"Rumpelstilzchen"

Berliner Funken
(Jahrgangsband 1926/27)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1927

Glossen 34 - 36
28. April bis 12. Mai 1927


34

Spree-Athen oder Klein-London ? - Die Kleinstadt in der Großstadt - Was unsere Prominenten im Kochtopf haben - Erlebnisse auf Hoteldielen - Die vollendete Dame - Der Weltkriegsfilm - Eine Montagskritik.

Spree-Athen ? Das war einmal. Gewiß, auch heute gibt es hier noch Dichter und Denker. Aber sie laufen nebenher. Sie sind nicht mehr Mittelpunkt. Überhaupt verschwindet der einzelne mehr und mehr. In vergangenen Zeiten konnte es einmal heißen, der junge Mann von Welt reise nach Berlin, um hier Schiller oder Humboldt zu sehen und zu hören. Es gab damals nur einige wenige Brennpunkte, auf die sich das Interesse vereinigte, den Hof, die Universität, den und jenen literarischen Salon. Heute ist alles von der Geschäftsmetropole überbrandet. Nicht Athen, auch nicht Sparta mehr, - ein Klein-London empfängt uns. Geschäft und Sport, City und Wochenende, Verkehr und Rummel. Berlin ist noch keine Weltstadt, aber groß genug, um den Einzelmenschen zum Sandkörnchen werden zu lassen, das nicht mehr kontrolliert wird. In einem märkischen Städtchen am Fläming, in Dahme, muß jeder Gymnasiast eine bunte Schülermütze tragen, und nach 8 Uhr abends darf sich auf der Straße keine mehr blicken lassen. In Berlin aber kann es vorkommen, daß ein Studienrat mit einer Dame, die nicht seine Frau ist, und ein Primaner mit einer Dame, die nicht seine Schwester ist, nachts auf einem Maskenball aufeinanderprallen und so tun, als ob sie einander nicht kennen.

Trotzdem hat man durchaus Recht, wenn man sagt, Berlin sei immer noch ein Konglomerat von etlichen hundert Kleinstädten, sonst nichts.

Daß es in den Vororten sozusagen zur Inselbildung kommt, ist ohne weiteres klar. Im Wannseezug oder in der Straßenbahn 23 oder in der Dahlemer Untergrund wird man immer wieder zusammengeschwemmt. Aber auch in der Stadt selbst gibt es die merkwürdigsten Kittungen. Nehmen wir einmal die Gegend Goethestraße, Leibnizstraße, Bismarckstraße in Berlin-Charlottenburg. Da ist ein Fleischer. Da kommen vormittags die Köcheinnen hin. Da weiß alsbald jedermann, was die Prominenten des Stadtviertels im Kochtopf haben. Da wohnen der Oberbürgermeister Böß, die Tragödin Adele Sandrock, der Bildhauer Professor Kliemsch, der General v.Huitier, der Kommerzienrat Zielenziger, die Opernsängerin Barbara Kemp, der Regierungsrat Graf v.Medem, der Rundfunkansager Alfred Braun und andere bekannte Leute. Und eine Hausfrau, die selber einkauft, kann da das Neueste hören, so um Weihnachten herum, daß - hört, hört - Hindenburg zu einem Jugendbekannten in der Gegend am Abend kommen werde und daß man da doch "extra" was machen wolle und daß er Gurkensalat gern esse und - je nun - hier seien die drei Gurken dazu und jede koste 8 Mark. Da staunt ganz Charlottenburg Bauklötze, denn ganz Charlottenburg weiß es noch am selben Abend. Außer Telephon und Rohrpost gibt es nämlich in Berlin auch noch Köchinnen und Portiersfrauen; die arbeiten in der Nachrichtenverbreitung noch schneller als der Rundfunk. Es gibt nur ein Mittel, sich auszuschalten, ein Mittel, das wir selber seit Jahren anwenden: wir lehnen es ab, uns auch nur das geringste über Nachbarn erzählen zu lassen, so sehr auch zuweilen dem Dienstmädchen die Zunge juckt, und das wirkt so erziehlich, daß die Dienstboten anderswo über uns ebenfalls nichts erzählen; verfolgte jede Hausfrau dieselbe Taktik, so gäbe es keinen Klatsch mehr über die Hintertreppen, und etliches noch immer allzusehr Kleinstädtische fiele von Berlin allmählich ab.

