie antwortet: "Mit Dir, mit Dir möcht' ich des Sonntags angeln gehn, aber nicht mit einem fremden Kerl zu einem Tanztee." Aber anrufen könne sie. Sie kriegt lange keinen Anschluß, das Telephon ist seit den paar Tagen, seit die kleine Anzeige erschien, von Strohwitwen und anderen weiblichen Wesen offenbar belagert. Endlich! "Jawohl, gnädige Frau, für heute sind alle unsere Herren schon besetzt, aber morgen sehr gerne, wenn Sie vorgemerkt sein wollen, 5 Mark Honorar für Tanztee, 25 für ganze Dauer eines Balles, Unkosten sonst natürlich zu Ihren Lasten."

Knallrot ist sie geworden, meine Frau, stottert "Danke sehr!" und hängt an. Jetzt suche ich eine Dame, die nicht rot wird; die soll für meine Leser den neuen Gentleman-Beruf passiv prüfen.
13. Dezember 1927 (Dienstag)


15

Märchenwinter im Westend - Christkindchen, komm' ! - Neun Lieder des Börries v. Münchhausen - In der Gegend der Fruchtstraße - Menschen ohne Heim - Weihnachten als Amüsierfest - Die fünf Honorar-Gentlemen.

Der Himmel hat es gut mit den Berlinern gemeint und sie ausnahmsweise einmal vor Weihnachten in Kinderland geführt. In der Jugendzeit waren doch die meisten jetzt großen Berliner nicht hier, sondern irgendwo, wo es noch Schlittengeklingel vor dem "Gasthof zur Post" gab und wo man stets nach zehn Minuten Weges vor der Stadt sein konnte, wenn man nicht überhaupt ganz auf dem Lande wohnte. Nun erwachen diese Erinnerungen wieder, wo knackender Winterfrost eine Woche lang über der Großstadt lag; in den Vororten bis zu 18 Grad Kälte. Wer da zum Müggelsee fährt, auf dem Eisjachten über die weite Fläche sausen, oder einen Spaziergang um und über den Wannsee macht, der ist doch wieder nur, eingepfercht in die Masse, ein Stück von ihr. Es fehlt die heimelige Einsamkeit. Man kann sie aber viel näher haben. Der brausende Verkehr auf dem Kaiserdamm führt uns zum Reichkanzlerplatz, dort biegen wir nach rechts in die Villenkolonie Westend ab, die Gründung des großen Unternehmers Quistorp aus ganz alter Zeit, und sind nach wenigen Schritten im tiefsten Märchenfrieden und wandern über knirschenden blütenweißen Schnee, der nicht wie auf den meisten anderen Straßen zu graubraunem Schmutz zerfahren ist. Weit weg alles Tosen, aller unholde Lärm. Silbernes Jungmädchenlachen kommt aus einem Hause, dann ist wieder alles still. Aus zehn, zwölf anderen Häusern, die unter einer Schneehaube schlafen, dringt kein Laut, ringelt sich nur dünner Rauch empor; vielleicht brutzeln Bratäpfel da innen, vielleicht werden Spekulatius und Lebkuchen gebacken. Und wieder ein Haus, da trompeten helle Kinderstimmen, da singen sie ruckweise, die Hebungen kräftig hervorgestoßen, das liebe alte Liedchen:

Christkindchen, komm' in unser Haus,
Leer' die große Tasche aus,
Stell' das Eselchen unter den Tisch,
Daß es Heu und Hafer frißt.
Heu und Hafer frißt es nicht,
Zuckerplätzchen kriegt es nicht,
Christkindchen, komm', mach' mich fromm,
Daß ich in den Himmel komm'!

