"Rumpelstilzchen"

Haste Worte?
(Jahrgangsband 1924/25)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1925

Glossen 22 - 24
12. bis 26. Februar 1925


22

Aus Kindermund - Die "schäbige" Republik - Der Überfall durch Finanzbeamte - "Blutsauger" - Höfles Bankkonto - Nackttanz-Bummel - Auf der Polizeiwache - Was Professors lernen

>Kürzlich weilte der bekannte Berliner Rechtsanwalt Alsberg mit Familie in St. Moritz. Dort besuchte ihn der Staatssekretär Hirsch, einst Handlungsgehilfe in Aachen, heute großer Staatsmann mit Professortitel. "Vati, was ist der Herr Hirsch ?", wird Alsberg nachher gefragt. "Staatssekretär, mein Kind." "Was ist das ?" "Das ist ein Minister." "Ach so, Vati, Minister, - und da mußt du ihn nun verteidigen ?"

Alsberg hat, so wird mir von seinen Freunden erzählt, lange nicht so gelacht, wie bei diesem Ausspruch aus Kindermund. Natürlich, gegen Hirsch und Fuchs und die anderen Herren aus dem Reichswirtschaftsministerium "liegt nichts vor", sie treiben nicht in dem ungeheuren Strudel, der sich bei uns aufgetan hat. Es gibt wirklich noch Staatssekretäre und Minister, von denen nicht behauptet wird, sie seien Stipendiaten der Barmats. Aber selbst Berliner Kinder generalisieren bereits: der Mann ist Minister, also wird er wohl was ausgefressen haben. Zwei solcher nachnovemberlichen Exzellenzen, Bauer und Höfle, der erstere - Sozialdemokrat - einst sogar Reichskanzler, spüren schon den Arm der Nemesis im Genick. Das sei etwas "noch nie Dagewesenes", schreibt bedrückt sogar ein Ullstein-Blatt und gibt damit das Scheitern des eigenen wiederholten Versuches zu, Parallelfälle aus der Kaiserzeit zu konstruieren. Aber, so sagt ein anderes Ullstein-Blatt, so richtig moralisch zu verdammen seien nicht diese abgefaßten bestechlichen Minister, die, im Gegensatz zu denen der wilhelminischen Tage, arme Teufel seien, sondern die Hauptschuld trage "die schäbige Republik", weil sie zu schlecht bezahle. Nun leben aber doch noch viele jener Alten in den ärmlichsten Verhältnissen unter uns; der frühere Handelsminister Frhr. v. Berlepsch hat sich, wie ich schon früher einmal erzählte, jahrelang nur Sonntags ein Stück Fleisch gönnen können, dem letzten Kabinettschef des Kaisers, Staatsminister v. Delbrück, habe ich noch kurz vor seinem Tode eine Kiste Zigarren anonym zugeschickt, weil es mich jammerte, daß er sich nur noch ein Pfeifchen schlechtesten Tabaks gönnen konnte, der frühere Kolonialminister v. Lindequist hat um seiner bitteren Armut willen in jungen Jahren beim Regiment 54 als "Königseinjähriger" dienen müssen, und so könnte ich noch seitenweis fortfahren. Trotrzdem ist in einem Jahrhundert preußisch-deutscher Amtsgeschichte nicht ein einziger Fall, der den Dutzenden heutiger "Fälle" ähnelte, zu finden. Und dabei ist es gar nicht wahr, daß die Republik ihre Minister "schäbig" bezahlt. Sie bekommen 36 000 Goldmark jährlich. Die französischen Minister zurzeit nur 30 000 Papierfranken. Das ist umgerechnet nur der vierte Teil.

Aber nehmen wir selbst nach der Moralkasuistik der Ullstein-Presse an, der "Zwang" zu unrechtmäßiger Bereicherung (was soll übrigens das Volk dazu sagen ?) habe wirklich vorgelegen. Dann hätte man doch wenigstens von diesen nachnovemberlichen Staatsministern (es werden noch verschiedene von ihnen in den Strudel kommen) annehmen müssen, daß sie ihre "Nebeneinkünfte" ehrlich versteuerten. Sie haben sie aber verschwiegen und dadurch nicht nur sich selber des Steuerbetruges schuldig gemacht, sondern auch das ganzenVolk geschädigt: denn wenn selbst so "hohe" Herren schwindeln, muß der normale Finanzbeamte doch an jeder Ehrlichkeit verzweifeln und wird um so gehässiger auf dem Kriegspfade gegen jegliches Publikum.

Überfälle durch Finanzbeamte gleich in Begleitung vom Kriminalkommissaren hat schon mancher wackere Berliner, dem nichts vorzuwerfen ist, in dieser Zeit über sich ergehen lassen müssen. Sie kommen wie der Blitz aus heiterem Himmel. Seit in der neuen Verfassung - früher war das nicht nötig - die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert ist, ist die Unverletzlichkeit dahin. Man stürmt sie sogar ohne richterlichen Befehl. Zu einem alten Herrn, der im Ruhestande in seiner Villa in Berlin-Lichterfelde lebt, kommt am frühen Morgen des 22. Dezembers ein Finanzbeamter (übrigens von einem nicht zuständigen Finanzamt) mit einem Kriminalkommissar, findet den Hausherrn nicht vor, veranstaltet aber eine zweistündige Haussuchung und beschlagnahmt sämtliche Privatakten, Privatbücher und Privatbriefe. "Steuerhinterziehung!", erklärt er der Hausfrau. Am nächsten Tage geht der alte Herr zum Finanzamt und stellt, was alsbald zugegeben wird, fest, daß eine Namensverwechselung vorliege. Am 24. Dezember wird der Irrtum anerkannt, werden die Amtssiegel in der Wohnung entfernt, aber von dem abnehmenden Beamten vier Privatbriefe steuerlich gleichgültigen Inhalts mitgenommen. Den ganzen Januar hindurch wird darüber Beschwerde erhoben, zuletzt bei der höchsten Instanz, aber noch heute, am 12. Februar, ist der irrtümlich Schikanierte nicht im Besitze seines Eigentums.