Einen Ausschnitt aus dem großstädtisch-internationalen Leben findet man am ehesten noch in den eleganten Gasthöfen, seit sie nicht mehr ausschließlich Aufenthalt für Fremde sind, sondern auch Konferenzstätte für Industriekapitäne und Vergnügungsbetrieb für die Umwohner. Kaum ein Hotel mehr ohne "Diele" mit Fünfuhrtee und mit Musik und Tanz. Auch die Frau des Hergereisten, die früher in ihrem Zimmer saß, während er seine Geschäftssitzung erledigte, und erst herunterkam, wenn auch er zur Mahlzeit erschien oder sie zum Theater oder zu einer Spazierfahrt abholte, sitzt jetzt lieber unten im Hoteltrubel. Man sieht da doch so allerhand. Es ist der reine Kientopp. Früher mußten unsere Romanschreiber, wenn sie "die Abenteurerin" großen Stils schildern wollten, unbedingt etwa in Nizza ihre Studien dazu machen. Heute finden sie diese Spezies auch in Berlin. Da wohnen in einem vornehmen Hotel Unter den Linden zwei junge Tschechinnen. Fabelhafte Aufmachung. Figuren, die einen Bildhauer begeistern könnten. Sie haben keinen Beruf, es sei denn der, auf reiche Amerikaner zu warten. Gleichmütig überbringt der Portier ihnen gelegentlich einen Brief oder eine Visitenkarte; er kennt sie. Wenn aber der unerfahrene Hotelbesucher meint, man könne jeder Dame, die einem angenehm auffällt, solche Botschaft zukommen lassen, so irrt er sich. Da lehnt der Portier unter Umständen jede Besorgung von vornherein ab. "Oh non, c'est une dame très sérieuse!", sagt er dem zappeligen Franzosen. Oder da sitzt in einem ebenso vornehmen Hotel in der Königgrätzer Straße an der Bar eine eigenartig exotische Schönheit, mit Haaren glänzend wie schwarzer Japanlack, mit leicht durch elfenbeingelbe Wangen schimmerndem Purpur. Filmkünstlerin, sagt sie. Aus Paris, sagt sie. Sie spricht magyarisch und französisch, ihr Vater ist Rumäne, ihre Mutter spanisch-algerisches Halbblut. Wenn sie mal auf der Diele mit dem ersten Eintänzer einen Black Botteom segelt, macht alles Stielaugen. Ein bißchen Lust zum Leichtsinn bekommen da selbst unsere guten deutschen Damen. Die eine wohnt in einem Vorort im Nordosten, die andere ist im Südwesten verheiratet, im Hotel zum Tee treffen sich die Freundinnen zu einem Plauderstündchen, nachdem sie bei Herpich oder sonstwo ihren Frühjahrsmantel gekauft haben. Es ist schon fast kein Platz mehr da. Der Geschäftsführer weist sie an einen Tisch, an dem schon ein Herr sitzt. Stumme Verbeugung. Man nimmt zunächst keine Notiz von einander, aber allmählich entwickelt sich doch ein belangloses Gespräch. Theater, Film, Rennen. Als die Damen sich verabschieden, überreicht er der einen mit einem Scherz ein Schächtelchen Pralinés. Unvorbereitet, überrascht, der Situation nicht gewachsen, nimmt sie an. Ob man sich nicht morgen wieder hier treffen könne, sagt er. Erglühend bejaht sie, denkt aber: "Was Du Esel Dir alles einbildest! Ich bin doch eine anständige Frau!" Und sie kommt nach Hause und findet im Schächtelchen - einen Fünfzigmarkschein. Nun heult sie. Was tun ? Noch einmal zurück, dem Karl das Geld abgeben, ihm wieder unter die Augen treten ? Oder es dem eigenen Manne sagen, in seiner Begleitung zum Stelldichein gehen und den "Irrtum" aufklären ? Scheußliche Situation auf jeden Fall. Nicht jede Besucherin der Tanztees in den großen Hotels macht sich aber solche Gewissensbisse. Da gibt es hie und da eine abgebaute Privatsekretärin, die den Fünfzigmarkschein gern hätte, aber den Geber darnach seelenruhig "versetzen" würde. Ein Franzose, dessen blonder Vollbart wie angeklebt aussieht, einer von den vielen Franzosen in Berlin, die irgend etwas zu überwachen oder über irgend etwas zu verhandeln haben, pürscht sich an eine heran. Sie tanzen; sie unterhalten sich. Im übrigen übernimmt der Mensch keine der üblichen Kavalierpflichten. Er ist also ein typischer Franzose, ein filziger Franzose. "Ich würde gern eine Zigarette rauchen", sagt das Mädel. "Ich habe keine, ich rauche nur Zigarren", sagt er. Und fragt nur immer wieder, wann und wo er sie anderswo treffen könne. Schließlich sagt sie brüsk: "Männer mit Ziegenbart finde ich greulich!" Und er: "Warum nicht Bart ? Das ich nicht verstehe!" So sieht man hier nachmittags und abends die verschiedensten Typen: Abenteuerlustige, Tanzlustige, auch nur Plauderlustige. Dazwischen immer wieder ernste Geschäftsleute zu zweit, die am ungestörtesten im Trubel sind. "Also Lieferung von Kahl & Co. sofort, Valuta per September." Nur sehr selten konzentriert sich alles Interesse auf einen Punkt in diesem Kaleidoskop. Das ist, wenn - die vollendete Dame erscheint. Keiner kann sagen, worin die Vollendung besteht, aber jeder merkt es sofort. Die Dame ist nicht etwa schön; auch ihre Freundin, mit der sie zu dem Plauderstündchen erscheint, ist es nicht. Aber irgend etwas in Haltung und Kleidung und Benehmen ist da, das ist nicht aus der Konfektion. Der Geschäftsfgührer eilt beglückt zum Platzanweisen her. Der Kellner schlägt Volten mit der Serviette und nimmt imaginäre Stäubchen weg. Das Garderobefräulein schwänzelt und knixt. Der Kapellmeister, von dem man bisher nur das feiste Hintergestell sah, dreht sich auf dem Absatz um, spielt nur noch für die Dame von Welt und angelt mit seinen Augen nach ihren Blicken. Der erste Eintänzer kommt beflügelt und schleicht, kurz abgewinkt, wie begossen wieder ab. Für diese Dame exixtiert die Umwelt nicht, weil sie nur Dame ist. Für die ganze Umwelt aber existiert nur sie, weil nur sie Dame ist.

Ähnliche Bilder gibt es natürlich schon längst in den Hauptstädten des Auslandes, da ist man dergleichen seit Jahrzehnten gewöhnt. Das solide Berlin ist etwas später gekommen. Aber es hat einen Vorzug vor den anderen. Die vollendete Dame bei uns schminkt sich nicht. Sie hat nicht, wie so manche Ausländerin, den Hang zum Kopieren der Halbwelt. Im übrigen ist natürlich alles in allen Großstädten mehr oder weniger nivelliert, mehr oder weniger gleichartig geworden. Der Hotelgast ist überall ähnlich aufgehoben und erlebt nichts eigenartig deutsches oder eigenartig englisches oder eigenartig französisches mehr. Auch wenn er nur mit der Sehnsucht darnach angereist gekommen ist.

Wenn mich jetzt ein Ausländer fragt, was er sich in Berlin ansehen solle, so ist es mit den Potsdamer Reisewinken nicht getan; denn dazu fehlte bisher das strahlende Wetter. Aber ich sage allen: seht euch den Ufa-Film "Der Weltkrieg" an! Das ist in seinem wissenschaftlichen Ernst, in seiner überraschenden Technik, in seinem politischen Takt, in seiner historischen Wahrheitsliebe, in seiner wunderbaren Schönheit ein ungemein deutsches Meisterwerk. Vielleicht wird es, sagen manche, in kleineren Städten nicht so wirken wie hier in dem Ufa-Palast mit seinem Orchester von 72 Mann und dem großen Männerchor, aber ich meine, selbst in dem ärmlichsten Kino, das nur einen Klavierspieler hat, müßte jedermann dem Zauber dieser Vorführung erliegen. Selbstverständlich sind "echt" gekurbelt im Wesentlichen nur die Heimatszenen und die Marschbilder zwanzig Kilometer hinter der Front und die Paraden vor Poincaré und die Beratung bei Hindenburg und dergleichen; im Trommelfeuer der Riesenschlacht gab es keine Filmoperateure. Aber auch die in Babelsberg oder Staaken "gestellten" Bilder sind lebenswahr. Daß es gestellte sind, merkt nicht das große Publikum, sondern nur der Soldat, wenn er etwa sieht, daß die Kosakenhorden, die Ostpreußen überfluten, - auf Kandare reiten, also verkleidete deutsche Kavalleristen sind. Diese gestellte Ergänzung ist gelegentlich nötig. Alles zusammen ist von einer packenden Anschaulichkeit; ich denke da besonders an die Kampf- und Rüclzugsszenen im überschwemmten Ysergebiet oder an den überwältigenden Eindruck eines sich über Gräben und Granattrichter heranwälzenden Riesentanks. Die Bilder aus dem In- und Auslande sind nicht auf Grauen abgezielt, auch nicht auf Novellistik, auch nicht auf billigen Hurrahpatriotismus. Ich wüßte keinen Parteimann von rechts oder von links, der so verbohrt sein könnte, diesen Film als für seine Weltanschauung gefährlich abzulehnen. Alles möglicherweise Entzweiende ist mit unendlicher Behutsamkeit angefaßt. Aber nirgends fehlt der Mut zur Wahrheit. Auch wo sie uns wehtut: so beim Fehlschlagen der Marneschlacht. Oder wo sie die Unbelehrbaren ärgern könnte: so bei der graphischen Darstellung, wie Ludendorff an der Spitze seiner Brigade nach Lüttich hineinstürmt, während rundum noch alle Forts unerschüttert dastehen, und sich mit seinen 1500 Mann tagelang in Lüttich hält, bis das übrige deutsche Heer draußen Bresche geschlagen hat. Diese graphischen Darstellungen, "Trickaufnahmen", sind das überraschendste an dem Film. Wir Deutschen waren immer groß im Ersinnen von anschaulichen Lehrmitteln. Hier nun sehen wir winzige Bahnzüge über die Landkarte dampfen, aus den haltenden Zügen entwickeln sich die weißen Pfeile von Marschkolonnen, die Marschkolonnen werden zu einer Front, zwischen den Fronten zuckt Feuer hin und her, die Heere weichen oder gehen vor, wir sehen geradezu greifbar und zum Einprägen unvergeßlich, wie Hindenburg sich an der einen Stelle vom Feinde löst und seine Truppen an der anderen Stelle heranwirft und allmählich den Ring von Tannenberg schließt, - und in zwei Stunden atemlosen Schauens und Genießens haben wir mehr Zeitgeschichte gelernt, als bei wochenlangem Studium großer Bücherhaufen. Dieser Weltkriegsfilm ist der erste meines Lebens, den ich mir wiederholt ansehen will. Man kann ihn immer wieder ansehen. Der künstlerische Vorpsrung, den die Sowjetrussen durch ihren Potemkinfilm vor uns hatten, ist damit überholt. Auch der Fridericusfilm schrumpft ihm gegenüber zur Anekdote zusammen.

