"Rumpelstilzchen"

"Was sich Berlin erzählt"
(Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922
und
Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 37 - 39
1. bis 15. Juni 1922


37

Berlin wird Paris - Im Dachgarten des Edenhotels - Verödende alte Weinrestaurants - Der reiche Schwede - Große Kunstausstellung - Suprematismus - Die Ulap kommt - "Weeßte, Rieke . . ."

Weltstadt ist "Preußisch-Berlin" bisher nie gewesen. Dazu war es eben zu preußisch, zu reinlich, zu schlicht. Wenn der Amerikaner seinen Trip zum alten Kontinent machte, ging er über Schottland "to Paris", und dort traf er Goldmagnaten vom Witwaterrand, brasilianische Kaffeekönige, russische Großfürsten, Abenteurer aus der Levante, mehr oder weniger dunkelhäutige Schieber und Spieler, dazu den Talmiluxus aller Erdteile und - gefällige Französinnen. Jetzt wird Berlin Paris. Genau die gleiche Menschenmischung, wie ich sie eben genannt habe, treffe ich abends etwa auf dem Dachgarten des Edenhotels am Zoologischen Garten, wohin - von einem valutastarken Verwandten eingeladen zu werden, ganz amüsant ist, dagegen allein hinzugehen den bestfundierten Berliner Monatsetat ruinieren kann. Da oben um die roten Stehlampen herum, bei einschmeichelnder Musik, ausgesuchten Tafelfreuden, berückenden Toiletten, flutet genau das Leben, das man früher nur an der Seine fand, nicht an Panke und Spree. Nur daß statt französischer Kokotten deutsche sich in die Sessel schmiegen. Hier werden Tausendmarkscheine lässig in die Westentasche geknüllt, Hundertmarkscheine verächtlich dem Pagen zugeschoben. Hier ist Babel; hier würde kein Mensch sich wundern, wenn plötzlich vor den Bechernden die Flammenschrift an der Wand erschiene. Nun girrt die Kapelle gerade aus der Operette das bekannte:

"Sennora, Sennora,
Wie steht das
Mit den Pesetas?"

während irgendein spanischer Importeur, dessen Pesetas heute siebzigfach mit deustcher Mark aufgewogen werden, lächelnd seiner tizianbraunen - Eigelbblond ist nicht mehr Mode - Berliner Zeitvertreiberin das goldene Zigarettenetui reicht. Man glaubt manchmal wirklich, sich bei Ritz in Paris zu befinden. Nur daß die deutschen Kellner besser und sprachgewandter sind und daß man hier alles bekommen kann, was man selber wünscht, nicht was der Kellner vorschlägt. Neben uns am Nachbartisch sitzt eine junge Engländerin, die wie eine Fürstin gekleidet ist, aber eine Stunde zuvor vielleicht noch Handstand in einem Variété gemacht hat, mit einem herkulischen Kerl, der für einen Boxabend bei uns zweimalhunderttausend Mark Honorar erhält, und quirlt ihren Schaumwein und verlangt beiläufig und fast achtlos ohne Heben der Stimme "pineapple with cream" von dem vorübergleitenden Frackträger - und eine Minute später liegen große Scheiben der würzig duftenden exotischen Frucht, die man um diese Jahreszeit sonst nirgends mehr sieht, in süßer Sahne vor ihr. Die Geigen schluchzen, die Pulse schlagen dringlicher, Ohrläppchen röten sich, Hände suchen einander. Das ist die Internationale, die es früher nur in Paris gab, dem großen Babel.