Nicht jeder nimmt derartiges so lustig auf wie der Apotheker in dem Landstädtchen, zu dem ein alter Bauer neulich kam, um sich ein paar "Blautsugers" (Blutsauger, Blutegel) zu holen. "Ick heff keene", secht de Apteiker, "gahn Se man övern Markt en dat grote geele Huus, Zimmer 67, iersten Stock, dor finnen Se Blautsugers naug!" Gesagt, getan. Der Alte vom Lande steht - im Finanzamt und verlangt Blutsauger, die es hier ja genug gebe, wie der Apotheker sage. Selbstverständlich wird nun der Apotheker von Amts wegen verklagt und zu 300 Mark Geldstrafe verurteilt. Und da setzt sich der Bruder Lustig hin und schreibt wörtlich an das Amt:

"Nachdem ich wegen Beleidigung des Finanzamtes zu 300 M. Geldstrafe verurteilt bin, bitte ich um Ihre Entscheidung, ob ich diesen Betrag über Unkosten verbuchen darf, oder ob der Betrag der Umsatzsteuer unterliegt."

Was sich liebt, das neckt sich, pflegte man früher zu sagen. Aber hier sei doch festgestellt, daß Finanzamt und Publikum nur noch selten auf dem Neckfuß miteinander stehen. Man haßt sich. Und, ehrlich gestanden, auch den Beamten ist es nicht zu verdenken, daß sie in helle Wut geraten, wenn sie den Betrug rundum erleben. Die Barmats haben in Deutschland keine Steuer bezahlt, weil sie an Eides Statt angaben, sie zahlten ja schon in Holland, am Sitz ihrer Geschäfte. Umgekehrt haben sie in Holland nichts bezahlt, weil sie doch schon in Deutschland alles versteuerten. Und nun wissen die Finanzbeamten doch, wie alle Schieber und ihre ministeriellen Freunde leben! Herr Höfle hat noch am Tage vor seiner Verhaftung in einer Erklärung an die Berliner Presse gesagt, er besitze keinerlei Privatvermögen außer seiner Villa, sei subsistenzlos und müsse deshalb die Villa jetzt verkaufen; an demselben Tage aber hob er den ganzen Rest von seinem Bankkonto ab, und die Finanzbeamten, die ein paar Stunden später zur Bank kamen, um die nicht bezahlten Steuern aus dem Vermögen des Herrn Ministers a.D. zu decken, hatten das Nachsehen. In den Finanzämtern sitzen doch Leute mit offenen Augen. Sie sehen, wie es in Berlin zugeht, wieviel - während die große Masse es knapp hat - von den leichten Schwerverdienern auf die Straße geworfen wird, vertan, verjuxt, verjubelt, und es ist kein Wunder, wenn sie sich mit zusammengebissenen Zähnen auf den Kriegspfad begeben.

Es ist wieder fast so wie während des Billionentaumels, nur daß jetzt nicht Amerikaner, Holländer, Dänen, Schweden, Jugoslaven, Esten, Levantiner den Becher der Lebensfreude in unseren Großstädten leeren, sondern fast ausschließlich Einheimische und Ostjuden. Auch die Nacht- und Nackt- und Nepp-Lokale erleben eine erneute Spätblüte. Vor drei Jahren, während der Ausländerorgien in Berlin, habe ich einmal einen solchen Nachtbummel unternommen, um ihn meinen Lesern zu schildern. Jetzt wieder. Inzwischen bin ich - man verzeihe mir diese berufliche Indiskretion - von weit über hundert unbekannten Bekannten im Reiche gebeten worden, sie dazu "mal mitzunehmen". Also es kam wirklich jemand mit, eine verheiratete Dame aus dem Rheinland, eine würdige Dame schon mit Silberfäden im Haar, die sich zuerst in den Rheinischen Winzerstuben Mut zutrinken ließ und dann erschauernd an meinem Arm etliche Minuten nach 1 Uhr in Nacht und Regen hinaustrat. Wenn sie alles im voraus gewußt hätte, wäre sie noch jetzt von ihrer Absicht zurückgetreten. So aber lockte das Abenteuer, das verbotene Land. "Trallala trallalahiha!" gröhle ich laut in den Regen. Schon ist ein Schlepper an unserer Seite, wie sie in der Friedrichstadt und in der Zoogegend so zahlreich in Tornischen oder sonst im Kernschatten lungern, und erbietet sich, uns in ein Nachtlokal zu verfrachten. Notabene, immer wieder sei es gesagt: wenn nicht alles um 1 Uhr schließen müßte, wenn, wie früher, einige große Kaffeehäuser die Nacht hindurch offenstünden, wäre es mit dem Verdienst der Schlepper längst zu Ende. Also wir sitzen im Auto, der Schlepper neben dem Lenker auf dem Bock. Die Linden hinunter. Am Dom linksum. Bahnhof Börse. So, jetzt sind wir in irgendeiner Gasse östlich vom Oranienburger Tor und halten. Nun zu Fuß ein paar Häuser zurück. Wieder ein Schatten löst sich aus einem Torweg, der "Spanner" nimmt uns ab, schließt das Tor auf, führt uns mit seiner Knipslaterne in gähnendes Dunkel. Fester krallt sich meine Begleiterin in meinen Arm: o Gott, denkt sie, wäre ich nur erst wieder in Mülheim! Es geht ihr etwa so, wie dem Spaniolen, der mit mir in einer sternklaren Nacht als Dolmetscher bei einem arabischen Scheich vor dem Zelte saß und, als wir, die Waffenlosen, uns etwa zwei Dutzend Kriegern mit Mausergewehren gegenüber sahen, mich auch in den Arm kniff und jammerte: "Jetzt sie uns werden mörden!" Quatsch, antwortete ich damals, wir sind ja Gastfreunde! Und diesmal war die abenteuerlustige verheiratete Dame aus dem Rheinlande auch beruhigt, als auf ein Stichwort eine dritte Tür aufging und wir uns in dem dürftig ausgestatteten "Berliner Zimmer" einer Privatwohnung befanden, in Sicht von sechs ganz harmlos aussehenden Personen: dem Unternehmer und seiner Helferin, zwei Musikern, zwei Tanzmädchen im Staßenanzug. Kein Eintrittsgeld wird verlangt. Dafür kostet die Flasche Schaumwein - nur Schaumwein gibt es - 50 Mark "ohne Steuer und Trinkgeld". Die Mädchen entschuldigen sich: bei dem Sauwetter käme niemand, wir hätten Pech, erst zwei Tage vorher sei alles voll gewesen, bis zum Morgen sei nacktgetanzt worden, auch die Gäste hätten so mitgetanzt. "Autsch, gnädige Frau, nun habe ich wirklich blaue Flecken!" Meine silberdurchwirkte Dame hat sich wieder an mich gekrallt; ihr ist's am Schlechtwerden.