Wir Deutschen ohne Ansehen der Partei finden den Film ergreifend schön und einer Weltausstellung wert. Auch die Engländer loben ihn in ihrer Presse, wie sie ja überhaupt geneigt sind, jede wirkliche Leistung anzuerkennen. Nur den nichtdeutschen Berliner Zeitungen ist nicht ganz wohl zu Mute. Da schreibt ein Montagsblatt: "Wozu ? Die Frage haben sich gewiß viele Zuschauer vorgelegt. Es soll gewiß nicht verschwiegen werden, daß der Film rein technisch hervorragendes und viele geradezu verblüffende Kriegsaufnahmen bietet. Aber wozu immer in unseren schmerzlichsten Erinnerungen herumstochern ?Wozu ?" Ja, wozu; das werden diese Leute nie begreifen. Um uns Deutsche wieder stolz zu machen! Was wir gegen zuletzt achtundzwanzig Feindesstaaten mit einer Bevölkerung von rund 1550 Millionen Einwohnern in jahrelangem Widerstand an allen Fronten - bis weit nach Kleinasien hin zeigt sie uns der Film - geleistet haben, das wollen wir und unsere Kinder uns wieder ins Gedächtnis rufen! Jenes Montagsblatt aber mit seinem "Wozu ?" atmet erst auf, als es die nächste Novität besprechen kann, die Höschen des Fräulein Annette, einen amerikanischen Film, und schreibt da begeistert: "Dies Hohelied der wunderfeinen, den Frauenkörper zart verhüllenden Hemdhöschen wird von der jugendfrischen, mit allen Attributen weiblicher Schönheit ausgestatteten Darstellerin mit koketter Natürlichkeit und vielem Liebreiz gesungen." Das ist das Betäubungsmittel, das man seit Versaílles uns eingibt.

In den Weltkriegsfilm kann übrigens ruhig auch jede Kriegswitwe hingehen. Es werden keine "Wunden aufgerissen". Das große Geschehen wird auch nicht humorisiert, auch nicht sentimentalisiert. Es ist ein herrliches Stück Arbeit, an der man in jedem Teil die taktvolle Inszenierung durch die alten Offiziere merkt, die im Kriegsarchiv daran mitgewirkt haben. Es ist überhaupt nichts Reißerisches dabei, um einen Regisseur berühmt zu machen. Es ist nach acht stummen Jahren wieder der erste deutsche Orgelton über die Welt hin. Man kann dabei achtungsvoll erschauern, wenn man ein Fremder ist. Als Deutscher aber: nur stolz sein.
28. April 1927 (Donnerstag)


35

Klaus Mann will heiraten - Die Manns und die Wedekinds - "Revue zu Vieren" - Rekrutenzeit - Alexandrowka bei Potsdam - Der Herr Oberstabsarzt - Sanssoucis Verschönerung - Im Werder-Zuge - Urania-Kurse über das Benehmen bei Tisch - Stresemann und der König von Dänemark.

Wenn er es von sich selber erzählt, der junge Klaus Mann, dann muß es wohl wahr sein. Also er will heiraten. Seine Braut, Pamela Wedekind, ist Frank Wedekinds Tochter. Klaus ist aber erst knapp zwanzig Jahre alt; noch nicht mündig. Die Erlaubnis zum Heiraten muß das Vormundschaftsgericht geben Klaus Mann geht hin, sehr wenig feierlich natürlich, wie so unsere Dichterjugend heute ist. "Nehmen Sie gefälligst die Hände aus den Hosentaschen, junger Mann!", sagt ihm der Richter. Der braucht ja nicht zu wissen, daß der junge Dichter Klaus Mann ein Sohn vom alten Romanschreiber Thomas Mann ist, also überall Ansprüche auf eine Extrawurst eingeräumt bekommt. Der Richter, sicherlich einer vom alten System, weiß nur, daß alle Deutschen vor dem Gesetz gleich sind. Er kennt keine Papas. Er würde sogar zu Wolfgang Stresemann, dem jungen Symphoniekomponisten, nicht anders sprechen, wenn der sich schnoddrig benähme. Klaus Mann aber denkt nicht daran, die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen, sondern sagt nur "So, so!", sieht den Richter überlegen an und geht hinaus. Seiner Pamela erklärt er nachher: "Die behördliche Eheschließung wollen wir jetzt verschieben; nun will ich erst einundzwanzig werden!"

