"Rumpelstilzchen"

Klamauk muß sein !
(Jahrgangsband 1927/28)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1928

Glossen 10 - 12
17. November bis 1. Dezember 1927


10

"Jeder einmal in Berlin" - Funkturm-Flammenstreifen - Was der Erbauer bekommt - Kabarett-Pleite - Im Romanischen Café - Harry Domela, Urban Graß - Wieder auf einem Ball - Stilkleid und Lippenstift.

Jeder einmal in Berlin! Das ist das Schlagwort, das im ganzen Reiche geträllert werden soll, um Besucher anzuziehen. Ausgezogen, hofft man, werden sie dann an Ort und Stelle. Ja, es muß was geschehen. Das Messe- und Fremdenverkehrsamt der Stadt hat den Marsch "Jeder einmal in Berlin" von Hugo Hirsch komponieren lassen und verbreitet ihn kostenlos in 100 000 Exemplaren draußen im Lande. Nicht weniger als 5000 deutsche Kapellen und rund 10 000 Musiklehrer erhalten ihn, ebenso alle Besitzer eines Klavieres, die es aus Berlin bezogen haben. Außerdem flattern deutsche, englische, spanische, französische Werbeschriften in alle Erdteile. Von dem Text des neuen Marsches, den Alfred Müller-Förster verfaßt hat, ist die erste Strophe - die beiden anderen sind noch provinzlerischer - leidlich gelungen:

Wo der Funkturm Flammenstreifen
Läßt in Riesenkegeln schweifen,
Wo von weitem schon im Dunkeln
Millionen Lichter funkeln,
Eine einz'ge Sonnenkette,
Liegt Berlin, die Stadt der Städte;
Staunend ruft man und bewegt:
Hier das Herz Europas schlägt!

Seit wir Deutschen drei Jahre lang unser Herz "in Heidelberg verloren" haben, wäre es vielleicht ganz gut, wenn das Herz Europas an der Spree sich fände. Ich glaube es freilich nicht recht. Ich sehe in Berlin nur Europas Raffhand, die wie ein Greifbagger von dem Reparationsagenten geführt wird. Deshalb wollen wir aber mit dem Berliner Reklamedichter nicht streiten. Er meint es gut und er wird im Refrain der drei Strophen noch lockender, wo das "Jeder einmal in Berlin!" sich zweimal wiederholt und verheißen wird: "Jeder einmal untern Linden: was er sucht, das wird er finden!" Jawohl, besonders, wenn er was fürs Herz sucht; da sind wir reich assortiert. Daß der Marsch aber mit dem Lobe des neuen Wahrzeichens der Reichshauptstadt beginnt, des Funkturms, das ist nur recht und billig. Dieser 132 Meter hohe Gitterturm, unser kleiner Eiffel, bietet besonders abends, wenn der leuchtende Fahrstuhl empor- und niedergleitet und ganz oben die Scheinwerfer spielen, das sogenannte "märchenhafte" Bild. Aus dem Plane, auf dem Messegelände einen neuen 400 Meter hohen Turm zu errichten, also Paris zu übertrumpfen, scheint nichts werden zu wollen. Kein Geld, kein Geld. Es ist überhaupt erstaunlich, mit wie wenig Mitteln deutscher Idealismus noch so respektable Leitungen vollbringt. Der Konstrukteur und Erbauer des Funkturms ist bei seiner Firma mit dem fürstlichen Monatsgehalt von 225 Mark angestellt. Seine Bitte um Erhöhung der Bezüge auf 300 Mark monatlich wurde ihm abgeschlagen.

Kärglicher Verdienst bei angestrengtester Arbeit, das ist Berlin. Nur die Fremden können es bringen, lautet die daher erklärliche Parole. Die Berliner allein sind gar nicht mehr in der Lage, ihre Vergnügungsstätten über Wasser zu halten. Von den vielen neu eröffneten Luxus-Kabaretts sind nach wenigen Tagen einige fast schon am Erliegen. Mit einer Art Galgenhumor nennt das eine Unter den Linden sich "Die Optimisten". Der Gesamtumsatz eines Tages an Getränken - davon leben die Leute doch - betrug 21 Portionen Kaffee, 23 Flaschen Sekt, 16 Flaschen Wein. Und das in einem Riesenlokal bei 20 Kellnern! "Den Vater grauset's, er reitet geschwind"; natürlich Wechsel reitet er. Über kurz oder lang wird es aber auch hier wohl heißen: in seinen Armen das Kind war tot.

Besucher aus dem Reiche führe ich im Sommer gern auf den Funkturm oder zum Flughafen. Im Winter ungern in Kabaretts; denn die hat man, mit Tanzakrobaten und schmierigen Witzen, heute schließlich überall. Aber eine Eigenheit hat Berlin, wie sie so ausgesprochen nicht einmal Paris kennt, ein Kaffeehaus des Geistes, "Das Romanische" an der Kaiser-Wilhelm-Kirche, wo keine Geigen wimmern, nur Intellektuelle knistern - und die "blödsinnigsten" Schädelbildungen studiert werden können. Solch einen Menschen-Zoo gibt es in ganz Europa nicht wieder; und immer mischen sich hier, rein zufällig oder aus Interesse, ein paar Ungeistige, ein paar gänzlich Normale in das Getriebe, so daß die Stammgäste sich erst recht von ihnen abheben. Ich habe schon früher einmal erzählt, wie diese Stammgäste eigentlich eine einzige Sippe bilden, voll Verachtung für den Außenseiter, so daß man sie nur beobachten, aber mit ihnen nicht recht "warmwerden" kann. Nur sind sie äußerlich nicht mehr ganz so armselig wie im ehemaligen Café Größenwahn; und es kommen auch manche Prominente her. Hie und da ist freilich noch einer, der das Geld für Seife nicht erschwingen kann und hier bei Bekannten eine Tasse Kaffee erschnorrt oder ein Kinobillet oder ein paar Groschen. Es ist ein ewiges Kommen und Gehen und Ausschauen dieser Flüchtigen unter den Seßhaften. Da ist der Maler Höxter mit der Hakennase in dem Hungerleidergesicht, früher erster Expressionist, jetzt, wenn man das Kind beim rechten Namen nennen will, Bettler. Im Grunde ein bescheidener lieber Kerl; fünf Pfennig hat immer wieder einer für ihn übrig. Selten Arbeit. In einem Asta-Nielsen-Film hat Höxter neulich einen Kokainisten gespielt. Immer wieder kommt er zur Drehtür herein und geht wieder hinaus, setzt sich kaum je. Man würde es ihm in dieser Burg der Geistigen aber auch nicht verübeln, wenn er, ohne etwas zu verzehren, dasäße. So wie neulich mir gegenüber ein Literaturjüngling. Der Kellner kommt, fragt nach den Wünschen und erhält die Antwort: "Erlauben Sie mal, das will ich mir erst eine Stunde überlegen!" Der Kellner nickt höflich und entfernt sich wortlos. In der Ecke neben der Tür sitz häufig eine Dame vom Typ Renée Sintenis. Nur ist sie vollkommen erblondet. Sie ißt und trinkt und zahlt. Sie begrüßt sich mit Jeßner, mit Slevogt, mit anderen Koryphäen, die gelegentlich kommen. Aber man kommt nicht recht hinter sie. "Sie pumpt nie, niemand weiß, wovon sie lebt!", sagt achselzuckend ein alter Stammgast. Von einigen wenigen der jüngeren Damen weiß man es, so von der blassen Mascha, der früheren Freundin des jungen Wertheim, die augenblicklich Muse eines Malers ist, der eben mit ihr in Paris war. Aber man darf nun beileibe nicht denken, daß hier Halbwelt verkehre. O nein. Es ist "hochanständige" Dreiviertelwelt. Auch schlichte Damen von Welt sind darunter. Frau Moissi erzählt von den Erfolgen der Christian science, den Gebetsheilungen der sogenannten christlichen Wissenschaft, an die sie fest glaubt. Wenn es nach den Ärzten ginge, meint sie, du liebe Güte, da wäre sie schon längst rechtmäßig tot und ebenso ihr Mann und die Mutter und erst recht drüben da der Klabund, Alfred Henschke, der Dichter des "Kreidekreises", den man um seiner Kehlkopftuberkulose willen, einst völlig aufgegeben hatte. Leo Lania, der kommunistische Hausdichter Piscators, lächelt dazu. Er glaubt überhaupt an nichts außer dem Talent. Unter den vielen Hunderten in dieser Enge und in diesem Zigarettenrauch gibt es neben unverbesserlichen Idealisten auch eine Menge ganz kaltschnäuziger Gesellen, denen mit dem Heiligsten Spott zu treiben zur zweiten Natur geworden ist. Sie kennen alle geläufigen Zitate aus allen deutschen Dichtern, aber sie verballhornen sie alle. "Was du ererbst von deinen Vätern hast: geh' zum Spezialarzt, um es loszuwerden!" Es überschauert einen. Verzweiflung grinst. Daneben aber sieht man auch Hoffnungsfreude von tätig Schaffenden. Junge Kunstschüler und Kunstschülerinnen tauschen ihre Erfahrungen aus; fast jedes Gespräch dreht sich um etwas Geistiges. Nordische Filmer, unter ihnen Asta Nielsen, lesen bei zwei Eiern im Glas und einer Schale Haut "Berlingske Tidende" und "Politiken" und "Svenska Dagbladet". Auf einem Wandsofa thront Flechtheim, der große Bilderhändler, von dem erzählt wird, er habe zwar eine respektable Nase, sei aber wirklich Major der Landwehr. Vater Zille, der Maler-Professor, schaut mit gütigen Augen in des Getriebe, Egon Erwin Kisch, "der rasende Reporter", kommt und stößt auf Theodor Lessing, den der Irrenarzt Edel beäugt. Ein bekannter Filmregisseur verzehrt ein Roastbeef, das magnetisch die Blicke anzieht. Ein Briefchen kommt zu ihm geflogen. Von einem Verzweifelten. Ich will es hierhersetzen, nur die Namen natürlich nicht ausschreiben:

"Lieber Herr K., ich bitte Sie, helfen Sie mir und meiner Frau durch Statieren und - nehmen Sie es nicht übel - meine Frau und ich sind ausgehungert - senden Sie ein paar Mark hinaus. Mit Hochachtung A.v.K."

Der Briefschreiber steht draußen vor der Tür, zähneklappernd. An ihm vorbei geht ein schlankes Jüngelchen herein, ein Blonder mit starken Kiefern und Backenknochen, gut gekleidet, in modischem Raglan, anscheinend ein Arrivierter, aber anscheinend kein Geistiger. Es ist - Harry Domela, der junge Halb-Lette, der kürzlich wegen Zechprellerei und ähnlicher Delikte vor Gericht freigesprochen wurde, nachdem er eine Zeitlang als Prinz Wilhelm, Königliche Hoheit, in Provinzstädten sich durchs Leben gemogelt hatte. Das war vor etlichen Wochen noch eine Sensation. Als Sensation wurde der junge Mann auch hier bei seinem ersten Auftauchen empfunden, als er von seinem Verteidiger, Rechtsanwalt Apfel, ins "Romanische" sich einführen ließ. Jetzt ist er schon fast Stammgast, aber niemand beachtet ihn mehr. In diesem Kaffeehause, sagt mir ein junger Theaterdekorationsmaler stolz, säßen zwar viele Notleidende neben vielen Arbeitenden und Verdienenden, aber bisher sei noch kein Hochstapler gekommen. Schwamm drüber! Vielleicht wird aus dem jungen Domela, für den das Geld, das die Spätabendpresse aus seinen Erlebnissen schlug, vorsichtshalber von einem Kurator verwaltet wird, noch einmal ein nützliches Mitglied der Gesellschaft. Aber bestimmt nicht durch Dauersitzungen im Romanischen Café. Die Bohème-Atmosphäre ist nicht bürgerlch-solide genug. Da bestellt einer fünf Exlibris bei einem talentierten armen Zeichner; was das kosten würde. Und der antwortet: "Das kostet 50 Mark. Aber kriege ich wirklich Geld ? Dann nur 30 Mark." Fast den bürgerlichsten Eindruck in dieser Welt macht ein ganz krasser Außenseiter, ein reiner Muskelarbeiter, der stundenlang verzückt hier sitzen kann, ohne ein Wort zu sprechen: der junge Boxer Urban Graß, deutscher Meister im Bantamgewicht. Bantams sind die bekannten Zwerghühner. Auch Urban ist ein kleines Kerlchen, aber die Photographien von sich, die er, namentlich in Damengesellschaft, gern hervorholt, zeigen einen wundervoll durchgebildeten Körper. Und dann ist er furchtbar stolz darauf, daß er einmal ganz außerhalb der Sportrubrik in der Zeitung gestanden hat, - damals, als in der nächtlichen Friedrichstraße fünf Rowdies Krakehl mit ihm anfingen und er sie allesamt binnen zwei Minuten knockout geboxt hat.