Auch heute brandet drüben noch das alte Leben, gewiß; aber die Vergnügungsstätten werden, wie ein eben von Paris zurückgekehrter Bekannter mir erzählt, leerer und leerer, vor allem leerer - von Franzosen. "Man ist nicht mehr Herr in seinem Hause; um eines amerikanischen Schweineschlächters willen, werden zehn Pariser, die früher die Könige des Bois waren, über die Achsel angesehen!" klagt ihm einer der ehedem Tonangebenden. Der Pariser kann sich die Nase an den Spiegelscheiben plattdrücken. Von draußen natürlich. Aber ist es in Berlin nicht genau so? Die alten großen Weinrestaurants, in denen früher der Einheimische verkehrte und die dem Fremden von heute nicht luxuriös genug sind, veröden allmählich. Bei Traube in der Leipziger Straße - oder vielmehr seinen Erben, denn er selber ist im Felde verstorben - ist der vordere Salon zu einem Feinkostgeschäft umgebaut, und das obere Stockwerk liegt meist im Dunkel, weil zwei oder drei Räume im Erdgeschoß heute völlig genügen. Allmählich freilich rückt die neue Gesellschaft nach und füllt zögernd die von der alten notgedrungen gemiedenen Lokale, die neue Gesellschaft derer, die im Achtstundentag bestbezahlte Handarbeit liefern und dann noch in Überstunden, weil sie sich noch ganz ausgeruht fühlen, etliches Luxusgeld sich dazu verdienen. Da ist ein Maschinenführer in einer bekannten Berliner Zigarettenfabrik, der wöchentlich 2500 Mark bekommt, im Monat also etwa 11 000 Mark. Seine erwachsene Tochter verdient monatlich 4500 Mark, sein halberwachsener Sohn nicht viel weniger. Da ist es denn kein Wunder, wenn die Frau in der Droschke zur Markthalle fährt und die ganze Familie für drei Juliwochen ins bayrische Hochgebirge geht - "selbstredend ooch zu die Oberammerjauner". Man trifft so etwas übrigens jetzt in der ganzen Welt. Die Umschichtung ist noch gar nicht zu Ende. Die Valutaunterschiede ermöglichen es sogar, daß schweizerische oder englische oder holländische Arbeitslose - von ihren Unterstützungsgeldern glänzend in Deutschland leben können. Es ist manchmal schwer, die Stände auseinanderzuhalten. Da ist einer Nichte von mir - der Vater ist Arzt - neulich die Freude widerfahren, daß ein "reicher Schwede", der in einer der vornehmsten Pensionen für zwei Monate abgestiegen war, sehr gut bezahlte deutsche Stunden bei ihr nahm. Das junge Ding rechnet und rechnet in glühendem Eifer: da kann man sich ja ein Kostüm, einen Mantel, ein Voilekleid leisten! Vielleicht lädt der fremde Gentleman, für den das Geld Chimäre ist, sie am Ende gar nach Stockholm in seine Familie ein. Oder will die Familie vielleicht ein schlichtes deutsches Mädchen aus akademisch gebildetem Hause nicht haben? Hat sie gar eine deutsche Gräfin schon zur Gesellschaft der Töchter? Aber inzwischen hat das Glücksmärchen ein jähes Ende gefunden. Mein Schwager erzählt mir, seine kleine Eva sei bitterlich enttäuscht. Urplötzlich hatte der "reiche Schwede" abreisen müssen: jetzt beginne die Hochsaison - und er sei in Stockholm Kellner in einem Hotel.

Während so das wunderliche Leben seine Schaumwellenwirft, wird es still um die Kunst. Draußen im Landesausstellungspalast am Lehrter bahnhof "die Große" war sonst um diese Zeit gesteckt voll von Besuchern. So voll wie im Sommer der Palmengarten in Frankfurt am Main. Mit dem Katalog in der Hand stand man vor Bildern und Statuen und sog sie förmlich ein. Halbe Stunden lang saß vor einem besonders eindrucksvollen Kunstwerk auf dem Sofa manche alte Dame und ließ die Stielbrille nicht von den schwärmerisch-feuchten Augen. Draußen im Garten stand meist etwas Monumentales. Noch kurz vor dem Kriege der riesige erzene Achilles, der dann auf die Besitzung des Kaisers in Korfu übergeführt wurde, um später von verlausten Serben besudelt zu werden. Heute hockt, in Stein gehauen, eine erschütternde Gruppe, eng aneinandergeschmiegt, da draußen, ein alter Mann, eine abgehärmte Frau, ein junger knochiger Arbeiter, zwei verschüchterte Kinder: "Die Vertriebenen." Deutsche Flüchtlinge. Deutsches Schicksal. Das ist der einzige wuchtige, bleibende Eindruck, den man hat. Drinnen in den Sälen viel Hübsches und Sauberes, namentlich in den "aus Berliner Privatbesitz" hergeliehenen Stücken, lehrreich insofern, als man daran sehen kann, daß wirklich gekauft doch nur die Bilder und Bildwerke werden, die sich voll Liebe beschauen lassen. Aber in den Sälen hallt es wider, wenn ein Einsamer sie durchschreitet. Oft sind weniger Besucher da als Saaldiener. Die fünf Mark Eintrittsgeld sind heute doch wahrhaftig für Herrn Jedermann erschwinglich. Aber eine tiefe Mutlosigkeit ergreift die meisten vor dem, was heute uns als Kunst geboten wird. In den "akademischen" Sälen rechts, wo es zwar einzelnes Starke und Wundervolle gibt, ein Frauenbildnis von Eduard v. Gebhardt, einen Elch im Hochmoor von Kuhnert und anderes Schöne, sieht es vielfach so herzlich mittelmäßig aus, und in den Sälen links, wo die kunstrevolutionäre "Novembergruppe" sich austobt, schmerzen einen alsbald die Augen, hat man nach einer halben Stunde schon Stirnhöhlenkatarrh und fragt sich wieder einmal: "Bin ich selber verrückt oder sind es diese Künstler?" Wenn die Maler selber es nicht herauskriegten, was sie zusammengepinselt haben, schrieben sie im vorigen Jahre darunter: Bild. Das hat Spott hervorgerufen. In diesem Jahre sieht man nun denselben Salat von grellen Kreisen, Balken, Dreiecken, Wellenlinien und darunter steht: Komposition.

Als sozusagen gebildetem Menschen bleibt einem nur übrig zu erfragen, welchem Ismus zur Zeit die Künstler huldigten. Der Im- und Expressionismus, der Kubismus, der Futurismus also sind Dinge von vorgestern. Wer sie erwähnt, muß so tun, als spräche er von Hofmalern irgendeiens Pharao von Ägypten. Heute nennt man das einzig Wahre den - Suprematismus. Er folgt, sagt die Novembergruppe, dem, was "über" uns ist, nämlich "den Geraden und Kurven des Aeroplans", während der Kubismus sich noch auf den Geleisen der Erde bewegte. Jetzt verstehe ich einigermaßen. Denn Fliegeroffizier bin ich selber gewesen, sogar der an Jahren älteste im ganzen deutschen Heere, der noch über dem Feinde flog. Da hatten wir einmal bei der Rückkehr von einem Bombenflug über Dünkirchen im Morgengrauen daheim in Flandern starken Bodennebel, sahen keinen Flugplatz und auch sonst nichts, rundum war sozusagen nur dampfende graue Waschküche. Aber hinunter mußte man auf alle Fälle. Rrrrums, sause ich unter Krachen in ein kleines Bauernhaus. Balken splittern, Ziegel poltern, in purpurner Finsternis sausen mit Feuerräder im Gehirn: da sah ich im Bruchteil einer Sekunde eine solche "Komposition" wie jetzt in zahlreichen Bilder auf der großen Landesausstellung. Ich fühlte wohl auch so etwas Ähnliches wie die Novembergruppe vor der "Gipfel" benannten Pinselorgie eines der ihren: "Ein brutales Aufwinden zuckender spitzer Körperlichkeit über die weichen runden, sich windenden Farben und Formen in einem vampirhaften Überbewußtsein." Na, denn prost.

Jedenfalls: der Glaspalast ist leer. Um den Kunstjüngernauf die Beine zu helfen, gibt es nur eines. Die Ulap. Die Ulap ist natürlich eines der blödsinnigen neuen Buchstabenrätsel, aus "Universum-Landesaustellungs-Park" herausgezogen, und bedeutet den neuen Rummelplatz, der hier als Zugmittel vor der großen Kunst aufgebaut werden soll. Dann freilich wird der Besuch sich steigern; ist einem in den Sälen etwa vor der "Wöchnerin Europa" übel geworden, einer auf den Operationstisch geschnallten nackten Frau mit Chloroformmaske und aufgeschnittenem Bauch, aus dem das Blut herunterfließt, dann kann man sich gleich danach auf der amerikanischen Riesenschaukel im Garten oder auf dem Teufelsrad erholen. Ich sehe schon, wie die Kunstbegeisterung aller Kindermädchen fortan tropisch wuchern wird. Sie gehen alle zur Ulap. Bei den Saaldienern kann man dann vielleicht den Kinderwagen samt Inhalt gegen Garderobemarke abgeben und derweil mit seinem Schatz draußen bei Musik flanieren. Den Säuglingen schadet die Novembergruppe nicht. Wenn nur die Kinderwagen nicht Feuer fangen! Das ist jetzt ein kostbares Möbel, kaum mehr zu erschwingen. Besonders so ein weißlackierter, denn der ist luxussteuerpflichtig, sagt das Gesetz der deutschen Republik. Man muß ihn also blau lackieren. Blau sind wir häufig, lackiert sind wir alle, sagt ein Kellertreppenphilosoph aus unserer Straße, gießt noch ein Trösterchen hinter die Binde und singt dann traurig seinen Lieblingsrefrain:

"Weeßte, Rieke,
Mit de Republike
Is et mies . . ."

1. Juni 1922 (Donnerstag).


38

Wer kann noch verreisen? - Gebirgstour im Strandkostüm - Heimfahrt-Intimitäten - Ist der Krieg schuld oder ist die Revolution schuld? - Kleinstadtfrieden - Pfingstausflug ins Ausland - "Wenn du einmal eine Braut hast" - Richter Rutherfords Predigt

In einer Bergwerksgesellschaft in Mitteldeutschland wurde vor einigen Wochen das übliche Umlaufschreiben wegen der Urlaubstermine den Angestellten in die Hand gedrückt. Im vorigen Jahre hatten 72 Prozent der Angestellten angegeben, daß sie eine Sommerreise vorhätten; diesmal - waren es 5 Prozent. Vielleicht ist die Zahl nicht typisch. Vielleicht verreisen andere Schichten heute um so mehr. Jedenfalls aber auf kürzere Zeit, als früher im Bürgerstande üblich war. In vielen Fällen hat man einfach gegen die großen die Pfingstferien eingetauscht und ist nur auf diese paar Tage in die schöne Gotteswelt hinausgezogen, mit diesmal ganz besonders aufnahmefähigen Sinnen, weil man am Ende zum letztenmal es sich leisten könne.

So entvölkerte sich auch Berlin. Daß am "dritten" Feiertag blau gemacht wird, ist altes Herkommen in den meisten großen Fabriken; am Sonnabend zuvor geht man auch schon mittags fort, kurz, auch die hauptstädtische Arbeiterschaft hatte die Möglichkeit, dreieinhalb Tage sich weit draußen zu erholen, und ließ diese Gelegenheit nicht ungenutzt. Also nicht etwa nur Meyers im Auto und Müllers im Motorboot zogen los. Der junge Fritz Lehmann, Expedient im Bandagengeschäft, steht am Sonnabend mittag, um in die Sächsische Schweiz zu fahren, in langer, weißleinener Strandhose nebst dito Schuhen und 71/2 Zentimeter hohem Stehkragen auf dem Anhalter Bahnhof; wie er am Sonntag vormittag, nachdem er unter Regenschauern durch das Nadelöhr zum Pfaffenstein emporgestiegen ist, ausgesehen hat, das meldet kein Lied, kein Heldenbuch. Und was auf derselben Tour aus den ebenfalls 71/2 Zentimeter hohen Absätzen der Lackhalbschuhe der Telegraphenassistentin Marielies Schulze und ihrem Crêpe-de-Chine-Kleid geworden ist, das erzählt sie wohl selbst ihren besten Freundinnen nicht. Daß wir doch immer noch posieren wollen! Gut angezogen ist doch immer nur der zweckentsprechend angezogene Mensch. Was für den Tauentzienbummel in Berlin paßt, paßt nicht für den Hexentanzplatz im Harz, und was sich auf der Warnemünder Strandpromenade vortrefflich macht, eignet sich kaum für den Staub in der Jungfernheide.

Im übrigen hat das wechselvolle Wetter - Regen am Sonntag, warme Sonne am Montag und Dienstag - doch alles wieder demokratisiert und gleichgemacht, auf der Heimreise zu dampfenden Menschenbündeln geknüllt, in denen jede Toilette unterging. Parole: "Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!" Da lehnt die Kleine ihren Kopf mit den schweißverklebten Haarsträhnen auf die Schulter des Nebenmannes, der sozusagen um die Ecke sie küßt; ihre eine herabhängende Hand streichelt derweil ihr Gegenüber, die andere streichelt ihr anderer Nebenmann. Es ist so ein bißchen selige Trunkenheit unter all den Heimkehrern. Polygamie neben der Polyandrie; auch daß an einen jungen Mann zwei oder drei Mädels sich liebesdurstig schmiegen, sieht man überall. Bitte, in jeder Wagenklasse. Man sieht es, man lächelt dazu, man träumt. Oder man ist chokiert. Ja, es mag schon stimmen, daß die Schamhaftigkeit bei unseren Jungmädchenblüten heute selten geworden ist. Die aus besten Kreisen kommende Braut des jungen Bankbeamten, die mit ihm und seinen zwei Freunden einen Tagesausflug auf dem Wasser macht, sitzt die ganze Zeit im Badetrikot im Boot und wärmt sich an den Blicken - der beiden Freunde.

"Vor der Revolution war das anders!"

"Nein, vor dem Kriege war das anders!"

Hart prallen auch hier die Meinungen aufeinander, ob die Revolution oder der Krieg an jeglicher Verwilderung schuld sei. Ich meine, die Antwort ist leicht nachzuschlagen. Wie war es denn nach 1815, 1866, 1871? Da fehlten alle die üblen Erscheinungen von heute. Da gab es nicht das riesenhafte Anwachsen der Kriminalität, da machte sich auch nicht diese Laxheit in Sitte und Lebensgewohnheit breit. In neun von zehn Fällen ist freilich "nichts dabei", ist alles ganz harmlos. Aber die jungen Mädchen, die in Flirt und Ungeniertheit mit dem Zeitgeist gehen, tun einem leid, denn der Blütenstaub wird dabei abgestreift - und die Heiratslust der jungen Männer sinkt. Manch einer von ihnen hat heute, namentlich als selbständiger Geschäftsmann, sehr gute Einnahmen und könnte wohl eine Familie ernähren. Aber er liebt das Forsche allenfalls bei einem "Verhältnis", nicht bei seiner zukünftigen Frau, und immer wieder sucht er nach dem schlichten und schamhaften Mädchen alten Stiles, das geheiratet zu werden pflegt.

Über Pfingsten bin auch ich Berlin entronnen. Urplötzlich hatten wir uns davon überzeugt, wie lärmvoll doch die Großstadt sei. Unser Gast im Fremdenstübchen hatte kürzlich nach der ersten Nacht in Berlin erklärt, zum Schlafen komme man kaum, denn unaufhörlich bis zum Morgengrauen tuteten ja die vorüberrasenden Autos. Wahrhaftig? Wir haben das bisher nicht gemerkt, wir hören auch nicht das Kurvengekreisch der Straßenbahn. Aber es mag schon stimmen. Also los, in kleinstädtische Stille! Schon sind wir da, atmen erquickt den Waldesduft und rufen abends im Städtchen: "Nein, dieser köstliche Friede!" Feierabend für abgehetzte Nerven. Wie ein laues Bad umfängt einen die Ruhe. Da: ein Peitschenknall. Wir fahren auf. Nicht doch. Es hat bloß drüben in dem verträumten Häuschen ein Junge aus dem ersten Stock auf die Straße gespuckt, und wir haben das Aufklatschen gehört. Nun ist's wieder still. Die Welt atmet kaum. Dann aber flüstert ein Liebespaar unten im Torgang, und jedes Wort schlägt hart in die Stille. Dann schlurft der Nachtwächter daher. Dann schlägt ein Hund an. Dann rumpelt ein Schubkarren über das Pflaster. Dann hallt die Turmuhr. Dann knarrt drei Häuser weiter ein Hausschlüssel. Unsereins liegt da wie auf Horchposten und findet keinen Schlaf, sondern nur die Einsicht, daß schließlich jeder Ort seine eigenen Geräusche hat und daß jeder Einheimische an sie gewöhnt ist. Abends bei der Heimkehr hatten wir uns über die "törichten Spießbürger" aufgehalten, die ihre Fenster geschlossen hielten, statt die balsamische Luft hereinzulassen. Wir rissen in unserem Gasthofzimmer natürlich sofort alle Fenster auf. Und - simserimsimsim - schon waren ganze Mückenschwärme bei uns! Wo das war? Wo ich überhaupt über Pfingsten gewesen bin? Ich wollte in einen der neuen Staaten Europas mit unaussprechlichem Namen ausfliegen, in den nächsten, am billigsten erreichbaren; also ging ich in die Gegend, die früher Böhmen hieß und die heute Tschechoslowopolackei oder so ähnlich genannt wird. Im Elbsandsteingebirge und im Egertal ist alles hier noch so ganz und gar deutsch wie früher. Der Eintritt in das Land ist auch kinderleicht, denn auf dem Dampfer bekommt man ohne weiteres für 2 Mark den Aufenthaltsschein für 48 Stunden. (Eine Randbemerkung: die Tausende, die zu Pfingsten hinübergingen, natürlich gänzlich undurchsucht, hätten Milliarden von Kapital ins Ausland verschieben können; unsere Gesetzgebung ist also für die Katz.) Nur nimmt heute jedermann reichlich Mundvorrat mit, während er sich früher so auf die österreichische Küche freute, auf Ochsenfleich mit Krautsalat, auf ein Backhändl, auf die Mehlspeisen, auf das Pilsener Bier. Heute gilt die republikanische deutsche Mark gegenüber der tschechischen Krone zu wenig. Ich habe drüben in diesen Tagen überall Berliner getroffen. Aber die Speisekarte - von 38,50 Mark füe ein belegtes Brotschnittchen bis zu 264 Mark für eine Portion Gänsebraten - ließ sie blaß werden, und still und ergeben sog eine fünfköpfige Familie an einem einzigen Glase böhmischen Bieres. Alle Wirte klagen. Der Besuch läßt nach, und man verdient nichts an den deutschen Valutasträflingen; die paar Schieber mit gespickter Brieftasche spielen prozentual gar keine Rolle.

Wieder in Berlin. Durch das Brausen der Metropole geht ein Summen. Fast jede Maid, deren Beruf oder Neigung sie an die Bar oder Diele bannt, summt es, aber auch die Tagegeister summen, die Plagegeister summen, die Straßenfeger, der Schutzmann, die Rotundenfrau, der Kommerziensohn, der Filmdirektor, der Abgeordnete, der Betriebsrat - und im Deutschen Künstlertheater singt laut schon das gesamte Logenpublikum mit:

"Wenn du einmal eine Braut hast,
Der du immer sehr vertraut hast,
Und du siehst sie mit 'nem andern,
Laß se wandern,
Laß se wandern!"

Das ist wie die Blütenpracht nach dem ersten warmen Sommerregen auf einmal über ganz Berlin ausgestreut, obwohl die Uraufführung der "Ersten Nacht" von Urban und Zerlett - mit der Musik von Hugo Hirsch und seinen verschiedenen Vorempfindern - erst dieser Tage stattgefunden hat. Noch eine Woche, und dann sind die Grammophonplatten fertig; noch eine, dann drehen alle Leierkastenmänner das Lied; und in der dritten trällern es schon die Geschäftsreisenden in Flensburg und Beuthen, in Memel und Konstanz. Die Schlagerseuche hat noch bessere Siebenmeilenstiefel als die Grippe. Jedenfalls aber haben wir "die" Sommeroperette dieses Jahres geschafft. Der cand. jur. Max Knölle, der am nächsten Tage ins Referendarexamen steigen soll, läßt sich breitschlagen, in die Flamingodiele zu gehen; es ist die "erste Nacht" seines Lebens, die er in einem solchen Lokale verbringt. Dort spielt er, schnell beschwipst, bald die von ihm erbetene Rolle des wilden Lebemannes, bald die eigene des soliden Büfflers, aber immer an der falschen Stelle; Bräute, Bardamen, Schwiegermütter, Staatsanwälte, Kaschmirprinzen werden verwechselt, vertauscht, geküßt, gekickst, versinken hinter Klappsofas und Falltüren, eine lustige Filmparodie wird eingelegt, und der Rest ist Gesang, was man so Gesang nennt, und das Beintrillern vor der Rampe, Tanz genannt. Max Adalbert, der den cand. jur. Knölle gibt, hat Humor, Lilli Flohr, die von allen Konfektionsgeschäften als Mannequin begehrte Soubrette, hat keine Stimme. Aber das macht nichts. Auch wirkliche Barmaids habe oft eine leichte Jodkali-Trübung in der Kehle, einen etwas heiseren Ton. Wenn nur die Kniekehlen federn! Für alle die Ausländer, die vom Edenhotel herüber ins Deutsche Künstlertheater kommen und ohne Wimperzucken ihre 3oo Mark für den Platz bezahlen, ist diese Sommeroperette wie geschaffen. Aus dem Textbuch schneiden sie sich ein anderes Liedchen aus, um es bei Gelegenheit, falls man sich mündlich nicht so schnell verständigen kann, vorweisen zu können:

"Schmeiß doch deine Kleider weg,
Denn die haben keinen Zweck;
Wenn er uns erst packt,
Der wilde Takt,
Dann tanzt man nackt!"