Ein bißchen naßforsch ist der Junge, das muß der Neid ihm lassen. Dieselbe Öffentlichkeit aber, die ihn bisher so verzärtelt hat, nimmt nun Stellung gegen ihn. Seine Komödie "Revue zu Vieren", schon auf einer sächsischen Bühne durchgefallen, jetzt Berliner Première in Reinhardts Kammerspielen, wird von der gesamten Kritik lächerlich gemacht. Von ganz rechts bis ganz links der gleiche Ton. Daß die Rechte gegen den Nachwuchs aus dem Hause Thomas Manns voreingenommen sein könnte, versteht man: dieser Thomas Mann, der die "Buddenbrooks" schrieb und nach der Revolution durch seine ausgezeichneten und geistvollen "Betrachtungen eines Unpolitischen" der deutschen Kulturmenschheit die beste Waffe gegen Demokratie und Parlamentarismus in die Hand gab, ist vor drei Jahren zu denen übergegangen, die er so schonungslos enthüllt hat, und ist heute eine der Intellektuellensäulen der Republik. Aber die revolutionäre Linke sollte doch anders stehen. Und doch schreibt sie: Kindertheater! Und doch schreibt sie: Das frühvergreiste Knäblein Klaus Mann! Gewiß, dieser junge Mensch - sein Vater verdient Prügel dafür - hat schon als Schuljunge alle Stadien durchlaufen, in denen ein Werdender verderben kann; es ist eine alte Erfahrung, daß Künstler meist schlechte Erzieher sind, ihre Kinder meist in Freiheit und Frechheit aufwachsen lassen und jedes Phosphoreszieren des Gehirns ihrer Söhne als Genieblitz verkünden. Gehört solch Jüngelchen gar zur jeunesse dorée, weil der Papa genug Geld hat, so sind "die Weiber" die erste Station, ist Erotik das erste Kapitel ihrer Werke. Bald kann man dem Sprößling "nichts mehr vormachen". Kommt er aber dann mit iregnd einer eigenen Schöpfung heraus, so sind die Verzieher oft enttäuscht. Fasse ich alles das, was die Kritik über Klaus Manns "Revue zu Vieren" sagt, in ein Wort zusammen, so müßte es etwa heißen: nicht junger Most, sondern alter Mist. Die Folge dieser Kritiken ist dünner Besuch des Theaters. Und dünner Beifall; zum Teil Claque, zum Teil Clique. Wer als "gebildet" gelten will, der geniert sich. Er lächelt. Er lacht. Besonders an den Stellen, wo die Jugend karrikiert wird. Der "Gebildete", der die Kritiken gelesen hat, sagt sich: Klaus Mann spottet sein selbst und weiß nicht wie.

Ob er es wirklich nicht weiß ? Ich halte die "Revue zu Vieren" für eine grandiose Abrechnung des Verfassers mit jugendlicher Phrasendrescherei. Vielleicht ist es ein Stück Selbstbefreiung. Ein Emporringen. Ich habe nichts für die Spezies Klaus Mann übrig, aber noch niemals ist diese Spezies so erbarmungslos hingerichtet worden. Und zwar von Klaus Mann selbst. Das ist vielleicht Reifwerden. Es gibt andere Leute, die noch nach dem Schwabenalter revolutionär tuende literarische Lausbuben bleiben. Hier streift einer mit zwanzig das ab. Ein Frühvergreister ? Mag sein. Aber ich hoffe im Gegensatz hierzu, daß es einer ist, dessen zu frühe Blüte zwar welk wurde, der aber nun erst zu seinem eigentlichen Frühling kommt und zu neuer gesunder Blüte und reifer Frucht.

Das vorzeitige Ausschlagen kommt aus dem Blutsaft, ist wohl Rasseerbteil: die Manns sind eine Kreuzung von Hanseaten und Portugiesen. Dazu noch die absonderliche Erziehung, dieses Nachheizen, da ist es eben kein Wunder. Aber ein wunderlich liebes Stück ist die "Revue zu Vieren" trotz allem, auch wenn sie ganz wedekindisch tut. Der eine blutjunge Held - Klaus Mann selber spielt ihn auf der Bühne - will Sprecher der ganzen neuen Jugend Europas sein, schreibt an einem natürlich vielbändigen Werk, erstes Kapitel Erotik, zweites Philosophie, drittes Sport, viertes Politik, fünftes Religion, sechstes Wirtschaft und so fort. Der andere fast ebenso jugendliche Held, in der Inflationszeit Schieber, will die Welt nicht durch Bücher, sondern von der Bühne aus durch eine ganz unerhörte synthetische Revue erlösen. Ihn spielt Gustaf Gründgens, der im Leben Klaus Manns Schwager ist. Und die Schwester Erika Mann spielt mit und die Braut Pamela Wedekind. Diese in einer nicht gerade idealen Rolle. Sie wird in der zweiten Szene körperlich und in sämtlichen Akten moralisch exhibitioniert. Umso leuchtender ist die Figur, die Erika darzustellen hat. Der junge Dichter kommt nicht etwa, wie man vermuten könnte, zu dem Endwort: "Alles ist Dreck!", er begnügt sich trotz des im übrigen ganz Wedekindschen Milieus nicht mit Peitschenschlag und Pritschenschlag, sondern er beugt sich vor innerlicher Güte. Veralbert wird nur das Getue der neuen Jugend. Nach dem Zusammenbruch der Revue diktiert der junge Held die Nacht hindurch, um "die Sache zu retten", ein - dreißig Seiten langes Manifest an die Jugend Europas. Gut gesehen, wahrhaftig; und ein blutiger Hohn. Die Einzige aber, die wieder etwas Hoffnung und Leben in das Häufchen Unglück dieser Vier bringt, ist die Gütige. Sie hat früher rhythmisches Turnen gelehrt. Sie hat dann auch, noch nicht zwanzig, einen Putzmacherladen gehabt und den jungen Dichter ausgehalten. Jetzt ist sie Star der Revue gewesen und hat den Geleibten an die Braut des junegn Schiebers verloren, während dieser wiederum von ihr aufgerichtet wird. Natürlich: Wedekind, Wedekind! Es knallt. So eiskalt disponieren zwanzigjährige Dichter sonst nicht in Erotik. Aber schließlich ist das doch auch nur naturalistische Milieuschilderung. Klaus Mann verliert sich nicht an dieses Thema. Sein Stückchen hat idealen Wert schon um der paar guten und klugen Worte der einen Heldin willen. Es ist manches Schöne darunter. So über das Morgenlicht nach verdiskutierter Nacht, das alle die Phrasen hinwegscheucht, die bisher wie Fledermäuse im Dunkeln schwirrten, die "Idee", die "Schuld", und uns wieder ein frohes Lächeln ins Gesicht zaubert. Ich glaube, auch für Klaus Mann ist der Spuk seiner unreinen Jugend verflogen. Wenn die Bühnen draußen im Reiche das Wagnis unternehmen, trotz der Berliner Kritiken die Gastspieltruppe Klaus-Erika-Pamela-Gustaf samt den übrigen Darstellern, die das Spiel hinter den Kulissen des Revuetheaters bevölkern, bei sich aufzunehmen, wird man mir allmählich vielleicht Recht geben. Die "Revue zu Vieren" aber wird auf keinen Fall vergreisen; sie wird nach zehn Jahren noch ebenso jung sein, überhaupt so lange, als es "neue europäische Jugend" gibt, die man einmal im Wahrheitsspiegel sehen möchte.

Sonst sieht man sie nur in ihrer Aufgeblasenheit; und junge und alte Dümmlinge nennen den Mann Philister, dem das Krampfige nicht gefällt. Die Disziplinlosigkeit der neuen Generation nimmt - in allen Ständen - natürlich noch zu, seit wir nicht mehr die Schule der allgemeinen Wehrpflicht haben, während die übrigen Völker heute schon ihre Schulen militarisieren. Noemand lehrt mehr die jungen Leute bei uns Bescheidenheit. Sie sind gleich der große Herr, ob sie nun Student oder Arbeiter, Kaufmann oder Beamter werden. Nur eine verhältnismäßig sehr kleine Zahl deutscher Jünglinge bekommt noch Kommißerziehung, die aber ist noch ganz die alte, da lacht einem das Herz im Leibe. Einer der beiden Jüngsten aus meinem Hause ist am 1. April ja in die Reichswehr eingetreten, um dort mal Offizier zu werden. Aber vorläufig ist er Rekrut, durfte den ersten Monat nicht aus der Kaserne heraus, muß morgens um einhalb fünf in den Stall zum Pferdeputzen und hat dann wechselnden, anstrengenden Dienst bis um 7 Uhr abends. Da hat man keine Zeit, um auf schlechte Gedanken zu kommen. Und da kriget man in den ersten sechs Monaten Fäuste wie ein Kuhknecht, denn - ob einer Graf ist oder Kommerziensohn, ändert daran auch nichts - alles muß von der Pike auf gelernt werden, auch das Reinigen und Instandhalten der eigenen Stube und der eigenen Sachen. Die Mädels aus der Berliner Tanzstunde lachen sich schief, wenn sie sich den Hellmut so in Potsdam vorstellen, wie er die Dielen scheuert oder, da nur die große Wäsche weggegeben wird, sich abmüht, in lauwarmem Wasser seine Strümpfe und Taschentücher sauber zu kriegen, und wie er trotz des alle zwei Tage gelieferten großen Kommißbrotes und der hundert Gramm Belag oder Fett täglich und des reichlichen Mittagessens ständig "Kohldampf schiebt", ständig hungrig ist; und wie er in zehn Minuten sein Bett gemacht und sich gewaschen und angezogen haben muß, und wie man ihm bei jeder Gelegenheit, beim Geschützexerzieren und sonst, "Beine macht" und ihm Strammstehen und absolute Unterordnung beibringt. Da kommt einer unordentlich zum Appell, mit einem losen Knopf. Racks, hat ihm der Unteroffizier sämtliche Knöpfe abgeschnitten, die er nun sämtlich wieder annähen muß. Dies und anderes erzähle ich einem alten Bekannten, nachdem wir am vorigen Sonntag den Jungen zum ersten Mal in Potsdam besucht haben, und der Bekannte seufzt und klagt: "Ach Gott, wenn doch meine Töchter auch eine solche Rekrutenzeit hätten!"

Potsdam zeigt sich jetzt in seiner ganzen Pracht. Wir waren auch draußen in der Russenkolonie Alexandrowka vor dem Nauener Tor, das ist jetzt ein einziges Blütenmeer, dazwischen die Blockhäuschen (die Berliner sagen: in Schweizerstil) mit ihren geschnitzten Verzierungen. Nach den Befreiungskriegen "schenkte" der Zar Alexander I. dem Preußenkönig ein Dutzend Petersbnrger Gardisten, deren Chorgesang Friedrich Wilhelm III. gut gefallen hatte. Deren Nachkommen wohnen nun noch heute - als Obst- und Gemüsebauern - in der Kolonie Alexandrowka, haben noch ihre russischen Vor-, Vaters- und Familiennamen, sind auch noch griechisch-katholisch, können aber kein Wort Russisch mehr. Hinüber zum Bornstedter Felde, dem alten Exerzierplatz der preußischen Truppen, sind es nur wenige Schritte. Da steht auch die Kaserne der ehemaligen 1. Garde-Ulanen, in der jetzt Reichswehrrekruten aller Waffen ausgebildet werden. Überall - im Gegensatz zu Berlin - sieht man sonntags hier Soldaten. Man kann sich richtig zurückträumen in alte Zeiten. Nur daß es heute mehr Ränge entsprechend der längeren Dienstzeit gibt. Ich finde mich zwischen den Obergefreiten und Unterwachtmeistern, und wie sie alle heute heißen mögen, noch nicht so ganz zurecht. Am schwierigsten war auch schon früher für manchen Soldaten der Unterschied zwischen Generaloberarzt und Obergeneralarzt. Für manchen begann die Schwierigkeit schon einige Stufen tiefer in der militärischen Skala. Ein nettes Erlebnis vom Kriegsbeginn, dessen ganzer Humor nur der alte Soldat versteht, sei bei der Gelegenheit hier erzählt. Hauptbahnhof Köln. Ein einzeln zur Front reisender Oberstabsarzt will einen Zug weiter nach vorn und ruft einem Landstürmer auf dem Bahnsteig zu:

"Sie, der Mann da, können Sie mir vielleicht meinen Koffer hinübertragen ?"

Sagt der: "Jawoll, Herr Doktor!"

Sagt der Oberstabsarzt: "Sehen Sie nicht, daß ich Oberstabsarzt bin ?"

Sagt der Landstürmer: "Verzeihen Sie man, ich weiß mit die Sanitäter nich so Bescheid!"

Gleich hinter der Ulanenkaserne kann man, sozusagen von rückwärts her, nach Sanssouci hereinkommen. Es ist schöner als je. Daß das nachträglich hier aufgestellte Fridericus-Denkmal an dem großen Springbrunnen vor den Terrassen entfernt worden ist, das ist ein Gewinn. Es war Menschnalter lang eine ästhetische Störung und gehörte auch historisch nicht zu dem von Friedrich dem Großen geschaffenen Bilde. Man tut Unrecht, wenn man hier die Republik eines Mangels an Pietät bezichtigt.

vLeider fährt man von Potsdam meist in solchen Zügen wieder heim, die von Werder mit Baumblütegästen herkommen. Es ist kein Blütenduft, der einen im Abteil empfängt, sondern Alkoholdunst und Übleres. Nur wer den Trubel und Rummel in Werder selbst an einem Frühlingstag mitgemacht hat, der ist wohl in der Stimmung, daß ihm alle Menschen ganz besonders sympathisch sind, auch die Schwergeladenen, die nun mit ihrem Kopf im Schoße der Schönen zurückfahren. Bis das Rütteln des Zuges sie revolutioniert und emporfahren läßt: sie müssen mal den Kopf zum Fenster hinausstrecken, und alles macht entsetzt Platz. "Bleich, aber gefaßt" kehren sie zurück. Sinken wieder an den treuen Busen und weiter herunter. Mitunter werden sie auch zärtlich, und das ist für die Zuschauer zum Übelwerden. Auch die Mädel und Frauen sind manchmal stark angeäthert. Und die ganz Nüchternen, die in Potsdam zukommen, können nicht einmal lachen, wenn durch den Coupédunst hindurch zuerst ein schmatzender Kuß und dann eine Stimme ertönt: "Aba Emil, du hast ja so eene saure Schnauze!"