Nach einer Weile verschwindet eines der Mädchen, um sich zum "Schleiertanz" auszukleiden. Es ist nicht der berühmte Tanz der sieben Schleier. Das hält nur auf. Einer genügt. Und auch der dient eigentlich nur zum Fächeln; im übrigen ist diese Friedrichstraßenpflanze splitterfasernackt und wiegt sich nach dem leisen Gezirp und Gesumm der Musik. Also das ist alles, gnädige Frau. Wie Sie wissen, sieht man Besseres heute in jeder Revue in Berlin oder Paris oder London. Und erheblich billiger. Freilich, vielleicht noch geschmackloser. In einer Berliner Revue werden jetzt die historischen Mehr-oder-weniger-Nacktweiber aller Jahrhunderte auf einer Freitreppe gruppiert - und oben an der Spitze dieser Pyramide erscheint dann "die einzige vergessene" Frau, nämlich mit ihren Kindern die Königin Luise! Schweinerei plus patriotische Sentimentalität. Das Publikum rast Beifall. Hier in dem Nepplokal fehlen die Zutaten, hier hat man es nur mit den nackten Tatsachen zu tun. Man kriegt das Gähnen. Auch dann, als die Mädchen nach dem ersten Tanz sich zu uns setzen und saftige Witze erzählen. Wir hätten so gern - das Publikum gesehen, aber gerade das fehlt. Dafür interviewe die Tänzerinnen und erfahre allerlei über die Organisation des Betriebes. Der Unternehmer und seine Leute gehören zusammen. Diese erfahren, ebenso die Spanner, immer erst im letzten Moment, welches Quartier für die Nacht - jeden Tag ein anderes - gemietet ist. Dann rückt man mit Tischtüchern, Gläsern und ein paar Körben Sekt an.

Da: nun kommen doch noch Gäste!

Vier Herren, an der Spitze ein hübscher, verhältnismäßig junger Mann mit ein paar Schmissen im Gesicht. Er setzt sich aber nicht, sondern sagt nur laut und deutlich:

"Kriminalkommissar Lüdcke!"

Au Backe. Irgendwer muß die Sache verpfiffen haben. Die Kriminals haben das Tor mit Nachschlüsseln geöffnet, innen dreimal kurz geklingelt, durch das Schlüsselloch das Stichwort "Alex" richtig gesagt. Und nun sind sie drin. Vorläufige Feststellung der Namen. Aber die Ausweise könnten ja gefälscht sein. Also alles zu Fuß zur Wache. "Auch Publikum ?" "Auch Publikum!" Und der Kriminalkommissar, der sehr jovial mit seinen Gefangenen verkehrt, fast kordial, möchte ich sagen, ermahnt nur:

"Also macht keine Dummheiten, Kinder, fangt auf der Straße nicht an zu laufen, Ihr wißt, wir haben erst vorige Woche einen zusammengeschossen!"

Wir tippeln, zu zweit geordnet, vier Paare, durch den Regen zur entfernten Polizeistation. Dort empfangen uns die Grünen. Der Telegraph fängt an zu arbeiten: Nachfrage bei den Revierbureaus. Den Tanzmädchen werden zur Abschreckung die Zellen gezeigt, die nach Lysol duften. Alles ist sauber, nur überheizt. Man stöhnt, man brütet, man döst. Ich studiere die Wandanschläge: was alles laut amtsgerichtlicher Entscheidung von der Polizei beschlagnahmt werden soll, die und die Nummer des Journal amusant, die und die Nummer der Ambi-Betriebszellenzeitung. Die Tanzmädchen regen sich an den polizeilichen Gummiknütteln auf, erbitten einen und lassen ihn rhythmisch schwingen. Endlich um 5 Uhr morgens sind wir rekognosziert und werden entlassen.

In Mülheim ist es angenehmer, nicht wahr ?

Aber alles giert eben nach dem Tanz in jederlei Form. Am übernächsten Morgen will ich einen Bekannten, einen Privatgelehrten, der sich dem sechzigsten Lebensjahre nähert, besuchen; ich weiß, vormittags ist er immer zu finden, da arbeitet er zu Hause. Das Dienstmädchen macht mir auf, aber es scheint, daß das Mädchen blödsinnig geworden ist: es sieht mich nur an, steckt den Finger in den Mund und kichert. Dann führt es mich auf den Zehen zur Tür des Salons und läßt mich durch einen Spalt hineinsehen. Ein Klavierspieler klimpert diskret einen Foxtrott. Der - Tanzlehrer steht wippend und kommandierend mitten im Salon. Der alte Gelehrte und seine Frau aber halten sich umfaßt und üben: vier Schritte lang, vier Schritte unterbrochen, vier Schritte lang, vier Schritte ausgewichen. Die Frau, die doch auch schon in den Fünfzigern ist, hat den Kopf leicht hintenübergeneigt, ihre Augen glänzen weich, die Lippen sind wie im Traume halb geöffnet. Noch nie sah sie so jugendlich, so wiedererblüht aus.

Ich bin selten so gerührt gewesen. Auf den Zehen schlich ich mich wieder davon.
12. Februar 1925 (Donnerstag)


23

In der Quarta - "Ihr seid Ministers geworden?" - In den Staatsgemächern - Das brokatene Hinterteil - Diplomatenball, Offiziersball, Karrikaturistenball - Hauptmann-Premiere - Friedericus-Quadrille im Sportpalast

In der Quarta eines Berliner Gymnasiums werden die lateinischen Extemporalien zurückgegeben. Der Klassenlehrer ruft einen der Zwölfjährigen auf, räuspert sich und spricht:

"Ich habe, hm, mit Mißfallen bemerkt, daß Du immer noch gewohnheitsmäßig ut mit dem Indikativ konstruierst. Du hast wieder, hm, eine Vier bekommen. Jetzt, hm, wo Dein Vater Minister geworden ist, solltest Du Dich doppelt anstrengen. Sonst wird man bald, hm, mit Fingern auf Dich zeigen."

Die ganze Quarta spitzt die Ohren. Es geht wie unterdrücktes Wiehern durch die Klasse. In der Pause ist sofort Getümmel da.

"Mensch, Ihr seid Ministers geworden ?"

"Halt's Maul!"

"Etsch, Ihr seid doch Ministers geworden!"

"Halt's Maul!"

Um ein Haar gibt es eine Keilerei. Dem kleinen Hans oder Fritz, ich weiß nicht mehr, wie er heißt, sind fast die Tränen nahe. Was kann er denn dafür, daß der Vater Minister ist ? Das passiert heute doch den anständigsten Menschen, daß sie Minister werden! Ach, und es hatte doch so schön angefangen. Zunächst tobte man durch die schnurgerade unendliche Flucht der Säle v mit ihren Staatsmöbeln. Schon da gab es allerhand zu bewundern. Ha, ein Vierröhren-Apparat sogar in einem der Zimmer! Allerdings kaputt; aber das macht ein richtiger Quartaner heute im Handumdrehen wieder heil. Dann der wunderbare große Garten mit seinen breiten Alleen, alten Bäumen, Gewächshäusern, mit Garage und Stall. Also hin zum Obergärtner:

"Können Sie mir einen Kaninchenstall machen ? Ich kriege vier Karnickel!"

Der alte Beamte, der binnen wenigen Jahren schon 7 Minister erlebt hat, darunter einen, dessen 3 Buben wie Anarchisten gehaust haben, wiegt aber bedächtig den Kopf.

"Immer sachte, mein Junge, das könnte ich höchstens außerdienstlich in meiner Freizeit aus privatim beschafften Latten anfertigen. Soll es dienstlich sein, dann muß zuerst eine Eingabe gemacht werden, die im Ministerium geprüft wird, und das dauert vielleicht länger, als Ihr hier seid."

Unser Quartaner hat sich das freilich viel einfacher vorgestellt. Überhaupt ist alles so sonderbar. Die beiden ersten Fragen des Jungen, nach Vaters Ernennung sofort herausgestoßen, hatten gelautet:

"Kriege ich einen neuen Sonntagsanzug ? Fahre ich nun mit dem richtigen Ministerauto jeden Tag zur Schule ?"

Auf beide Fragen hatte es ein kurzes Nein gegeben. Armes Kerlchen. Du hast die falschen Eltern und die falsche Zeit erwischt. Vor ein paar Jahren, und dann Demokrat oder Sozialist, da hättest Du Dein Schlaraffenland gefunden. Jetzt sitze ich in Deiner Abwesenheit bei Deiner Mutter und frage sie aus, weil es mich reizt, einmal das Ministerwerden aus der Quartaner-Perspektive kennzulernen. Zu Deinem Vater gehe ich nicht. Ich habe ihm gesagt, solange ich lebte, würde ich einen republikanischen Minister nie besuchen. Ob der Minister ein roter Parteisekretär oder ein deutschnationaler Ichweißnichtwas ist, das ist mir ganz gleich: diese ganze parlamentarische Ämterbesetzung ist mir zuwider. Ich habe die Herren von der Deutschen Volkspartei, die mit glänzenden Leitartikel-Gedanken an die auswärtige Politik herangingen, früher als ebenso unzureichend grundsätzlich verhöhnt. Haben die Geheimräte aber - falls Ihr Mutterwitz und keine Scheu vor gründlicher Aktenarbeit habt - endlich einen richtigen Minister aus Euch gemacht, dann zieht ja doch schon wieder ein anderer ein.

Vor wenigen Jahren war ein Ministerumzug für Berlin noch ein Ereignis. Wirths Erklärung, er brauche dazu nur eine Droschke und einen Koffer, beschäftigte wochenlang die Gemüter. Heute wissen von 100 Berlinern 99 nicht die Namen der einzelnen Minister. Von den früheren blieben auch nur vereinzelte Anekdoten übrig. Die vor einiger Zeit verstorbene Frau Fehrenbach in Freiburg in Baden, die gegen ihren Mann, den sie trotz seiner Jahre einen lockeren Vogel nannte, noch kurz zuvor einen Scheidungsprozeß anzustrengen sich bemühte, kam da eines Tages zu einer mir bekannten Dame in Freiburg. Sie rauschte mit den Worten herein: "Also hier ist die infame Person ?" Man dachte erschrocken und empört an etwas - ganz Falsches, aber da kam auch schon die Aufklärung:

"Ja, denken Sie, mein Mann hat mir jetzt, wo er Reichskanzler geworden ist, sechs seidene Hemden und ein Staatskleid mit brokatenem Hinterteil geschenkt, und alles hat diese infame Person, unser bisheriges Dienstmädchen, das jetzt bei Ihnen ist, uns gestohlen!"