Das hört hier an Ort und Stelle nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Berliner; die eigentliche Verbreitung erfolgt an wohlfeilerer Stelle, wo ein Klavier oder eine Laute oder eine Geige zur Begleitung genügt, schließlich in jedem Kaffeehause. In unsere Theater strömen von Tag zu Tag mehr fremde Reisende. Laß se wandern, laß se wandern! Besonders in die Operette. Wir haben meist nur wenig daran verloren.

Im übrigen sorgt schon Amerika dafür, daß wir nicht zu oberflächlich und zu unmoralisch werden. Der Bankmagnat Frank Vanderlip hat es ja gesagt: "Europa braucht Amerikas moralische Hilfe. Es braucht eine Erneuerung des Geistes." In dieser seelischen Mission kommen Leute wie der Richter Rutherford zu uns, der jetzt den Berlinern erzählt hat: "Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben!" So etwas in faustgroßen Buchstaben an den Anschlagsäulen zieht mächtig. Es kommen die Mühseligen und Beladenen, um von der Hoffnung auf das Tausendjährige Reich sich neu zu nähren. Es kommen aber auch sehr viel sogenannte späte Mädchen, die nicht immer von Sorgen beschwert sind, mitunter sogar über beträchtliche Besitztümer verfügen. Sie sehnen sich nach Mystik. Mystik ist die Erotik der Unbegehrten. Dieser hagere Rutherford entwickelte seine biblischen Zahlenreihen, die für 1926 das Himmelreich auf Erden verhießen, trocken und nüchtern, mit der unbedingten Selbstverständlichkeit des Reformierten, des gottseligen Puritaners, des Pilgervaters. Im Grunde ist dies eine Mystik ohne Gott. Gott ist hier der souveräne Verstand, der in der Bibel die Regenwürmer der Zahlenberechnungen findet. Und dies alles schwunglos auf englisch, Satz für Satz von einem Dolmetscher übertragen. Nur einmal etwas Wärmeres auf deutsch. Die Zeit komme, wo es keinen Untergang mehr gäbe, "uo män känn sing, Doitsländ über aollis!" Da gab es den ersten schüchternen Beifall. Man vergaß, daß die Amerikaner aus demselben dürren Verstandesfanatismus heraus den Krieg gegen uns gemacht haben. Den späten Mädchen glänzten die Augen. Sie drängten sich nachher um den Propheten. Die Mühseligen und Beladenen aber gingen ungetröstet vom Judge Rutherford wieder heim. Und sahen abends draußen den Dollar deutsche Unmoral erkaufen.
8. Juni 1922 (Donnerstag).


39

Dienstreisen einst und jetzt - Schiffers Zylinder - Demokratische und sozialistische Exzellenzhühner - Frau Siering - Die neue Volksoper - Autorennen - Rote Wandervögel

Bei dem Wort "Dienstreise" verklären sich die Gesichter. Einmal hinaus aus dem täglichen Amtseinerlei, einmal was anderes sehen, einmal ohne eigene Unkosten in die Ferne: das machte schon im alten kaiserlichen Deutschland Laune. Nur war dieses alte Deutschland gar zu sparsam. Major Groß, der Kommandeur des Luftschifferbataillons, wurde einmal dienstlich nach Frankreich geschickt, um mit der Luftfahrtindustrie aller Länder Fühlung zu nehmen, die ersten Wettbewerbe der Flugzeuge sich anzusehen und daheim darüber zu berichten. Tagegeld: 25 Franke! "Ich bitte Sie, was fängt man damit in Paris und Monako an?" sagte mir Groß. " Ich habe natürlich jede Einladung zu einem Frühstück ablehnen müssen, denn ich konnte sie ja doch nicht erwidern!"

Das ist jetzt im neuen Deutschland ganz anders geworden. Die Regierung (das heißt, unsere Parlamentarier) ist gegenüber ihren Abgesandten (das heißt, unsren Parlamentariern) lange nicht so knickerig. Da wird der demokratische Abgeordnete Schiffer für drei Wochen nach Genf geschickt, um hier an der schweizerischen Riviera über die Formalitäten der Abtretung Oberschlesiens zu verhandeln. Tagegeld: 100 Franken! Von dieser Summe konnten unsere Delegierten bei recht gutem Leben durchschnittlich nicht viel mehr als die Hälfte ausgeben, sie kehren also, in deutsche Währung umgerechnet, mit "Ersparnissen" von rund 60 000 Mark von dem dreiwöchigen Ausflug zurück. Das lohnt sich doch schon. Um ein Haar hätte Herr Schiffer, der Führer der deutschen Abordnung, aber noch eine unnütze große Ausgabe gehabt. Der schweizerische Diplomat Dr. Planta wurde in Genf beerdigt. "Da muß ich wohl im Zylinder hin," sagte unser Reichtagsdemokrat und temporärer Reichsdiplomat, "aber ich habe keinen hier - ob mir wohl der Hotelmanager einen pumpt?" Das wurde Herrn Schiffer von den jüngeren Mitgliedern der Delegation ausgeredet. Er solle sich lieber einen Zylinder kaufen. Schließlich kriegte er doch einen gepumpt, nämlich in einem Hutgeschäft. Da dies zu den dienstlichen Auslagen gehört, wird er hoffentlich nicht verfehlt haben, die Leihgebühr der deutschen Reichskasse anzuschreiben. Wozu wären denn sonst die Dienstreisen da? Und unsere Republik ist großzügig.

Etwas scheel sehen in Berlin die preußischen Abgeordneten zu diesen unbegrenzten Möglichkeiten der Reichstagsmitglieder empor. Nun ja, man macht mal Autofahrten von Hannover nach Berlin, oder man schießt Elche in ehedem königlichen Jagdrevieren. Aber schon nach Oberammergau ist nur der Reichstag zu einem Gratisbesuch eingeladen (man hofft, daß im Sonderzug auch für Frau und Tochter Platz sein wird), und nur er schickt seine Leute bis ins Ausland. Da werden denn die derzeitigen preußischen Machthaber leicht mißgestimmt und grantig. Der sozialdemokratische Abgeordnete Siering ist beim letzten Kabinettswechsel an Stelle des Demokraten Fischbeck Handelsminister in Preußen geworden und in das ministerielle Palais eingezogen. Früher hatte er am Wedding in Berlin N. eine Zweizimmerwohnung; jetzt im Regierungsviertel einen Saal, 21 Zimmer und viele Nebenräume. Die Familie des Vorgängers Fischbeck hat, bis sie eine neue Behausung findet, noch 3 Zimmer dort inne. Nun paßt das Sierings nicht. Es gibt Auseinandersetzungen. Vor allem soll Frau Fischbeck ihre Hühner aus dem Stall im Ministerhofe entfernen. "Die Hühner stinken!" sagt Frau Siering. Nur demokratische Hühner stinken. Frau Siering hat auch Hühner. Sozialistische Hühner stinken nicht. Der Versuch, die demokratischen Hühner aus dem Stall zu entfernen und in Frau Fischbecks Küche zu treiben, mißlang dank der Wachsamkeit des demokratischen Hahns und der Energie der Frau Fischbeck, aber dafür haben Sierings den Schlüssel des Fischbeckschen Abortes der eigenen Dienerschaft gegeben. Weddingmanieren im Ministerviertel. Es ist hohe Zeit, daß auch die preußischen Parlamentarier mit 100 Franken täglich ins Ausland geschickt werden; dann gibt es sicherlich nicht so verärgerte Stimmungen.

Man sollte annehmen, daß schon der reichliche Genuß von Theater und sonstigem Vergnügen mildernd auf die Gemüter der neuen Herrschaften wirken müßten. Im Metropol gab es neulich eine Modenschau, veranstaltet von den ersten Konfektionshäusern. Sierings - wozu wären sie sonst Handelsminister - hatten dazu Logenfreiplätze. "Nächstens jehn wa auch in die Oper," sagte Frau Siering zu einem anderen Logengast, "ich jeh mit mein Mädchen hin." Der Logengast fragt: "So, so - wie alt ist denn Ihre Kleine?" Und bekommt von Ihrer Exzellenz der Frau Handelsminister die Antwort: "Quatsch, Kleine - ich mein' mein Dienstmädchen!" Hoffentlich sind beide auch wirklich hingegangen und haben sich gemeinsam mit ihren kontrapunktischen Kenntnissen ausgeholfen. Jedenfalls ist dieses Handinhandgehen nett, sehr nett. Es gibt heute viele Arbeiter - die Berliner Bierkutscher haben zur Zeit 69 000 Mark festen Jahreslohn und außerdem noch Provision - mit einem derartigen Einkommen, daß ihre Gattin die Gnädige spielen und sich eine Putzfrau halten kann, aber diese Putzfrauen beklagen sich oft, daß zwar das Essen gut sei, daß aber die "gute Behandlung" fehle. Solche Klagen hört man ja auch über die neue Bourgeoisie anderer Länder. Da ist es also wirklich besonders nett, was Frau Siering sich vorgenommen hat. Zumal, da die große Oper sonst nicht in den Umkreis gehört, der dem Verständnis von Hinz und Kunz erschlossen ist.

"Quatsch keene Oper!" lautet eine bekannte Berliner Redensart, die gegenüber Leuten gebraucht wird, die eine lange, umständliche Erklärung abzugeben sich gedrängt fühlen. Jetzt muß die Oper ins Volk und das Volk in die Oper. Der Reichspräsident Fritz Ebert hat sich selbst "an die Spitze der Bewegung gestellt", wie man in solchem Falle von hohen Herren zu sagen pflegt. Zu einem Festabend für die Errichtung einer Volksoper, den Ebert durch seine Anwesenheit verschönen sollte, ergingen Einladungen, auf den Namen lautend, in die Wandelhalle des Reichstages. Es wurde dafür geworben, daß das Publikum Anteilscheine für die Volksoper zeichne und Darlehen dafür gebe. Die frühere königliche Sommeroper, das "Krollsche Etablissement" auf dem Königsplatz, mit dem Moltke-Denkmal davor, ist dazu ausersehen. Vorläufig sieht man nur das verwahrloste, alte, unbenutzte Gebäude, einen bereits abgerissenen Vorbau und viel Schutt an der Front. Aber nach dem Garten zu ist das Bühnenhaus schon bis unter das Dach gediehen. Ursprünglich waren 12 Millionen Mark für den Umbau veranschlagt. Jetzt rechnet man damit, daß mindestens noch 30 Millionen bis zur Fertigstellung verbraucht werden. Die Volksbühne am Bülowplatz ist unter Friedrich Kayßler wirklich zu einem Tempel guter Kunst geworden. Wenn die Volksoper am Königplatz in ähnlich geniale Hände kommt, soll's uns freuen. Zwar das, was die Roten "das Volk" nennen, wird nicht die größte Besucherzahl stellen, dieses Volk liebt mehr die Operette. Aber die Enterbten von heute, die Angehörigen des gebildeten Mittelstandes, die sich einen Platz in der Staatsoper nicht mehr gönnen können, werden dankbar hierher pilgern.