Berliner Vorortzüge sind am Sonntag Abend ja überhaupt keine Hochschule für feines Benehmen, sind es auch wohl nie gewesen. Nur will mich bedünken, daß das Schamgefühl, namentlich bei den Frauen unter den kleinen Leuten, früher stärker hemmte. Man ließ sich öffenlich keine auffallende Zärtlichkeit gefallen. Man saß gesittet da, man wehrte leise ab, man versparte sich alles für die Zweisamkeit. Jetzt bestimmt der Zeitgeist anders. Unterrichtskurse für das Benehmen in der Eisenbahn gibt es ja noch nicht. Nur für das Benehmen bei Tisch. Über die "Eßweise" unterrichtet in öffentlichen Vorträgen in der Urania und in privaten praktischen Übungen eine ältere Dame unsere Bildungshungrigen, die gern drei und vier Mark für die Stunde bezahlen. Ich bin einige Male dagewesen, mit rund sechzig anderen Hörern, und in einer kleineren Gruppe von praktisch Lernenden. Was ich dort erwartete, fand ich nicht: Herrn Neureich und Frau Knallprotz. Die lassen sich den "Benimm" von ihrem Diener beibringen oder sehen ihn den eigenen Gästen allmählich ab. Aber ich fand etwa einen Handwerksmeister, dem es geschäftlich anfängt besser zu gehen und der nun bei seinem weiteren Aufstieg auch gesellschaftlich gute Formen sich aneignen möchte; und vor allem viele junge Mädchen aus schlichtem Stande. Da ist wohl manche filia hospitalis darunter, die ihr ewiger Student jetzt heimführen möchte. Alle Achtung vor diesen Lernbegierigen: sie sind mit Ernst und Eifer bei der Sache und sie fragen gründlich. Man soll, sagt die unterweisende alte Dame, bei Besuchen zuerst die Hausfrau begrüßen. Wie aber, so fragt einer, wenn sie tot ist ? Wenn nur der Hausherr da ist und seine Tochter ? Oder es ist von Kirschenkompott die Rede. Was macht man mit den Kernen ? Schon beim Gedanken daran schwitzen die Zuhörer. Soll man die Kerne hinter der vorgehaltenen Hand auf den Teller zurückfallen lassen ? Oder soll man sie mit der Gabel von den Lippen nehmen und rundum auf den Tellerrand schichten ? Oder soll man sie möglichst unauffällig in die linke Faust spucken ? Schwierige Sache. Aber über alles gibt die "Eßweise"-Lehrerin erschöpfende Auskunft und demonstriert alles selber an gedecktem Tisch.

Sonderkurse für Minister über den Umgang mit Monarchen wären vielleicht auch ganz gut. Vor einigen Wochen gab Hindenburg einem erlauchten Gast ein Diner, dem König von Dänemark, wozu auch unsere deutschen "Spitzen" geladen waren. Stresemann, der bekanntlich ein sehr gewandter Gesellschafter ist, fragt plötzlich über den Tisch hinweg jovial-vertraulich den König von Dänemark:

"Majestät, was ist Ihre Frau eigentlich für eine geborene ?"

Hindenburg schnappt nach Luft. Das in seinem Hause, an seiner Tafel, das ist zu viel. Der König ist auch sichtlich überrascht, antwortet dann aber ruhig:

"Eine Herzogin zu Mecklenburg."

Weiter sagt er nichts. Es gibt einen Moment Stille. Aber unser Außenminister versteht es, Gespräche in Gang zu bringen, also räuspert er sich und fragt, da er wohl gern die Rede auf Wieringen und seine Mithilfe bei der Heimholung des Kronprinzen bringen möchte:

"Majestät, kennen Sie den deutschen Kronprinzen persönlich ?"

Worauf der König förmlich gefriert und die abgemessene Antwort gibt:

"Jawohl, er ist nämlich immer noch mein Schwager."
5. Mai 1927 (Donnerstag)


36

Die Soldaten kommen - Stahlhelmtag - Aus der Entstehungsgeschichte des Weltkriegs-Films - Vor Hindenburg - Die Zensoren Stresemann, Marx, Gwinner, Mamroth - Unter dem Dawesjoch - Die elegante Berlinerin - Sieben Arten Damenbeine.

"Die Soldaten kommen!"

Hell flammt der Ruf auf. Jungmädels haben irgendwo um die Ecke her Musik gehört und stieben mit flatternden Röcken davon. Die Buben sind schon längst aus der stillen Querstraße weg, sie haben schon seit dem frühen Morgen die alten Militärmärsche im Ohr. Die volkstümlichen untergelegten Texte wachen wieder auf. "Denkst du denn, denkst du denn . . ." und ". . . Wippchen vor, Wippchen vor". Und der Fridericus. Und der finländische Reitermarsch. Und der Hohenfriedberger. Mit verklärtem Gesicht humpeln auch die ganz Alten heran, summen mit, winken mit den Händen oder mit Taschentüchern.

So ist es an diesem Sonntag in ganz Berlin. In diesem Berlin, das in der Kaiserzeit ein großes Heerlager war, seither aber nur, weit draußen, ein einziges Wachtregiment hat. Die Soldaten kommen! Die Soldaten kommen! In Charlottenburg, in Wilmersdorf, in Neukölln, in Stralau, in Pankow, in Moabit, rundum und überall: die Soldaten kommen! In ungezählten Marschkolonnen strebt alles strahlenförmig zur Mitte der Stadt, zum Lustgarten zwischen Königlichem Schloß und Museum. In ganz Berlin Musik und Marsch.

Es ist der Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten.

Auch Haß schäumt wider ihn auf, Haß der Verblendeten, der von internationalen Schiebern rot Verdummten. An den Straßenecken brüllen sie im Chorus die eingelernten Phrasen. "Tode den Faschisten!" Aber das Volk von Berlin kennt vielfach diese Ausdrücke nicht. Es hat vielfach auch vom Stahlhelm noch nichts gehört. Es sieht nur eins: Soldaten! Und es jauchzt und es freut sich. Diese dahermarschierenden Massen, 117 000 in geschlossenen Kolonnen, rund 15 000 einzeln - weil nur in Zivil, mit Stahlhelmabzeichen - sind das Imposanteste, was Berlin je sah. Es ist keine Parade in altem Sinne. Ein bißchen scheckig, ein bißchen feldmäßig: der eine trägt Ledergamaschen, der andere Stutzen, der dritte Langstiefel, die Windjacken sind verschossen und schimmern in allen Farben zwischen braun und grün und grau, aber die Feldmützen mit schwarzweißroter Kokarde sind alle gleich, und vor allem, was den Soldaten macht, das ist's: die Marschdisziplin. Das ist nicht die Kundgebung einer Partei mit aufreizenden Plakaten, mit "Hoch" und "Nieder", mit demagogischen Bildern im Zuge; hier marschiert das alte ehrenfeste Deutschland. Hier marschiert über die zerrissene Gegenwart hinweg unsere große Vergangenheit in eine lichte Zukunft. Und wer die rissigen braunen Fäuste der Leute sieht, der weiß, daß hier "Volk" marschiert, der glaubt es, weil er es sieht, daß unter den achthunderttausend deutschen Stahlhelmern siebzig Prozent Arbeiter sind, nationale Arbeiter. "Also, das gibt's ?", fragen, vielfach noch zagend, aber mit leuchtenden Blicken, die Berliner. Jawohl, das gibt's. Und es wird noch viel mehr, denn es ist eine wirkliche Volksbewegung, in der nur der Wille gilt, nicht Rang und Stand. Keine Exzellenzen dirigieren. Sie marschieren vielfach in Reih und Glied, wie auch vier Zollernprinzen, wie auch ein ehedem regierender Herzog in schlichter Windjacke, und sie alle legen mit Augen rechts die Hände an die Hosennaht, wenn der Bundesführer, Franz Seldte, die Front abschreitet. Der ist "einfacher" Hauptmann der Reserve gewesen, Fabrikant in Magdeburg, aber nicht einer von denen, die sich reklamieren ließen, sondern Frontkämpfer, der seinen linken Arm im Felde gelassen hat. Aber der rechte ist stark genug, um heute achthunderttausend, einst vielleicht acht Millionen Deutsche den Weg zur Freiheit zu führen.

"Die Soldaten kommen!"

So bald wird Berlin diesen Tag nicht vergessen. Und auch die ungeheure Lügen- und Hetzpropaganda der gegnerischen Zeitungen nicht. Auf einmal ist der Nebel zerrissen. Man sieht den klaren Weg vor sich, der bisher von Pressephrasen eingenebelt war: nicht ständiges Nachgeben vor der Internationale drinnen und draußen führt uns zur Freiheit, sondern nur der geschlossene nationale Wille. Jeder alte Frontkämpfer gehört in den Stahlhelm. Hier liegt, jenseits aller Parteien, in vaterländischer Kameradschaft unsere Zukunft.

Der Ullstein-, Mosse-, Singerpresse ist nachher doch ein bißchen die Luft weggeblieben. Sie ist völlig verwirrt. Sie meldet in einem Atem, daß nur 30 000 Stahlhelmer nach Berlin gekommen und daß 90 000 bereits wieder abtransportiert seien. Sie unterläßt sogar die sonst bei nationalen Aufmärschen, etwa früher des Bundes der Landwirte, immer wieder aufgestellte Behauptung, alle Sektlokale seien nachher überfüllt gewesen. Nein, aber vor einem Filmhaus, das überfüllt war, suchten Tausende vergeblich noch Einlaß: da, wo der "Weltkrieg" gegeben wird. Das Haus ist täglich ausverkauft, der nationale Stolz auf das Geleistete erhebt sich wieder, und wenn der Film demnächst für ganz Berlin, dann für ganz Deutschland freigegeben wird, wird es überall so sein. Ich habe die Aufführung des Films schon neulich besprochen. Heute will ich mal etwas aus seiner Entstehungsgeschichte erzählen, damit man erfährt, welchen Hindernissen vaterländische Aufklärungsarbeit in Neudeutschland heute noch begegnet.

Das ganze Material aus dem Weltkriege, Gefechtsberichte, Bilder, Akten, Befehle, Personalien, Filme, Reliquien, Modelle, liegt heute in dem Reichsarchiv auf dem Brauhausberge in Potsdam, betreut von Historikern, Beamten, ehemaligen Offizieren. Einem von ihnen, dem Herausgeber der bisher über 200 Regimentsgeschichten, kommt bei der Arbeit der Gedanke, den Film vom Weltkrieg herzustellen. Das Archiv untersteht dem Reichsministerium des Inneren. Also hin. Damals, 1925, ist der Deutschnationale Schiele Minister. Er erkennt sofort die Bedeutung der Sache und erklärt nach mehreren Besprechungen, das müsse amtlich gemacht werden, das müsse das Reich in die Hand nehmen.

Nach einigen Wochen - der Locarnokrach.

Der neue Reichsinnenminister nun, der Demokrat Külz, will mit der ganzen Geschichte nichts zu tun haben und - verbietet allen Amststellen jede Mitwirkung. Was tun ? Soll der Plan fallen ? Ein alter Soldat weiß, daß "Hindernisse dazu da sind, um genommen zu werden". Also an die Arbeit. Nur jetzt ganz privatim.

Neue Schwierigkeiten. Für die paar zur Ergänzung notwendigen "gestellten" Szenen, die neu aufgenommen werden müssen, hat das Reichswehrministerium die ganze Statisterie samt Wehr und Waffen zugesagt, ein Regiment Infanterie, eine Schwadron, eine Batterie.

Da wird Seeckt gestürzt.

Am Tage darauf wird die Genehmigung wieder zurückgezogen, die Filmhersteller müssen sich Personal mieten, müssen sich behelfsmäßig Kanonen aus Blech und Pappe bauen, müssen von Feuerwerkern fingierte Explosionen machen lassen.

Der Film steht dank den aus dem Kriege vorhandenen und aus dem Auslande angekauften Bildstreifen schließlich vor der Vollendung. Er ist mit äußerster Objektivität, mit äußerster Zurückhaltung, mit absoluter Wahrheitsliebe zusammengestellt. Er wird durch Keudells Vermittlung in einer Sondersitzung Hindenburg vorgeführt. Hindenburg ist "ganz drin". Die Augen leuchten ihm. Ha, Lodz! "Jetzt kommt mein großer Coup!" Auch alles andere ausgezeichnet. Hindenburg ist gewonnen; ja, dieser Film bedeutet Genesung für unser armes Volk, der zeigt ihm, was es in schlichtem Feldgrau geleistet hat. Nur an einer Stelle hat der alte Generalfeldmarschall gegen eine Textzeile Bedenken. Darin wird der Rückzug in der Marneschlacht durch "seelisches Ermatten der Führung" erklärt. Soll man den damals schwer erkrankten Moltke wirklich so annageln ? Hindenburg bittet um eine Änderung und sie erfolgt in der Form, daß nun der Rückzug "infolge Verkettung unglücklicher Umstände" notiert wird.

Aber die Zensur Hindenburgs ist noch das geringste. Es gibt mehr Instanzen. Jetzt kommen noch Sondersitzungen für alle Minister. "Ein Bild von Wilson, nein, das ist ganz unmöglich!", sagt Stresemann. Das Publikum könnte pfeifen, das gäbe Verwicklungen. Mehrere Szenen werden gestrichen. Nun wird der Film dem Reichskanzler Marx unterbreitet. Wieder fallen einige Bilder dem Blaustift zum Opfer.

Das nun ganz bedenkenfreie Werk liegt fertig da und wird dem Aufsichtsrat der Ufa gezeigt, mit dem die Verfasser ihre Abmachungen haben. Also letzte Instanz. Augenscheinlich macht die Vorführung einen tiefen Eindruck, alles ist in ihrem Bann. Aber nachher wird geredet und geredet. Da kommen wieder lauter Bedenken. Es wiord den Herren entgegengehalten, daß doch sogar das Auswärtige Amt keine Bedenken mehr habe. Da braust der Bankdirektor Gwinner auf: "Ja, das Auswärtige Amt braucht die eingeschlagenen Fenster in der internationalen Welt nicht zu bezahlen, den Schaden tragen wir, Handel und Wirtschaft!" Und der Bankdirektor Mamroth pfeift asthmatisch: "Wenn - pf - dieser unmögliche, unglaubliche Film herausgebracht wird, dann - pf - lege ich meinen Posten als Aufsichtsrat nieder!" Also aus. Jahrelange Arbeit erledigt. Schluß.

Drei Tage später taucht die Nachricht auf, daß die Ufa in den Besitz einer Gruppe übergehen werde, an deren Spitze der Deutschnationale Hugenberg stehe. Die Mosse-, Ullstein-, Singerpresse tobt. Drei Wochen später bestimmt der neue Generaldirektor Klitzsch, daß der Weltkriegsfilm herausgebracht werden soll.

Und man sieht schon jetzt, daß mit mutigem Entschluß auch bessere Geschäfte zu machen sind, als die herkömmliche Feigheit es geahnt hat.

Leider fehlt er uns ganz und gar in unserer auswärtigen Politik. Da gibt es nur Phrasennebel. Man macht uns glauben, daß zwar Poincaré unversöhnlich sei, dafür aber Briand unser großer und guter Freund; sorgten wir nun für die versöhnliche Atmosphäre, dann werde sich alles zum Besten wenden, während jede energische Forderung unsere Stellung nur verschlechtern könne. Dieser große und gute Freund Briand hat aber doch - nur wissen es die wenigsten bei uns - schon 1921 den Ruhreinmarsch gefordert, ja sogar die Blockierung Hamburgs; und lehnt jetzt beharrlich die Räumung des Rheinlands ab, auf die wir laut Versailles nach Durchführung des Dawesdiktats ein verbrieftes Anrecht haben. Pst! sagt die Feigheit. Nur nicht mit der Tür ins Haus fallen. Nur nicht unserem großen und guten Freunde Briand Schwierigkeiten bereiten. Sind nicht die französischen Soldaten aus dem Saargebiet schon abgezogen ? Ei freilich; und in der Uniform als Bahnschutzwache sofort wieder eingezogen. Und ist nicht die interalliierte Kontrollkommission aufgelöst worden ? Ei freilich, nur sind die leitenden Offiziere jetzt den Berliner Botschaften zugeteilt, und unser Außenministerium gewährt ihnen Kontrollrechte über die Reste unserer Ostunterstände. Auf diese Weise kommen wir von unseren Ketten nie los, kommen so auch nicht wieder zu einem gedeihlichen Erwerbsleben. Unter der Last der ungeheuren Dawestribute und in dem allzu engen Pferch ersticken wir. Berlin und Deutschland zeigen bereits hie und da die ersten Proben sogenannter Gesundung, aber die Not bleibt, das Begehren zur Auswanderung - "zwanzig Millionen Deutsche zuviel!" - wächst; und dabei hört man doch von drüben her, daß in Chicago und in New York zur Zeit mehrere tausend Deutsche arbeitslos auf der Straße liegen und auf die Wohltätigkeit der Landsleute angewiesen sind. Wenn doch endlich irgendeiner in hoher amtlicher Stellung dies alles offen heraussagte!

Flüchtige Besucher Berlins, auch Ausländer, merken die Not natürlich nicht. Sie sehen ja nicht das Asyl für Obdachlose an oder die Kellerwohnungen mancher Arbeitslosen. Sie gehen in guten Wohnstraßen und in den Vergnügungsvierteln spazieren und stellen dort zu ihrem Erstaunen fest, wie elegant und weltstädtisch die deutsche Hauptstadt geworden sei. Besonders ihre Damenwelt. Das stimmt. Das ist aber im wesentlichen doch nur eine Folge dessen, daß das Gros der Berlinerinnen heute erwerbstätig ist. Für das Geschäft oder für das Bureau muß man sich sorgfältiger kleiden, als wenn man "bloß" Hausfrau oder Haustochter ist. Dazu kommt der Zwang der Mode; das kurze Röckchen verlangt größeren Aufwand für Strümpfe und Schuhe, die heute jedermann ins Auge fallen.

Strümpfe und Schuhe und - Beine. Einst galt der bloße Gebrauch dieses Wortes schon als unschicklich. Heute kann man - ich bin ketzerisch genug, zu sagen, Gott sei Dank - die Beine genau so unbefangen kritisieren, wie früher das Haar, das Näschen, das Gesicht. Auch die Mädchen untereinander tun es ganz sachlich und unbefangen und - kultivieren ihre Beine. Es gibt da ganz erstaunliche Veränderungen in wenigen Jahren. Nur ist leider immer noch kein Mittel erfunden, etwa nur die Beine schlank werden zu lassen, während der übrige Körper nicht mager wird. Da tritt nun eine bekannte Firma, die bisher in der Hauptsache Gummigürtel vertrieb, als Helferin ein, wenn jemand, sagen wir, infolge zu eifrig betriebenen Schlankwerdens allzu "platt" geworden ist. In der Potsdamer Straße im Schaufenster die große Reklame, Bild und Unterschrift: "Gentila-Busenersatz! Wirkt wie eine natürliche Büste und fühlt sich auch vollkommen wie eine solche an!" Da wäre uns ja geholfen. Da kann man also rücksichtslos weiter auf schlanke Waden trainieren. Nur wiederum: es kommt nicht allein auf die Schlankheit, es kommt auch auf die Form nicht wenig an. Wer ein paar Mal zwischen Wittenbergplatz und Halenseebrücke entlang gewandert ist und nachdenkt und vergleicht, der hat die ganze Skala von Damenbeinen alsbald intus: Stöckchenbeine, Säulenbeine, Schinkenbeine, Zillebeine, Puppenbeine, Modebeine, Märchenbeine. Von den letzteren träumt man nur, wenn man Bayros heißt. Die anderen sind alle in Berlin W täglich "greifbar" und ebenso die Übergänge von einem zum anderen. Und wenn man dann in der Königin-Bar oder sonstwo nach der Wanderung Platz nimmt, kann man die moderne Frauenbewegung studieren. Die moderne Frauenbewegung besteht in dem ständigen Herunterzupfen des Rocks über die Knie, sobald die Damen auch Platz genommen haben. Eine ebenso häufige wie erfolglose moderne Frauenbewegung.

Jetzt weiß ich übrigens, wie sehr unsere Frauen vermännlichen. Neulich sah ich zum erstenmal in meinem Leben einen Bubikopf mit beginnender Glatze. Aber das sagt man natürlich nicht. Der höfliche Berliner sagt allenfalls: "Ihnen ist auch bald die Kniescheibe durch den Kopf gewachsen!"
12. Mai 1927 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts