"Rumpelstilzchen"

"Was sich Berlin erzählt"
(Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922
und
Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 34 - 36
11. bis 26. Mai 1922


34

Knutschen in Uniform - Neue Hauptleute - Die Sportlehrer in Plötzensee - Valuta-Restaurants - Café "Islam" und Café "Bosporus" - Frau Enver Pascha - Grabbes "Napoleon" bei Jeßner

Man muß nur die Augen aufmachen, dann sieht man lauter "Errungenschaften" der neuen Zeit. Wurde früher nicht ständig darüber geklagt, daß unser Offizierkorps zu exklusiv sei? War es nicht empörend, daß das Schicksal einer neuen Weinstube davon abhing, ob "man" dort in Uniform hingehen könne oder nicht? Wurde das Benehmen der Herren nicht stets so kontrolliert, als seien sie unmündig? Damit ist es nun zu Ende. Wir haben die neue Freiheit, und wer, wie gesagt, die Augen aufmacht, der sieht, wie das ausgenutzt wird.

Da steht ein aktiver Hauptmann in Uniform am hellen lichten Tage im Toreingang eines Hauses im Berliner Westen, knutscht sich mit einem Dienstmädchen ab und schwört ihm ewige Liebe und Treue. Mir wurde - vor Glück natürlich - fast schwindlig. Ich dachte nach: Hauptmann - also schon vor dem Kriege unter dem Kaiserreich mindestens Leutnant - also gänzlich umgelernt! - neuer Typus - Hurra, Hurra, Hurra! Oder Hoch, Hoch, Hoch! oder Nieder, Nieder, Nieder! Ich kenne mich mit der neuen Etikette noch nicht so ganz aus. Aber der Fall interessierte mich so, daß ich ihm nachspürte, und da erfuhr ich denn, was bisher noch gar nicht bekannt geworden ist, daß es heute in der Reichswehr Hauptleute gibt, die - erst 1918 Offizier geworden und kürzlich unter Überspringung der Oberleutnantscharge zu Hauptleuten ernannt sind.

Das sind die vom neuen Stil. Ein ehenaliger Sergeant von den Kürassieren ist heute Pionierhauptmann; wenn ein Brückenschlag von ihm verlangt wird, kriegt er den Zungenschlag. Jetzt verstehe ich es auch, warum ein lieber alter Kamerad aus dem Felde, ein braver Feldwebel, dem ich noch zum Leutnantspatent herzlich gratuliert habe, mir seit einiger Zeit nicht mehr schreibt. Er ist auch plötzlich Hauptmann geworden. Und da geniert er sich vor mir. Unter dem alten System gab es ja auch freie Bahn für den Tüchtigen, und ein ehemaliger mecklenburgischer Hütejunge, Reyher, wurde schließlich sogar General und Chef des preußischen Großen Generalstabes. Aber er hat den Oberleutnant nicht übersprungen. Und nachdem er wegen Tapferkeit vor dem Feinde zum Offizier befördert worden war, hat er zunächst einen mehrjährigen Urlaub bekommen, um die notwendigen Schulkenntnisse nachzuholen. Auch das scheint heute nicht mehr nötig zu sein. Hurra, Hurra, Hurra. Ich kann mich aber immer noch nicht ganz in die neue Freiheit und ihre Sitten hineinfinden. Wenn ich nun nächstens auf unserer Küchentreppe einen aktiven Hauptmann antreffen sollte, beim Schnäbeln mit unserer Ottilie - muß ich ihn dann, samt unserer Ottilie, in den Salon bitten und ihm eine meiner letzten Bernstorffs und ihr ein paar Knusperchen anbieten? Die Sache ist nicht so einfach. Es müßte ein republikanisches Handbuch des guten Tones herausgegeben werden, damit man sich darüber belehren kann. Aber , wer weiß, vielleicht ist es dann schon anders. Die Zeit geht wirklich im Sauseschritt.

Es ist einfach fabelhaft. Schelte mir einer noch auf die Ideenlosigkeit und Unfruchtbarkeit der neuen Zeit! Er soll es mit mir zu tun kriegen. Diese Zeit hat schon ihre Ideen und ihre Früchte, nur kommen jene nicht immer in die große Masse und reifen diese meist nur im geheimen. Auch Berlin hat so seine lauschigen, geheimen Winkel. Da haben wir beispielsweise im Norden Plötzensee, wohin sich bisweilen manche Mitbürger auf eine Weile zu beschaulicher Ruhe zurückzuziehen pflegen. Nicht um im See nach Plötzen zu angeln. Die gibt es da nicht mehr. Wohl aber dicht dabei einen großen Gebäudekomplex, die Strafanstalt. Da wuchern die neuen Ideen, da läßt die neue Zeit ihre Früchte reifen. Seit einigen Monaten wird den Gefängnisinsassen von zwei Studenten der Hochschule für Leibesübungen - regelrechter Sportunterricht erteilt, um, wie es in dem offiziellen Bericht heißt, "Freude in das Leben der Freudlosen" zu bringen, sie durch Sportbetätigung zum Gemeinsinn und zur Gesetzesbeachtung zu erziehen. Diese Arbeit sei "praktischer Sozialismus" und werde hoffentlich recht bald zur Anstellung eines etatmäßigen Gefängnis-Sportlehrers führen. Springen und Schnellaufen kann man ja auch nachher brauchen, wenn man den grünen Greifern entwischen will. Trockenschwimmen ist schon weniger beliebt. Aber den Knacker-Maxe beim Diskuswerfen und den Chaussee-Emil beim Kugelstoßen solltet ihr erst sehen! Dieser Kohl ist nicht einmal auf eigenem Miste bei uns gewachsen. Er ist exzentrisch-amerikanisch. Aber auch drüben in der Neuen Welt hat man noch keinen schweren Jungen durch Fußballspiel wirklich kuriert; selbst die Meisterschaft von Sing-Sing bewahrt letzten Endes nicht vor dem elektrischen Hinrichtungsstuhl.