Gott schenke der Frau Rechtsanwalt und Reichskanzler a.D. Fehrenbach die ewige Ruhe. Hier unten hätte sie doch nicht mehr viel Vergnügliches erlebt. In Freiburg läßt sich vielleicht noch einigermaßen existieren. Aber in Berlin ist in den allerhöchsten Kreisen der bisherigen Neuregierer kein Sinn für Humor mehr vorhanden. Man macht zwar den sogenannten Fasching mit, man hat Bälle über Bälle, aber die Leute sehen einen so komisch an, als wollten sie sagen: "Bist Du noch nicht dran ?" Da haben wir wieder einen Diplomatenball im Hotel Adlon gehabt, veranstaltet von der ausländischen Presse. Man kann Amerikanerinnen von fabelhafter Aufmachung bewundern, die nicht ein kleines Brillanten-Diadem, sondern eine ganze Brillanten-Krone im Haar tragen und in handgemalten weißseidenen Kleidern erscheinen. Hier gibt es keine buntfarbigen Perücken und ähnlichen Unsinn. Aber man geht doch um einander herum wie um heißen Brei. Da kommt einem fremden Botschaftsrat, der mit seiner Frau am Arm durch einen der Säle schlendert, der Vertreter des größten Blattes seiner Heimat entgegen, auch mit einer Dame am Arm. Aber der Diplomat schlägt einen Haken: "Komm schnell, ma chérie, er ist unverheiratet, das ist nur seine soi-disant Wirtschafterin!" Hier im Adlon sind an diesem Abend etwa 80 v.H. der Besucher Ausländer. Ganz und gar deutsch ist gleichzeitig im Zoo das Trachtenfest des deutschen Offizierbundes. Da kann man unbedenklich seine Töchter mitnehmen, das ist nett und fröhlich und solide, da paradieren "lange Kerls" in friderizianischer Uniform, da onestepen 7 Königinnen Luise, 16 Rokoko- und 43 Biedermeierdamen, alles hübsch und dezent, und die zwei einzigen weiblichen Edelpagen, die in Höschen und langen seidenen Kniestrümpfen erschienen sind, werden von irgendeiner verwitweten Frau Oberstleutnant, die immer irgendwo sitzt, außerordentlich scharf lorgnettiert. Schadet nichts. Gut so. Der harmlos bunte Charakter dieses Familienfestes muß erhalten bleiben. Hunderte von lieben jungen Mädchen der besten Kreise in Trachten von 1740 bis 1840, dazu unter den männlichen Besuchern viel echte Uniform aus der Urgroßvatertruhe: das ganze ein Bild, an dem Meister Knötel, der Vater, seine Herzensfreude gehabt hätte, am Ende sogar Meister Menzel.

Wer richtigen "Fasching" der ausgelassenen Art sucht, der drückt sich hier freilich und fährt in die Philharmonie, zum Karikaturistenball derselbigen Nacht. Aber auch das ist, ehrlich gesprochen, eine Enttäuschung für Münchener oder Rheinländer, die einmal im Jahre gern alles in toller Lust auf den Kopf stellen möchten. Es ist alles so - gemacht. So bewußt revolutionär gegen herkömmliche Sitte, daß es schon gar nicht mehr revolutionär wirkt. In scheußlicher Stickluft ein Geschiebe von Mädchen, die ihre Seidenstrümpfe schonen wollen und daher mit bis hoch hinauf kahlen Beinen erscheinen. Ich kann nicht finden, daß schwitzende Oberschenkel die Erotik fördern. Eine als Bauchtänzerin entkostümierte Dame läßt, immer wieder mit einem anderen Herrn am Arm, ihren Nabel photographieren. Aber Lust ? Nicht Lust, nur Sekt; und kaum Schwips. Als einer mal seine Dame auf die Schultern hebt, ihre Beinchen vornüber baumeln läßt und so durch den Saal chassiert, ist das nicht etwa ein Signal zu weiterer Ausgelassenheit, sondern wird rundum nur aus treuen Hundeaugen angeglotzt. Die sind wohl nicht von hier, heißt es erstaunt.

Es ist klar, daß die vielen Bälle, die am Fastnachtsdienstag in dem der Malerschule Reimann ihren Höhepunkt finden und dann sehr langsam bis gegen Mitte März abebben, dem Theaterbesuch sehr abträglich sind. Sonst sind der Sonnabend und der Sonntag Ausverkaufstage für unsere Bühnen. In dieser Zeit aber bekommt jeder Berliner, der im Telephonbuch steht, von den Theatern unverlangt Anweisungen zugeschickt, auf die hin er für den halben Preis am Sonnabend oder Sonntag seine Plätze bekommt. Viel besser ist es auch nicht an anderen Tagen, denn an jedem einzelnen werden rund 120 - hundertundzwanzig - Bälle in allen großen Lokalen aller Stadtteile veranstaltet. Da ist es denn ein besonderes Wagnis, gar noch mit Erstaufführungen herauszukommen.

Nun haben wir also trotz allem Hauptmanns "Indipohdi" endlich auch in Berlin erlebt. Kurz nach der Neueinstudierung des "Biberpelz". Hier der saftige Naturalismus der Friedrichshagener Schule, dort das Romantisierende, Zerfließende, Allegorisierende, in dem die ganze Hilflosigkeit Hauptmanns zutage tritt. Das Publikum klatscht Beifall, weil man das doch sich selber schuldig ist, wenn "der größte lebende Dichter" Deutschlands zu einem spricht, aber es versteht nichts und schüttelt heimlich den Kopf. Nein, das ist wirklich nichts Goethisches zu finden. Nicht Wille, nicht Weltanschauung. Und es endet in einem zitternden frierenden Nichts.

Zuweilen denkt man, diesen Gerhart Hauptmann selber müsse zuweilen die große Angst vor den Grenzen seines Könnens überkommen. Aber er selber hält sich noch für sehr lebfrisch, meint sogar, er könne auch über das Dichten hinaus noch Erkleckliches für den neuen deutschen Freistaat leisten. Die Richter in Leipzig haben sehr erstaunte Gesichter gemacht, als sie jüngst von seinem Wunsche erfuhren, dem - Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik angehören zu dürfen.

Der wird ja wohl über kurz oder lang überhaupt endgültig abgebaut werden. Die fürchterlichen Strafen für Anzweiflung der Ehrenhaftigkeit irgendeines Barmatministers sind doch nicht mehr zeitgemäß. Strafen für blutige Gewalttat wider die Republik brauchen aber überhaupt nicht ausgesprochen zu werden, weil solche Gewalttat nicht vorkommt. Was wir brauchen, ist die verfassungsmäßige Freiheit der Meinungsäußerung innerhalb der vom Strafgesetzbuch gezogenen Grenzen. Ich habe gar nichts dagegen, daß das Reichsbanner Schwarzrotgold Herrn Ebert, nachdem ihm in Magdeburg bescheinigt war, daß er Landesverrat begangen habe, einen Fackelzug gebracht hat. Ich würde nicht einmal Einwände machen, wenn Herr Bauer oder Herr Heilmann ein Ständchen bekämen. Wenn man nur dieselbe Freiheit uns läßt, die wir uns für etwaigen Personenkult andere Objekte aussuchen, mit denen uns historische Gemeinsamkeit verbindet. Im Sportpalast gibt es wieder das große Preisreiten und Preisspringen. Diesmal zur Beruhigung von Herrn George Bernhard nicht die Quadrille von Rappen, Schimmeln, Füchsen, was ihm schwarzweißroten Albdruck macht, sondern allnachmittäglich eine historische Kostümquadrille: die Reitergenerale des Alten Fritz vor ihm selbst, er auf dem berühmten Schimmel, mit Krückstock und Tabaksdose, von Exzellenz v.Heintze berückend echt dargstellt.

Da schlägt uns natürlich das Herz. Und die Blicke fliegen hinüber zur Parterre-Tribüne neben dem Stalltor, wo der Turniersieger Prinz Friedrich Sigismund mit seiner jungen Frau sitzt und Prinz Oskar mit der seinigen und der Generaloberst von Kluck und sogar - bolzengerade trotz seiner 84 Jahre - der Generaloberst v.Plessen, der noch 1919 den Grafen Hoensbroech zum Zweikampf herausforderte, weil er seinen kaiserlichen Herrn beleidigt habe. Und da sitz auch, schlank wie eine junge Birke, durchtrainiert, aber mit großen starken Händen, der Kronprinz in graublondem Haar, neben ihm der ganz blonde Fritzi, der zwölfjährige jüngste Sohn im blauen Matrosenanzug, natürlich mit dem Bande "S.M.S. Kronprinz" an der Mütze.

Die Generale des Alten Fritz reiten ein. Quer durch die Arena zuerst im Schritt. Dann auf die rechte Hand. An der Ecke der Parterrebühne vorbei. Da - neigt der Alte Fritz fast unmerklich seinen Krückstock gegen den heimgekehrten Zollernsproß. Nun läßt sich der Jubel der Tausende von Zuschauern nicht mehr halten. Niemand denkt an Politik, niemand denkt an Partei, aber die Geschichte umrauscht uns, und Tränen der Erregung drängen sich ins Auge.

Ich halte nichts von Spalieren, Ehrenpforten, Kranzjungfern, Festreden, Böllerschüssen. Jetzt haben die Hohenzollern auch nichts mehr zu vergeben. Es ist ein ganz reines Gefühl, das ihrem zurzeit in Deutschland ältesten Vertreter entgegengebracht wird.

Eine weißhaarige Dame steht mit gefalteten Händen da, schaut mit festem Blick hinüber und sagt, nur gerade so laut, daß es die Nachbarin verstehen kann:

"Up ewig ungedeelt!"
19. Februar 1925(Donnerstag)


24

Fastnachtsgebäck - Das Fest im Esplanade - Die Kaisersöhne tanzen - Alles lernt tanzen - "Die Nacht der Frauen" - Bismarcks Drehschemel - Leitartikel und Stimmungsbild - Prinzen im Prisma-Kasino - Die kleine Friseuse

Es liegt nicht nur daran, daß wir älter werden, wenn wir finden, die Welt sei nicht mehr so lustig wie ehedem. Nein, es ist wahr: an die Stelle des "Vergnügens" ist mehr und mehr der "Betrieb" getreten. Auch die Fastnachtsbälle sind zu Geschäftsunternehmungen geworden. Meinen ersten Fasching erlebte ich noch zu der Zeit, wo die Konfetti wirkliches Konfekt waren. Man warf Süßigkeiten in die Wagen schöner Damen, nicht wie später, Gips- oder Papierkügelchen. Noch aus dem Mainzer Kasino heraus - lange, lange vor dem Kriege - haben wir mit Apfelsinen bombardiert. In Lissabon tat man dasselbe mit frischen Eiern; das gegenseitige Bekleckern erregte bei den Portugiesen eine wahre Sprtbegeisterung. Heute ist man in allen Ländern sparsamer, heute ist auch nicht mehr die Ulkstimmung glücklicherer Zeitalter vorhanden. Nur die Lust am Verkleiden ist natürlich geblieben, da man einmal im Jahre aus sich heraus möchte, und die Lust am fetten Gebäck. In Berlin ist der Pfannkuchen traditionell. Mit Pfannkuchen und Punsch, wie zu Silvester, schloß auch immer am Fastnachtsdienstag 12 Uhr der letzte Hofball im Königlichen Schloß. Es gibt sogar Berliner, die zu Berliner Pfannkuchen - Berliner helles Bier trinken, und das nicht zu knapp. Dann hat man am Aschermittwoch sicher das Fegefeur in den Gedärmen, das Purgatorio, wie es die Italiener nennen. In meiner Familie gibt es Muzemandeln statt Pfannkuchen; auch eine schöne Sache. Was für ein Fastnachtsgebäck man hat, das hängt wohl davon ab, von wo die Hausfrau stammt. Aber die Nahrhaftigkeit der Genüsse läßt im allgemeinen ab. Selbst kleine Buben wählen, wenn sie vor die große Schicksalsfrage gestellt werden, schon häufig ein paar Rollen Papierschlangen statt eines Pfannkuchens.

In den Rosenmontag hinein ging es in Berlin diesmal am angenehmsten im Hotel Esplanade, das schon früher immer das Stelldichein der Gesellschaft jeweils nach den Hofbällen war. Man kam an diesem Sonntag nur auf Einladung hin; öffentlich verkauft wurden keine Eintrittskarten. Das Aushängeschild lautete: Für das baltische Rote Kreuz. Der Anreger des Festabends aber war Geheimrat Dietrich, der deutschnationale frühere Vizepräsident des Reichstages, der schon in jungen Jahren als Saxoborusse in Heidelberg Beziehungen mit dem baltischen Adel aufgenommen und sie bis heute gepflegt hat. Seine Frau, eine königliche Erscheinung in einer weinroten Toilette, die durch künstlerische Raffung zum "großen" Abendkleide gemacht war, hatte sich mit baltischen Damen zusammengetan und das Ganze arrangiert. Es gab eine patriotischen Vorspruch, es gab Gesangsvorträge, wobei man unter anderem den heldischen Alt Hetta v.Schmidts, einer nahen Verwandten der Prinzessin Oskar, bewundern konnte, und dann wurde natürlich, als der Fridericus Rex Werner Engels verklungen war, "egal getanzt", dazwischen auch hier und da noch soupiert, aber hübsch bescheiden zu 5 Mark, nicht zu 17, wie noch auf dem Ball der ausländischen Presse.

Zunächst aber überall dasselbe Getuschel. Bekannte Familien flüstern sich etwas zu.

Man denkt, sie machen einander auf den General Grafen Goltz aufmerksam, den Mann, der Finnland im Weltkriege in kühnem Raid errettete und noch heute, stämmig und blond, in seinem Frack mit dem Hohenzollernkomthurkreuz mit Schwertern ungemein kriegsverwendungsfähig aussieht; oder auf den Prinzen Eitel-Fritz von Preußen, den einzigen Kaisersohn, der den Gesichtsschnitt der Mutter geerbt hat, auch ihre Anlage zur Rundung, und hier unentwegt tanzt, die helle Freundlichkeit im Gesicht, wie in einem Meer von Wonne; oder auf seine ernster dasitzende und plaudernde Frau; oder auf das Prinzenpaar Oskar, das sich lebhaft am Trubel beteiligt, diese zwei hochgewachsenen jungen Leute, von denen er, obwohl der Spitzbart einiges verbirgt, ganz das Profil des Vaters mit der energischen Nase und dem fliehenden Kinn hat; oder auf den Prinzen Dr. August Wilhelm von Preußen, den ehemaligen Landrat und späteren Banklehrling, an dem schwere häusliche Schicksale nicht spurlos vorübergegangen sind; oder die oder jene hübsche oder vornehme Dame.

Aber nein doch. Man flüstert sich etwas ganz anderes zu. Immer wieder dasselbe.

"Ich schäme mich so, aber ich will es ruhig sagen; denken Sie nur, wir - lernen tanzen!"

Und wahrhaftig, sie tanzen alle. Ein schon etwas fülliger Großindustrieller mit seiner Frau. Ein hagerer Professor mit seiner Frau. Ein, irre ich nicht, achtundsechzigjähriger Abgeordneter mit seiner Frau. Und nach etlichen Foxtrotten kriegen sie Mut und wechseln die Tänzerin. Es geht wirklich gut. Besonders der langsame Boston reicht doch wieder beinahe an den Walzer alter Art heran.

Es ist mit dem Tanzen wie mit dem Abiturientenexamen. Alle Jahre werden wegen Überlastung die Anforderungen herabgesetzt. Die Fußverdrehungen des schnellen Shimmy haben völlig aufgehört, Tango tanzen unter stillschweigendem Einverständnis aller Anwesenden nur junge turnierfähige Paare, das Schlenkern und Wackeln ist als unfein gebrandmarkt. Den verbleibenden Rest kann jeder mitmachen, der auch nur ein wenig Rhythmus im Leibe hat. So erschließt sich eine zweite Jugend für alle diejenigen, die früher nur als gähnende Ballmütter die Wände garniert oder als Ballväter nebenan sich mit Likör, Karten, Mikosch, Zigarren über die schleichenden Stunden hinweggeholfen hätten. Oder ist es nicht Jugend, wenn man nach den Klängen "Fuchs, du hast die Gans gestohlen" oder "Ein Männlein steht im Walde" oder "Wer will unter die Soldaten" foxtrotten kann ? Es scheint wirklich, daß wir seit diesem Winter - wenigstens in der guten Gesellschaft - aus der Verniggerung unseres Tanzens heraus sind. Auch die Tanzlehrer stehen in der neuen Front. So werden wir also über kurz oder lang auch dem Tanzen unserer Jüngsten, die vorerst noch gewaltig "schieben", ohne Erröten zusehen können.

Auf den großen ganz öffentlichen Bällen, zu denen jeder Zutritt hat, kommt man freilich kaum zum Zusehen. Da ist das Gedränge zu arg. Um des baren Gewinnes willen geben die Unternehmer solcher Festlichkeiten immer viel zu viele Karten aus.

Das fahrende Volk unserer Variétés hat für seine "Nacht der Frauen" am letzten Sonnabend das Große Schauspielhaus gemietet. Man hätte lieber sagen sollen: Nacht der Untergrundbahn. Es ist jedenfalls ganz so wie dort. Man drückt sich herein, man tritt sich auf die Füße, und wenn eine Kurve kommt, schwankt man und karamboliert mit den Nachbarn. Das etwa ist das ganze Tanzen hier im Großen Schauspielhaus. Um für die 16 Tiller-Girls, die uns einmal etwas vortanzen wollen, Platz von wenigen Quadratmetern zu schaffen, muß das Publikum eine halbe Stunde lang beschworen und sanft oder unsanft auseinandergedrückt werden. Von Faschingstreiben der fast durchweg Kostümierten keine Spur. Niemand ist ausgelassen, niemand duzt eine schöne Maske. Man sagt erschreckt "Paddong, jnä Frau!", wenn man eine Dame versehentlich gestreift hat. Einige weibliche Wesen, die einmal den Becher der Lust auskosten wollten, sitzen irgendwo im zweiten Ring, eine Sängerin, eine Studentin, eine Lehrerin, und starren mit brennenden leeren Augen in das Gewühl. Niemand spricht die Grauseidene oder den Pierrot oder die Möve an. Sie haben es versäumt, sich ihren Beau selbst mitzubringen. Außer wenigen sehr leichten Damen und ein paar Artisten, die vor Stumpfsinn und Verzweiflung hinter den Kulissen Handstand üben, ist ja hier fast alles verheiratet. Frau Direktor Levysohn giftet sich über Frau Rechtsanwalt Kohn, weil die ein neues Maskenkostüm hat. Weil es innen zu voll ist, sitzen viele draußen in der Garderobe, lassen die Beine melancholisch von der Theke hängen und halten krampfhaft ihre in der Tombola gewonnene Fünfzig-Pfennig-Puppe oder den üblichen Teddy-Bär im Arm.

Mit wahrer Erleichterung begrüßt man den Aschermittwoch, weil von da ab doch wenigstens die offizielle Verpflichtung fortfällt, kostümiert lustig zu sein. Ich bin nicht einmal mehr auf dem Riesenfest der Malerschule Reimann gewesen, sondern habe mich seitwärts in die Büsche geschlagen: in eine gutgelüftete und nicht übervolle Tanzdiele, während die Reimannler "in sämtlichen Räumen des Zoo" gepökelt wurden. Es gibt drei solcher Dielen unter den unzähligen in Berlin, die man auch "ahnßtändigen" Ehepaaren aus dem Reiche empfehlen kann, wenn sie sich hier mal nach dem Abendbrot Bewegung machen wollen: Pavillon Mascotte, Union-Palais, Prisma-Kasino. In dem ersteren sieht man die meisten Juwelen vom Kurfürstendamm. Im zweiten mehr das alte bodenständige Berlin der frohen Feste nach saurer Arbeit. Im Prisma-Kasino am Potsdamer Platz schließlich auch gelegentlich ein bißchen von der früheren Hofgesellschaft. Es ist das hinten im Gebäude des Cafés Vaterland. Einst stand hier, noch vor dem Neubau, das Heim der "Kreuzzeitung". In einer Stube auch noch der hohe Drehschemel, auf dem der Junker Otto v.Bismarck nach 1848 Platz nahm, wnn er für die Zeitung seine gepfefferten politischen Feuilletons schrieb. Er war der erste in Deutschland, der "Stimmungsbilder" aus dem Parlamente schrieb und auch sonst in der Rubrik "Berliner Zuschauer" seine satirischen Pfeile auf politische Gegner schnellen ließ. Die Kunst geriet nachher in Vergessenheit. Erst nach Jahrzehnten kam sie wieder durch Adolf Petrenz in der "Täglichen Rundschau" auf die Höhe; dazwischen hatte es im wesentlichen nur mehr oder weniger langstielige Leitartikel gegeben, über das Konzert der Mächte, über den kranken Mann am Bosporus, über das europäische Gleichgewicht. In den siebziger Jahren hatte es da freilich einen Einbruch gegeben. Der Chefredakteur des "Berliner Tageblatts" mußte eines Tages zu einer langen Sitzung verschwinden, hatte sein Blatt vorher fertig gemacht und nur den Feuilletonredakteur gebeten, bis zum Schluß für "etwa vorkommende Fälle" seinen Platz einzunehmen. Wie er das Blatt nachher aber in die Hände bekommt, traut er seinen Augen kaum: der Leitartikel nicht über das Konzert der Mächte, nicht über den kranken Mann am Bosporus, nicht über das europäische Gleichgewicht, sondern ein ganz anderer, und mit der unsagbaren Überschrift: "Die Dreiersemmel." Alles rast zusammen, der Verleger schäumt, der Feuilletonist soll fristlos entlassen werden, man zittert vor den entrüsteten Zuschriften der Leser am nächsten Tage. Aber, sie da, es kommt ganz anders. Die Leser atmen auf unter dem frischen Luftzug. Der Feuilletonist bekommt Zulage. Der Leitartikel-Kothurn ist endlich zerbrochen.

Wie man plötzlich auf solche Erinnerungen kommt ? Je nun, im Prisma-Casino sehe ich einen unserer göttlich-frechsten Plauderer, einen von links, in dem großen Zwölfeck tanzen, um das man herumsitzt. Und auf der anderen Seite steigt gerade, in Zivil natürlich, nicht als Totenkopfhusar, wie im Sportpalast, der Prinz Friedrich Sigismund hernieder und tanzt. Ein Prinz Enzio Reuß winkt ihm zu. Auch ein Prinz Ratibor soll hier gewesen sein, und gelegentlich läßt sich der Erbprinz von Schaumburg-Lippe mit seiner Frau unter den Tanzlustigen im Prisma sehen.

Früher hieß es immer, nur in München, wo der General und der Hausdiener einträchtig im Hofbräu nebeneinander ihre Maß zu ihrem Radi trinken, gebe es eine wirkliche Mischung der Stände. In Berlin bringt heute zwar nicht das Bier, aber die Tanzmusik dasselbe Wunder zustande. Im Prisma-Casino - siehe da, siehe da - sind nun auch Hella Moja und Manja Tschatschewa aufgetaucht, freilich ohne prinzliche Tänzer, vielmehr mit Tänzern vom Bau. Und nun, wahrhaftig, sie ist es, gleitet beim "Abklatsch-Walzer" auch unsere kleine Friseuse vorüber, die mit einr Freundin, ohne männliche Begleitung, hergekommen ist, um den Rest des Abends mit Zufallsbekannten, wie irgendein Nachbartisch sie vielleicht bringt, zu vertanzen.

Wenn ich mir die Haare schneiden lasse und dabei in den Spiegel gucke, sehe ich sie immer im Nebenraum hantieren. Und höre sie sprechen; denn sie spricht gern und viel. Spricht auch ein wirklich gutes Deutsch, denn sie kommt aus einer aufstrebenden Familie. Und so begabt seien alle, erzählt sie ihren Damen. Der ältere Bruder schreibe eine Handschrift, direkt wie gestochen. Als er noch klein war, sei der Vater deswegen zum Rektor gegangen, um zu hören, ob der Junge nicht zu etwas Besserem geboren sei. Aber wie das so sei: die Meinung eines Rektors siege über die eines "Arbeeters" natürlich immer. Einmla hörte ich, wie eine Dame - sehen konnte ich sie nicht - darauf erwiderte, die wirklich Begabten seien immer etwas geworden, gegen das Genie komme Not nicht auf; auch der Multimillionär Schichau sei doch einmal einfacher junger Arbeiter gewesen und die Vorväter der Krupp und Stinnes kleiner Handwerker oder Kahnschiffer. "Ja, damals", sagt die Kleine, "damals vielleicht, aber heute!" Dabei denkt sie innerlich ganz rot; also müßte sie doch parteikorrekt annehmen, daß die allmähliche Demokratisierung Deutschlands uns vorwärtsgebracht hat.

Ich gestatte mir diesen Hinweis, während wir uns mit einem langsamen Blues einschieben. Da zieht sie eine Schnut und sagt: Hier bin ich nur gute Gesellschaft; sprechen wir von etwas anderem!"
26. Februar 1925 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts