Lübecker Eisenbahn-Zeitung

Nr. 145 vom 23. Juni 1895 Seite 2

Bilder aus dem preußischen Unteroffizierkorps.

Von Graf Günther Rosenhagen.


VIII.
Ein kameradschaftlicher Ausflug.


Im Unteroffizier-Speisesaal ist große Sitzung. Die Tagesordnung besteht aus zwei sehr wichtigen Punkten: zunächst der Bericht des Rechnungsführers, dann Berathung des nächsten gemeinschaftlichen Ausfluges.

Die Unteroffiziere des Bataillons haben sich vollzählig eingefunden und mit Befriedigung vernehmen sie den Vortrag des Kassenverwalters. Der Geldbestand ist günstig, die kleinen Abzüge, die sich die Unteroffiziere jede Dekade für den Vergnügungsfonds gefallen ließen, haben sich "zusammengelebbert" und nun gilt es, die schwere Frage zu beantworten, wie man das mühsam ersparte Geld möglichst schnell, möglichst schon wieder los wird.

"Also ich meine," spricht der Feldwebel von der Vierten, "wir nehmen uns wieder eine Break, fahren nach dem Sauer-Holz und verbringen dort den Tag wie schon so oft."

Aber sein Vorschlag findet keinen Beifall. Die jüngeren Unteroffiziere sehen sich an und schütteln mißbilligend den Kopf, laut zu widersprechen wagen sie aber nicht, aus Furcht, es könnte ihnen verdacht werden. Die Kameradschaft wird namentlich in den Unteroffizierskreisen gepflegt, niemals wird aber das Verhältniß zwischen dem Vorgesetzten und Untergebenen dabei ganz außer Acht gelassen.

Der Feldwebel von der Zweiten bemerkt die Unzufriedenheit auf vielen Gesichtern und ergreift das Wort: "Ich glaube, Ihr Vorschlag findet wenig, um nicht zu sagen, gar keinen Anklang. Warum sollen wir jedes Jahr denselben Ort aufsuchen ? Ich bin dafür, daß wir uns einen Dampfer miethen und nach Blankenholz fahren - das ist mal etwas Anderes."

Ein beifälliges Gemurmel erhebt sich, noch eine Viertelstunde liegen sich die beiden Feldwebel in den Haaren, sie sind beide "von demselben Tag", also gleichaltrig an Dienstjahren, und Keiner will nachgeben. Endlich trägt der von der Zweiten den Sieg davon und das Vergnügungskomité bekommt, nachdem das Datum festgesetzt ist, den Auftrag, das Weitere zu veranlassen.

Zunächst gilt es, den Bataillons- und den Regimentskommandeur zu benachrichtigen und deren Einwilligung einzuholen. Es ist dies lediglich Ehrensachen, denn die Vorgesetzten wissen viel zu genau, welche große Stütze und Hülfe sie an dem Unteroffizierkorps haben, um diesem nicht, wenn es der Dienst irgend zuläßt, jede Erleichterung und jede Erholung von ganzem Herzen zu gönnen.

Der große Tag ist gekommen, der Himmel hat sich durch das viele Bitten und Flehen rühren lassen und sein schönstes blaues Gewand angelegt. Mittags um 12 Uhr versammeln sich die Theilnehmer mit ihren Damen an der Landungsbrücke. "Gäste sind willkommen" war verabredet worden und Jeder hat von dem ihm zustehenden Rechte einzuladen, ausgiebigen Gebrauch gemacht. In erster Linie sind es natürlich die früheren Unteroffiziere des Bataillons, die aufgefordert sind an dem Ausflug theilzunehmen. Gerne sind sie gekommen, das Band der Kameradschaft ist nicht locker geworden, seitdem sie den bunten Rock ausgezogen - mögen sie jeden beliebigen Beruf gewählt haben, noch immer sind sie mit Leib und Seele Soldat und an Allem, was sich bei dem Bataillon, dem sie angehört haben, ereignet, nehmen sie den lebhaftesten Antheil.

Als letzte der Geladenen erscheint die Regimentsmusik, die der Kommandeur zur Verfügung gestellt. Aber "wat dem Eenen sin Uhl, is dem Annern sin Nachtigall" - die Musik ist die Einzige, die sich über die ihr zu theil gewordene Einladung nicht freut: zwar erhält sie frei Bier und Wein, soviel sie will und mag - und das ist nicht wenig - aber dafür muß sie auch spielen von Anfang bis zu Ende.

Die Offiziere werden zu diesen Sommer-Ausflügen nicht aufgefordert, die erscheinen nur auf dem Winter-Ball, wo sie von den Unteroffiziersfrauen oft todtgetanzt werden.

Nach einer Viertelstunde werden die Taue gelöst und unter den Klängen der Regimentsmusik fängt die Maschine an zu arbeiten. Lachen und Scherzen herrscht bald überall und die heiterste Stimmung bemächtigt sich Aller; der Gedanke, bis zum nächsten Morgen gar keinen "Schlumps" zu sehen, ist zu schön und mit wahrer Begeisterung singen Alle: "O, welche Seligkeit, macht mir das Herz so weit, o welche Himmelslust schwillt mir die Brust."

Nur ein Einziger stimmt nicht mit ein in den Gesang, sondern schaut über Bord hinab in die klaren, blauen Fluthen. Das ist der Sergeant Gottschalk von der Königlichen Ersten. In seinem Kopfe kreuzen sich die Pläne und Gedanken und in seinem Innern kämpft er einen schweren Kampf. Wohl schon zwanzig Mal hat er an seinen Knöpfen abgezählt: "Soll ich - soll ich nicht, soll ich - soll ich nicht!" Der Arme liebt und ihm fehlt der Muth, das entscheidende Wort zu sprechen. Zwar weiß er, daß seine Neigung erwidert wird, oder er glaubt es wenigstens zu wissen. Soweit wäre ja Alles ganz gut und ganz schön, wenn seine Liebe nur nicht die Schwägerin seines Feldwebels wäre, dann würde dieser ja sein Schwager, dann müßten sie sich ja Du nennen, dann, ja dann wäre so vieles anders! Aber ob der Feldwebel will, wie er möchte, ob er ihn als Schwager anerkennen, oder ob er ihm wegen seines kühnen Vorhabens gehörig eins "rüberwischen" würde - das sind die Zweifel, die den Unglücklichen beunruhigen und quälen.

Eine kleine Stunde später legt der Dampfer in Blankenholz an und unter Vorantritt der Musik geht es nach dem Restaurant, wo das fürsorgliche Vergnügungskomité ein leckeres Mahl hat bereiten lassen. Aber nicht lange sitzt man bei Tisch - lediglich um zu essen braucht man keinen Ausflug zu machen, sondern tanzen will man, tanzen, immer tanzen, und zwischendurch trinken, immer trinken.

Die dem Verdursten nahe Musik wird mit einem neuen Faß Bier beschenkt, aber nur unter der Bedingung, daß sie eine halbe Stunde ohne Unterbrechung das schöne Lied: "Margarethe, Mädchen ohne Gleichen" spielt. Und dann beginnt der Tanz; die drückende Juliluft verbreitet in dem Saal eine wahnsinnige Hitze, die Gasflammen tragen auch das Ihrige dazu bei, die Festesstimmung zu erhöhen - aber wie der preußische Unteroffizier im Dienst keine Ruhe kennt, so auch nicht, wenn es sich um sein Vergnügen handelt. Er trennt sich nur von seiner Tänzerin, um sofort wieder eine neue zu engagiren, er tanzt beständig, aber langsam und bedächtig. Fest hat er seine Dame umschlungen, vorsichtig sein Taschentuch um ihre Taille gelegt, damit seine Hand das theure Kleid nicht beschmutze, und dann "schieben" sie. Auf einem Fleck, der oft nicht größer ist als einen halben Meter im Quadrat, bewegt sich das Paar auf und ab, drei Schritte vor, drei Schritte zurück, so geht es ohne Unterbrechung und Ermüdung, bis der Musik der Athem ausgeht, und Margarethe, das Mädchen ohne Gleichen, für einen Augenblick aufhören darf, die Pein zu lindern.

Von dem Buffet her erschallt von Zeit zu Zeit der Ruf "Frisches Faß" und wer immer diese Worte hört, beeilt sich, seinen "schäbigen Rest" auszutrinken und sich Frisches verabfolgen zu lassen. Voll Angst und Grausen sieht das Komité, mit welcher erschreckenden Geschwindigkeit sich die leeren Fässer mehren und endlich tritt einer auf den ältesten Feldwebel zu mit den traurigen Worten: "Es kann nicht mehr verabreicht werden, das Geld ist all."

Aber der Feldwebel, der soeben einen Ganzen auf das Wohl seiner treuen Gattin getrunken hat, lächelt nur: "Das Geld darf nicht alle sein, verstehen Sie mich ? Ich verbiete hiermit, daß Ebbe in der Kasse ist."

"Zu Befehl, Herr Feldwebel." Geknickt schleicht der Sprecher von dannen, aber wohin sein Mahnruf erschallt, überall findet er taube Ohren.

Verzweifelt blickt er sich nach einem rettenden Engel um, da sieht er, wie der Sergeant Gottschalk der Schwägerin seines Feldwebels in einer halbdunklen Ecke des Saals einen Kuß giebt. Einen Augenblick ist er sprachlos über diese Kühnheit, dann aber eilt er, dem Vorgesetzten das Ungeheuerliche zu melden, er weiß, es ist recht unkameradschaftlich gehandelt, aber er hofft - ja, was er davon erhofft, weiß er selber nicht; vielleicht beschleunigt dies Ereigniß das Ende des Festes, vielleicht wird der Sergeant Gottschalk zur Thür hinausgewiesen und damit die Zahl der Trinker um einen vermindert. Ein Ende muß gemacht werden, so oder so. Verwundert hört der Feldwebel ihn an, dann läßt er den Schuldigen kommen und eine Minute später erhält das Vergnügungs-Comité Befehl, zwei neue Faß Bier auffahren zu lassen, um die soeben geschlossene Verlobung gehörig begießen zu können.

Das Comité ist verzweifelt, im Geiste hört es schon das Mißtrauensvotum, das ihm in der nächsten Sitzung wegen schlechten Wirthschaftens mit den vorhandenen Mitteln ausgesprochen werden wird, aber vorläufig bleibt nichts anderes übrig, als dem Befehl nachzukommen.

Endlich, endlich schlägt die Uhr Zwölf. Die Musik kann nicht mehr blasen, der leidenschaftlichste Tänzer die Füße nicht mehr bewegen, der Durstigste nicht mehr trinken und die Damen können bei dem besten Willen kein Eis mehr sehen. Vom Dampfer her ertönt die Pfeife jetzt schrill und laut durch den stillen Abend; es wird Zeit, man muß sich beeilen.

Bald sitzt Alles auf dem Verdeck und feierlich erschallt das Lied: "Ich weiß nicht, was soll es bedueten, daß ich so traurig bin." -

Das Brautpaar hält sich eng umschlungen und starrt hinab in die Fluthen, in denen sich der Mond wiederspiegelt und grenzenloses Unglück und Elend ergreift sie; sie haben Lust, sich hinabzustürzen und sie thäten es auch sicherlich, wenn nicht die Klänge der Musik sie in die Wirklichkeit zurückriefen.

Sie wenden sich um und lassen ihre Augen über die Gesellschaft schweifen. Gar mancher Arm hat sich zärtlich um die Taille einer Dame gelegt, gar manches müde Haupt ist auf die Brust gesunken, gar mancher kämpft über Bord gelehnt mit der Seekrankheit.

Schwer wird es dem Kapitän und seinen Leuten, alle Mann von Bord zu bringen, endlich aber ist es gelungen und mit Stimmeneinheit wird von den Festtheilnehmern beschlossen: "nach Hause geh'n wir nicht."

Man zieht in ein Café und dort bei dem Schwarzen beleben sich die Geister wieder und noch manche Stunde vergeht in heiterster Unterhaltung.

"So Kinder, nun aber Schluß," ruft eine Stimme, "es ist sieben Uhr, es ist Zeit, daß wir wieder an den Dienst denken."

Noch ein Händeschütteln - dann geht es in die Kaserne. Zum Schlafen ist keine Zeit, den Kopf einmal gehörig in die Waschschüsseln gesteckt, wenn es nöthig ist, auch zwei- oder dreimal, dann nimmt des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr ihre Kräfte wieder in Anspruch.

"Donnerwetter," sagt ein Unteroffizier zu einem anderen, als sie sich einige Stunden später auf der Treppe begegnen, "was habe ich für einen Jammer!"

"Na und ich erst," tröstet der Andere, "aber hol's der Teufel - schön war es doch ?"

"Und schön war es doch," das ist auch die Erinnerung, die die Unteroffiziere, wenn sie ihre zwölf Jahre abgedient haben, mit hinüber nehmen in das Civilleben. Viel Arbeit, viel Mühe und Verantwortung ist mit dem verhältnißmäßig lange nicht genug geachteten und angesehenen Unteroffizierstande verbunden, aber das Höchste, was einem Soldaten zu Theil werden kann, das Lob und die Anerkennung der Vorgesetzten, bleibt auch nicht aus und das verleiht immer wieder frischen Muth, wenn die Kräfte bei der anstrengenden Thätigkeit oftmals zu erlahmen drohen.

Das preußische Heer ist in der ganzen Welt geachtet und geschätzt und man schreibt gewöhnlich dem vorzüglichen Offiziercorps die Erfolge zu, die es stets erzielt hat. Jeder aber, der selbst einmal den bunten Rock getragen hat, weiß ganz genau, daß der Offizier mit schlechten Unteroffizieren nichts zu leisten vermag. Tausend Dinge giebt es, um die der Offizier sich nicht kümmern kann, die der Unteroffizier besorgen muß und wahrlich nicht der geringste Bruchtheil der unserem Heer gezollten Anerkennung gebührt unserem hervorragenden Unteroffizierkorps.



zurück

© Karlheinz Everts