Eines Tages sehe ich einen prachtvollen Charakterkopf mir gegenüber. Fabelhaft hohe Denkerstirn, starkes, emporwallendes Haar, mächtiger Durchzieher auf der Backe. Der Mann ist also akademisch gebildet und hat sicher bessere Tage gesehen. Nachdem er dem Kellner seine Bestellung aufgegeben hat, sagt er: "Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Portemonnaie ist hier!", stellt eine - Streichholzschachtel auf den Tisch und öffnet sie. Darin klimpert es von Markstücken und Groschen. Das ist so ein Ausschnittchen aus dieser unbekümmerten Welt. Gelegentlich fühlt man sich ein paar Stunden lang hier wohler als in irgend einer faden Luxuspaar.

Neulich eines Nachmittags ist es mir richtig schwer geworden, die Studien im "Romanischen" aufzugeben und nach Hause zu gehen, um mich für den ersten Ball in diesem Jahre, den ich notgedrungen besuchen mußte, umzuziehen. Ich bin sehr bald wieder weggegangen. Ein paar ältere Herren hefteten sich auf dem Ball an meine Sohlen. Behäbige Glatzköpfe; "Mondschein mit Pelzbesatz", sagt der Berliner. Immer wollten sie eine sogenannte gemütliche Ecke bilden. Ich hatte kaum Zeit festzustellen, worauf der Massengeschmack diesmal in der Toilette verfallen ist. Vor ein paar Jahren waren es die weißen Perücken, die den ersten Rokoko-Dämchen entzückend standen, dann aber gräßlich abgeschmackt erschienen, als schon fast alle weiblichen Wesen sie sich aufstülpten. Heute fällt mir bei den Damen eine Hypertrophie der Hüftknochen auf. Sie nennen es Stilkleid. Mady Christians sah vor vier Jahren in einem Stilkleid zum Anbeißen aus. Heute Frau Ministerialrat Lehmann minder; und noch weniger ihre umfangreiche Tante Eulalia. Die Gespräche auf dem Ball standen nicht ganz auf literarischer Höhe. Aber sie haben meine Kenntnis kosmetischer Geheimnisse gemehrt. Ich weiß jetzt, daß es Lippenstifte nicht nur von verschiedener Farbe und verschiedenem Duft gibt, sondern auch von verschiedenem Geschmack. Die Damen suchen sich aus, was ihnen oder ihrem Cicisbeo am besten schmeckt für den Fall, daß die Kußfestigkeit erprobt werden sollte. Da gibt es Lippenstifte Marke Erdbeer, Lippenstifte Marke Ananas. Und nun habe ich die große Angst. Ich denke immer, am Ende kommt noch ein Lippenstift Marke Limburger Käse.
17. November 1927 (Donnerstag)


11

Echt englische Pullover - Deutsche Ware ist die beste - Das Manoli-Tütchen - Uns fehlt ein Kriegsmuseum - Ausstellung Vollbehr - Aus der Entstehungsgeschichte von Schwarzrotgelb - Die Mode des Trench coat - Klemperers Fidelio.

Einen Jumper könne sie gut gebrauchen, sagt uns zutraulich unsere alte Waschfrau. Sie hat am 6. Dezember Geburtstag. Den feiern wir ihr immer, als wenn sie ein Kind wäre; sie kriegt richtig "aufgebaut", und auch die Blume und der Kuchen fehlen nicht. Nur die Lichtchen fehlen. Wir müßten ja über 60 anstecken. Also einen Jumper. In unserer Nähe ist ein Wollwarenladen, der hat jetzt quer durch alle Schaufenster breite Plakate kleben: "Echt englische Pullover wieder eingetroffen." Ähnliche Inschriften gibt es in Berlin zu Dutzenden, während man in London sich einen Aushang mit den Worten "original German strickjacken just come in" einfach nicht vorstellen kann. Es fehlt dem Berliner doch sonst nicht an Selbstbewußtsein, aber der Kaufmann wirft sich immer noch vor allem Fremden auf den Bauch. Und wenn er, weil die Steuerbanderole es verrät, nicht gut das "deutsche Erzeugnis" leugnen kann, behält er wenigstens den fremden Namen. Eine Flasche Heidsieck, bitte! Das klingt ja so herrlich vornehm; und der Nachbar ahnt vielleicht nicht den winzigen Unterschied, das Fehlen eines kleinen "e" auf dem Schildchen: Heidsieck Monopol statt Heidsieck Monopole. Vor einer Reihe von Jahren war das deutsche Gedrücktsein ja noch begreiflich. Damals fällte unser deutscher Professor Reuleux über unsere Beteiligung an der Weltausstellung Philadelphia das berechtigte Urteil: billig und schlecht. Wir machten Pofel für alle Welt, Schund für Nigger; seither sind wir aber doch in der Herstellung von Qualitätsware an die erste Stelle gerückt, nur verstehen wir es noch nicht, uns im In- und Auslande darauf zu berufen. Was soll der fremde Einkäufer, der nach Berlin kommt, von uns denken, wenn er überall "echt" englische, schweizerische, französische, egyptische, amerikanische Erzeugnisse empfohlen sieht ? Wir schädigen unseren Absatz. Selbstverständlich gehe ich nun in den benachbarten Wollwarenladen, zeige dort die Quittung über das anderswo erstandene Geburtstagsgeschenk für unsere Waschfrau vor und sage: "Wir brauchten einen echt deutschen Jumper, da Sie aber englische Pullover anzeigen, konnte ich diesmal nicht zu Ihnen kommen." Die Reklame für die eigene Arbeit verstehen die Engländer übrigens ausgezeichnet. Der Poststempel auf englischen Briefen hat den Schwanz: "British goods are the best!" Das wirkt. Bei uns werden statt dessen Bäderanzeigen von Wiesbaden usw. angehängt. Auch nicht dumm. Eine Zeit lang machten wir es den Engländern nach, brachten aber auf dem Poststempel nicht den überzeugenden Satz: "Deutsche Ware ist die beste!" sondern statt dessen den viel matteren Imperativ: "Kauft deutsche Waren!"

An einer Stelle in London sind freilich auch deutsche Sachen ausgestellt. Nämlich im englischen Kriegsmuseum. Das ist manchmal zum Piepen. Da sieht man in deutschen Schützengräben eroberte Dinge. Darunter ein Papiertütchen mit dem Audruck: "Manoli".

Wir haben in Deutschland, überall bei Privaten verstreut, viel bessere Dinge. Ich selber habe von fast allen Kriegsschauplätzen, von Ostende bis zur Dobrudscha, vom finnischen Meerbusen bis zum Tigris, nette Andenken heimgebracht, darunter zwei dem Sinne nach gleichlautende kulturell hochbedeutsame Anschläge von einem gewissen Örtchen eiens "ersten" Hotels aus Wilna in Polnisch-Litauen und aus Udine in Oberitalien. Auf dem einen stand: "Streng ist ferboten zu smutzen auf die Erde, nur zu sitzen auf dem Bank." Und auf dem anderen: "Prega si gentilmente di non appogiarsi coi piedi sul sedile." Da lächelten unsere Soldaten, wenn ihnen das überstzt wurde. Aber wir haben nicht nur solche komische Sachen, sondern auch ganz hervorragende Museumsgegenstände. In Berlin befindet sich im Besitze eines gut deustchen Stadtbaurats, der in Ostpreußen Verwandte hat, bei denen der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch einquartiert war, ehe er Hals über Kopf in Zivil vor Hindenburg davonfloh, der Säbel dieses Großfürsten. Wenn das kein "Trophäe" ersten Ranges für ein Kriegsmuseum ist, dann will ich Dämlack heißen.

Aber - wir haben kein Kriegsmuseum.

Sogar in Wien haben sie eins, ein recht gutes sogar. Alle Völker haben eines. Davor, wie die Italiener in ihrem Nationaldenkmal, das Grab des unbekannten Soldaten. Da liegen immer ein paar frische Kränze. Sogar der Präsident von Liberia hat da einen niedergelegt, als er im August in Rom war; nachher in Berlin fand er keine Stelle, wo er den gleichen Höflichkeitsakt hätte vollziehen können. In Helsingfors sah ich vor dem finnischen und deutschen Kriegergedenkstein in diesem Sommer Kränze einer norwegischen Reisegesellschaft. Überall erschauert man vor der heldischen Leistung. Nur in der deutschen Reichshauptstadt gibt es kein Ehrenmal und kein Museum für das in der Weltgeschichte Unerhörte, daß das Heer eines abgeschnittenen und sozusagen in Europa belagerten Volkes 4½ Jahre lang einer vielfachen Übermacht standhielt, die eigenen Grenzen schützte und weit in Feindesland seine Schlachten schlug. Allmählich werden die Andenken und auch die künstlerischen Urkunden verschwinden. Dabei haben wir wirklich ein hervorragendes Material, wie es kaum ein zweites Volk besitzt. Von der Sonderausstellung des Kriegsmalers Mattschaß habe ich schon vor zwei Jahren erzählt. Dann hatten wir vor Jahr und Tag die gemeinsame Ausstellung "Der deutsche Frontkämpfer" von Dutzenden deutscher Künstler. Schließlich hat jetzt einige Wochen lang Professor Vollbehr seine außerordentlich wertvollen Sachen in dem ehemaligen Hotel Bellevue am Potsdamer Platz gezeigt, das jahrelang der französischen Schnüffelkommission als Heim diente und jetzt geleert und von dem Dreck gereinigt ist. Vollbehrs ganzes Vermögen und seine ganze Lebensarbeit steckt in diesen Hunderten von Genälden und in den gleichzeitig ausgestellt gewesenen Gegenständen aus unseren Kolonien. Es ist zur Zeit unrealisierbar. Soviel ich weiß, hat eine bayrische Bank so viel nationales Verständnis besessen, die ganze Sammlung wenigstens als wertvolles Pfand anzuerkennen und gegen dessen Hinterlegung Vollbehr einige Mittel zur Verfügung zu stellen. Er befindet sich eben auf einer Studienreise nach Java. Seine urkundlich getreue Darstellung kann ich vielfach bestätigen, so seine Interieurs aus Kriegsluftschiffen und seine lückenlosen Vogelschauaufnahmen der gesamten Westfront von der Schweizer Grenze bis zur Nordsee. Er war dem Korpsstabsquartier des Generals Grafen Schmettow - der heute abwechselnd mit Admiral v.Rebeur-Paschwitz und anderen freiwillig Adjutantendienste in Doorn verrichtet und bei dem gewaltigen dortigen Briefeingang hilft - zugeteilt und wurde von hier weitergereicht; überall hat er im Korbe der Fesselballone bei jeder Windstärke gehangen und dort seine Farbenskizzen der Kriegslandschaften entworfen, um sie nachher, durch photographische Aufnahmen unterstützt, im Atelier in breiten Gemälden aufs Minutiöseste zu vollenden. Die Landschaft verändert sich. Bei Fehrbellin suchte ich einmal den historisch berühmten Sumpf aus dem Gefecht des Großen Kurfürsten, fand mich aber in den trockenen Roggenfeldern nicht zurecht. Auf dem Schlachtfelde von Waterloo stehen heute Mietskasernen. Anderswo werden Wälder zu Feldern, Felder zu Wäldern, und Flüsse und Kanäle ändern ihren Lauf, also wird man sich nach 100 Jahren manche Kämpfe nicht mehr rekonstruieren können, wenn man nicht diese Urkunden zeitgenössischer Maler von heute aufkauft und in einem Nationalmuseum sammelt. Wir haben kein Geld dazu ? Weiß ich, weiß ich. Parker Gilbert sähe so etwas nicht gern in unserem Etat. Aber augenblicklich wird sowieso darüber beraten, wo das Reichsehrenmal hin soll, auf die vielumfahrenen Lorcher Inseln in der Weltstraße, dem Rhein, oder in den ganz abgelegenen und stillen Wald von Berka in Thüringen, oder in die Brandung der Hunderttausende von Besuchern Berlins. Jedenfalls gehört in die Reichshauptstadt ein Museum, wie es wenigstens für einen Teilkriegsschauplatz in den Türmen von Tannenberg geplant ist, und das Geld dafür könnte durch eine jahrelang wiederholte Lotterie aufgebracht werden. Zuständig wäre das Reichsministerium des Inneren. Vielleicht legt das einmal jemand Herrn v.Keudell nahe. Aber auch jede einzelne deutsche Stadt müßte etwas zum Gedächtnis ihrer Söhne aus großer Zeit tun, etwa im Rathause ein Bild aufhängen, das eine Schlacht zum Gegenstand hat oder ein Gelände, in dem die Söhne der Stadt litten und kämpften und starben. Oder auch Einzelszenen aus irgendeinem Regiment. So etwa in Kiel von den 75ern, in Wiesbaden von den 80ern, in Darmstadt von den 115ern usw. Allein aus den Werken von Mattschaß in Zehlendorf-Berlin - man kann ja bei ihm anfragen - läßt sich schon mancher solcher Wunsch befriedigen. Wo die Städte aus Etatnöten versagen, könnte die Bürgerschaft privat dafür sammeln. Und daß über dem Heere die Flotte nicht zu kurz kommt, wo wir doch die besten Marinemaler haben, dafür müßten überall, namentlich an der Wasserkante, ihre Angehörigen durch Werben sorgen.

Als wir im Sommer 1915 Mitau einnahmen, ritt ich zur dortigen russischen Dragonerkaserne und fischte mir nach einigem Suchen in dem wüsten Durcheinander des Regimentsgeschäftszimmers ein rotes Plakat, den Mobilmachungsbefehl vom Juli 1914. Das gäbe ich gern dem Museum. Darunter müßte die deutsche Übersetzung und in Riesenbuchstaben die Inschrift hängen: "Rußland macht drei Tage früher als Deutschland mobil!" Ich möchte hören, wer angesichts einer solchen Urkunde dann noch von einem deutschen Überfall auf die unschuldige Entente sprechen könnte. Aber ich weiß schon, weshalb unsere Demokraten, Defaitisten, Sozialisten das nicht mögen. Am Ende fänden sich nämlich in dem Museum auch die von dem 1914 in französische Dienste übergetretenen ehemaligen Berliner Ullstein-Redakteur Dr.phil. Rösemeier verfaßten schwarzrotgelb umrandeten Flugblätter, die zu Hunderttausenden über der deutschen Front abgeworfen wurden und unsere Soldaten zur Meuterei, zum Erschießen der eigenen Offiziere und zum Überlaufen zum Feinde aufforderten, wobei die Überläufer das Wort "Republik" ausrufen sollten. An die Entstehungsgeschichte gewisser Dinge läßt man sich nicht gern urkundlich erinnern.

Im übrigen paradieren unsere Pazifisten gern kriegerisch. Sogar die Langhaarigen im Literatencafé kommen stolz im trench coat angewackelt, in dem englischen Schützengrabenmantel mit nummerlosen Achselklappen. Es sieht blödsinnig aus, gilt aber als schick. Die Engländer und Amerikaner werden ihre sonst unverwertbaren Restbestände an Ausrüstungsstücken glänzend an uns los. Parallel damit geht die reißende Zunahme des Monocles bei blaurasierten Konfektionsjünglingen. Allmählich wird das Einglas zum Rassemerkmal.

Stärker noch als in der Mode ist die Überfremdung der Berliner in der darstellenden Kunst und in der Musik. Geschaffen wird nicht viel bleibendes Neues, aber umgeschaffen vieles eindrucksvolle Alte. Man will verblüffen. Man will den Eindruck potenzieren. Dichter und Komponist sind nur noch Sprungbrett für den Regisseur mit seinen Einfällen. So hat auch Beethovens "Fidelio" es sich gefallen lassen müssen, in der Staatsoper kubistisch zerspalten und aufgebaut zu werden, während die Statisterie gleichzeitig nicht als eine Fülle verschiedenster Einzelwesen, sondern geschlossen als Masse Mensch vorgeführt wird. Der Chor der Gefangenen in den trostlosen Kuben der Festung wankt rhythmisch hin und her, hebt ruckartig Köpfe oder Hände, ist zur Maschinerie geworden; ebenso seelenlos, nur als Vertreter irgend eines "Prinzips", erscheinen uns die Solisten, die auch nur noch vom Regisseur an der Strippe gezogene Hampelmänner sind. Natürlich ist dies in seiner Art nicht ohne Eindruck, es ist eindringlich, es gräbt sich wie mit Krallen in unsere Nerven, ist freilich nicht der alte Beethoven. Es scheint nachgerade, daß alle unsere Dichter und Musiker nur dafür gelebt und gearbeitet haben, damit ein moderner Formzertrümmerer an ihnen sein Talent erprobt. In ganz alten Zeiten ärgerte man sich über die Unbeholfenheit der Choristen und ihr unlebendiges Spiel, es wurde dann seit der Meininger Aera bis zu Reinhardt unendlich viel getan, um diese tote Masse in bewegliches Leben aufzulösen, aber jetzt erstarrt sie wieder zu einem exerzierten Tausendfuß. Wer es mag, der mag es ja wohl mögen, pflegte Reuter zu sagen. Aber in Wirklichkeit wird die Bühne zum Schauplatz einer Demonstration, und im Zuschauerraum wird der Kunstgenuß auch durch die Demonstration ersetzt. Geht der Vorhang endgültig herunter, dann beginnt die Schlacht. Viele schütteln den Kopf, sind aber wenigstens durch Beethovens unvertilgbare Musik getröstet, einige wenige zischen, eine starke Minderheit aber ruft frenetisch nach Klemperer, dem Umschöpfer des bisher gewohnten "Fidelio". Auch in der Zeitungskritik scheidet sich nachher alles nach Parteien; die Linke tut entzückt, die Rechte ist entrüstet. Sonst konnte man in der Kunst sich von dem Leben erholen. Heute ist auch sie zur Handlangerin der Politik geworden, wenigstens in dem unglückseligen Deutschland. Hart und feindselig sehen sich die Leute in die Augen. Hinter mir im ersten Rang sitzen Volksbühnen-Abonnenten, die wohlgefällig feststellen, daß sie "bei die Platzverteilung Schwein jehatt ham", aber nach der Vorstellung sich auch politisch ereifern. Ich werde auf die Schulter geklopft, in das Gespräch einbezogen. Ich sage nur kurz, mir sei Beethoven mehr als Klemperer. Da antwortet ein stämmiger Unentwegter: "Wat verstehen Sie Reaksjonär von Kunst ?"
24. November 1927 (Donnerstag)


12

Nach dem Totensonntag - Die übliche Grippe - Ein "ernster" Theaterspielplan - Der Tanzmädchen-Beruf - Die Abiturientin und der Mediziner - Nach der Sitzung im Europa-Pavillon - Eispalast - Die kleine Charlotte - Hindenburg nichts für Schulen.

Wenn nur Tante Malchen nicht stirbt. Am Totensonntag ist sie natürlich auf dem Friedhof gewesen, und nun liegt sie mit schwerer Grippe, denn in Ostpreußen war es an diesem Tage schon sibirisch. Einer unserer Bekannten in einem Berliner Vorort, ein Pfarrer, ist auch seither den Husten und Bronchialkatarrh nicht losgeworden. Im ganzen Reiche haben vielleicht dreitausend Amtsbrüder dieselbe "Berufskrankheit" am Totenfest davongetragen; und viele Zehntausende von Laien mögen sich auch böse erkältet haben. Nun heißt es, die Grippe gehe um, und niemand will wissen, woher sie kommt. Von meinen Familienmitgliedern ist niemand auf den Gottesacker gegangen. Wir sind so pietätlos, zu sagen, man solle nett zu seinen Lieben sein, solange sie leben, dann brauche man keine Unterlassungen am Totensonntag nachzuholen. In meinem Schlafzimmer hängt über dem Apothekenschränkchen an der Wand ein lachendes Bild der Mutter, Gott hat sie selig, und darunter haben wir, wie alljährlich auch am Geburtsfest, einen kleinen Blumenstrauß gestellt. Das war unsere ganze Feier; und dabei haben wir uns, sie und wir, fröhlich in die Augen geschaut, denn auch im Leben sind wir einander immer gut gewesen. Man wird der großen Menge, die einmal im Jahre an den Gräbern wehmütig sein will, dies nicht abgewöhnen können; es wäre lieblos. Aber das könnten unsere kirchlichen und weltlichen Behörden vielleicht doch fertigbringen, daß der Totensonnteg aus dem November in den lichten warmen Sommer verlegt wird. Der November ist an sich meist grämlich genug und hat außerdem doch schon den ernsten Bußtag. An diesem Tage schweigen die Kaffeehaus- und Kabarett- und Tanzmusiken für das Publikum, an diesem einzigen Tage im Jahre - neben dem Karfreitag - können dafür die Musiker und Artisten sich in geschlossenem Kreise von der Berufsarbeit erholen. Das absolut "stille" Totenfest unmittelbar nach dem Bußtag läßt sich auf die Dauer in Großstädten doch nicht durchhalten. Jetzt hat die deutschnationale Volkspartei im preußischen Landtag in der Kleinen Anfrage Nr. 1971 sich darüber entrüstet, daß Berliner Theater - die Polizei läßt die Zügel immer lockerer - am Totensonntag Stücke wie "Die Hotelratte", "Rasputin", "Wann und Wo", "Alles nackt", "Die Hose", "Paula vom Metropol", "Sumpf" usw. aufgeführt haben. Das ist eine sicherlich Abscheu erregende Auslese. Aber das wird uns doch alle Tage geboten, und alle Tage müßten wir gegen den Dreck ankämpfen, indem wir selber - nur zu guten Aufführungen gehen; es lohnt nicht, nur an einem Tage im Jahre ehrpusselig zu sein und eine erzwungene Ehrpusseligkeit des ganzen Volkes mit Hülfe polizeilicher Verbote herbeizuführen.

Unmittelbar nach den 24 Stunden stiller Einkehr, in manchen Lokalen Punkt 12 Uhr mitternachts, schäumt die Lust wieder über. Einige von den vielen neuen luxuriösen Tanzpalästen, die der November uns gebracht hat, scheinen sich sogar erfolgreich neben den überfüllten alten halten zu können. Mit einem heiteren, einem nassen Auge kann man also sagen: es gibt wieder mehr Brotstellen für Musiker und Tanzmädchen. Dieser letztere erst seit einigen Jahren so stark ausgebreitete Beruf ist besser als sein Ruf. Es ist im Grunde der der Geisha. Die Mädchen müssen gefällig aussehen, gefällig angezogen sein, gefällig tanzen, gefällig plaudern können. Nur brauchen sie nicht wie die japanischen Kolleginnen Tee zu kredenzen, da der Kellner für bessere Sachen sorgt, und auch nicht Laute zu spielen, da die Kapelle jazzt. Sie bekommen ein kleines monatliches Fixum, auch wohl eine Mahlzeit täglich im Lokal, müssen dafür bis 3 Uhr morgens zum Plaudern und Tanzen und Trinken zur Verfügung stehen, dürfen also nicht, wie mancher Provinzler meint, vorher mit irgend jemand "abschwimmen"; ihr Beruf als Amüsiermädchen bindet sie. Natürlich wäre es absurd, behaupten zu wollen, daß eine Barmaid, wenn sie heiratet, dies aus Neugier tut. Aber theoretisch ist es durchaus denkbar, daß ein Tanzmädchen ein paar Jahre mitmacht und selbst in dem Geplätscher sehr freier Witze angeheiterter Geschäftsreisender aus dem Reiche rein wie ein Schwan sich erhält.

Da ist eine junge Dame in einem unserer Ballokale, die vor einigen Jahren ihre Reifeprüfung an einem Gymnasium bestanden hat, geläufig englisch und spanisch spricht, auf Reisen als junge Gesellschafterin allerlei gesehen hat. Sie ist durchaus Dame geblieben. Das merken die Herren, die von ihrem Charme entzückt sind, sehr bald, wenn sie mit ihr tanzen und dann am Tisch sitzen. Selten, daß ihr einer von ihnen dann weniger als 10 Mark Tischgeld in die Hand drückt. An manchen Tagen verdient sie 60, 80 Mark. Binnen kurzem hat sie ihre ganze gute Aussteuer, ferner das Geld zum Kauf einer Wohnung und eines reichhaltigen ärztlichen Instrumentariums. Ihr Verlobter, ein armer Mediziner im 9. Semester, holt sie allnächtlich Punkt 3 Uhr ab und bringt sie in ihr Elternhaus. Trotzdem . . . na ja . . .

Natürlich ist sie eine Ausnahme. Es gibt auch nicht allzu viele einsame "ältere Herren in den besten Jahren" mit dem sokratischen Bedürfnis, gebildete und interessante Gespräche mit einer Geisha zu führen. Nein, tanzen wollen sie, schwofen wollen sie, toben wollen sie. Da treffe ich in dem neuen Europa-Pavillon einen wackeren Parlamentarier, der das erste halbe Jahrhundert schon seit einer Weile hinter sich hat und das minder erfreuliche zweite durch tüchtiges Trinken auszufüllen bestrebt ist. Aber das macht dick und kurzatmig. Was soll man dagegen tun ? Wenn man von morgens ½10 bis abends ½10 in den Ausschüssen, im Plenum, in der Fraktion sitzen muß, hat man zum Sport keine Zeit; nachher ist auch nur das Wellenbad weit hinten in Halensee geöffnet. Also - wird getanzt! Mein trefflicher Volksvertreter chassiert unermüdlich an mir vorbei, erkennt mich aber mit seinen weinseligen Äuglein nicht. Er läßt keinen Tanz aus, er tanzt den Blues als Charleston, den Tango als Black bottom, der Schweiß rinnt in Strömen, der Stehkragen ist als nasser Lappen zusammengesunken, der ganze Mann sieht aus, als kriege er nach 2 Minuten einen Schlaganfall, aber er wirbelt unentwegt durch den Saal, feuert im Vorübergleiten die Kapelle zu schnellerem Tempo an und tanzt das eine Tanzmädchen so in Grund und Boden, daß er sich noch ein zweites zulegen muß. Abwechslend lassen sich die beiden, die nur noch ein verzerrtes Lächeln haben, mitreißen, und abwechslend futtern sie dazwischen, um den großen Gewichtsverlust bei dieser Raserei einigermaßen wieder auszugleichen. Dieser Mensch kann einen ja zum Zwirnsfaden abtanzen!

Für meine Person, glaube ich, bin ich gegen die Tanzseuche allmählich gefeit. Ich werde allmählich wieder zum normalen Vorkriegsmenschen, der zwar im Kreise von Tanzlustigen kein Spielverderber ist, aber dem eine Stunde richtiger Sport schon mehr wert ist, als fünf Stunden Tanzen. Vor allem der neben dem Schwimmen und Rudern und Reiten schönste und gesundeste Sport des Eislaufs. Das haben ja unsere Großstädte vor den kleineren Gemeinwesen voraus, daß sie alle Möglichkeiten bieten. Bei eisigem Frost draußen kann man im Wellenbad - 22 Grad Wasserwärme, 23 Grad Luftwärme - sich wie im Sommer erlustieren. Und wenn draußen umgekehrt ein warmer Regen rieselt, kann man im Sportpalast auf stählernem Schuh über das blanke Eis dahinsausen. Nur hatten wir vor dem Kriege drei große Eispaläste, jetzt einen einzigen; die anderen pflegen das Variété und die Revue. Dieser einzige in der Potsdamer Straße ist aber der schönste der Welt. In dem alten Eispalast in der Martin-Luther-Straße, wo heute in der Scala die Clowns Fratellini auftreten, nachdem Grock wieder weitergewandert ist, lehrte einst vor dem Kriege der Kunstradfahrer und Kunsteisläufer Paul Müntner, der allererste Loopingfahrer des Zirkus. Eine Zeitlang ließ sich auch der Kronprinz, der selber sehr gut läuft, die höhere Mathematik der Eislauffiguren von ihm beibringen; meist zu einer Zeit, wo kaum Publikum da war. Häufig guckte ein kleines goldlockiges Mädchen zu, das sich auch da tummelte. Und diese "kesse Rübe", die kleine Charlotte Oehlschläger, Tochter eines Berliner Möbelfabrikanten, karikierte den Kronprinzen bei seinen Versuchen. Lachte dann laut auf und sagte: "Ulkich, nich ?" Müntner kriegte einen roten Kopf und verwies es ihr, aber der Kronprinz beruhigte ihn immer wieder und sagte belustigt: "Lassen Sie doch das Kind!" Dieses Kind war ursprünglich von der Musik förmlich besessen (noch heute ist die kleine Charlotte ganz Musik in ihrem Dahingleiten und Wirbeln), war aber dabei bis auf 45 Pfund abgemagert, so daß der Hausarzt sagte: "Weg mit Klavier und Harfe! Jede freie Stunde in den Eispalast!" Und da bekam die kleine Charlotte, obwohl sie bis heute tannenschlank geblieben ist, sehr schnell blühendes Aussehen und federnd stählerne Waden und Schenkel, wurde von einem Unternehmer entdeckt und kurz vor dem Kriege als "kleine Charlotte" der Star aller Kunstläufer und der Liebling des Berliner Publikums. Dann der übliche Weg: im Jahre 1915 nach Dollarika. Heute ist Fräulein Oehlschläger eine junge Frau Neumann. Ihr jetziger Gatte, 1920 als preußischer Kriegsleutnant aus französischer Gefangenschaft heimgekehrt, Freund ihres Bruders, des bekannten Illustrators für die Tagespresse, läuft mit ihr auf dem Eise, lernt von ihr, wird ihr Partner, heiratet sie, tritt mit ihr in Madrid und Newyork, in Mexiko und Toronto, in Habana und Winnipeg - und jetzt wieder im heimatlichen Berlin auf. Es ist ein Triumphzug. In der kleinen Charlotte vereinen sich Anna Pawlowa und Edmonde Guy auf dem Eise. Die ganze Welt hat nicht ihresgleichen in der schönen und kraftvoll sicheren Zeichnung der Eislauffiguren, in dem wilden Wirbel ihrer Pirouetten, in der kühnen Akrobatik ihres Schwingetanzes, und immer neu, überraschend in Darbietung und Kostüm, in Bewegung und Farbe erscheint sie, Artistin und Künstlerin zugleich. Ich würde trotzdem kein Wort für diese einzigartige Erscheinung verschwenden, wenn sie so wäre wie etwa die bekannte ehedem von Hofgunst getragene Berliner Opernsängerin, die während des Krieges in Newyork auf offener Bühne eine Ententefahne küßte. Die kleine Charlotte, diese wirklich "echte" Berlinerin von unverfälschtem Mundwerk, kannte kein Wort Englisch, als sie nach Newyork kam. Ihr erstes Auftreten entfesselte einen geradezu tollen Beifall, der sich nach dortiger Sitte in Pfeifen und Trampeln kundgab. Das faßte sie natürlich falsch auf. Sie sollte wieder heraus, vor das Publikum, sollte noch einmal tanzen, aber sie strampelte und schrie in bestem Berlinisch: "Ick laß mir nich vakohlen!" Ihre Energie hat sie beibehalten. Sie bekannte sich auch während des Krieges als Deutsche, obwohl man ihr nahegelegt hatte, sie solle sich als Dänin plakatieren lassen. Und als sie im Film "Die gefrorene Warnung", einer Spionagegeschichte auf dem Eise, die Hauptrolle spielte, weigerte sie sich als Deutsche, weiter zu mimen, als sie Häßliches gegen Deutschland darin entdeckte. Famoses Mädel. Nur die Deutschen in Newyork schüttelten erstaunt die Köpfe, als sie erklärte, sie gehe in keinen "deutschen" Verein, wenn darin die Umgangssprache nicht Deutsch sei. Ich glaube, viele ihrer alten Freunde werden sich freuen, wenn ich das hier erzähle. Bei einem Eisfest, das einst, ich weiß nicht mehr, war es 1911 oder 1912, die Hofgesellschaft in Berlin veranstaltete, stiftete man ihr schon eine goldene Medaille. Natürlich neben viel Konfekt; und die Kleine wanderte von Schoß zu Schoß.

Sie besucht jetzt ihre Eltern, die in der Inflationszeit ihr Vermögen völlig verloren haben und von einem Agenturgeschäft in einer Kleinstadt leben, und will dann wieder in die Weite.

Das heutige Deutschland mit seinem Parteigezänk ist ihr unverständlich. Uns ja auch. In der Zeit um Hindenburgs 80. Geburtstag hatten eine Menge Berliner Schulen, was dem einmütigen Wunsche von Lehrern und Schülern entsprach, um Hindenburg-Bilder, als republikanisch doch unverfänglichen Wandschmuck, gebeten. Jetzt erklärt in einem Rundschreiben die städtische Schulverwaltung, daß für einen solchen Zweck Geldmittel nicht zur Verfügung gestellt werden könnten. Ebenso haben verschiedene Berliner Schuldeputationen die Anschaffung des populären Hindenburgbuches, offiziell von der Hindenburgspende herausgegeben, verweigert, obwohl es nur 2.50 Mark kostet, dagegen das Ebertbuch für 26 Mark angeschafft. Das soll nun in die Schülerbibliotheken. Es enthält im wesentlichen nur lange politische Reden.
1. Dezember 1927 (Donnerstag)



Glossen 7 - 9

Jahresinhalt

Glossen 13 - 15

© Karlheinz Everts