Das konnten wir, als wir klein waren, während der ganzen Adventszeit stundenlang mit Begeisterung singen, während der Backzeit am Tage, wenn verheißungsvolle Weihnachtsdüfte das Haus durchzogen, während der Schummerstunde, wo aus altpreußischer Sparsamkeit die Lampe noch nicht angezündet wurde, und noch abends im Schlafzimmer, bis des Vaters Kommandostimme "Ruhe im Schiff!" dröhnte. Nun wacht das alles wieder auf in diesem verwunschenen friedlichen Stadtteil, in dessen Mitte die große bronzene Denkmalsbüste des alten Kaisers steht, eingemummelt in Schnee, mit hochgetürmtem weißem Schnurrbart bis in die Nasenlöcher hinein. Es sind keine Paläste protzig hier aufgebaut, die Villen sind zum Teil schon fünfzig Jahre alt, zum Teil modern, aber schlicht; und es wohnen viele "Geistige" in diesem Westend, Graf Ferdinand Zeppelin, Paul Oskar Höcker, Oberstleutnant a.D. Siegert, auch viele Professoren, dazwischen Prinz Heinrich der Zwoundvierzigste von Reuß. "Sie numerieren wie die Droschkenkutscher ?", sagte einmal ein Hochnäsiger zu einem dieser Heinriche. "Nein, wie die Könige!", antwortete er gelassen.

Voll seligen Kinderfriedens kommt man von so einem nahen Ausflug wieder heim und findet das erste Christfestgeschenk da vor. Börries Freiherr v.Münchhausen hat mir aus seinem großen Schloß in den Wiesen, aus Windischleuba bei Altenburg in Thüringen, mit einer lieben Widmung sein neuestes Büchlein geschickt, "Lieder und Idyllen". Hat auch noch ein uraltes Bildchen des grabenumflossenen Schlosses mir vorn eingeklebt. Und obwohl Lesen bei Tisch in gutem Hause nicht vorkommen dürfte, kann ich mich nun doch nicht halten, und einiges lese ich dann auch gleich vor, "Fragt nicht", "Der Pfiff", "Das Eulenfederchen", "Das Weihnachtsfest", und auf einmal ist holdeste Stimmung in uns und um uns und wir haben alle einander so lieb und möchten dem Dichter mit beiden Händen fest die Rechte drücken. So traut und vertraut ist er, der Ferne, uns hier am Familientisch; ich weiß keinen, der so wie er die Herzen aufzuschließen vermag und für jedermann gleich den passenden Schlüssel hat, für alt und jung, für Mann und Weib und Kind. Wir sitzen da wie eine Gemeinde und lauschen dem Brausen dieser deutschen Orgel; und wenn sie verklingt, wenn das Büchlein wieder zugeklappt ist, fühlt man ganz wundersam, daß Güte übertragbar ist.