Am meisten Arbeit machen unserer Polizei die ausländischen Verbrecher. Berlin ist heute schon babylonischer als früher Hamburg und Marseille, Moskau und London. Außerdem ist eine gewisse Wechselwirkung da: je mehr Deutsche von ausländischen Spitzbuben bestohlen und beraubt werden, desto mehr Ausländer fallen auch deutschen Gaunern zur Beute. In den "vornehmsten" Pensionen wird am meisten geklaut, das erzählen einem täglich die Anschlagsäulen. Nach Möglichkeit bleiben ja die Ausländer schon unter sich. Im Mercedes-Restaurant, Unter den Linden, dem protzigen Enkelkinde von Dressels Weinstuben, die in keinem Berliner Roman der achtziger Jahre fehlen durften, hört man kaum mehr Deutsch. In der Barberina-Diele am Zoologischen Garten, dieser Rokoko-Koketterie, die sich in ihren Anzeigen als Berlins "letzte Errungenschaft" bezeichnet, spricht sogar der Ansager englisch und führt eine Tänzerin als "greatest american attraction" ein. In solchen Lokalen verkehrt freilich nur die Edelvaluta; unsereins nur gelegentlich zu Studienzwecken.

Viel bescheidener als die Angelsachsen sind in Berlin die vielen Türken, obgleich auch ihre Valuta im Vergleich zu der deutschen ihnen allerlei Sprünge wohl erlaubte. Die Besoldung der türkischen Offiziere und Beamten ist immer kärglich gewesen. Heute steht aber das türkische Pfund so gut, daß ein junger Hauptmann aus Konstantinopel, den ich dieser Tage hier traf, zurzeit in Berlin monatlich zehntausend Mark zu verzehren hat. Er soll für die Angora-Regierung Raupenschlepper kaufen, Tanks mit Radgürteln. Dabei fällt ja auch wohl noch was ab. Aber der Mann lebt - seine kränkliche Frau hat er mit hier - ganz still und zurückgezogen. Allenfalls gehen die Türken in ihre Kaffeehäuser - "Islam" in der Passauer Straße, "Bosporus" in der Lutherstraße -, um nach heimischer Art stundenlang Kef zu machen (was mit unserem "Dösen" nur äußerlich verwandt ist) oder zu debattieren oder dem Brettspiel zu huldigen. Dazu gibt es Café türk, schwarzen, gleich beim Aufwallen gesüßten, mehlfein gemahlenen und als Brei in der Tasse mitkredenzten Kaffee. Dazu Baklawa oder sonst einen türkischen Kuchen; aber meist nur hiesiges, europäisches Gebäck, kaum je Kaimak oder andere herrliche Spezialitäten der Zuckerbäcker Mohammeds. Dann natürlich auch "weißen Kaffee", wie man den Raki, den mit Fenchel versetzten türkischen Weinbrand aus Koranrücksichten schonend benennt. Hier und da kommen auch Deutsche in diese kleinen Kaffeehäuser und sehen zu, wie die Türken blitzschnell rückwärts schreiben, wenn sie eine Karte nach Hause schicken wollen. Auch deutsche Mädchen, die den Unterschied zwischen Mark und Pfund kennen, von den Türken kaum beachtet werden, desto mehr aber von den Levantinern und namentlich den Spaniolen aus Saloniki und Umgegend. Niemals wird man eine türkische Frau hier treffen. Sie gehört ins Haus, in die Pension, höchstens ins Konzert oder ins Theater, weil sie nun mal im Abendlande weilt, aber nicht in die Gesellschaft fremder Männer. Daheim in Konstantinopel sind ja sogar die Straßenbahnwagen in zwei Abteilungen geschieden: vorn die Frauen und Kinder, hinten die Männer. Dazwischen ein Friesvorhang, auf dem in den letzten Kriegsjahren die Kleiderläuse exerzierten. Aber "man" fuhr ja auch nicht mit der Starßenbahn. Unglaublich viel Türkinnen der besten Stände weilen augenblicklich in Berlin. Auch Enver Paschas Frau, die kaiserliche Prinzessin, mit ihren zwei Kindern. Gelegentlich taucht ihr Mann, der große Phantast und Bandenführer, in Berlin auf. Dann ist er in Aserbeidschan an der persischen Grenze. Oder in Moskau. Oder in Afghanistan. Oder in Buchara. Er denkt immer noch, er könne einmal das britische Weltreich aufrollen. Am Bosporus wohnte ich eine Zeitlang im Sabah Eddin Kjöschk, auf einem Berge, der noch 30 Meter höher war als der nächste, auf dem sich Enver Paschas Kjöschk befand. In den Park dieser Sommervilla rollt eines Tages Envers Auto. Darin seine Frau nebst Gesellschafterin, der Eunuch, der Chauffeur. Die drei ersten steigen aus, der Chauffeur braust weg zur Garage. Und nun geht die kaiserliche Prinzessin, Frau Enver Pascha, nicht erst ins Haus, sondern gleich auf den Rasen, um dort - sich zu erleichtern. Der Eunuch steht dabei. Das tut nichts. Er ist ja kein Mann. Außerdem ist das Gesicht der Herrin tief verschleiert. Und das ist das einzige, was man nicht zeigen darf. Alles andere ist nicht so schlimm. Als Enver nocht nicht Pascha, sondern Bey war, als er in Berlin lange vor dem Kriege als türkischer Militärattaché weilte, liefen ihm in Gesellschaften die Berliner Damen nach. Der stattliche, ganz untürkisch straffe Mann bekam eine Liebeserklärung nach der anderen. Er war entsetzt. Seine ganze Begeisterung für Deutschland war am Scheitern. So geht es noch heutigen Tages manchen Türken. Sie halten uns für verworfen und abgrundschlecht, sie atmen erst wieder auf, wenn der Friede ihrer eigenen Familie sie umfängt, und sie können es nicht fassen, wie bei uns der lüsterne Schwatz vom "Haremsleben" aufkommen konnte, obwohl es ein solches in dem Sinn, wie Zigarettenschachteln und Tanzoperetten es uns aufzeigen, drüben gar nicht gibt.

Sie kennen "ihr" Deutschland gar nicht wieder. Jenes Deutschland, von dem sie glaubten, ihm gehe die Freiheit über das Leben. In allen Theatern plätschert es seicht. Immer wieder französische Importen. Gelegentlich wagt sich eine Bühne an die große vaterländische Historie, aber dann gibt es meist ein Unglück, denn die Grundstimmung dafür ist eben nicht da. Leopold Jeßner, der vom esprit d'escalier besessene Intendant des Staatstheaters, bringt uns jetzt Grabbes "Napoleon", selbstverständlich wieder mit der durchgehenden Treppe quer über die ganze Bühne in allen 5 Akten, in allen 13 Bildern. Auf dem Markt zu Paris: die Treppe. Im Bourbonen-Saal: die Treppe. Auf Elba: die Treppe In der Schlacht von Waterloo: die Treppe. Man sieht gegen den gelben Himmel gelegentlich gute Schattenrisse. Das ist aber auch alles. Das übrige ist hölzernes Marionettentheater. Napoleon brüllt, Front zum Publikum; Blücher brüllt, Front zum Publikum. Links und rechts ein Dutzend Soldaten, Front zum Publikum. Bum-bum! Drei fallen um. Bum-bum: Drei fallen um. Bum-bum: Drei fallen um. "Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht." So etwas Lächerliches, Unbeholfenes, als ob es nie die Meininger gegeben hätte, als ob nie Max Reinhardt gelebt hätte, sieht man doch heute nicht einmal mehr in Kyritz an der Knatter. Das ist eine Vergewaltigung, für die man noch außerdem sein gutes Geld bezahlen muß. Wie die Kritik in der Malerei uns den Kubismus, den Expressionismus, den Futurismus aufzwingen wollte, so sollen wir jetzt in der Manie und der Manier exotischer Bühnenleiter ersticken. Es wird nur noch mit Tricks gearbeitet. Unser Staatstheater ist nicht mehr zur Erhebung der Menge da, sondern zur Verblüffung der Nurästheten. Es glaubt seine Aufgabe erfüllt zu haben, wenn es Stoff zum Debattieren gibt. Das mag noch eine Weile so gehen; eine Weile unterhält man sich in den Salons über die "Auffassung" Leopold Jeßners, aber schließlich will man doch Grabbe, Schiller, Hebbel, Shakespeare selber genießen, will man doch ihre Auffassung auf sich wirken lassen. Wie lange der heutige Zustand noch dauern wird, weiß ich nicht. Aber die Götzendämmerung naht. Man glaubt nicht mehr an die nachrevolutionären Autoritäten, weder in der Kunst, noch in der Politik.
11.Mai 1922 (Donnerstag).


35

"Wenn Kalkulators . . ." - Im Blütenrausch - Bronnens "Vatermord" im Deutschen Theater - Soll man Skandal machen? - Eine achtjährige Tänzerin - Isadora Duncan rediviva - In den Wohnzimmern des Kaiserpaares - Prinz Wilhelm und Louis Ferdinand

Die alten Bräuche versinken in dem steinernen Meer der Großstadt. In Naumburg mag man noch das Hussitenfest feiern, in Heidelberg mit "Schri schra, schro, de Summertag is do" den Popanz Winter verbrennen - aber in Berlin ist der einst berühmte Stralauer Fischzug für immer dahin.Auch das bekannte Schild in Ausflugsorten "Hier können Familien Kaffee kochen", das den damit ausgezeichneten Gartenlokalen einen Riesenbesuch brachte, schwindet mit der alten Behäbigkeit immer mehr. Nur eins läßt sich der Berliner ebensowenig rauben wie der Münchener seinen alljährlichen Salvatorrausch: das ist der Umtrunk in Werder am ersten richtigen Blütensonntag des Jahres. Nun liegt er diesmal hinter uns. Allein die Eisenbahn hat über 44 000 Fahrkarten nach Werder verkauft. Ungezählte andere Tausende sind nur bis Potsdam gefahren, sind weiter durch das junge Laub des Wildparks gewandert und haben sich dann zu Wasser nach Werder übersetzen lassen. Weitere Tausende sind aus allen Richtungen der näheren Umgebung hingeströmt. Wir haben beinahe den Rekord von 1906 gebrochen, was die Quantität des Besuches angeht, und sicher alle Rekorde, die über die Qualität des Rausches notiert sind, denn auch der Obstwein von 1921 ist ein Tausendsassa. Im Grunde ist der herkömmliche Ausflug zur Baumblüte nach Werder das Fest des Mittelstandes geblieben. Es ist so wie in ganz alten Zeiten, wo in diesem Kreise "der Herr Kalkulator" noch als das Feinste galt und wo lange Reihen Seliger, alle untergefaßt, unter dem ständig wiederholten Gesange einherschwankte:

"Wenn de Kalkelatersch in de Boomblüte ziehn,
Ziehn de Kalkelatersch in de Bommblüte hin;
Leicht wird das Herz und froh der Sinn,
Wenn de Kalkelatersch in de Bommblüte ziehn!"

Schon zu Zeiten Jettchen Geberts, die Hermann ja besonders liebevoll schildert, war es so. Auch damals schon war "Boomblüte!" der Schlachtruf, unter dem selbst das sonst scheue junge Bürgermädchen zur Attacke auf Erdbeerwein, Johannisbeerwein, Stachelbeerwein, Brombeerwein losging und nicht als unmädchenhaft galt, wenn es dabei sehr forsch wurde. Auch heute noch sieht man im ganzen Jahre nicht so viele purpurrote Jungmädchenwangen und verwühlt wehende Haarsträhnen in Berlin, als an einem solchen Sonntag spät abends oder auch am lichten Tage. Man ist ja so glücklich. Und man glaubt bestimmt, daß man sich verlobt hat. Man weiß nur nicht mehr recht, mit wem. Jedenfalls: den Kirschblütenzweig, den man in der Hand hält, hat man von ihm. Von wem nur gleich? Sicher war er Kavalier, war er "schnieke", war er "dufte", denn der Zweig ist stattlich, nicht so ein armseliges Dingelchen für nur 25 Mark. Störend sind diesmal nur die vielen nach Ansicht der alten braven Bürgerfamilien Entgleisten gewesen, die ehedem "nich mehr wie mir ooch" waren, jetzt aber im Auto herantöfften und wesentlich zur Hausse in Blütenzweigen beitrugen, weil sie den ganzen Wagen sich wie zum Blumenkorso schmücken ließen. Manch einem von diesen Leuten ist Werder übrigens schon zu "poplig". Man autelt am Blütensonntag nicht mehr dorthin. Nur die vielen Blütenzweige kauft man sich - in irgendeinem Blumenladen des Westens. Das ist und bleibt doch das eigentliche Frühlingsfest des Berliners. Auch der 1. Mai "kommt da nich jejen an".

Man könnte natürlich sagen, die Zeiten seien für so etwas zu ernst. Es vergeht in Berlin keine Woche, wo nicht ein Hausbesitzer, jawohl, Hausbesitzer, wegen Verarmung Selbstmord begeht, meist also die Gashähne bei sich öffnet. Aber seine Mieter, für die er früher "der Reiche" war, verjubeln Hunderte von Mark bei Obstwein in Werder. Und nun gar junge Mädchen! Aber das Ganze kommt einem doch so harmlos vor, wenn man damit vergleicht, was für Rauschgift derweil in den Theatern geboten wird. An demselben Sonntag in einer Nachmittagsvorstellung bei Holländer der "Vatermord" von Bronnen. Gewiß hat Bronnen Talent, geradezu vulkanisches Talent. Aber das ist doch kein Freibrief für widernatürliche Brunst. Ein junger Gymnasiast, der gerade über die erste Pubertät hinaus ist, von einem Kameraden homosexuell beeinflußt wird, an der eigenen Mutter sich erregt und auch von ihr mänadisch angefallen wird, erschlägt seinen Vater, der für ihn Quäler und Nebenbuhler zugleich ist, und sagt dann, ernüchtert, der lüsternen Mutter etwa: " Den Dank, Dame, begehre ich nicht!" Das Stück ist zuerst in Frankfurt, dann jetzt in Berlin aufgeführt worden; hier wie dort wurde von einigen Entrüsteten skandaliert, was ganz zwecklos ist in ihrem Sinne, denn es bedeutet doch nur Reklame. Was kann man gegen diesen Schmutz überhaupt tun? Daß Künstler, begabte Künstler, häufig das Gewagteste darstellen, ist ihre Sache, ist nicht einmal antimoralisch, sonder ein Stück Befreierarbeit an schwierigstem Stoff. Es gibt wohl kaum einen Maler, wenn er nicht gerade Thoma oder Steinhausen heißt, der nicht gelegentlich Schwüles hingewischt hätte. Im Weimarer Archiv gibt es Briefe des jungen Goethe an Karl August, die um ihres Inhaltes willen nie veröffentlicht werden könnten, da sonst selbst alten Roués sich die Haare sträuben würden. Aber das sind Dinge, die über den Adressaten oder die Tafelrunde nicht hinausdringen. Wird das Rauschgift dagegen mit vollen Händen unter das große Publikum ausgestreut, so ist die Volksverwüstung da. Wenn erst jeder Laufbursche den "Vatermord" sich ansähe - es ist nicht auszudenken. Daran denkt sicher auch Bronnen nicht. Solche jungen Künstler schaffen nur, so glauben sie, für die geistig Hochstehenden, deren Sinne jenseits von Gut und Böse stehen. Das ist der große Irrtum. Diese Hochstehenden gehen heute überhaupt nicht mehr ins Theater, sondern das wird vom Amüsierpöbel bevölkert. Also was tut man? Das beste ist: in aller Nüchternheit und Sachlichkeit niedriger hängen, nicht in Entrüstung machen, sondern einfach feststellen, wie auf den Bühnen heute mit uns experimentiert wird. Dann wendet sich der anständige Mensch. Dann findet er Genossen. Dann lehnt schließlich auch die große Masse das Krankhafte ab. Totschweigen ist nicht möglich, da bei der heutigen personellen Zusammensetzung der Kritik doch nahezu alle Zeitungen das Perverseste mit Vorliebe besprechen und im übrigen die Anschlagsäulen täglich für die Publikation sorgen; und laute lärmende Opposition erreicht, wie wir ja beim "Reigen" mit seinen mehr als 300 Aufführungen gesehen haben, das Gegenteil des Gewünschten.

Das Aufbegehren wider gewisse Tänzerinnen hat ja auch nur den Erfolg gehabt, ihren Zulauf zu steigern. Sonst wäre es mit dem Interesse für sie vielleicht schon zu Ende. Aber getanzt werden muß auf jeden Fall, ohne Tanz "zieht" ein Lokal nicht mehr. So als angenehme Nachmittagsunterhaltung, nicht zum Aufpeitschen der Sinne bestimmt, sieht man es heute schon in ungezählten Kaffeehäusern. Im "Faun", Ecke Friedrich- und Taubenstraße, dessen verfänglicher Name übrigens keine Dame aus guter Gesellschaft abzuschrecken braucht und dessen Steiner-Konzerte nach wie vor die besten Berlins sind, tanzen ganz junge Dinger. Man erfreut sich ihrer Anmut, man hat einen ruhigen, ästhetischen Genuß. Vielleicht gehört überhaupt erst ein gewisses Alter - wie Celly de Rheydt es erreicht hat - zu einer raffinierten Wirkung.

Die jüngste Tänzerin Berlins, die - achtjährige Musterschülerin der Staatsoper, Hertha Nemson, wurde dieser Tage einem engeren Kreise von Berufsgenossen der Feder präsentiert, die sich im Reichstagsrestaurant zur nachträglichen Geburtstagsfeier zweier - siebzigjährigen Tagesschriftsteller eingefunden hatte, Dr. Elkan und Pohlenk. Das läßt sich hören. Wenn das kleinwinzige Mädel mit runden Ärmchen Rosen über die weißen Häupter der Jubilare streut, nun gut. Aber die Leistung selbst? Das Gesicht in erfrorenem Lächeln wie bei den "großen" Vorbildern. Die Beintechnik einschließlich Spitzentanzes ebenso. Und doch kann weder das Klipp-klapp der Schuhchen noch die Musik das - Keuchen des Kindes übertönen. Hier ist nur Arbeit, harte Arbeit. Man ahnt das Leid der großen Dressur an der Messingstange und auf dem schrägen Parkett. Es fehlt noch das Unbewußte, das wundersam aus dem Blut Schwingende, die innere Musik; es fehlt das Erlöste, weil die Sehnsucht fehlt und - das Objekt. Eine Achtjährige tanzt noch nicht um jemand, sondern höchstens für jemand. Vielleicht ist die kleine Hertha Nemson nach zehn Jahren ein Stern, falls ihr bis dahin nicht, wie so vielen ihresgleichen, die Arbeit die Fußfesseln zu sehr verdickt hat. Aber dann wird sie kaum durch Siebzigjährige zum Erstrahlen gebracht werden.

Eine ältere Kollegin, die den Ruhm hat, als erste dem Beintrikot entsagt zu haben, eine ehemalige Berühmtheit, hat Berlin jetzt wieder aufgesucht: Isadora Duncan. Sie hat, was anderswo wohl kaum mehr möglich gewesen wäre, in Moskau noch einen Mann gekriegt, den Dichter Denissin, und bringt diesen wenig beleckten Bären jetzt wieder nach Westeuropa. Drüben bei den Bolschewiken hat sie den Tanz, der dort Staatssache ist wie bei den alten Tempeljuden, angeblich mit guter Wirkung in einer großen Schule organisiert. In Berlin nimmt sie nur kurzen Aufenthalt, ehe sie nach London geht. Sie will ihre Schwester Elizabeth, die immer noch im Neuen Palais in Potsdam dank unseren sozialdemokratischen Ministern ihre amerikanische Springschule unterhält, besuchen.

Im Neuen Palais bin ich seit Jahren nicht mehr gewesen. Aber kürzlich wieder im Berliner Königlichen Schloß, und zwar nicht in den Prunkräumen, die jetzt in ermüdend vielen Glaskasten einen Teil der Schätze des Kunstgewerbemuseums bergen, sondern in den ehemaligen Wohngemächern des Kaiserpaares. Die sind jetzt Möbelspeicher. Was während der Revolution nicht zerschlagen, zerschosssen, gestohlen worden ist, das ist da jetzt alles, mit roten Leinwandüberzügen verhängt, zusammengeschoben. Die preußische Regierung hat eine Auseinandersetzung mit den Hohenzollern über ihr Privateigentum noch nicht zustande gebracht. Es ist noch alles "beschlagnahmt". In der Bibliothek Wilhelms II., die neben Militärischem und Seemännischem - auch "Unser Seeheld Weddingen" und die sonstigen kleinen Kriegsbücher sind dabei - überraschend viel ernst Wissenschaftliches enthält, liegen im erker auf einem Haufen, wie beim Althändler, die orientalischen Waffen und sonstigen Geschenke, die er von Jerusalem heimbrachte, regellos geschichtet. In einem anderen raum ist das Leder vom Sattel des Velotrab heruntergeschnitten. Auf Schritt und Tritt traurige Erinnerungen. Nach der Revolution ist mancher, der den heute Regierenden nahesteht, hiergewesen und hat seinen Witz an dem Hausrat gewetzt. Herr Théodor Wolff-Mosse hat sich darüber aufgehalten,daß die Kacheln im Badekabinett des Kaisers Schiffsbilder zeigen. Nymphen wären Herrn Wolff wohl verständlicher gewesen. Selbstverständlich gibt es manche Pracht in dem Schlosse; Schinkel und Schlüter haben nicht umsonst gelebt. Aber manches "mondäne" Ehepaar wäre wohl erstaunt, daß Kaiser Wilhelm und Kaiserin Auguste Viktoria - püh - nicht einmal besondere Schlafzimmer besaßen, sondern ein gemeinsames, mit einem einzigen sehr breiten schlichten Bettdarin. Das kleine Haus Doorn genügt des Kaisers Ansprüchen vollständig; Prunk braucht er nicht für sich, sondern nur zur Repräsentation.

Aber daß er nun nicht mehr die Enkel heranwachesn sieht, das empfindet er schmerzlich. Die beiden ältesten, Wilhelm und Louis Ferdinand, sind ja neulich in der Friedenskirche in Potsdam, dem herkömmlichen Ort dieser Feier im Zollernhause, konfirmiert worden. Ohne daß der Großvater dabei sein konnte. Auch sonst war nicht alles wie einst. Die Kränze an den Wänden des Gotteshauses hat man sich diesmal aus Sparsamkeitsgründen versagt. Im übrigen wachsen die beiden jungen Menschen zur Freude ihrer Umgebung heran, sind natürlich und aufgeweckt, werden von den Lehrern beim Vornamen genannt, von den Mitschülern geduzt und machen alles mit, nur daß sie nachmittags in der Woche nie "spielfrei" haben. Sie müssen eben - das war immer schon so - noch etwas mehr lernen als andere. Wilhelm ist ein ernster und gewissenhafter Junge, aber nicht so begabt wie Louis Ferdinand. Der "frißt" jedes Buch, lernt jetzt auch noch nebenbei aus eigenem Vergnügen Spanisch, ist aber doch kein Bücherwurm; bei mancher Keilerei ist er mitten im Knäuel. Manchmal werden Sonntags nachmittags Kameraden zu den beiden Prinzen eingeladen. Tennis, Kricket, Baseball wird gespielt, auch Reiten lernen jetzt die Kronprinzensöhne. Potsdam ist kein Plön. Es fehlt die völlige Abgeschiedenheit des dortigen Prinzenhauses. Aber Gott sei Dank: Großstadt ist Potsdam nicht.
18. Mai 1922 (Donnerstag).


36

32 Grad im Schatten - Großstadtdünste - Herrenpartie am Himmelfahrtstag - Alles draußen - Im Lunapark 22 350 Besucher - "Üb' Aug' und Hand!" - Die leere Wand bei Kempinski - Wieder Kaviar

"Uff!" ist eigentlich der einzige artikulierte Laut, den man noch hervorbringt. Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen im Theater oder in der Kunstausstellung, um über Berliner Kultur zu schreiben. Lieber gesellt man sich da, möglichst leicht bekleidet, zum Berliner Treibholz und läßt sich dahingleiten, wohin die Strömung einen trägt. Und überall stöhnt ein "Uff!" einem entgegen.

So gar sehr schlimm mit der Hitze kann es noch nicht sein, denn man sieht noch keine Omnibuspferde mit Strohhüten, erklären mit weiser Miene die bekannten Berliner Alleswisser. Matt pflichtet man ihnen bei. Gewiß: wenn es ganz toll heiß wird, tragen die Omnibuspferde Strohhüte. Irgendwie ist diesen Zustimmenden der Denkapparat in Unordnung geraten. Es gibt doch am Tage überhaupt keine Omnibuspferde mehr in Berlin! Da rattern nur die großen Benzolkasten, der "Feurige Elias" und die anderen, und wenn der Nachtomnibus - mit Pferden - einsetzt, ist kein Hitzschlag mehr zu befürchten. Außerdem: welches Omnibuspferd könnte sich heute noch einen Strohhut leisten? Also wir müssen schon dem Thermometer glauben, das 32 Grad im Schatten anzeigt, während eine fettig dicke Luft, voll von Gerüchen verbrannten Öles, fälschlich Benzingeruch genannt, uns das Atmen erschwert. Natürlich, wer mal "draußen" war, der tut so, als sei dies noch gar nichts. Ich habe auch einmal 49 Grad im Schatten erlebt und lag in schwerem Fieber, und in der Hütte nebenan lag ein toter Araber, um den die Klageweiber unaufhörlich heulten, und rundum bellten die Schakale. Aber man hatte doch wenigstens reine Luft, wenn es auch Backofenglut war, während die Großstadt bei einiger Hitze sich mit den Dünsten einer Kloake uns auf die Lungen legt. Bekanntlich ist der Berliner auf sein Berlinersein ungeheuer eingebildet. Wenn er aber an solchen Tagen, wie wir sie jetzt wieder durchleben, neidische Briefe von Kleinstädtern bekommt, dann kriegt er einen Wutanfall. Was gäbe er darum, wenn er auch in zehn Minuten vor den Toren sein könnte! Oder wenn Waldluft, Bergluft, Seeluft diese Berliner Stickatmosphäre einmal durchbliese! So aber versagt schließlich sogar der nimmermüde Berliner Humor. Stumm sitzen abends auf Stühlen vor den Haustüren die Portiersleute, die Kellerbewohner, die Hinterhofmieter und jappen nach Luft.

Gestern, am Himmelfahrtstag, ist man freilich im Grunewald oder sonstwo in der Umgegend gewesen, diesmal ohne Familie, denn der Himmelfahrtstag ist nun mal seit Menschenaltern für die "Herrenpartie" geheiligt. Du lieber Himmel, dieses aufgeplusterte Forschsein! Junge Leute gehen nach wie vor zu zweit mit ihrem Schatz. Die alten Krippensetzer - die Rechnungsräte im Finanzamt I, die Kegelbrüder Gut Holz, die Rayonchefs von Tietz, die Kaffeehausbesitzer von Berlin C und so - aber machen ihre Partie. Ein Papptäfelchen schwankt dem Zuge voraus: "Verein der Ehekrüppel: Los von Muttern!" Vor dem Bauche baumeln, an Knöpfen der offenen Weste befestigt, Hut und Stullenpaket. Wie es scheint, werden die Leutchen, los von Muttern, ihrer Freiheit nicht recht froh. Krampfhaft versuchen sie, Stimmung zu machen. Gleich in die erste Gastwirtschaft an der Krummen Lanke wird eingefallen. Eine Lage Bier. Noch eine. Es perlt der Schweiß, es stockt die Unterhaltung. "Eine Lage große Cognacs!" Wenn das nicht hilft, hilft gar nichts mehr. Noch eine Lage. Dann wieder das Bier. Und so fort in verschiedenen anderen Wirtschaften der Umgegend, bis die Zungen sich endlich lösen, dem einen oder anderen ein saftiger uralter Witz einfällt, dem dritten und vierten die Pulse beängstigend auf den Kalk hämmern und die Sangesfreudigen glucksend hervorstoßen:

"Wer hat dich, du schöner Wald,
Abgeholzt und dann verschoben . . ."

Kurz, die richtige Berliner Herrenpartie, bei der also die "Damens" fehlen, die sonst für jeden Scherz dankbar quietschend quittieren, ist eine trostlose Sache und hat nur das eine Gute, daß am nächsten Morgen "Mutter" wieder hoch im Kurse steigt, wenn sie ihrem Heimkehrer kalte Umschläge auf den Brummschädel gibt und ihm sauren Hering hinstellt. Dann ist auch alles erkünstelte Forschsein zu Ende. Vielleicht hat gerade dieser Heimkehrer noch am Abend zuvor johlenden Beifall gehabt, als er schrie:

"Wat, Feuerzeug? Brauch' ick nich! Ick haue enfach meine Olle in't Ooge, det se Funken jibt!"

Nur gemach; so sehr - bisweilen - der Berliner mit dem Mundwerk vorneweg ist, so sehr ist er - allermeist - zu Hause um den Finger zu wickeln. Auch wenn er kein böses Gewissen hat. Über das Familienleben unserer durchschnittlichen Kleinbürger läßt sich im allgemeinen nicht klagen, und in den sogenannten gebildeten Ständen hat die Teuerung das Aufeinanderangewiesensein von Mann und Frau erst recht unterstrichen, so daß da auch auf die "einzige" Herrenpartie des Jahres immer mehr verzichtet wird.

Manchmal fragt man sich an solchen Sommertagen, wer eigentlich überhaupt in seiner Wohnung bliebe. Zehntausende liegen in den Freibädern am Wannsee und am Müggelsee herum, so daß man denkt, nun müsse das Wasser bald ins Kochen geraten. Zehntausende bevölkern die Spielwiesen im Treptower Park und streifen durch den Plänterwald, durch den Tiergarten, durch die Jungfernheide. In allen Biergärten der Millionenstadt ist kaum ein Platz zu haben, im Grunewald tritt man sich auf die Hacken, in Potsdam münden große Menschenströme. Am Anhalter Bahnhof ein schwarzes Meer von Zylinderhüten, aus dem sich bunte Banner erheben, denn da werden gerade Kölner oder Wiener Sangesvrüder empfangen. Gleichzeitig "demonstrieren" Zehntausende für oder gegen irgend etwas im Lustgarten, drängen sich Zehntausende anderer auf den Rennbahnen für Pferde oder für Radler, auf den Sportplätzen für Fußball- oder Hockeyspieler. Womit nicht gesagt sein soll, daß deswegen die Vergnügungsparks leer blieben. Unser größter, der Lunapark in Berlin-Halensee, am Ende des Kurfürstendammes, ist nach wie vor der beliebteste Aufheiterer in dieser trübseligen Zeit. Natürlich geht "man" meist "mit seiner Kleinen" hin, aber diese Pärchen, bei denen die Zahlungsfähigkeit des männlichen Teiles eine große Rolle spielt und die daher vielfach auf ein Valutaverhältnis hinauskommen, gehen doch in den Scharen der übrigen Besucher unauffällig unter. Ganze Familien verleben hier Sonntags ihren Nachmittag und Abend, da das Eintrittsgeld, 9 Mark für Erwachsene, 5 Mark für Kinder, für heutige Zeiten lächerlich gering ist und da auf den drei Riesenrestaurationsterrassen für jede Art Geldbeutel bis zum bescheidensten hinunter eine passende Stätte sich findet. Ganz unten wird man von dem Kellner angestaunt, wenn man nicht nur eine Tasse Kaffee oder ein Glas Bier während mehrstündigen Aufenthalts bestellt, sondern am Ende gar ein paar Würstchen; hier unten packt Mutter gewöhnlich die Kuchen oder die belegten Schnitten aus ihrem Körbchen aus. Hoch oben aber erregt man umgekehrt Aufsehen, wenn man in das Souper "hineinsteigt", ohne davor etliche Vorspeisen zu genehmigen, wo doch die schönsten Helgoländer Hummer rot und verführerisch herüberblinken und allerlei getrüffelte Herrlichkeiten locken, und da knallt denn auch bald manche Pulle Deutz & Geldermann. Unten kann man viel pausbäckige Jugend sehen. Oben viel Mondänen jeglichen Alters und jeglicher Rasse. Durchwandert man die drei Terrassen, so hat man einen Querschnitt unseres großstädtischen Lebens wie kaum anderswo. Und vor und in den vielen "Attraktionen" am Halensee quirlt nun das Ganze durcheinander. Es geht hier nicht so derb volkstümlich zu wie in Coney Island, und es wird hier auch nicht auf so lange gehemmte Seefahrerinstinkte spekuliert wie in St.Pauli. Alles in allem ist es eine große und belustigende Harmlosigkeit, von den Zerrspiegeln im Lachkabinett an über die Berg- und Talbahn, den Wackeltopfrutsch, den sich drehenden Tanzsaal, die ruckende Treppe und die rund 40 anderen Sehenswürdigkeiten und Lachmöglichkeiten hinweg bis zum "fabelhaften" Brillantfeuerwerk am Abend, wobei zum Schluß ein Turmseilkünstler in Ritterrüstung hoch über dem See gegen den Nachthimmel einhergleitet, während aus der Spitze seines Helms Raketen emporsprühen und an den Enden seiner Balancierstange Feuersonnen sich drehen. Am vorigen Sonntag waren 22 350 Besucher im Lunapark - und das ist noch nicht einmal eine Rekordzahl. Die Masse muß es bringen, denn die täglichen Unterhaltungskosten dieses ganzen Rummels betragen 120 000 Mark, und man kommt in ganz phantastische Zahlenreihen, wenn man gar noch die Speisen und Getränke mit ihrem Millionenumsatz täglich aufmarschieren sieht. Auch wochentags zieht hier jedermann den Sonntagsmenschen an; die eine den selbstgestrickten "Jumfer", wie der Berliner das Ding nennt, der es "richtig englisch" nicht aussprechen will und nicht weiß, daß man auf gut deutsch an der Wasserkante überall ins Boot jumpt und nicht "dschömpt" - und die andere ein Toilettengedicht von Drecoll in der Budapester Straße, das unter 40 000 Mark nicht zu haben ist. Aber alles amüsiert sich mit dem gleichen Vergnügen, nur daß die einen kreischen, die anderen gurren. Selbstverständlich fehlt hier auch das oberste Jahrmarktsvergnügen nicht, das erst den Gent und Ritter macht, die Schießbude in mancherlei Gestalt. Und da habe ich den einzigen Unterschied im Vergleich zu früheren zeiten feststellen können. Wir alle kennen doch die herkömmliche Inschrift:

Schießsalon.
Üb' Aug' und Hand - fürs Vaterland!

Man sah dieses Firmenschild tausendfach im alten Vaterlande, auf dem Rummelplatz der Großstadt wie auf der Kirchweih des Bergdörfchens. Aber die Schießbuden besitzer sind denkende Menschen, lesen ihre Zeitungen und wissen, daß der Friedensvertrag uns jede Waffenübung fürs Vaterland verbietet. Es darf keine wehrhaften, zielsicheren Deutschen mehr geben, und außerdem: was sollten die Jonnys und Japs und Tartarins von uns denken, wenn sie so etwas im Lunapark läsen? Also steht da heute im Jahre des Unheils 1922 geschrieben:

Schießsalon.
Üb' Aug und Hand - Üb' Aug' und Hand!

Für wen? Wozu? Die Bitternis steigt einem auf, auch wenn man die naive alte Inschrift früher wohl belächelt hat. Wie lange wird es noch dauern, bis wir wieder Selbstbewußtsein gelernt haben?

Die Spuren der Kriecherei von 1918 sind auch an anderen Stellen noch nicht verwischt. Das Weinhaus Kempinski in der Leipziger Straße - volkstümlich "Freß-Wertheim" genannt - hat einen Kaisersaal, die Wände mit Majolika aus Kadinen belegt, darin mächtige bronzene Medaillons aller preußischen Könige. Nur eine Muschel, in der früher eine Bronzebüste stand, ist leer. Ein Bolzen, an dem sie befestigt war, starrt zwecklos aus der Wand. Unter der Leere aber steht: "W. II." Wenn schon, denn schon - dann hätte man doch gleich Scheidemann oder Erzberger hinsetzen können. So aber erzählt die öde Stelle nur von der Spießerangst. Schließlich muß ja wohl jeder Wirt Rücksicht auf "sein" Publikum nehmen - und es mag sein, daß sich das Publikum Kempinskis vollkommen gewandelt hat, daß die Besitzer der Weinstube keinen Wert mehr darauf legen, ihre alten Stammgäste zu behalten. Die neue Gesellschaft hat vielfach nicht ganz saubere Fingernägel, aber es kommt ihr nicht darauf an, sich ein Portiönchen echt russischen Kaviars, dessen Einfuhr jetzt endlich wieder mit Rücksicht auf unsere fremden Gäste erlaubt worden ist, bei Kempinski für 350 Mark zu leisten. Erst recht, weil es soviel kostet. Denn sonst: wer 1914 Heringstonnen eigenhändig noch gerollt, 1917 schon mit Frachtbriefduplikat geschoben hat, für den ist Fisch eben Fisch und das Entzücken über die grauen Perlchen etwas im Grunde ganz Unverständliches.
26. Mai 1922 (Freitag).



Glossen 31 - 33

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Glossen 37 - 39

© Karlheinz Everts