Man sieht diese Enterbten in der Öffentlichkeit kaum, darum glauben auch die fremden Kommissionen nicht an ihre Existenz. Ein Franzose etwa, der aus dem stagnierenden Paris herkommt, sieht hier nur Bewegung, Arbeit, Leben, Reichtum. Zu dem großen französischen Autorennen in diesem jahre fanden sich kaum zehntausend Besucher ein. Das unserige am vorigen Sonntag zählte weit über hunderttausend. Und jeder kleine Steppke ein Sachverständiger, der alle Rekorde kennt, über Kolbenbruch und Vergaserbrand orakelt, die verschiedenen Magnetzündungen abschätzt und seine Tante - unter dem Regenschirm, denn es goß - über die führenden deutschen Marken unterrichtet. Wie ist doch alles so schnell gekommen! Noch haben wir den Klang im Ohr: "Muckepicke, muckepicke, muckepicke, muk-ke-pik--ke . . ." Und dann stand das Beest. Ich kann mich noch des Aufsehens erinnern, das einst eine Zeitungsnotiz erregte: irgendwo in Sachsen habe, wahrhaftig, ein Auto ganze 30 Kilometer ohne eine einzige Panne zurückgelegt. Man staunte. Nein, so was. Und heute sausen die Kraftwagen quer durch ganz Europa von einem Ende zum anderen, und in Amerika gibt es Städte, in denen jeder vierte Erwachsene sein Kleinauto besitzt, und am Sonntag in Berlin haben auf der chaussierten Grunewaldstraße, die keineswegs etwa eine zementierte Rennbahn ist, die siegenden Wagen eine Stundengeschwindigkeit von 135 Kilometern erzielt, was noch kein Schnellzug zuwege bringt. Die Hauptsache: das waren keine eigens gebauten Rennmaschinen, sondern Serienwagen, wie sie in den Fabriken zu Hunderten für die Käufer hergestellt werden. Beileibe keine hundertpferdigen. Nein, die stärksten hatten nur ihre 10 Pferdekräfte! Wiederum staunt das Ausland. Deutschland braucht bloß Atemluft und Freiheit, dann leistet es schon was, nicht seine leider wenig erfolgreiche Regierung, aber seine Industrie, seine Technik, seine Wirtschaft.

Es fragt sich nur,wie lange wir den Atem behalten. Rußland, das einst halb Mitteleuropa mit Brot versorgte, hungert heute. Österreich, das einst als Phäakenland galt, hat heute hohläugige und verzweifelte Bewohner. In dem einen Staate haben die Kommunisten, in dem anderen die Sozialdemokraten das Heft in der Hand, hier wie dort konnte genügend experimentiert werden. Bei uns hält noch, nur noch, die Wirtschaft den Staat zusammen, aber ihr Betriebskapital wird, infolge dauernder staatlicher Abzapfung, immer knapper und ihr Arbeiternachwuchs immer undisziplinierter. Die Umgegend von Berlin wimmelt Sonntags von "roten" Wandervögeln mit entsprechenden Fahnen. Da wird egalweg

"Wir sind die Arbeiterjugend,
Das Pro-le-ta-ri-at!"

gesungen, da wird jeder Entgegenkommende mit "Frei Heil!" angeödet, da wird abends - es sind immer junge Leute beiderlei Geschlechts - "neue Moral" praktisch demonstriert, da kriegt jeder entrüstete Bourgeois seine Keile, da wird den "antikollektivistischen" Bauern geklaut, was sich klauen läßt. Wer diese Schilderung für übertrieben hält, dem sei aus der Freiheit, dem Organ der Unabhängigen, nachstehende Lesefrucht überreicht: "Diese Burschen, meistens leider Proletarierkinder, vergällen durch ihr felgelhaftes Benehmen, durch ihren Vandalismus, durch ihre jedem Schamgefühl widersprechenden, absichtlich laut geführten Unterhaltungen jedem echten Wanderer die Freude an der Natur, jedes Tier muß gequält, jeder Vorüberkommende von dieser frühreifen und frühverdorbenen Sippe verhöhnt werden: auf zur nachhaltigen Selbsthilfe!"

Auf diese Hilfe wird man lange warten können, wenn sie von den Roten kommen soll.
15. Juni 1922 (Donnerstag)


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Glossen 40 - 42

© Karlheinz Everts