In solcher Stimmung muß man dann gen Osten pilgern, in solche Gegenden von Berlin, wo die Christusbotschaft von dem harten Lebenskampfe übertäubt wird. Da sitzt ein Mann, der Professor Siegmund Schultze, der ursprünglich Theologe ist, aber allen "frommen" sogenannten Wohltätern dürr heraus erklärt, solange ganze Familien in stinkenden kleinen Löchern wohnten, solle man ihnen nicht mit der Bibel kommen. Jede sogenannte Tröstung der Religion wirkt da nur wie ein Peitschenhieb. Auch mit "milden Gaben" wird nichts erreicht, es sei denn der geistliche Hochmut des Gebers. Schultze unterhält die "Soziale Arbeitsgemeinschaft" in Berlin O, Fruchtstraße 63, die die hilflosen Leute juristisch und sonstwie berät und mit Unterstützungen in der Hauptsache dort eingreift, wo dadurch Energien geweckt werden und die Leute sich nachher alleine weiterhelfen können. Es ist nicht überall "Verkommenheit" im Elend. Ich habe selten so etwas Blitzsauberes gesehen, wie die winzige Küche und das Stübchen des Berliner Asphaltarbeiters, der da mit Frau und acht zum Teil schon erwachsenen Kindern haust. Auch nicht ein Kleidungsstück liegt oder hängt irgendwo herum. Aber das Zimmer ist durch die 4 Betten, in denen die 10 Leute schlafen, so gut wie ausgefüllt. Eine zwanzigjährige gelähmte Tochter wird von den Geschwistern unwirsch behandelt, weil sie immer jemand im Wege sitzt. Zwei Töchter sind ungelernte Arbeiterinnen. Die Mutter will es mit äußerster Kraft durchsetzen, daß von den kleineren Kindern wenigstens eines "etwas Besseres" wird; der Junge soll Kaufmannslehrling werden. Professor Siegmund Schultze hatte durch eine seiner Helferinnen unserer Ältesten mitteilen lassen, wodurch man der Familie des Asphaltarbeiters die größte Weihnachtsfreude machen könne: durch einen Kochtopf, in dem das Essen für 10 Personen bereitet werden könne, denn einen so großen hätte sie sich bisher noch nicht anlegen können, und durch eine "richtiggehende" Kaffemühle, in der man die Röstgerste zu mahlen vermöchte. Nun gab es sogar noch "richtiggehenden" Bohnenkaffee dazu, die Familie war ganz glückselig, und jeder einzelne drängte sich herzu, denn jeder wollte "auch mal drehen". In der sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin O lernen manche junge Pfarramtskandidaten in einem Monat mehr, als in einem Semester in Universitätsvorlesungen über praktische Theologie. Wie kann man ein gemeinsames Tischgebet in einer Familie erwarten, in der, da die Mitglieder verschiedene Arbeitspausen haben, zu verschiedenen Mittagszeiten - im ganzen sechsmal - aufgetischt werden muß und wo immer nur einer auf "dem" Stuhl des Hauses sitzt ? Professor Schultze hat neulich einen Vortrag über die äußere und innere Not der Proletarierfrauen gehalten. Die innere ist die Folge aus der äußeren. Die Frau ohne Heim, die Frau ohne Sitte, die Frau ohne Religion, so heißt die Stufenleiter; und wo die erste Sprosse fehlt, das wirklich heimische Heim, kann man nicht darüber erstaunen, wenn die nächsten nicht erreicht werden, wo gute Sitte herrscht, wo tiefe Religiosität einem zum Lebensinhalt wird.

Zum Nachdenken über soziale und ethische Zusammenhänge kommt der Großstädter freilich um Weihnachten am allerwenigsten. Es wird hier immer mehr zum Amüsierfest. Am Sonntag unmittelbar nach Kirchzeit versammeln die "Stachelschweine", die vereinigten Kabarettisten, unter diesem Titel ihre Gemeinde zu saftigen Witzen. Alle Weinstuben locken durch besondere Festmenus die Familien aus ihren vier Wänden. Dies ist nicht einmal so sehr zu bedauern. Wo nicht Eltern mit einer großen Schar von Kindern und sonstigen Allernächsten (bei uns sind es am Heiligen Abend einschließlich der alten Waschfrau 14 Personen) beieinandersitzen, wo man nur ein Paar ist, da tun der jungen Hausfrau (die ältere ist es gewohnt, zu arbeiten, ohne zu klagen) die Mittagsferien einmal ganz gut. Da kann sie auch fröhlich und dankbar mit dem Gatten vorher ins Gotteshaus gehen, ohne in Ängsten an das Essen daheim denken zu müssen.

Und die ganz einsame vielleicht berufstätige Frau in mittleren Jahren denkt da vielleicht an den mietbaren Gentleman, den sie sich einmal in den Festtagen als Begleiter wohl leisten könne. Diese Organisation der Gentleman-Begleiter hat sich in wenigen Wochen in Berlin glänzend eingeführt. Durch Vermittlung eines Bekannten hatte ich endlich eine junge Dame ausfindig gemacht, die nicht rot wird, wenn sie im Auftrage eine wißbegierigen Plauderers nach einem solchen Gentleman telephoniert. "Hallo ? Jawohl, meine Gnädigste. Zehn Minuten vor 5 Uhr Königin-Bar. Draußen vor dem Eingang. Ich bin 1,80 groß, trage Sportpelz und grünen Hut. Wie ? Schwarzen Pelz und rotes Nachmittagskleid ? Jawohl, ich werde Sie nicht verfehlen!" Es klappt alles. Nachher berichtet mir die junge Dame, die von einer älteren im Privatauto hingefahren wird, in einer Hotelhalle von ihren Erlebnissen. "Also, ich bin begeistert, es ist fabelhaft anständig. Zuerst habe ich gezittert und gebebbert, und als der Gent auf mich zukam und ich seine hellen Gamaschen ansah, dachte ich, o Gott, der Knot will doch nicht am Ende in Gamaschen tanzen. Aber er gab sie an der Garderobe ab, und er tanzt blendend und kann französisch und englisch und schwedisch und ist überhaupt ein ganz gebildeter, gesitteter Mensch, früher aktiver Leutnant gewesen, dann Direktor einer Fabrik, jetzt stellenlos. Er macht das Gentleman-Institut mit noch zwei ehemaligen Regimentskameraden und zwei anderen Herren, die auch Offiziere waren. Alle Nachmittage und Abende sind sie besetzt, die Nachfrage namentlich aus den vornehmen Hotels ist sehr groß, ich war die erste Deutsche, die mein Gentleman ausgeführt hat, meist sind es Ausländerinnen." Sehr gut. Ja, das Geld liegt auf der Straße, man muß nur sehen, wo es liegt. Es gibt immer noch unentdeckte neue Berufe. Gentleman von Beruf zu sein, ist nicht dumm. Da kommt ein amerikanisches Ehepaar auf einige Tage her und vertraut ihm die beiden Töchter von 15 und 16 Jahren nachmittags zum Tanztee an. Da läßt sich eine holländische Dame durch ihn das Kaiser-Friedrich-Museum zeigen und die Hauptschätze erklären. Da kommt eine schwedische Gutsbesitzerin und wünscht die Potsdamer Schlösser und eine große Lokomotivenfabrik in Tegel zu sehen. "Aber nun sagen Sie mal aufrichtig, Herr Leutnant, spinnen sich da nicht manchmal auch Romane an ?", fragt meine Kundschafterin, die krampfhaft bemüht ist, in den Tanzpausen bei Kaffee und Likör das Nötige herauszubekommen. Der Gent lächelt versonnen. Und dann sagt er: "Das, meine Gnädigste, können die Damen auf Grund des Honorars nicht verlangen, das liegt nur an unserer Entschließung, und wir haben ja auch Augen im Kopfe. Wir fünf sind übrigens alle unverheiratet, aber zwei von uns sind schon in festen Händen. Außerdem wechseln unsere Klientinnen doch ständig, ich könnte beispielsweise für morgen mich mit Ihnen gar nicht verabreden, da ich beruflich für 14 Tage nach St. Moritz verreise." Jawohl, beruflich. Als Dolmetscher und Reisemarschall mit zwei vornehmen Inderinnen; von denen übrigens die eine 66 und die andere 70 Jahre alt ist. Da wird sicher ein Extrahonorar verabredet, nicht das sonst übliche von 5 oder 15 oder 25 Mark außer den Spesen, die die Dame natürlich auch trägt. "Aber bitte, da wir gerade von den Spesen sprechen: lassen Sie mich den Mokka und den Likör bezahlen! Wir rechnen nachher ab. Ein einziges Mal hat eine Dame offen für mich bezahlt, und ich saß dabei wie ein begossener Pudel!"

Die fünf Gentlemen sind beruflich tannenschlank und können ein bißchen Ausruhen und Fettlebe übers Fest gut gebrauchen. Zu Weihnachten sind die Hotels leer. Häufig werden die fünf von Berliner Herren angeklingelt und gefragt, ob sie nicht auch ein paar Gentlewomen stellen könnten, ein paar wirklich gebildete, aber "schnuckeliche" Damen. Dann wird kurz und hart "Nein!" gesagt und der Fernsprecher angehängt. Die fünf Gentlemen betrachten ihren Beruf - sie sind zwischen 32 und 40 Jahren - nur als Übergangsstadium und wollen das "Geschäft" später einmal in gute Hände verkaufen. Tadellose Sache. Über Weihnachten geht es in den Schnee. Ski Heil! Gentleman bleibt Gentleman; auch auf Miete.
22. Dezember 1927 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts